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Dieser Zweikampf hatte Folgen; die Mena schlug auf Haging Wurzeln, und noch stärker im Boden ihres eigenen Selbst. Wenn sie hinterm Pflug ging oder heigte, oder sonst irgendeine Arbeit tat, fand sie einen Genuß darin, zu den zwei Punkten des Lebens zurückzukehren, zu der Schulstunde, wo sie um drei Bänke vorwärtsgekommen, und zu jenem Feierabend, wo sie den stärksten Mann in neun Pfarreien geworfen hatte. Es schien sich damit auf ihrem Seelengrund etwas anzusetzen, es schien dort etwas zu wachsen, das eine geheime Kraft ausströmte. Sie hatte wohl weiter nichts als ihre eigentlichen Grundfesten entdeckt, den Boden, worauf gerade sie wachsen sollte und wachsen mußte.
Ihr Hang zum Sinnieren wurde in dieser Zeit noch durch zwei besondere Ereignisse begünstigt. Der Gang mit der Haginghoferin zum Schuhmacher Kröll war das eine.
Sie hatte über die Kröll-Leute manches munkeln gehört, welche Munkelreime etwa in die Worte zusammengefaßt worden waren: Das Kröll-Paar ist vom Teufel besessen. – Kein Wunder, daß sie den bestrumpften Fuß mit einem leisen Zittern zum Maßnehmen hinhielt und sich scheu im Raume umsah, während die Kröllin in einer untertänigen Art vor der Haginghoferin dienerte. Diese saß auf einem Sessel, fast in der Stubenmitte; und es war, als ob aus den dunklen Winkeln der Schusterstube allerlei Ekles und Grindiges gegen sie herankriechen wollte. Gewiß, irgendwie war der Teufel zwischen diesen vier Wänden los, das empfand die Mena deutlich, aber sie konnte nicht klarwerden, worin diese Teufelei bestand.
Das zweite Erlebnis war ein ganz entgegengesetztes. Zum Haginghof gehörte ein sogenanntes »Moos«, ein Stück trockenes Moorland, das zu mähen und zu düngen nicht der Mühe wert war, und sie wurde angewiesen, hierher ein Dutzend Kühe zu treiben, damit auch dieser Fleck möglichst ausgenützt würde. Man hätte ihr keine größere Freude machen können. In dem Augenblick, wo die Rinder eine erdbedeckte Brücke passierten, hafteten ihre 91 breitlippigen Mäuler an dem Grasteppich und kamen nicht mehr davon los, bis die Müdigkeit der Kiefer und der Glieder sie zum Niederlegen und zum Wiederkäuen veranlaßte. Und nun war die Mena allein und frei wie nie in ihrem Leben. Wohl bekam sie jedesmal eine Strickarbeit mit und das Maß, wieviel sie daran vorwärtskommen sollte, aber dies Mußstück ging ihr flott von der Hand. Dann lag sie im Gras, starrte nach dem Horizont, und nichts dünkte ihr köstlicher als dies Faulenzen. – Wie schön ist die Welt! dachte sie. Die Birken und Buchen waren umtönt von Finkenschlag, Amselgeflöte und Kuckucksruf. Die Erde strömte aromatische Gerüche aus. Überall blühten Blumen, hörte man das Laufen von Quellen. Sie ergötzte sich an den Bildungen der Wolken. – Das ist ein Pferd, das ein Strohschober; das ist das Wichtlweibl und der Kropfjodl, die gehen Erdbeersuchen in den Wald; deutlich sieht man, daß jedes ein Körbchen am Arm trägt.
In diesem Spintisieren horchte sie plötzlich auf. Ein Ton, eine Art Kirchengesang, durchdrang die Stille der Landschaft, so daß sie glaubte, Wallfahrer zögen in der Nähe vorbei. Endlich bemerkte sie eine Menschengruppe, die sich einem Hügelkamm entlang bewegte. Voran schritt eine lange Gestalt, eine Handnähmaschine unterm Arm, ihr folgte eine zweite von gedrungenem Körperbau, die ein Bügeleisen trug und ein zweirädriges Wägelchen nachzog, worin zusammengekauert etwas saß, das ohne Frage auch ein Mensch war. Alle drei hatten auf ihren Hüten übermäßig große Büschel leuchtender Schlüsselblumen. Es waren die drei heiligen Schneider, und sie sangen eins jener frommen Lieder, das die Mena schon auf Ellenhub gehört hatte . . .
Steig auf, o süß Gebet,
Aus Erdennacht und Schmerzen,
Gen Himmel steig!
Es tropft ein Balsam still
Herab in unsere Herzen.
Ich weiß es wohl,
Es muß, es muß dort aller Erdengram vergehen,
Muß alles Leid in Gottes Rosenhauch verwehen,
Ich weiß es wohl. 92
O fühlst du nichts, o Mensch,
Von brennend heißem Drange,
O fühlst du nichts?
Vernimmt dein Ohr denn nichts
Von himmlisch süßem Klange?
O glaub es mir:
Mag dich das Leben noch so bitter quälen,
Zur ewigen Freude wird dich Gott erwählen,
O glaub es mir!
Im schönsten Paradies,
Dort wirst du wandeln,
Im Paradies . . .
Das Herz voll Frömmigkeit
Und treu gerechtem Handeln
Ich weiß es wohl.
Dort gießet seinen Glanz, der Sonne gleich,
Allgüte über dich und macht dich fromm und reich,
Ich weiß es wohl.
Drum freue dich schon groß
Auf deine Sterbestunde,
Freu dich schon groß!
Weil hier dir nimmermehr
Heilt deine Lebenswunde.
O glaub es mir:
Drei Engel werden still vom blauen Himmel schweben
Drei Engel sacht dich von der Erde aufwärts heben,
O glaub es mir!
Drum ruf, o Herr, mich bald
Hin vor dein Angesichte,
Oh, ruf mich bald!
Daß ich verborgen leb
In deinem Himmelslichte.
Ich weiß es wohl:
Es muß, es muß dort aller Erdengram vergehen,
Muß alles Leid in Gottes Rosenhauch verwehen,
Ich weiß es wohl. 93
An den Stellen, wo es hieß: »Ich weiß es wohl«, hoben die drei Stimmen sich, gleichsam von einem magischen Jubel über alle irdischen Dinge hinausgehoben, und noch höher schwang sich eine ganz dünne Stimme und schien sich bei dem Verse: »Es muß, es muß dort aller Erdengram vergehen« im Blau des Firmaments zu verlieren.
Der Ort, wo die drei Handwerker hielten, hieß »Auf der Hausstatt«. Es war eine Hügelkuppe, zur Hälfte mit Wiesen, zur Hälfte mit Laubwald bedeckt. Da man von hier aus bequem das Tal übersehen und an heißen Tagen angenehm rasten konnte, zimmerte bald dieser, bald jener Freund von Stille und Frieden, gewöhnlich ein Müller, die eigentümlicherweise immer etwas poetisch angehaucht sind, Tisch und Bänke hierher und nannte es auf einer primitiven Tafel, was es war: Stillfriedheim. Das alles war noch gut erhalten, nur das Brett mit der Aufschrift hatte sich gelöst und hing nach abwärts.
Hier stellte nun der erste Schneider seine Handmaschine ab; der zweite sein Bügeleisen; beide trockneten sich den Schweiß von der Stirn und setzten sich, während sie das Wägelchen zwischen den hohen Gräsern und Blumen stehenließen. – War es, weil sie so unerwartet in dieser Einöde einen Menschen trafen, oder weil ihnen jemand bei ihrem frommen Gesang zugehört, oder lag es in der Gestalt Menas, an ihrem hochgeschürzten Kittel und dem ganzen, von Leben und Gesundheit strotzenden Frauenkörper – als sie vor ihnen auftauchte, waren sie eine Weile sprachlos. »Grüß Gott! Hab ich euch im Singen gestört?« fragte sie.
Der Älteste antwortete: »Wir singen gern; der Weg in die Stör wird uns so weniger lang.« Und als ob ihm die ganze Begegnung unheimlich wäre, nahm er seine Nähmaschine wieder auf, und alle drei zogen in der vorigen Ordnung lautlos ab wie unwirkliche Traumgestalten.
Auch die Mena kehrte in ihr Traumland zurück. In diesem Land schied sie sich in zwei verschiedene Wesen; während das eine die Sonnenwärme und die Stille, die Freiheit und Einsamkeit genoß, wandelte das andere den bisherigen Lebensweg zurück, sah Bilder auf Ellenhub, Bilder des bäuerlichen Frohsinns und der Heiterkeit, zuweilen, aber seltener, des Streites und der Traurigkeit. Sie ging auf leisen Sohlen an der Grabstätte ihrer Eltern vorbei, hörte das 94 Summen der Bienen, sah goldgelbe Zitronenfalter und dunkle Wolkenschatten schweben, und ein Gefühl durchströmte sie: die Geschwister sehen, den Bruder in Wien! Und plötzlich schoß ihr der Gedanke durch den Kopf: du kannst ihm ja schreiben.
War der Schulunterricht ihr bisher als eine fast überflüssige Sache erschienen, als eine Art Tändelei, ja manche Gegenstände als ganz unbegreiflich, so empfand sie plötzlich eine reine Freude darüber, daß man sich durch Briefschreiben mit dem so weit entfernten Bruder in Verbindung setzen konnte. Einiges Kleingeld, ein paar Sechser und Batzen, trug sie gewohnheitsmäßig bei sich, und zwar in ihr Sacktuch eingebunden, das sie zu seinem eigentlichen Zweck fast nie benützte. Auch bildete der schwere Geldknopf bei etwaigen Überfällen von Lausbuben eine wirkungsvolle Waffe. Sie fühlte also jetzt nach diesem Geldknopf im Kittelsack, forschte die Gegend ab, schoß dann den Feldrain hinab und über eine gemähte Wiese und einen Kartoffelacker davon.
Im kühlen Vorhaus des Krämers stand sie wie verzaubert und betrachtete die Umgebung. In den vier Ecken blühten in großen, grünen Holzkübeln Oleanderbäume und an den Wänden leuchteten bunte Bilder mit Palmen, Pyramiden, Kamelen und den Heiligen Drei Königen aus dem Morgenlande. Und welch ein Duft aus dem Laden strömte! Der Krämer selbst, im weißen Latzschurz, hinter der Ladenbudel, erschien ihr als eine andere Art Pfarrer, und wie er sie so lustig freundlich begrüßte, dünkte ihr das ein köstliches Erlebnis.
Sie wagte es fast nicht zu sagen, daß sie Tinte, Feder und Papier wünschte. – »Für den Herrn Bruder in Wien? – Hui!« Der Krämer pfiff durch die Lippen. »Ich hab schon gelesen. Der heizt dem Adel und dem Hof ordentlich ein. Und überhaupt, die Herren Studenten, die werden es der Regierung noch aufmischen!« Er fragte: »Mena, hast du schon einen Liebhaber?« und sagte anzügliche Schmeicheleien, die sie zwar nicht verstand, aber doch dazu lachte, als wüßte sie schon alles. Der Krämer brach über ihre Antworten in ein überlautes Gelächter aus, wobei ihr ziemte, daß sie nie, weder auf Ellenhub noch auf Haging, einen Menschen jemals so vom Herzen hatte lachen gehört. Aber trotz ihrer Verwunderung über alles an und um den Krämer begriff sie dennoch instinktiv sogleich, daß der Krämer ihr nicht nur das Schreibzeug verkaufen wollte, sondern 95 auch bestrebt war, aus ihrem Kommen eine heitere Szene zu machen und sie zum Lachen zu bringen.
Plötzlich erschrak sie: die Kühe! Sie raffte alles in ihre Schürze und lief, so schnell die Füße sie trugen, auf ihre Weide hinaus. Aber die Kühe lagen ruhig und wiederkäuend gleich großen braunen Flecken im Grün; die Sonne warf hinter einer Wolke einen Strahlenfächer herab, wie auf den Bildern in der Schulbibel, der Fächer spielte auf den Baumkronen, auf der Wiesenfläche, auf den Rücken der Tiere, und jedes Einzelding, Hügel, Stachelbeerstaude, wilde Rosen und Scherhaufen waren mit Goldglanz überschüttet.
Die Mena legte das Papier auf den Brettertisch und rückte Tinte und Feder zurecht. Aber wie es mit den glühenden Phantasien meist geht, die im Sturm über das unerfahrene Menschenherz kommen, so geschah es auch hier: es fiel ihr schwer, ihre Gefühle niederzuschreiben. Kaum hatte sie den ersten Satz vollendet, als sie ihn auch schon wieder ausstrich; sie quälte und plagte sich, und am Ende schien es ihr schlechterdings unmöglich, auch nur eine ordentliche Seite vollzukriegen. Da schau: das Briefschreiben war also eine schwere Sache, so schwer, daß sie zum erstenmal begriff, wie dünkelhaft sie gewesen, und eine Ahnung ihr aufstieg, wie es außer dieser Schwierigkeit noch ähnliche in der Welt geben mochte, schwerer als Mähen und Kornschneiden. Sie brauchte sehr lange, bis sie mit ihrem Brief einigermaßen zustande kam. Die Anweisung, die sie in der Schule gelernt hatte, half ihr viel dabei. Er lautete:
Geliebtester Bruder!
Im Anfange meines Schreibens begrüße ich Dich und ergreife die Feder, Dir zu sagen, daß ich mich seit langem auf diese Stunde freute. Ich bin gesund, was ich auch von Dir hoffe; denn die Gesundheit ist das Allerbeste in der Welt. Seit einem halben Jahr bin ich auf dem Haginghof und hätte gar nicht geglaubt, daß es einen so großen Hof in der Welt geben könnte. Die liebsten Menschen sind mir die Kleindirn, die immer zu mir hilft, der Schulmeister Zauner und meine Geschwister, für die ich alle Tag bete. Einmal hab ich eine ganze Nacht geweint, weil mich die Bäuerin so hart behandelt hat. Aber der Bauer hat mir ein Paar neue saulederne Schuhe machen lassen, das hat mich wieder 96 getröstet. Eine große Frage hätte ich an Dich: Ist es wahr, daß der Kaiser mit der neuen Eisenbahn zu uns kommt? – Alle Schülerinnen kriegen für diesen Tag ein neues Kleid, nur ich allein nicht. Hast du den Kaiser in Wien schon gesehen? – Nicht vergessen will ich, daß wir eine einhörndliche Kuh haben, die mir die allerliebste aus allen ist. Auch ein Knecht ist hier, genannt der Riesenhans, der ein großer Lump ist und mein bester Freund. Früher konnte er mich noch besser leiden, aber seit ich ihn vor allen Leuten geschmissen, hat er einen heimlichen Zorn auf mich. Wann werden wir uns wiedersehen?
Es grüßt Dich tausendmal Deine Dich liebende Schwester
Philomena.
Sie war höchst neugierig, ob der Bruder den Brief wirklich bekommen und ihr auch antworten würde. Dann wanderten ihre Gedanken zum Krämer zurück. – »Hast du schon einen Liebhaber?« – Was ist denn das, »Liebe«? – »Verliebt sein«? – Kann sich auch in mich jemand verlieben? – Plötzlich wurde sie von einem lebhaften Verlangen erfaßt, sich selber zu sehen; sie erinnerte sich, daß im nahen Tümpel die Birken und die Ziehwolken sich täglich widerspiegelten.
Die Verhüllung ihres Körpers betrieb sie seit ihrer frühesten Kindheit, und mit einer Emsigkeit, einer nie erlahmenden Geduld und Vorsicht, als wäre er das Allerheiligste, das niemand mit profanen Augen erblicken durfte. Religion und Sitte reichen als Erklärung nicht aus; es lag wohl noch etwas Tieferes zugrunde.
Sie streifte das Linnen von den Schultern, hielt sich an einem Birkenast fest und besah sich angelegentlich im klaren Wasserspiegel. Auf dem dunklen Bachbett standen goldgetupfte Forellen, regungslos, als seien sie keine lebende Wirklichkeit, bis sie endlich die Flossen hoben und lässig zwischen ihren Halbkugeln durchschwammen. – Das bin ich also? dachte sie. Ihr eigenes Bild erschütterte sie einen Augenblick.
Ein Knacken in den Zweigen scheuchte sie ans Ufer. Aber sie war noch nicht in ihren Kittel geschlüpft, als schon ein heiseres Gelächter erscholl: »Was rennst du denn so, du närrisches Muster? Hab dir ja ohnehin schon lang genug zugeschaut!« Der Einlegerlenz hatte eine Stimme wie ein heiserer Rabe; er tappte, immerfort lachend, 97 auf die Mena zu, warf seinen Sack ab und klagte, daß gar kein Kienholz mehr zu finden wär: »Hast es schön auf deiner Weide da«, fuhr er fort. »Vertreibst dir auch die Zeit recht lustig. Hast ganz nackend gebadet! Aber, wenn zwei sind, ist's noch lustiger!«
»Du Lügenteufel, du!« schrie sie zornig.
»Ja, ja«, fuhr der Einleger grinsend fort. »Alles hab ich gesehen . . . Bist fein gestellt. Fein!«
Sie saß wie erstarrt; sie vergaß sogar, zu widersprechen. Mit zitternder Hand, von Angst befallen, knöpfte sie ihr Leibchen mit den alten Silbersechsern zu. Sie dachte: Der Einlegerlenz ist ja mein guter Freund! Ich hab ihn doch immer gefüttert! – »Du sagst es niemand?« fragte sie.
»Aber, aber, nicht das kleinste Wörtlein!« Er schnalzte mit der Zunge und seine hungrig-lüsternen Greisenaugen umspielten ihren Körper. »Mußt nur ein bißchen nett zu mir sein. Ja?« Er legte seine pechige Hand auf ihr weißes Knie.
Die Mena schüttelte ein jäher Ekel; so heftig, als ob ihr eine klitschige Kröte an den Leib gesprungen wär.
»Was rückst du denn ab?« fragte der Lenz. »Geschieht dir ja nichts. Alle gescheiten jungen Menscherle machen das, weil sie dabei erfahren, wie's zugeht.« Und wiederum tappte die Hand, und der Mena fuhr durch den Sinn, ob es nicht die behaarten Greifer jenes Klaubauf wären, wovor der Ähnl sie oft gewarnt hatte. Sie wehrte den Angriff ab, und so wirkungsvoll, daß der Alte rücklings ins Gras fiel. Er hatte seine Kräfte, die schon längst bis zum letzten Rest ausgegeben worden waren, überschätzt. Aber vielleicht hätte er seinen Plan doch ans Ende geführt, denn der Bissen war fein und die Gelegenheit selten – jedoch als er wieder losgehen wollte, flitzte etwas Schwarzzottiges aus den Birken hervor und peitschte mit einer Felbergerte wütend seine schwarzbehaarten, nackten Füße. »Du alte Sau! Du Schuft! Du Hund!« schrie es.
Die Mena setzte sich mit geröteten Wangen ins Gras und flocht ihre Zöpfe, die sich bei der Verteidigung ihrer Jungfrauschaft gelöst hatten. Ihre kleinen festen Brüste atmeten stoßweise; ein Grauen durchzitterte ihren Körper. Knapp neben ihr lag das Schinderpelei, zupfte die Kelche einer Kleedolde aus und sog mit leise schlürfenden Lippen die feine Süßigkeit in sich ein. Beide redeten kein Wort. Die Mena hatte auf Ellenhub und Haging längst alle natürlichen 98 Vorgänge gesehen, und dennoch war dies Erlebnis für sie erschütternd. Ist doch jedes Wesen im Grund ein göttlich Ding, geboren und lebend inmitten der allerheiligsten Natur, um wieviel mehr die Mena, die in der letzten Zeit, Stunden, Tage und Wochen, hier wie in einem biblischen Paradiese gelebt, umgeben von grasenden Kühen, murmelnden Quellen, blühenden Blumen, Glockentönen und den frommen Gesängen der Hirten und Wallfahrer.
»Hat er dir wehgetan?« fragte sie.
Die Mena schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Nur aufgeregt hab ich mich.« Sie empfand den lebhaften Drang, sich ihrer Helferin erkenntlich zu zeigen und nestelte einen Batzen aus ihrem Sacktuch. »Das schenk ich dir.«
Das Pelei wog das kupferne Viererstück auf ihrer flachen Hand. »So viel?« sagte sie. »Darfst du das?«
»Ich kann mit meinem Geld tun, was ich will«, sagte die Mena stolz. »Ich hab es mir selbst verdient.«
Das Pelei band das Geldstück sorgfältig in ihr Taschentuch. Dann legte es sich glatt auf die Erde, kaute am Stiel eines Sauerampfers und schlenkerte mit den braunen Füßen in der Luft. Ihr Haar roch unangenehm stark, und durch die Löcher ihres Kittels leuchtete das gelbe Fleisch. Die Mena bemerkte, daß sie bei dem Kampf einen der Silberknöpfe an ihrem Leibchen verloren hatte und suchte ihn. Endlich fand sie ihn, putzte ihn mit ihrem Rocksaum blank und besah ihn genauer. In der Kreismitte war ein männlicher Kopf dargestellt, mit langem, bis auf die Halskrause fallendem Haar; ein Herrenantlitz mit scharf gebogener Nase, einen Kronreifen auf dem Haupt, und links und rechts davon die winzigen Ziffern: 16–62. Sie wendete die Münze und buchstabierte laut: »›Ferdinand Carol. D. C. Archiv A. V. Dux Burgund.‹ – Das ist das Schöne«, erklärte sie altklug, »daß man in der Schule so vieles lesen lernt, Wegzeiger, Marterlinschriften und die Geschichten im Kalender.« Sie schlüpfte aus ihrem Kleid und nähte den burgundischen Sechser wieder fest.
Das Schinderpelei beobachtete sie dabei. Das Brandmal am Handgelenk fiel ihr auf, und kaum erfuhr sie die Geschichte vom bösen Spinnen, so brach sie los: »So eine Kanaille! Einen Menschen so quälen! Und da tut sie so fromm! Die reichen Leut sind alle Teufel! Der Haginghofer, der Krämer, der Bräu . . . Teufel sind sie!« Ohne jeden Übergang fragte sie: »Hast du schon einen Liebhaber?« 99
Die Mena schüttelte verlegen den Kopf. Dann sagte sie: »In der Vinzenzi-Nacht muß man einen Zwetschgenbaum schütteln, und von dort, wo man einen Hund bellen hört, kommt er her.«
Das Pelei schnalzte verächtlich mit den Fingern. »Das sagen die alten Leut. Wenn mir einer gefällt, brauch ich keine Vinzenzi-Nacht und keinen Zwetschgenbaum: dann tu ich's einfach mit ihm! Jäger, die sind so hübsch, Bauernsöhn, manchmal auch Holzknechte; mit jedem tu ich's nicht.«
Die Mena errötete. Aber das Schinder-Dirndl examinierte sie kaltblütig weiter: »Hat schon einer bei dir geschlafen?«
»Hör auf!« bat die Mena; ihr wurde ganz übel.
Das Pelei schüttelte ihre Mähne und fragte: »Willst du meine Freundin werden? Ganz? Auf Leben und Tod! – Nämlich so: wenn dir jemand eine Bosheit antut, tu ich ihm drei zurück. Willst du?« Die Mena war über die Art und Weise, wie diese Freundschaft sich ankündigte, begreiflicherweise etwas überrascht, aber doch auch geschmeichelt. Sie hatte sich schon immer gewünscht, eine Freundin ganz allein für sich zu haben. Aber wenn sie nun einen forschenden Blick über die spindeldürre Gestalt ihrer zukünftigen Freundin gleiten ließ, konnte sie sich eines leichten Lächelns nicht erwehren. »Was denn für Bosheiten?« fragte sie neugierig.
Das Schinderpelei schüttelte die braune Faust gegen die Höfe. Seine Augen funkelten: »Ich zünd ihnen die Strohschober an . . . Ich vergift ihnen die Hühner . . . Ich stoß ihnen in einer finsteren Regennacht ein Buchenscheit ins Fenster . . . Ich reiß ihnen alle Blumenstöck aus . . . Das ist aber nur der Anfang. Es gibt noch anderes.«
Die Mena hatte seltsame Empfindungen, wie sie so plötzlich in den schwarzen Grund einer von ihr tief verschiedenen Menschenseele hinabschaute. Sie sagte: »Das ist aber eine große Sünd!«
Das Pelei schüttelte sich vor Lachen. »Es gibt keine Sünd«, sagte sie mit großer Überlegenheit.
Die Mena konnte sich keine richtige Klarheit von den Gefühlen geben, die sie in diesen Minuten bewegten. Aber eins stand fest: von ihrer neuen Freundin ging eine gewisse Anziehungskraft aus. Es war wohl das Gefährliche, Unheimliche, das allen Menschen, denen sie bisher begegnet, gefehlt hatte. »Ich hab mir«, sagte sie nachdenklich, »schon immer eine Freundin gewünscht. Hab auch in meinem Koffer schöne Sachen und werd dir was mitbringen.« 100
Das Pelei spielte mit einer langstieligen Orakelblume. »Hast du Kölnischwasser?«
»Ein ganzes Fläschchen, vom letzten Kirtag«, sagte die Mena. »Ich hab's noch gar nicht aufgemacht. Ich schenk es dir.«
Das Schinderpelei geriet über diese Eröffnung in einen Freudentaumel. Ihr Lachen und ihre Purzelbäume öffneten auch bei der Mena die Quelle des eignen Übermuts, die seit der Katastrophe im Elternhaus versiegt war. – Nicht mehr einsam! jubelte es in ihr.
Die Pelagia war wirklich eine kurzweilige Freundin. Sie ahmte die Stimme der Natur nach, das Geschrei des Eichelhähers, das Krächzen der Raben, das Piepsen der Waldmäuse, deren filzige Kugelnester mit einer winzigen Öffnung nach unten im Gebüsch hingen. Sie gingen Arm in Arm den Wiesenrain hin, zupften die Blätter der Orakelblume ab und sangen: »Edelmann, Bettelmann, Bauer, Bürger, Soldat, Kroat . . .« Sie rauften Ähren aus und mahlten die Körner zwischen den Zähnen. Sie machten Bekanntschaft mit jeder Quelle und jedem Grashalm, besonders liebten sie die Blumen, und unter ihnen wieder den purpurroten Mohn. Seine Blüten mußten ihnen Puppen abgeben, die Samenköpfe den Kopf, die Staubgefäße die Halskrause, und die Blätter bogen sie so, daß sie ein allerliebstes Kittelchen bildeten. Sie spielten mit ihnen Taufe, Hochzeit und Begräbnis, machten Grübchen im Boden, betteten die Toten hinein und streuten Gänseblümchen drauf. Hatte die Mena früher öfter nach dem Horizont geblickt, ob denn die Sonne noch immer nicht sinken wollte, so verging ihr jetzt die Zeit im Flug. Wenn sie heimtrieb, winkte sie ihrer Freundin noch lange zurück. Ihr war, als ob sie eine neue Welt entdeckt hätte. 101