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Die Mena kannte jetzt den Ticktack des Haginghofer Lebens schon, oder glaubte ihn wenigstens zu kennen, und fügte sich anstandslos in sein Tagwerk ein. Sie hatte überall die kleinen Dienste, Futterfassen zuhöchst auf dem Heuwagen, Misteinreißen beim Ackern, da hieß es Füße und Hände in einen richtigen Takt bringen, den Kühen vorgeben, und eines Tags, Himmel, das war ein Ereignis! bekam sie sogar die drei gutmütigsten Kühe zum Melken. Es war, als ob die Kühe gewußt hätten, daß sie dazu da waren, ihr keine Unannehmlichkeiten zu machen, so leicht und lustig ließen sie ihre Milch in den Eimer schießen. Diese Erfolge machten sie auf einmal so froh, als ob nun alles Schwere bereits überwunden und der Sieg schon errungen wäre. Sie strahlte vor Stolz, wenn sie ihren randvollen Eimer in die Milchkammer trug. Am Abend war sie dann jedesmal so selig müd, daß sie schon während des Ausziehens einschlief. Zuweilen führte sie mit der Kleindirn besinnliche Gespräche. Sie sagte etwa: »Wir sind beide arme Dienstboten, gelt?« Die Kleindirn lachte dazu, ihr schien offenbar der gemacht jammervolle Ton sehr komisch. »Man muß sich aber denken«, fuhr die Mena altklug fort, »auch die Reichen sind nicht alle glücklich!« Und die Kleindirn lachte wiederum so stark, daß ihre Tuchent auf und nieder wallte. Die Mena, davon angesteckt, hob mit den Beinen ihr eigenes Deckbett hoch, beide lachten wie toll und ohne recht zu wissen, warum; und damit man sie nicht hörte, schoben sie sich gewaltsam die Tuchentzipfel wie Knebel in den Mund. Bei der Mena meldete sich täglich eine heimliche Stimme, die ihr sagte, daß sie das Nachtgebet nicht ganz vergessen sollte; sie kam meist über drei, vier Gesätz im Vaterunser nicht hinaus und schlief auch schon wie ein Murmeltier.
Mit dem Riesenhansen blieb sie weiter gut Freund, obgleich sie bei ihm einen Hang zum Spötteln bemerkte. So mitten in der Arbeit konnte er rufen: »Da schau einmal einer unsere Großdirn an!« Sie tröstete sich aber, weil sie sah, daß er alle ein wenig 73 bespöttelte, die Mägde, die Knechte, den Ochsenknecht und den zweiten Roßknecht, und dies war wohl ein Ausfluß seiner körperlichen Überkraft. Er meinte es nicht böse, darin waren sie alle einig, aber sein Spott traf sie doch immer wieder wie ein unerwarteter Mückenstich. Und alle hatten insgeheim mehr oder weniger den Wunsch, ihm einen Possen zu spielen, der imstande wäre, seine Hochmütigkeit etwas zu dämpfen. Auch einen Spitznamen bekam sie, denn ohne einen solchen ging es nun einmal nicht. Da sie in gewissen Fällen und überhaupt eine rasch zugreifende Art, sowohl mit dem Mund als mit der Hand hatte, nannte man sie das Haginger-Ruschl.
Aber wie sie sich nun so ganz behaglich fühlte, stellte sich eine sonderbare Unannehmlichkeit ein: Sie fürchtete, das heißt, sie hatte ein Gefühl, das eigentliche Leben und Erleben möchte sie hier vergessen, an ihr, irgendwo draußen, vorübergehn, und sie würde das Nachsehen haben. Sie machte es daher ganz wie die feinen Damen, die immer Langeweile haben und statt auf neue Dinge ruhig zu warten, diese Dinge selbst herbeizuführen suchen; sie spielte die Vernachlässigte und Gekränkte, und sah nach dem »Leben« aus und ob sie es nicht auf sich herbeiziehen könnte. In der Lüsternheit nach solchen neuen Lebensdingen unterscheidet sich das Herz einer Bauernmagd nicht von dem einer Städterin. Aber im Untergrund ihres Bewußtseins ruhte jene uralte Bauernweisheit, in gutsilberne Sprüche gefaßt, vom Vater auf den Sohn, und vom Sohn auf den Enkel, von der Mutter auf die Tochter und von dieser auf die Enkelin vererbt, jene Weisheit, die besagte, daß jegliche Lüsternheit und jegliche Begier Gefahren in sich bergen, den jungen Fuchs in die Eisenfalle und den Fisch an die Angel führen.
Drei Dinge wuchsen in ihr: eine Unzufriedenheit mit den Verhältnisssen und Menschen um sie; eine unbestimmte Sehnsucht, sie wußte selbst nicht wonach; und ein gewisser Übermut.
Indessen befriedigte sie sich vorerst noch eine Weile mit den Abwechslungen, die das Leben ihr innerhalb und außerhalb des Hofes bot. Da war draußen das Kommen des Herbstes und des Winters, das ihr, zum erstenmal in ihrem Leben, so recht zum Bewußtsein kam. Es ging freilich sachte, aber es gab doch fast jeden Tag ein anderes Bild. Eines Morgens war die Kammer von einer eigenartigen Helligkeit erfüllt; Schnee war gefallen, und dies 74 veränderte die ganze Welt. Ihre erste Arbeit war, das Haustor aufzusperren und mit dem Sendelbesen den Schnee wegzukehren. Sie betrachtete die Spuren in der weißen Fläche und sann nach, was da wohl des Nachts, während sie unter ihrer weichen Flaumentuchent geschlummert, für Getier, ängstlich, hungrig und beutegierig, den Hof umschlichen hatte. Ihre lauten Ausrufe beim Anblick der Stapfen, die kennenzulernen sie auf Ellenhub genug Gelegenheit gehabt, bekundeten, ob sie dem nächtlichen Besucher freundlich oder feindlich gesinnt war: »Ah, da schau, ein Reh! Ein Has! Und das war ein Fuchs, das Schinderluder! Und das der Marder, der Teufel!«
Das Element des Winters erfüllte den Hof mit einer eigenen Musik, die zwar eintönig, aber traulich war: die Dachsparren krachten metallisch, die Eiszapfen fielen klirrend von den Traufen und die Baumäste ließen ihre Schneelasten mit dumpfem Schall zu Boden fallen. Durch die Spalten der Tenntüren drangen weiße Schneelanzen, als wären sie begierig, alles Warmlebendige zu vernichten.
Auch im Stall war alles verzaubert. Durch die kleinen, bogenförmigen Fenster, mit Eisblumen bemalt, mit Farnkraut und Kornähren, gleichsam geheimnisvollen Gespenstern des vergangenen Sommers, schimmerte das Schneelicht auf die glänzenden Rücken der Rinder. Wenn sie so hinaussah und den Flockenfall beobachtete, erkannte die Mena in allem und jedem treue Freunde und Freundinnen von daheim, Geschwister, die sie niemals und nirgends verließen, denen man aus vollem Herzen vertrauen konnte. Sie erkannte und war für Minuten davon durchdrungen, daß es ein zwiefaches Leben gab, das nach außen, das der Not, alltäglich, rauh, nach eisernen Gesetzen geregelt, und das nach innen, das der Seele, verborgen, unbegreiflich und geheimnisvoll. Sie wurde gewahr, daß die Erde ihren Gang ging, mit heiliggroßen Schritten, daß sie aus- und einatmete, mit heiligsicheren Odemzügen, unbekümmert um Menschenjauchzen und Menschenzagen, und daß man sich nur, in all dem scheinbaren Wirrsal des Lebens, ruhig ihrem Strom anzuvertrauen brauchte, um an sein Ziel zu kommen.
Die Schönen Kammern auf Haginghof wurden benützt, um auf ihren Fußböden die Herbstfrüchte aufzuschütten, so daß nur ein schmales Geäder frei blieb und man vorsichtig balancieren mußte, um nicht in die schimmernde Fläche der rotwangigen Winteräpfel 75 hineinzupurzeln. Die Mena glaubte zu bemerken, daß die Haginghoferin sie lieber zu manchen leichten und schönen Arbeiten verwendete als die andern, worauf sie sich etwas einbildete. So mußte sie jeden Tag Obst ausklauben. Bei dieser angenehmen Arbeit begrüßte sie jede Apfelinsel mit einer Freude als gute, alte Bekannte von Ellenhub. Da waren die Pfundbirnen, gelb und ungemein saftig, die purpurroten Weinäpfel, von denen ein einziger Baum so unglaublich viel trug, daß er stets mit Stützen unterbaut werden mußte, die zitronengelbe Fläche von Maschanskern, die grünen Zwiebeläpfel, und endlich die Frauenäpfel, rot und weiß wie die Wangen junger Mädchen, welche Sorte sich aber, genau wie diese, nicht lange hält. Sie kniete am Rand dieser Apfelfelder, beugte sich vor und legte sich manchmal ganz auf den Boden, um sorgfältig die Angefaulten von den Gesunden zu trennen. Von da mußte sie in die Vorratskammer, und sie staunte nicht wenig, obgleich auch auf Ellenhub ein ziemlicher Wohlstand gewesen war. Da hingen gebräunte Stäbe, und an ihnen endlose Reihen geräucherten Fleisches; standen offene Säcke mit umgestülpten Rändern, Korn, Weizen und Hafer, Weißmehl, Kornmehl und Braunmehl, sie strömten ein Duftgemisch aus; und in der anstoßenden Wäschekammer waren Rollen selbstgesponnener Leinwand so hoch übereinandergeschichtet, daß sie bis zur Decke reichten.
Ja, der Haginghof war versorgt; die Sorge war von hier ein für allemal ausgeschlossen, wenigstens eine bestimmte Art von Sorgen, die um Wohnung, Kleidung und Nahrung. Andere kamen freilich auch auf Haging vor, wie wir bald sehen werden, und oft sehr böse; sie schlüpften nämlich durchs kleinste Loch, das der Hof aufwies, herein, durchs Schlüsselloch, gerade dort, wo man mittels einer schlauen und krausen Kunst alle Übel auszuschließen glaubte. Aber die allerschlimmsten kamen nicht von draußen, sie kamen von ganz drinnen, kamen vom Haginghoferblut selber.
Aber wie gesagt, sonst waren sie versorgt. Mochte der Winter ein halbes Jahr und noch länger alles mit Eis und Schnee bedecken, der Sommer die Felder verhageln, der Feind ins Land brechen und alles kahlfressen, dahier blieb man gleichmütig, lebte im gewohnten Geleis seiner Tage, Bauersleute und Gesinde, Kinder, Einleger und Bettler, Pferde und Hühnervolk, Hund und Katze. Und die Mena empfand ein Gefühl stiller Dankbarkeit, daß sie dieser 76 beruhigenden Versorgtheit teilhaftig wurde und mitgeborgen war. Sie freute sich auf den Spinnabend, auf die warme Stube, auf das Licht am Tisch, auf die Mannsbilder, die in die Nachtreise kamen, mit ihrem Gepolter, ihren rauhen Stimmen, ihrem Pfeifenqualm und ihrem Erzählen. Insbesondere aber freute sie sich auf den Freund, den Riesenhansen. Wenn der Hans vom Wald hereinkam, wenn die Haustür aufgestoßen wurde und er hereintümmelte und mit ihm eine Wolke von Kälte, so daß die Herdflamme über die geschwärzten Steinplatten fuhr, rief sie lachend: »Grüß dich, Hans, du Welserschwanz!« Er ließ sich den Schnee von ihr abstauben, wobei sie an seiner Enaksgestalt hinaufhüpfte wie der Hund an seinem Herrn. Er sagte: »Die Mena, das ist ein Dirndl! Krautsakra!«
An einem solchen Winterabend nun, wo alles in der besten Laune, die Mannsbilder, weil die Schlittenbahn versprach anzuhalten, der Haginghofer, weil ihm innerhalb weniger Tage dreißig Klafter Holz, sozusagen von selber, in seinen Hof gelaufen waren, schob die Mena ihr Spinnrad neben die Räder der Mägde. Die Mannerleute saßen um den Tisch, schlugen Feuer und rauchten ihre Pfeifen. Ihr Gespräch ging hin und wieder und ebenso ein Steinkrug mit Apfelmost. Wo es sich gab, neckten sie die Spinnerinnen. Die Mena spitzte die Ohren, um möglichst viel von dem, was gesagt wurde und was nicht gesagt wurde, zu erfassen. Das Spinnen glaubte sie leicht nebenbei hinter sich bringen zu können. Wenn der Riesenhans sie neckte, blieb sie ihm die Antwort nicht schuldig; zu den Armen mochte man sie immerhin zählen, aber zu den Dummen, das wollte sie um keinen Preis. Einige ihrer Antworten glückten so, daß sie die Lacher auf ihre Seite bekam und eine Stimme sich verlauten ließ: »Ja, du! Das ist eben eine Ellenhuberische!« Das stieg ihr in den Kopf wie ein starker Met; denn der Mensch ist einmal so in der Jugend, daß ihn Gefühle berauschen. Sie wurde übermütig und vergaß, daß hinter jedem Übermütigen das Schicksal mit einem Haselstecken lauert, um ihn sogleich tüchtig durchzubläuen. Die Kleindirn flüsterte ihr zwar freundschaftliche Warnungen zu, aber war es nun der Most oder die rauhen Stimmen der Mannsbilder, oder der Umstand, daß einige ihrer Vierzeiler besonderen Beifall erregten, kurz, in ihrem Faden bildeten sich Schnitzlinge. Sie verdarben das Garn für den Webstuhl und lieferten keine schöne Leinwand. Und kaum, daß die letzten Nachtreiser das Haustor hinter 77 sich zugetan, besah die Haginghoferin das Gespinst. Ohne ein Wort zu verlieren, gleichsam zum Spiel, wand sie es um Menas Handgelenk und führte dieses mit festem Griff über das offene Licht. »Was den Menschen nicht brennt wie höllisch Feuer«, sagte sie, »das merkt er sich nicht.«
Man hatte zu jener Zeit in der Aufzucht der Kinder eine ziemliche Härte; diese Härte hatte aber keineswegs ihre Wurzeln in Roheit und Unwissenheit, sie erfloß vielmehr aus der überkommenen Bauernweisheit, daß nichts so sehr geeignet ist, die Natur, sei es in Pflanze, Tier oder Mensch, gründlich zu verderben, als übertriebene Milde und Verzärtelung. Und wenn es richtig ist, daß das, was den einzelnen fördert oder ruiniert, auch das Ganze fördert und ruiniert, wohin möchte da ein Volk kommen, das die Verzärtelung zum allgemeinen Prinzip erhöbe?
Die leichtsinnige Spinnerin schrie auf, wickelte die verbrannte Hand in die Schürze und lief in ihre Kammer. Hier warf sie sich aufs Bett und benetzte eine Weile unter Stöhnen und Schluchzen die Polster mit Tränen. Abenteuerliche Pläne gingen ihr durch den Kopf; der geringste darunter war, am nächsten Tag kurzerhand davonzulaufen. Und am andern Morgen glaubte sie eine Weile allen Ernstes, die böse Sache nur geträumt zu haben. Aber das Brandmal am Gelenk belehrte sie eines Bessern. Einigen Trost gewährte ihr der Umstand, daß nur die Weiberleute Augenzeugen der Prozedur gewesen waren.
Sie hatte kaum zu melken begonnen, als sie zum Bauern gerufen wurde. – Jetzt geht's los! dachte sie und preßte trotzig die Lippen aufeinander. Aber der Haginghofer war ausnehmend freundlich. Er hatte einen Zettel vor sich liegen und kratzte sich am Kopf. »Das ist nun schon die dritte Mahnung«, sagte er, »Mena, es bleibt nichts übrig, du mußt von morgen an wieder in die Schul gehen.«
In die Schul gehen? Daran hatte sie nicht mehr im geringsten gedacht. – Die Schule ist nicht wichtig, hieß es auf Ellenhub stets, wir brauchen dich zur Arbeit. Anderseits war es für den Schulmeister schwer, scharf vorzugehen, sie konnten es ihn bei der Getreidesammlung oder sonst entgelten lassen. Die Mena erlitt einen Gemütswechsel; sie, die schon molk, kochte, spann und auf Kinder altklug hinabsah, wurde selber wieder ein Schulkind. Aber wie sie versuchsweise in die Riemen des Ranzens schlüpfte, fühlte sie, daß 78 sie im Grunde noch immer ein Kind war und daß nur die schwere Arbeit sie zur Erwachsenen gemacht hatte.
Am Schulmorgen selbst gab es eine Überraschung: Es war noch viel mehr Schnee gefallen, stubenhohe Wände türmten sich vor den Häusern, und man fragte von Hof zu Hof, wie die Kinder wohl ins Dorf kommen konnten. Die Haginghoferin schlug vor, einen Ochsen vor den Stockschlitten zu spannen, um gleich auch die Nachbarkinder mitzunehmen, aber ihr Mann konnte die Ochsen nicht genug schonen: »Hans«, rief er, »hol die Schaufeln vom Schmied und tret der Mena und den Nachbarkindern einen Pfad!«
Die Mena freute sich. Eigentlich geht er doch wegen mir! dachte sie. Nach und nach versammelte sich ein Dutzend Kinder im Vorhaus, und wie der Hans unter ihnen erschien, brachen sie alle in ein lustiges Geschrei aus. Der Haginghofer, seine Frau und das Hausgesinde sahen dem Riesenkerl nach, wie er, gefolgt von einem beweglichen Schwänzlein sonderbar ausgestatteter Zwerge, in die weiße Fläche des Schnees hineinstampfte. Die Buben hatten spitze Katzenfellmützen, die Mädchen bunte Wolltücher um die Mitte geschlungen, jedes einen Tornister aus braunem Kalbfell auf dem Rücken, an der Brust Fäustlinge hängen, und unter der Achsel trugen sie ein großes Buchenscheit, für den Ofen der Schulstube bestimmt. Sooft ihr gemeinsames Gelächter bis zum Hof zurückdrang, lächelten der Bauer und die Bäuerin.
Den Kindern aber verging das Lachen bald. So leicht der Mensch sommerszeit über die Erde schreitet, so zäh geht es im Winter über ein Schneefeld. Die Mena klagte nicht, obgleich sie spürte, wie der Schnee ihr unter die Strümpfe drang und die Knie zwetschgenblau wurden, aber die Kleineren bekamen es mit einer weinerlichen Stimmung zu tun. Der Hans konnte nicht gut anders, als übergroße Stapfen treten, ganz im Gegensatz zur Schrittlänge der Kinder. Bei ihren Versuchen, sich ihm anzugleichen, verlor das eine und andere das Gleichgewicht und legte sich samt dem übergewichtigen Holzscheit in den weichen Schnee. Das wäre noch hingegangen, aber für das folgende Spottgelächter waren sie um so empfindlicher. Wie der Hans merkte, woher der Wind wehte, fing er an, den Kasperl zu machen. Fürs erste lachte er jedesmal selber mit, lachte, daß die Eiszapfen an seinem Schnurrbart klirrten, und seine zweite Nummer waren, da sonst eben weit und breit nichts zu sehen als Schnee und 79 wieder Schnee, die Krähen. Sie saßen auf den Grenzsteinen und Pflöcken, auf den Weidenstümpfen und Bäumen und ließen ein schallendes Krah hören, das wie ein böser Mißton die wundersame Winterstille zerriß. Sie hüpften an die Kolonne heran, zum Greifen, und der Hans rief: »Was fällt dir denn ein, du verdammtes Schinderluder, du? Du kohlschwarzer Satan! Wenn ich nur einen tüchtigen Stein da hätt!« Er sah sich aber vergebens nach irgend etwas um, das er hätte werfen können. Diese Raben waren gefinkelte Weltkenner. Ihr Geschlecht hatte jahrtausendalte Weisheit im Blute gesammelt, von Generation zu Generation. Sie wußten ganz genau, daß kein Stein zu finden war, stelzten in Gemütsruhe durch den Schnee, verdrehten die Augen in einer komischen Weise, zupften an ihrem Federkleid und schrien höhnisch: »Krah! Krah!« als wollten sie sagen: »Menschenaffe, zieh ab mit deinem lausigen Krabbelschwanz!« Und nichts ärgert den Menschen mehr, als wenn er nicht respektiert wird. So ging es auch dem Riesenhansen: Mit all seiner Kraft war hier nichts zu machen. Am liebsten hätte er seinen Pfeifenkopf geschmissen, wenn er nur nicht sechs Kreuzer gekostet. »Du Rabenvieh!« schimpfte er wütend. Und die Kinder kamen über diesen Streit eine Weile nicht mehr aus dem Lachen und vergaßen die Mühsal des Wegs.
Zwischen dem Herrn Oberlehrer Zauner und der Mena bestand ein gutes Verhältnis. Denn trotz ihres lückenhaften Schulbesuchs war sie eine seiner besten Schülerinnen.
Sie hing auch heute ganz an seinem Munde; er kam ihr vor wie eine der bärtigen Apostelgestalten, die in der Schulbibel abkonterfeit waren. Da der Unterricht von acht bis elf und von zwölf bis zwei Uhr dauerte, galt es, die Mittagsstunde auf irgendeine Weise auszufüllen. Was den Mittagstisch anbelangte, so war dafür nichts weiter vorgesorgt als ein paar Rohrnudeln und etliche Salzzeltel, die ihr die Haginghoferin mitgab. Das kümmerte sie aber nicht im mindesten. Sie fand ein besonderes Vergnügen daran, sich selbst überlassen, nachdenklich und beschaulich durchs Dorf zu spazieren.
Der Ort war eine richtige Wunderstätte für den, der auf einem Waldbauernhof aufgewachsen ist. Bei jedem Hause suchte sie sich dasjenige zusammenzureimen, was man auf Ellenhub oder auf Haging über die Leute redete oder geredet hatte. Da war die Krölljule; unheimlich starrten die winzigen Fenster aus dem düsteren 80 Gebälk; sie konnte anwenden, gesundbeten, aber einem auch eine Krankheit an den Hals oder eine Seuche in den Stall hexen. Da war der Krämer Lambert; schon das Vorhaus, wo man von der Straße hineinsah, war schön wie eine Stube, gepflastert und an den Wänden mit Bildern geschmückt. Da war ferner die Keusche der Kinderkathl; hinter den Doppelfenstern hörte man greinen und schreien und jauchzen, und dann wieder singen und lachen. Noch seltsamer aber war ein Haus am Kirchsteig, dessen Inwohner von den Leuten die »drei heiligen Schneider« genannt wurden. Bis zum Bräu hinauf wagte sie nicht zu gehen; der Stumpfbräu, das war schon etwas wie ein Herrgott.
Bei dieser Wanderung stieß die Mena auf einen Trupp Schulkolleginnen, die schreiend auf ein koboldartiges Ding eindrangen, das Schinderpelei, die sie wohl kannte, von der sie aber niemals eine besondere Notiz genommen. Sie bewarfen sie mit Schneeballen und riefen im Sprechchor: »Schindermensch! Schindermensch!« Die Verfolgte kratzte und biß, trat mit den Füßen, aber es half nichts: Zu viel Fäuste schlugen gleichzeitig auf sie ein und stießen sie endlich in eine Hausecke. Und nun geschah etwas Merkwürdiges: Das verprügelte Mädchen rührte sich nicht mehr; es kauerte im Winkel und ließ es geschehen, daß man so viel Schnee auf Kopf und Schultern türmte, daß es allmählich darunter verschwand. In diesem Stadium fuhr die Mena zwischen die Horde. Sie ließen auch ab, warfen sich aber mit doppeltem Geschrei über die neue Feindin. Jetzt war es gut, daß man einen schlingigen Körper hatte, geübt zum Laufen und Springen und Fahren mit stößigen Ochsen. Sie puffte und schlug, warf sich blitzschnell herum und war schon fast Siegerin, als das Pelei ihr zu Hilfe kam und die Schlacht mit einer regelrechten Flucht des großen Haufens endigte.
Befriedigt gingen die beiden Mädchen die Straße hinab. Nicht ganz nebeneinander, denn die Mena hatte eine Scheu; sie sah, daß die Schuhe ihrer Begleiterin mit Spagat notdürftig gebunden und in ihrem Kittel Löcher waren, und erinnerte sich überdies dran, was man im allgemeinen über die Schinderschen sprach. – Das war also, nah besehen, das Schinderpelei, von der einmal ein Knecht gesagt hatte: Die leiht sie einem jeden um einen Silberzehner! Was war nur das? Was leiht sie einem jeden?
Die Sonne machte schon warm, die Dachrinnen liefen, und an 81 den Wegrändern schmolz der Schnee. Die Mena holte eine Rohrnudel aus dem Kittelsack: »Da iß! Ich hab immer drei, vier mit; mag sie aber nicht. Jeden Tag kannst du ein paar haben.«
Sie war in der gehobensten Stimmung. Selbst die Rechenstunde, die niemand liebte, konnte ihr heute nichts anhaben. Die Waldbauernkinder lernten schwer; drang aber einmal eins durch, wurde es meistens das Erste. Die von der Seeseite begriffen leichter, waren überhaupt aufgeweckter, aber unordentlich und vergeßlich, so glich die Sache sich wieder aus. Die Bauern fanden es ziemlich überflüssig, sich mit dem Kribbel-Krabbel des Lesens und Schreibens und Rechnens zu befassen. Affenkünste nannten sie das, und von ihrem Standpunkt aus vielleicht nicht ganz mit Unrecht.
Darum seufzte auch Zauner bei seiner Rechnung umsonst nach einem hellen Kopf. Er seufzte überhaupt viel und hatte auch Anlaß dazu; es war keine Kleinigkeit, der fünfzig Buben und Mädchen Herr zu werden. Es hoben sich nur zwei Hände, und beide Lösungen waren falsch. Er warf das spanische Rohr auf den Katheder, setzte sich hin und saß so, den Kopf in die Hand gestützt, eine ziemliche Weile. Und lautlos saßen auch die Kinder, die braunen, die roten, die blonden und die schwarzen Köpfe. Durch die Fenster fiel die Wintersonne und legte über die bösen Kreideziffern an der Tafel einen hellen Streifen. »Weiß es wirklich niemand?«
Eine Hand flog in die Höhe. Und nicht hinaus wollte sie. Die Rechnung war es, und die Lösung entzückte den geplagten Schulmeister. »Die Ellenhub«, sagte er, »hat den besten Kopf aus der ganzen Klasse. Sie kommt um drei Bänke vorwärts.«
Auf einmal gleich um drei Bänke, das war eine unerhörte Sache. Die Mena warf ihren etwas viereckigen Kopf in den Nacken und lachte fröhlich, als sie den Mittelgang zurückging. Sie tat, als ob sie mit der ganzen Seele bei der Geschichte des armen Kannitverstans wär, der an einem Tag geboren, sein Tauffest gehalten, sein Haus erbaut, seine Hochzeit gefeiert und abends zu Grabe getragen worden war, aber in Wirklichkeit kostete sie das süße Gefühl des Triumphes aus, das sie bisher noch nicht kennengelernt hatte.
Nach Schluß des Unterrichts teilte Zauner eine große Neuigkeit mit: der Kaiser fahre, bei der Eröffnung der neuen Eisenbahn, durchs Land, und die Schule müßte ihn begrüßen; die Mädchen in weißen Kleidern. 82
Vor dem Schulhaus wurde die Mena von einigen Mitschülerinnen erwartet, die sie so ausgiebig mit Püffen beteilt hatte. Sie tuschelten eifrig, gingen ein Stück nebenher, bis endlich eine fragte: »Bist du auch dabei, wenn der Kaiser kommt?«
»Warum nicht?« gab sie mißtrauisch zurück.
»Hast du ein weißes Kleid?« Sie strichen mit dem Zeigefinger der Rechten über den Mittelfinger der linken Hand und schrien im Chor: »Leck ein Patzl! Leck ein Patzl!« 83