Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Ein kleines Grab

Nun wurde es ruhig im Dorf. Kein Wunder, das unfriedlichste Element, die ewig Rauflustigen und Ungezügelten, hatte der Kaiser gerufen, und jene, die zurückgeblieben, hatten Veränderungen erlitten, durchaus in der Richtung zum Guten hin. Der Umstand, daß so viele junge Leute von Eltern und Heimat losgerissen wurden, gestaltete sich für die Zurückgebliebenen zu einem Goldschacht neuen Lebens und Empfindens.

Alle begriffen auf einmal voll und ganz: was die Augen sehen, die Ohren hören, die Sinne schmecken, die ganze Welt war zweifelsohne tiefer geworden; es wehte ein anderer Wind und eine andere Sonne schien auf sie herab.

Der Helf-uns-Gott-Florl, ein Armenhäusler, wandelte wie ein lebendiger Perpendikel von einem Dorfende zum andern und sang ein Lied, bald so leise, daß die neben ihm herlaufenden Kinder fragten: »Was singst du denn, Florl?«, bald so laut, daß die Bauern vors Haus liefen, um ihn fortzujagen. Das Wichtlweibl flüsterte den jungen Dirnen Lästerreden ins Ohr, eine Schande, sie zu wiederholen. »Ist gut, daß das Dorf endlich gründlich gereutert worden ist. Die meisten Mannsbilder sind ja keine Menschen, nur Larven! So wie die beim Kramer, und keine sechs Kreuzer wert. Ist nicht schad, wenn ein paar von den Büffeln nimmer heimkommen.« Als weiteres muß noch bemerkt werden, daß das geheime Wesen der roten und weißen Federn stark hervortrat. Sie wurden auch »Kletzlianer« genannt; man behauptete insgeheim, der Koadjutor nehme an den Versammlungen dieses Geheimbundes teil.

Was die Mena anbetraf, so hatten die Worte ihrer Brüder vom Zuspätkommen im Welschland sie nachdenklich gemacht. – Hab ich denn, fragte sie sich verwundert, nicht auch so ein Soldatenherz in meiner Brust? Und alle meine Brüder und Schwestern, und die vielen Ellenhuberischen Basen und Vettern, haben sie nicht alle dieses Soldatenherz gehabt? Wie kommt's nur, daß ich zuweilen so kleinmütig bin? 272

Sie stand, halb entkleidet, am offenen Kammerfenster; durch die Nachtstille kam der aufwühlende Gesang abziehender Rekruten, ein Gesang voll Wildheit und Sehnsucht, und wer Ohren dafür hatte, voll Kinderschluchzen. Sie hatte solche Ohren. Und hatte auch hellseherische Augen und sah viele, viele Ellenhuber, als Rekruten, mit Blumen auf den Hüten, über die mondhellen Hügel ziehen; sie sah sie als Grenadiere mit den hohen Tschakos, als Alpenjäger mit den Schildhahnfedern, in Freundes- und Feindesland, ewig froh und ewig unbesiegbar. Wohin sind sie marschiert, die Brüder, die vielen jungen Mannsbilder? – Sie suchte im Geiste die Berggipfel, die ihr tagsüber beiläufig die Richtung angaben, wo Italien liegen mochte, und suchte sich die Erzählungen in der väterlichen Stube wachzurufen, worin dieses Land so oft vorgekommen war. Heiß brennt die Sonne herab . . . Tiefer Staub bedeckt die Straße . . . Es gibt keine frischen Brunnen, keine kühlen Winde, keine grünen Wiesen . . . Rauchwolken steigen auf . . . Man hört Kanonendonner . . . Sieht Riesenmassen über eine gelbe, verbrannte Ebene heranbrausen . . . Und warum ist das alles? – Sie kann nichts davon verstehen; es ist eine Männersache.

Eine neue Lebenslust setzte in ihr ein. Es war die stärkste, die sie jemals empfunden. Sie sang besonders gern und konnte keine Arbeit tun, ohne zu singen. Wenn sie am Morgen über die Wiese ging, sang und klang alles um sie, die Lerchen und die Rotkröpferl, die Hummeln und der Wiesenbach. Wenn sie bei solcher Arbeit an das rätselhafte Weltgeschehen draußen dachte, an Worte wie Krieg, Revolution, und an den nahen Gehölzrändern die Rehe äsen sah, und von den Äckern Schelten und Singen hörte, und alles, Fluch und Gesang, wie ein heiliges Opferlied in den Nebeln zum Himmel zu steigen schien, war ihr zumute, wie es in dem Liede heißt:

Der Himmel ist blau,
Im Morgentau
Die Rehböckerl lustig springen.

Das ist a Gewalt,
Wie die Welt mir gefallt,
Möcht Tag und Nacht jauchzen und singen . . . 273

Hatte das Schicksal ihr auf der einen Seite Armut verliehen, so hatte es sie auf der andern mit einer Quelle von Frohsinn ausgestattet, die immer wilder hervorbrach. Freilich, sie konnte zwischendurch auch sehr ernst sein. Da war, zum Exempel, ihre Stellung zum Geld. Sie sah, wie mannigfach es erworben und verloren wurde, wie es bald Glück, bald Unglück stiftete, und konnte sich nicht genug wundern, wie die meisten, besonders die Mannsbilder, es so unsinnig hinauswarfen. Sie sah das Geld auf großen Haufen beisammen, beim Krämer, beim Haginghofer, beim Bräu, sah, wie überall die Habgier es zusammenscharrte und die Eitelkeit und der Leichtsinn es vergeudeten, aber der ganze Spuk konnte sie um keine Haaresbreite von ihrem eigenen, richtig erkannten Weg abdrängen: nämlich, das Umgehen mit dem Gelde wie mit Safran, und das beharrliche Vergrößern ihres Schatzes, wie sie ihr Guthaben nannte. Aber sie trieb dies Sammeln von Silberzehnern, Zwanzigern und Gulden nicht mit Neid und Geiz, sondern wie ein lustiger Jäger, der, wie wenig Wert das gejagte Wild auch haben mag, dennoch hinter ihm her ist, in der Freude am Jagen und am Spiel.

Da war weiter ihre Bedürfnislosigkeit. Diese war keineswegs das Ergebnis ihrer Vorsätze, sondern ererbt. Die Ellenhuber hatten seit jeher eine Abneigung gegen alle Eitelkeit und einen starken Zug, ja Liebe zur Einfachheit und Wahrhaftigkeit besessen. Was verschlug es, wenn man ein Halbdutzend Flicken auf der Werktagshose hatte? War man darum weniger geschätzt? – Jedes Kind wußte, wer sie war und was sie war, und man mußte in irgendeiner Hinsicht etwas sein, um bestehen zu können. Darum trug sie ihren Waschkittel und ihr Leibchen, säuberlich geflickt, ohne sich zu schämen und ohne andere zu beneiden, mochten diese andern sich noch so putzen und spreizen.

Da war endlich das, was sie scherzweise ihren Glassturz nannte: das unsichtbare Abschließen vor den Menschen und die Einkehr in sich selbst. Sie überdachte ihr Leben und die Hauptstationen daraus. Als sie das erstemal von Haging in die Schule gegangen, hatten die Kinder sie ausgelacht, weil sie Schuhe von der Bäuerin getragen. Jetzt erschauerte sie noch über die Bosheit, womit die Bande über sie hergefallen war. Aber sieh da: der Triumph, wie sie aus einem halben hundert Buben und Mädchen als einzige die Rechenaufgabe gelöst, hat das ganze Leid ausgelöscht! – Und was die Knechte sie 274 gehänselt, wie man sie, als ein Kind, unter die erwachsenen Arbeitsleute gestoßen. Mit dem kleinen Finger hatte der Riesenhans sie niederlegen und ihr den Hintern ausklopfen wollen, aber sieh da: was ein wieselschneller Mensch mit geringen Kräften vermochte! Sie wollte einmal in den Steinbruchtümpel springen, aber da schau: sie war heute eine allgemein geachtete Magd, und mehr als einer wollte sie auf seinem Hof haben! Und endlich: trotzdem andere schöner waren als sie, wurde sie dennoch von den Männern vielfach begehrt.

In dieser Beziehung ging es jetzt eigen im Dorf zu. Die jungen und mittleren Männer waren fort, und die alten hatten über Nacht einen besonderen Anwert bekommen. Hatte es bisher geheißen: So ein alter Kracher! Hieß es jetzt: Mein Gott, der ist noch ganz rüstig und könnt einem sogar lieber sein wie so ein junger Windhund! – Die Austragbauern und Wittiber, die bisher müßig und gelangweilt im Dorf herumgestanden und vom eigentlichen Leben schon so gut wie ausgeschieden gewesen waren, witterten Morgenluft. Lambert geriet in eine neue Periode von Heiratsstifterei. Für jede junge und mittlere Dirn hatte er einen alten Steiger bereit und pries ihn über den grünen Klee. Auch für die Mena, wobei er unentwegt trachtete, seinen Lohn dafür im vornhinein zu empfangen.

Alles in allem fühlte die Mena sich, im Ernst und im Spaß, gewappnet gegen Leben und Welt, und hatte schon ein wenig die hochmütige Empfindung, als ob nun nichts mehr gegen sie aufkommen könnte. Ihr Glassturz kristallisierte sich zusehends.

Aber immer, wenn der Mensch hoffärtig wird, Sprünge und Kapriolen macht wie die Pferde, die zu viel Hafer und zu wenig Arbeit haben, kommt das Schicksal und gibt einen Deuter. Sie war gerade an einem Zeitpunkt, wo sie immer mehr auf die Scherze Lamberts einging, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht eines Tages eine Botschaft gekommen: das Bübl sei krank, sie möchte es besuchen.

Sie lief nach Feierabend hinüber. Das Kind lag mit heißen Wangen in seinem Korbwagen. Es erbrach etwas, und dazu sagte die Kathl: »Nu, nu! Spei fünfzig Gulden, kannst dir ein Heiratsgut anlegen!« Sie hatte schon allerlei Kuren versucht, aber ohne Erfolg. Das beste wäre, ihm das Lorettokindl aufsetzen zu lassen. Die Mena erschrak. Wenn zu Hause davon die Rede gewesen, hatte sich immer eine Angststimmung verbreitet. Vorher wollte sie es noch 275 mit dem »Anwenden« probieren. Sie packte das fiebernde Kind, dessen Augen so ängstlich aus dem zunderroten Gesicht blickten, wie ein Schäflein, das unter den Klauen des Wolfes liegt, und ging zur Kröllin.

Sie fürchtete, sie wäre nicht zu Hause; denn sie wanderte oft stundenlang zu einschichtigen Höfen und Keuschen, zu Wassersüchtigen, Gelähmten und Epileptikern. Aber, Gott sei Dank, sie war da und eben mit der Behandlung eines Falles beschäftigt. Trotz des helllichten Tages waren die Vorhänge zugezogen und brannte eine Kerze. Auf der Ofenbank saß eine junge Bäuerin, die Röcke weit über die Knie hinaufgeschoben und den linken Fuß nackt. Daneben kniete die Kröllin, die Augen halb geschlossen; und während ihre Lippen ein Gebet murmelten und die linke Hand den Schenkel untergefaßt hatte, strich ihre Rechte mit leichtem Beben die ganze Länge des drallen, leuchtenden Weiberbeines hinan, huschte zurück und ging wiederum eindringlich denselben Weg. Dann erhob sie sich, zog die Vorhänge zurück und löschte die Kerze. Die Bäuerin aber stieß Rufe aus, wie: »Weg ist's! Oh! Oh! Weg ist's! Wie ein Wunder! Heilige Mutter Gottes!« Sie fing, wahrscheinlich vor Freude, überlaut zu lachen an, hob aus ihrem Handkorb eine Schüssel mit ungewöhnlich großen Hühnereiern, einen prächtig modellierten Striezel Butter, in ein Huflattichblatt gehüllt, legte einen Gulden dazu und ging unter vielem Dank davon.

Das Anwenden bei dem Kinde ging unter den gleichen Manipulationen vor sich. Wiederum wurden die Vorhänge zugezogen, und die Prozedur mit dem Streichen und Beten begann von neuem.

Freilich, als sie am nächsten Tag zur Kinderkathl lief, zeigte es sich, daß das Gesundbeten nichts genützt hatte. Das Büblein krümmte sich in der Ecke wie ein brennender Wurm, und die Mena saß daneben, das Herz voll Kummer, daß sie nicht in jeder Minute, bei Tag und bei Nacht, bei ihm sein, daß sie nicht als Mutter und Ehefrau in einer hellen Stube sitzen und ihr krankes Kind betreuen konnte. Denn hier ging das Leben seinen Gang. Die Kathl gebot zwar mehrmals ihrer Horde energisch Ruhe, aber die Kinder waren schwer von ihrem Springen und Schreien abzuhalten. Mehrmals erfaßte die Mena eine sinnlose Angst; eine Angst, die aus dem innersten Wesen der Natur hervorzubrechen schien; sie war grenzenlos und an Wahnsinn streifend. Aber die Kinderkathl trocknete 276 sich höchst gleichmütig die immer nassen Hände an der Schürze und sagte: »Wenn der Herrgott will, ist's morgen gesund, und wenn der Herrgott nicht will, können alle Ärzte der Welt nicht helfen!«

Um sich später keine Vorwürfe machen zu müssen, wollte sie doch dem Büblein das Lorettokindl aufsetzen lassen. Sie marschierte den drei Stunden weiten Weg zur Stadt. Es war ihr dabei, als ob sie selber noch ein solches Faschenkind wäre, hohes Fieber hätte und in einer stummen Sprache um Hilfe bettelte. Bei einem Bauernhaus erbat sie sich etwas Milch, aber das Kind nahm nichts, und so hastete sie weiter. Den Leuten, die ihr begegneten und sie ansprachen, rief sie zu: »Mein Bübl ist gar so elend; das Lorettokindl will ich ihm aufsetzen lassen.« Etwa in der Hälfte des Weges fing es zu schneien an, und zwar so dicht, daß man kaum ein paar Schritte vor sich sehen konnte. Überdies setzte ein eiskalter Wind ein, der ihr Schnee und Nässe ins Gesicht peitschte. Bald mußte sie waten, ab und zu bis an die Knie, ja in den Hohlwegen fast bis zu den Hüften. – Wenn wir hier beide umkommen, dachte sie bitter, brauchen wir kein Lorettokindl mehr.

In dem in einer finsteren Seitengasse gelegenen Pfarrhof schlug die Köchin verwundert die Hände zusammen über ihre vollbrachte Marschleistung. Das Lorettokindl schlief in einem gläsernen Schrein, mit offenen blauen Glasaugen, angetan mit einem bauschigen Kittel voll schwerer Goldstickerei. Der Pfarrer hob es heraus und setzte es dem fiebernden Kind auf die kleine, stoßweise atmende Brust.

Aber auch das Lorettokindl half nichts. Und als es soweit war, schickte die Kinderkathl, die darin Erfahrung hatte, rasch um die Mutter. Das Büblein wählte sich zu seinem Abgang vernünftigerweise einen Sonntagnachmittag, so daß die Mena die ganze Zeit über bei ihm sein konnte. Sie saß neben dem Korbwagen in einer kleinen Kammer, da es in der Stube draußen zu laut war. Es kamen nämlich an diesem Tag nicht nur die ledigen Kindsmütter, sondern auch die Großgezogenen, die schon da und dort dienten; sie hingen mit Liebe an ihrer Ziehmutter, brachten ihr Geschenke und hielten es für ein Glück, daß sie hier aufgezogen worden waren.

Die Mena sah auf ihr Kind, wie es die letzten hundert Atemzüge tat. Es ging dabei recht friedlich her. Nur als es endlich ganz still lag, brach sie in ein lautes Schluchzen aus; und dies Schluchzen 277 lockte ein Kind nach dem andern herein. Sie blickten ängstlich auf die Mutter mit dem Tödlein und knieten mit gefalteten Händen nieder. Die Kathl selber kam mit einer Totenkerze, faltete genau wie die Kinder die runzeligen Arbeitshände und fing an, in einem leiernden Ton zu beten: »Neun Vaterunser für den kleinen Franzl, auf daß er, ein seliger Engel, für uns Fürbitt leiste an Gottes Thron, wenn einst auch unsere bittere Sterbestund gekommen ist. Vater unser, der du bist in dem Himmel, geheiligt werde dein Name . . .« Während die Kinder mit hellen Stimmen einfielen: »Gegrüßet seist du, Maria, du bist voll der Gnaden . . .«, kniete die Mena unbeweglich, und trotz ihres Schmerzes gewahrte sie plötzlich mit großer Verwunderung, wie das Antlitz der kleinen Leiche von einem inneren Glanz, von einem Ausdruck süßen, friedlichen Schlummers durchschlagen war.

Es ist ein Engel geworden! dachte sie, jäh von einem tiefen Trost erfüllt. – Denn was anders sollte ein unschuldiges Kindlein werden? Ist es doch rein und unbefleckt geblieben, ist es doch aus der heiligen Kindheit nicht herausgetreten, ist es doch so würdig geblieben, in jene lichte Gemeinschaft aufgenommen zu werden, und ich brauche, wenn ich auch nur eine Magd bin, nicht zu bangen, daß es sich dort unwürdig benimmt.

Am nächsten Tag, wo sie sich schon fester glaubte, schossen ihr gleich wieder die Tränen in die Augen, als sie sah, wie man das Leichlein so geputzt und geziert hatte, als ob es zu seinem ersten Fronleichnam ginge.

Als sie hinter dem Mann schritt, der den braungestrichenen Sarg auf der Schulter trug, etwa wie ein Holzscheit oder sonst eine Last, dachte sie: Gott will es so und hat es so bestimmt. Er wird schon wissen, warum.

Die Sonne schien warm und freundlich. In der Reihe der Ellenhuber-Gräber war ein neues aufgeworfen. Zarte gelbliche Knöchelchen lagen in der braunen Erde verstreut, die sich vom satten Grün, das zwischen den Hügeln wucherte, abhob. Vögel hüpften zwitschernd von Kreuz zu Kreuz. An der Mauer lehnte ein weißgestrichenes Blechtäfelchen, oben und unten wie die Enden eines Papiers aufgerollt, und darauf war in schwarzer, frisch glänzender Schrift zu lesen: Franz Jakob Ellenhub.

Was geschieht denn da? dachte sie. – Man legt etwas, was ich 278 einmal unter meinem Herzen getragen und mit meinem Blut genährt, in einen anderen Schoß, in den Schoß der Erde . . . Sie sah, was sie bisher nie gesehen, gehindert durch einen Kunstgriff der Natur, die der Jugend das Alter und das Grab verbirgt, um sie ganz ihren Zwecken untertan zu machen – sie sah das Geheimnis vom Leben und Tod.

Nach der Totenmesse zog es sie noch einmal zum Grab; aber der Totengräber hatte es bereits zugeschüttet und stampfte mit seinen schweren Stiefeln die lockere Erde fest. Und wohl um dem Vater dabei behilflich zu sein, traten zwei Kinder, ein Bub und ein Mädchen, lachend mit. Einen kurzen Augenblick durchfuhr sie eine zornige Empörung. Aber dann dachte sie: für ihn ist das Arbeit und Brot.

Der Ähnl und einige Geschwister holten sie ein, und sie mußte, trotz ihres Sträubens, mit ins Wirtshaus. Die Geschwister waren weit marschiert und hatten Appetit. Sie sprachen eifrig den Weißwürsten zu. Der Ähnl fing an, allerlei Reden zu führen, die dahin zielten, daß der Mensch alles, was ihm auch das Leben bringen mochte, ruhig hinnehmen solle.

»Das Leben ist allweil gut«, sagte er, »gleichviel, ob's uns Freuden oder Schmerzen bringt. Ein Gewinn ist's auf jeden Fall. Merk wohl, Mena! Wie es ja auch zu lesen steht in der Heiligen Schrift: ›Alle Worte sind zu matt, niemand vermag es auszusprechen. Das Aug wird nicht satt vom Sehen, das Ohr nicht gefüllt vom Hören. Was gewesen ist, wird wieder sein. Und was geschehen ist, das wird wieder geschehen; ja, es gibt nichts Neues unter der Sonne.‹«

Wie er so redete, beobachtete sie ihn heimlich. Alles an ihm war alt, eingedorrt, runzelig, mit Ausnahme der Augen, die noch ungebrochen leuchteten. Sie dachte: Mein Kind hat kaum ein Jahr gelebt und liegt schon wieder unter der Erde; der Ähnl, über siebzig, ißt und trinkt, redet und tut, als ob er noch einmal so lange auf Erden zu leben hätte.

Am nächsten Samstag ging sie mit einem Strauß Feldblumen und einer Gießkanne auf den Friedhof. Sie schüttete frische Kohllösche aufs Grab, jätete das Unkraut und füllte Weihwasser ins kleine Becken ein. Über Friedhof und Dorf lag jene Stille, die eintritt, wenn alle Arbeit ruht und man in den Häusern die Vorbereitungen für den Feiertag trifft. Es war, als ob ein Zauber alle Dinge umwob; 279 Leben und Tod schienen ein und dasselbe zu sein und flüsterten sich in einer heimlichen Zwiesprache Trost und Hoffnung zu.

Wie gesagt: das Grab machte sie nachdenklich. Sie »sammelte« sich, wie der Ausdruck so schön heißt, zog alles herbei, was gerade ihr Eigentum und Lebensschatz war und sein konnte, prüfte alles, was ihr fremd, nichts anging und nichts angehen durfte, und sah schärfer als je auf Leben und Dorf. Die Kinder liefen unter Jubelgeschrei zur Schule, wie sie selber einst zur Schule gelaufen war; sie wußte von den alten Leuten, die sie noch gekannt hatte, nichts mehr. Die damals auf den Höfen gesessen, sitzen nun im Austragshaus; die Ellenhuber, die Hölzlhuber, die Talhuber und die Berghuber, die Winkelhuber und die Bachhuber und wie sie alle hießen; und dazu die andern Hausstämme, sie alle gingen diesen Weg, von der Wiege bis zum Friedhof hier herauf. Was war das alles? 280

 


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