Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Besuch bei den Nahgefreundeten

Nach der Stallarbeit machten die beiden Geschwister sich auf eine Rundreise zu den Nahgefreundeten. Die »Freundschaft« war dasjenige Band, das, allen Gegensätzlichkeiten zum Trotz, am festesten zusammenhielt. Diese Besuche waren daher nicht zu umgehen. Kam man nach langer Abwesenheit in die Heimat zurück und unterließ sie, traf man die Verwandten an der empfindlichsten Stelle: sie fühlten sich mißachtet und vergaben diese Beleidigung nie.

Sie kamen zuerst vor ein niedriges Haus, auf dessen Anger massige Bloche lagen, und an dessen Sonnenseite Hölzer für Rechenstäbe und Joche aufgestellt waren. Der Jörgei hatte beim Eintritt der beiden stattlichen Geschwister wieder jene Miene von Verlegenheit und Tolpatschigkeit wie damals, als er der Mena seine Hilflosigkeit gegenüber der Bosheit und seine Hoffnung und seinen Trost, den Plüschhut mit dem Adlerflaum, anvertraut. Er hatte die Dirn vom Haginghof geheiratet. Die Stube war voll Kinder. Kaum daß diese die kleinen Geschenke empfangen und die erste Schüchternheit überwunden, wußten sie sich vor Übermut nicht mehr zu helfen; schlugen Purzelbäume, liefen auf allen vieren und hingen sich an den Vater, so daß er auf seinem Kanapee unter einem Gewimmel von Köpfen, Händen und Füßen verschwand.

Seine Frau, einst Menas beste Freundin, die Mutter von den fünf Kindern, blinzelte sie mit ihren schwarzen, listigen Äuglein an.

Der Bruder Jörgei sah mit seinen wasserblauen Augen verlegen auf die beiden Geschwister. Silvester kam nach einigen Fragen auf den eigentlichen Zweck seiner Reise zu sprechen: die Politik. Jörgei hörte aber kaum das Wort, so gab er die Kinder energisch an seine Frau ab und sein Gesicht wurde ernst: »Bruder«, sagte er, »mir gefällt deine ganze Sach nicht. Die Wahrheit ist da drin!« Er legte die Hand auf ein kleines Buch, das neben ihm auf dem Fenstersims lag. »Die Wahrheit ist längst gesagt; sie ist im Evangelium! Das kann mir niemand nehmen. Das ist und bleibt mein Leib- und 318 Lebensbuch. Du bringst mit deinen Reden und Schriften dem Menschen keinen Nutzen, du schadest ihm nur! – Du lachst? – Aber was hilft's, wenn wir nicht offen zueinander sind? – Von Rebellionsgeist ist an und für sich genug in der Welt. Was uns not tut, bitter not, das ist Geduld und Gottvertrauen. So sag ich.«

Silvester dachte: War das Dummheit oder Weisheit? Licht oder Finsternis? – Aber er verschloß sich der Wirkung dieses unerwarteten Gedankens dadurch, daß er, fast überstürzt, aufbrach. Jene Frage: was mochte das nur sein? hatte er aber noch immer im Kopf, als sie schon im Flur draußen schritten und die Ewig-Gerechtigkeit die Straße daherkommen sahen, mit gesenktem Kopf und jenem bohrenden Blick in die Erde, den alle an ihm kannten. Silvester hielt ihn an: »Kennst du mich noch, Peter?«

»Ei wohl!« sagte dieser. »Muß dir seltsam da vorkommen, gelt, wo du doch als Kind hier herumgelaufen bist. Was gibt's Neues in der Welt draußen?«

»Alles steht wie auf einem Vulkan, mein lieber Peter. Jeden Tag kann die Revolution losbrechen. Willst du nicht mittun?«

Peter schüttelte den Kopf. »Niemals nicht!« sagte er. »Alles begehrt heutigentags auf. Ich nicht! Ich will die Welt nicht anders, wie sie ist. Will dem Herrgott nicht ins Handwerk pfuschen. Die ewige Rebellion, die macht das Leben zur Höll. Was hat denn, mit Verlaub, die Engel zu Teufel gemacht? – Han? – Die Rebellion und nichts als die Rebellion! Die Zeiten sind alleweil die unglücklichsten, wo alle Menschen rebellieren. Die Leute glauben, wenn sie nur so recht vom Fundament aus unzufrieden sind und das Unmögliche wünschen, erhielten sie wohl einen Teil.«

»Es gibt aber heut«, sagte Silvester, »gescheite Köpfe, die behaupten und beweisen, daß die Welt durch und durch voll Ungerechtigkeit ist; so voller Ungerechtigkeit, wie ein Rauchfang voll Ruß, und ich selbst gehör zu diesen Leuten.«

Peter stand stumm. Dann sagte er: »Dann seid ihr, Vestl, und die anderen Siebengescheiten auf eine Irrwurz getreten. Herrgott, da wird es euch aber schmeißen.«

Die Geschwister mußten hell auflachen, und lachend ging man auseinander.

»Entweder«, sagte Silvester, »ist dieser Mensch ein Narr, oder er ist in seinem Kalkbruch ein Philosoph geworden.« 319

»Gebracht hat er's zu nichts«, warf die Mena ein.

Silvester zuckte die Achseln. »Armut«, meinte er, »ist nicht immer gleichbleibend mit Wertlosigkeit, obgleich die Welt an dieser Meinung festhält, wie an zwei mal zwei ist vier. Ich kenn Reiche, in prächtigen Villen, die hundertmal erbärmlicher sind als dieser Kalkbrenner. Für meine Agitation sind freilich diese Erlebnisse keine guten Vorzeichen. Sollte es möglich sein, daß die Aufklärung hier ohne Wirkung bliebe? Daß diese harten Bauernköpfe, gleich wie Sonne, Mond und Sterne, ihren Gang weitergingen, unbekümmert um alle Reden, Schriften und Ereignisse, die in diesem Jahrzehnt in den Städten die Gemüter bewegten?«

Sie kamen in einen Weiler, der sehr belebt war. Eine Horde Buben verfolgte mit lautem Geschrei den Maler Peregrin. Er schob mühsam seinen quietschenden Korbwagen über die holperige Straße und die weißen Haarsträhnen fielen ihm übers Gesicht. Die Buben klaubten eifrig Fallobst und nahmen damit den absonderen Mann und seine Equipage aufs Ziel. Jeder Treffer wurde von einem Lustgeheul begleitet. Ihre frische Bosheit war so stark, daß sie im Nu zu Reimern wurden.

»Peregrin, Peregrin,
Wo gehst du hin?«

»Zu den andern!« keuchte die Stimme des Malers.

Silvester blieb bei ihm stehen. »Kennen Sie mich, Peregrin?«

»Wie soll ich Sie nicht kennen? – Habe ich Ihnen doch die Krähenfüße auf den Kopf gesetzt und herausgebracht, daß Sie der Gescheiteste unter den Ellenhubern sind.«

Silvester lachte: »Richtig! Und ich bin Ihnen dafür Dank schuldig; sonst wär ich vielleicht im Dorf verbauert. Was sagen Sie zur heutigen Weltlage?«

Peregrin blinzelte. »Die Welt ist wunderschön; aber die Menschen sind nichts als ein widerliches Ungeziefer. Gott sei Dank, daß ich meinen Trost bei mir hab.« Er zog zwei abgegriffene Büchlein aus seiner Rocktasche: »Goethes Gedichte und Sprüche« und den »Cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius«.

»Ich glaube«, sagte Silvester, »Sie haben viel erlebt. Und wenn Sie dies alles niederschrieben, so möchte sich wohl mancher junge 320 Mann daraus eine Lehre nehmen und so der Gefahr entgehen zu scheitern.«

»Alle sind gescheitert!« sagte der Maler, sichtlich gereizt. »Nicht nur Kleist, Hölderlin und ähnliche, nein, viel höher hinauf! Nur das Betongehirn betet sie an, wie es alle Götzen anbetet. Das hundertprozentige Betongehirn scheitert nämlich nie.«

Silvester lachte. »Haben Sie genug Arbeit?«

»Es gibt immer etwas; die Bauern haben gern alles schmuck.«

»Aber wenn Sie nicht mehr so herumkönnen? – Ein hilfloses Alter ist doch schrecklich!«

»Nichts ist schrecklich!« sagte der Maler. »Alle diese ›Schrecknisse‹ existieren nur in unserem Gehirn als selbsterzeugte oder fremderzeugte Gespenster. Hungerfurcht, Altersfurcht, Todesfurcht sind nichts, als das Resultat unserer verlogenen Zivilisation. Der Vogel, das Reh, der Geier in den Lüften: sie kennen dergleichen nicht. Sie leben, leiden und sterben mit derselben Gelassenheit, wie sie einst ins Dasein getreten sind. Salute!« Der Maler zog mit seinem Kinderwägelchen ab.

Das ungleiche Geschwisterpaar stieg den Feldweg hinan, der gegen Ellenhub führt. Lange Reihen Kleehifler warfen riesige Schattenfiguren auf das Hellgrün des gemähten Grundes. Rings war Stille, Sonnenschein, schüchterner Vogelsang und Quellenrauschen. Silvester war von den Bildern, die einmal sein Kinderland ausgemacht, und jetzt einen völlig neuen Eindruck auf ihn hervorbrachten, überwältigt. Die Stadt, die Hauptstadt und Residenzstadt, wo er Jahre gelebt – und diese Äcker, diese Menschen, das war voneinander verschieden wie Himmel und Erde.

Der Ähnl saß auf der Hausbank, zwischen den beiden Oleanderbäumen mit den roten Blütendolden, und begrüßte die Enkelkinder etwas verlegen. Silvester hatte sich zu weit vom Bauerntum entfernt. Diese Tracht und dieser Bart! – Silvester redete allerlei, um drüber hinwegzukommen, wie schön der Ähnl es in seinem Zuhause da hätte. »Nur daß Euch öfter die Zeit lang wird?«

Aber jetzt setzte sich der Ähnl in den Sattel. »Nie und niemals!« sagte er. »Das kenn ich gar nicht.«

»Ja, aber was tut Ihr denn alleweil?«

»Sinnieren«, sagte der Ähnl mit leisem Kichern. »Das ist ja doch das eigentliche Glück, was der Mensch vom Leben hat.« Darüber 321 spann sich nun ein halb lustiger, halb ernster Disput an, der in der Bauernsprache Schlag auf Schlag vor sich ging, immer wieder unterbrochen mit beistimmendem Gelächter. Da verstanden alle drei sich vortrefflich. Das hatten sie stets geliebt, die Ellenhuber: die Einsamkeit, die Stille und das Sinnieren. Die Einsamkeit, die verstand sich von selber; auf diesen einschichtigen Höfen, in diesen drei- und vierschichtigen Weilern, lernte man von Kindsbeinen an die Einsamkeit lieben. Was die Stille anbetraf, so liebten sie auch diese von ihrer ersten Kindheit an, horchten ordentlich in sie hinein; und zuweilen wurde dabei ihr Ohr so scharf und es kam vor, daß sie in der Lautlosigkeit etwas hörten, Stimmen, die wortlos redeten, und nicht das Alltägliche und Vergängliche, sondern das Ewige. Und was endlich das Sinnieren anbetraf, war das eine ererbte Leidenschaft. Und darum waren sie wohl auch so voller Bedächtigkeit. Das kommt wohl vom Bedenken, also bedenkend leben, im Gegensatz zu Pflanze und Tier. Bedenkend Hof und Stall, Wiese und Wald, Dorf und Stadt, Herren und Knechte, Erde, Himmel und Hölle, bedenkend, und sogar vorzugsweise, jene zwei Geheimnisse: Geburt und Tod.

Der Ähnl war so heiter und gesprächig, daß Silvester mehrmals ein Gemisch von Erhabenheit und Grauen empfand. Er sah hinter dem alten Mann ein offenes Grab, wie es, dem Gang der Natur nach, nicht anders sein konnte; und dann wiederum den Menschen selbst, wie er jedem Gespräch einen Scherz anhängte und von seinem Alter nichts zu spüren schien. Er saß da, in seinen blühweißen Hemdärmeln, die Augen waren so frisch, wie die eines Jungen, und nicht nur der Mund, jede Falte des Gesichts, die Hände, die Finger, alles sprach an ihm: Ich liebe und lobe das Leben!

Viel Interesse zeigte er für die neumodische Bewegung in Wien, für die Rebellion, wie er sie nannte, und der Enkel versuchte, den Lauf der Dinge einigermaßen zu erklären. Als er damit zu Ende war, fragte der Ähnl: »Und wie steht's mit Robot, Zehent und Vorspanndienst?«

»Wird abgeschafft!«

»Hm! Ich glaub nicht dran. Kommt selten etwas Besseres nach.«

Der Unglaube einer so großen Sache gegenüber verstimmte den Enkel. Auch der Ähnl verstummte, zündete umständlich seine Pfeife an und öffnete die Kastentür. An der Innenseite waren 322 allerlei Dinge zu sehen, ein Rosenkranz mit glattgescheuerten Holzperlen, Schützenpreise auf seidenen Bändern, Diplome, die er bei der Ausstellung seiner kindskopfgroßen Äpfel bekommen, und, nicht zu vergessen, die goldenen Tapferkeitsmedaillen, die er aus den Napoleonischen Kriegen heimgebracht hatte. Wie er sie den Enkeln zeigte, fing sein Blut sichtlich noch einmal an, sich zu rühren. Er entnahm dem Schrank ein Gewehr, seine Hand umspannte den Kolben, und seine Bewegungen wurden rasch, wie die eines Jungen. »Ja, meine Enkelkinder«, sagte er, »das war ein schöner Tag! Ich weiß es noch, als ob's gestern gewesen wär. Die Franzosen hatten einen Zypressenhügel auf der Straße nach Mezzolombardo besetzt. Dreimal haben wir ihn gestürmt und dreimal haben sie uns zurückgeworfen. Aber beim vierten Sturm waren wir oben.« Er legte das blaue Band mit den Silbergulden auf den Tisch. »Das gehört dir, Vestl«, sagte er, »wenn ich einmal gestorben bin. Ja, und daß ich nicht vergeß: Mena, was sonst noch in meinem Kasten ist, sollst du nach meinem Tod übernehmen. Du bist die Sicherste. Du gibst jedem der Geschwister ein Stück als Andenken; damit sie mich nicht ganz vergessen. Auch das Geld sollt ihr redlich teilen.«

»Aber, Ähnl«, sagte die Mena vorwurfsvoll. »Red doch so etwas nicht!« Um ihn von diesen Gedanken abzubringen, fragte sie: »Was hast du denn hier für einen Stoß schöner, weißer Strümpfe?«

Der Ähnl lächelte. »Sind Strümpf von eurer Ähnl. Hab sie alleweil liegen gelassen.« Die Geschwister begriffen. Der Ähnl aber, einmal beim Tod, ließ ihn nicht mehr los. »Das Leben ist ja schön«, sagte er, »freilich! Aber der Tod ist noch schöner! Wenn ich abends auf meiner Hausbank sitz, ganz mutterseelenallein, bis elf, zwölf, schau ich aufs Dorf hinab, wie's im Mondschein liegt, und denk mir mein Teil. Schau auf die Stell hin, wo meine Eltern liegen, mein Sohn, und denk mir wieder mein Teil. Denk mir, dort wirst du auch liegen. Ja, meine Enkelkinder, im Prediger Salomo hab ich gelesen: ›Alles hat seine Zeit. Eine Zeit, geboren zu werden, und eine Zeit zum Leben. Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit, das Gepflanzte auszurotten.‹«

Die Geschwister nahmen Abschied und gingen nachdenklich weiter.

Auf Ellenhub sprangen drei Kinder herum, waren zutraulich zur Base Mena, aber scheu gegen den Vetter. Paul ließ Selchfleisch und 323 Most auftragen; dennoch, es lag etwas zwischen ihm und den beiden Geschwistern. Das Geschick der andern Geschwister wurde beredet; Paul benörgelte viel, aber im Grunde mußte er auch zugeben, daß alle sich mehr oder minder anschickten, tüchtige Menschen zu werden. Was den Paul-Hof selber anbelangte, so kamen die Geschwister zu einem Ergebnis, das beiden ins Herz schnitt. Der Ellenhuberische Geist war von Ellenhub entschwunden. Paul zeigte dem Gesinde gegenüber ein hochfahrendes Wesen; zwischen ihm und seiner Ehefrau herrschte keine Eintracht, und ein häßlich spitzer Ton war zu bemerken.

Wie sie höher stiegen, wurde die Landschaft immer unschuldiger und großartiger. Die Geschwister wandelten wie im Traum; und es war leicht, hier wie in einem Traum zu wandeln, vorbei an stillen Höfen, mit blauen und violetten Glaskugeln in den Gärten und bunten Porzellanscherben im Wandbewurf.

Sie wandten sich zurück. Da lag Ellenhub, auf der Hügelkuppe, von einem Obstbaumwald umgeben, der Ort, wo sie, wie es so schön heißt, das »Licht der Welt« erblickt hatten. »Meine liebe Schwester«, sagte er, »ich habe jetzt zwei Stunden unter Menschen und Gegenständen geweilt, die mir in der Erinnerung so schön erschienen sind, daß nichts auf Erden sich mit ihnen vergleichen läßt. Wie kommt's, daß die Wirklichkeit dagegen zu grauen Schatten wird? Worin besteht der Glanz dieser Erinnerungen? Was liegt so wahrhaft Himmlisches über ihnen? Welche Veränderung geht mit dem Wachstum des Menschen in seinem Wesenskern vor? – Erinnerst du dich, wie wir als Kinder jedesmal vor Erregung und Begier hüpften und tanzten, und vor Freude ganz närrisch taten, wenn die Mutter uns, in Anbetracht dieser und jener beschwerlichen Arbeit, das ›Gigerlelelaufen‹ verhieß? – Wenn wir die kotigen Stiefel des Vaters nicht putzen wollten, Hals und Ohren nicht waschen, kurz, bei so vielen Anlässen, deren Überwindung der kleine, faule, genußsüchtige Leib von sich schieben wollte? – Dies Laufen war ohne Frage eine großmächtige Freude, etwas Köstliches, der Höhepunkt des Glücks schlechthin, und schon in Gedanken dran fuhr der Mut in jede unsrer Muskeln. War aber das Werk getan, hatte die Mutter ein Lächeln auf den Lippen, ja sogar etwas wie Spott: Also auch sie arbeitete mit Täuschungen! Täuschungen, die ein Endchen giftigen Stachels im Kinderherzen zurückließen. 324 Wir wollten zornig auffahren; aber da tätschelten uns die Mutterhände, und es wurde uns erklärt, man dürfe wegen einer kleinen Enttäuschung nicht überschäumen; das wäre eine große Sünde. Ich meine, die Mutter hatte trotzdem recht. Sie folgte hierin gewiß nur einer Anordnung der Natur, indem sie uns gleichsam schutzimpfte, um uns unempfänglich zu machen gegen die vielen und unbarmherzigen Enttäuschungen der Welt. Man kommt ja sehr bald in die Jahre, wo man begreift, daß es mit dem Leben ganz so ist, wie mit dem Gigerlelelaufen.«

Menas Bemerkung, er könne so schön sprechen, wie der Pfarrer auf der Kanzel, brachte ihn in lebhafte Heiterkeit.

Und so betraten sie wieder einen Hof, wo eine Base von der mütterlichen Seite, die Hartinger Base, hauste. Es war wie auf Ellenhub, dieselbe strengbegrenzte Welt, Ruhe, Ordnung und Festigkeit. Sie wurden freundlich empfangen, Butter, Honig und Brot aufgetragen, und daß Silvester auf den wohlriechenden Kornbrotlaib eine Lobrede hielt, belustigte sie nicht wenig. Der Bauer war begierig zu erfahren, was es Neues in der Wienerstadt gäbe. Silvester erzählte von der schlechten Lage der Handwerker und Fabrikarbeiter, von der Engherzigkeit und Borniertheit der Regierungsstellen, von der allgemeinen Unzufriedenheit und steigenden Not. An sich waren diese Dinge gewiß nicht lächerlich oder komisch, am wenigsten die Not, und dennoch brachte diese Schilderung eine überraschende Wirkung hervor. Und zwar gerade, als er erzählte, wie sich einige tausend Menschen, meist Frauen und Kinder, in einer langen Reihe, in der bittersten Kälte, auf dem Markt anstellten, um nach stundenlangem Vorrücken zu einem Häuflein schlechter Kartoffeln zu gelangen, erscholl von der Ofenbank her ein großes Gelächter. Der dort ruhende Knecht lachte. Ein gewaltiger Kerl, der die Mena an den Riesenhans erinnerte. Dieser Mensch lachte mit voller Hingabe. Daß es so etwas geben konnte! Sein Lachen steckte die ganze Stube an, bis der Bauer sich als erster wieder erinnerte und eine ernste Miene aufsetzte. Vestl erschien der Lacher als ein Mensch, der in einer anderen Welt lebte, als ein Ungeheuer ohne Mitgefühl und Menschlichkeit, als eine Urkraft, die uns in Staunen und Schrecken versetzt. Er spürte, daß in diesem Lachen durchaus nichts Böses war; sondern einfach das Lachen des Herrn der Erde, lebendig noch im letzten Knecht, der es nicht begreifen konnte, daß es Tausende, ja 325 vielleicht sogar Millionen Menschen in den Straßen der Großstädte gab, die sich in ihrem Leben nie ganz vom Hungern und von der Hungerangst befreien konnten.

Inzwischen fing der lachlustige Knecht seinerseits allerlei Erlebnisse zu erzählen an, die er als Soldat in Italien gehabt hätte. Wie die Leute Ratten und Mäuse gekocht, ja, Gras, und dies mit einer solchen Gier ausgelöffelt hätten, als wär's ein Mus mit zehn Eiern. Wie man in Mailand, nach dem Brand der Magazine, auf einem öffentlichen Platz einen Berg von Waren angehäuft und es jedem Soldaten freigestellt, ein Paket heimzusenden. Wie die Städter Lebensmittel und die Bauern Stoffe gewählt hätten. Das beschrieb er, der Bäuerin und den Mägden zugewandt, mit großer Phantasie und lachte zwischendurch immer wieder sein stubenerschütterndes Lachen. Schon das Lachen an sich schien ihm ein besonderes Vergnügen zu bereiten, und, wie es bei primitiven Naturen zu gehen pflegt, konnte er aus diesem Lachen schier nicht mehr herauskommen.

Silvester war sehr nachdenklich geworden. Er fand, daß die Bauern für das Leben und Leiden der Städter keinerlei Sinn hatten. »Was gehen uns die Stadtleute an?« hatte der Bauer ganz offen gesagt.

Der heimgekehrte Bauernsohn und Volksredner sollte noch bessere Erfahrungen machen, und zwar auf Lichtmeßberg, wo zwei Vettern, die »ernsthaften Brüder«, hausten. Ihren Spitznamen hatten sie deshalb bekommen, weil sie in ihrer Rede das Wort »ernsthaft« allzuviel gebrauchten. Immer gingen sie der »Ernsthaftigkeit des Lebens« nach und verurteilten in verächtlichen Worten alles Unernste, alles Kasperltum, in welcher Art und Vermummung es immer auftreten mochte. Sie behaupteten, es ruiniere die Welt. Dabei passierte es ihnen, daß sie von einem »ernsthaften Regen«, ja sogar von einem »ernsthaften Roß« sprachen, und damit waren sie in den Augen der Zeichenlosen für immer gezeichnet.

Silvester befiel, als er den armen Waldbauern gegenüberstand, mit denen er einmal die Dorfschule besucht, eine Scham über seine erlangte Überlegenheit an Bildung. Sie wurden in den Stall, durch die Scheune und dann in die Stube geführt. Die Gesichter der Brüder hatten etwas Maskenhaftes an sich, so, als ob sie Jahre über viele Dinge angestrengt gegrübelt und trotz allen Grübelns zu keinerlei Resultat gekommen wären. An Körpermaß war der eine bedeutend326 stärker als der andere; er führte auch immer das Wort, und der Bruder pflichtete nur durch Kopfnicken bei.

Er sprach von seinem Hof, seinem Viehstand, seinen Wiesen und Äckern, und erklärte eingehend Vorteile und Nachteile. Ein Vorteil, der ihm Freude zu machen schien, war, daß alle seine Gründe in sanfter Steigung vom Lehen aufwärts lagen, und so, wie er sich schmunzelnd ausdrückte, Gras und Heu, Korn und Kartoffeln von selber in seine Scheune liefen. Einen zweiten Vorteil glaubte er mit seinen Dienstboten erhascht zu haben, einer gehörlosen Magd und einem einarmigen Knecht. Dieser hatte ihn um mehr Lohn gebeten, er ihm aber erklärt: »Mein Lehen ist klein, der Boden karg, es trägt mir keinen zweihändigen Knecht; darum hab ich dich genommen. Damit ist mir gedient, und dir auch, denk ich! Und drum mußt du mit mir und ich mit dir zufrieden sein. Das Leben ist eine ernsthafte Sach!«

Den Geschwistern stand das Lachen nahe. Aber wie sie durchs Fenster die Magd ohne Gehör und den Knecht ohne Arm roboten sahen und dazu die ernsthaften Gesichter der beiden, wurde ihnen selber wieder ernst zumute.

Von Silvesters Beruf und Lebensart konnten sie sich keine rechte Vorstellung machen; doch meinten sie, die Sternguckerei, abends, eine Stund vorm Schlafengehen, müßte eine unterhaltliche Sache sein. Beim Politischen wurde der eine gesprächig, faßte es aber ganz in seiner Weise auf.

»Völkerfrühling«, sagte er, »das tut wohl recht schön klingen, aber uns Bauern ist von Wien selten was Gutes kommen. Harte Steuern, eine Bagatelle für unsere Feldfrücht, Einberufungen, die schönsten und jüngsten Leut müssen als Kanonenfutter fort. – ›Frei und deutsch!‹, das ist recht, das tät mir gefallen.« Diese Worte wiederholte er mehrmals, und wie er sie hochdeutsch aussprach, verklärte sich sein wenig schönes Gesicht. Die Klerikalen, die »Schwarzen«, wie er sagte, liebte er nicht. Er war auch wegen einer Beleidigung des Koadjutors Kletzl zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Auch das Dorf und seine Menschen tat er wie etwas Verächtliches ab. Er sprach von einem »Hundsdorf« und einem »Menschengesod«, welch letzteres ein Futtermischmasch von geringem Wert ist. »Vor dem Bräu«, sagte er, »zieh ich den Hut, selbstverständlich! Ich bin der Lichtmeßberger und er ist der Bräu . . . Aber wenn's zwischen 327 uns zu einem Handel kommt, sind wir wieder auf gleich und gleich.« Von da ging er auf die Stadtwelt über. »Was gibt's denn«, fragte er mit einem leisen Ingrimm, »in den großen Städten für andere Menschen, als die sogenannten ›Herren‹, die Kaufleut, die Beamten, die Schreiber, und auf der andern Seite das Fabriksgesindel? Wie ist denn das Zeugs geworden? – Wie die Habsburger von ihren Kriegszügen heimkamen, war ihre erste Sorge, was sie mit den Tausenden von Kriegsleuten und der ganzen Riesenbagage anfangen sollten, einer schlechten und wilden Menschensort, geneigt zum Fressen, Saufen und Huren, zu Müßiggang, Raub, Mord und Totschlag. Also haben sie ihnen Mietkasernen gebaut, aus Ziegel und Dreck, damit sie ein Dach überm Kopf haben, drin leben und Kinder machen können. Was arbeitet man denn in den Städten? – Taschenfeitel, Geldbörsen, Briefpapier, Haarnadeln und tausenderlei solches Gelump, ohne das ein Mensch ruhig leben und glücklich sterben kann. Keine schmutzigen Arbeiten wollen sie tun, Faulenzen, schöne Kleider tragen, gute Gerüchlein einatmen und auf Kosten von unserem Schweiß und Blut leben, wie die Bremsen auf Blutkosten unserer Ochsen und Rösser. Fein bescheiden sollen wir Bauern sein und den Hut vor ihnen ziehen, weil sie steife Kragen um den Hals haben? Wir Bauern haben seit Jahrhunderten nichts als Arbeit und Plag gehabt und dazu die Verachtung eines jeden städtischen Windhunds. Früher haben wir gesagt: Ah, von Wien! Und haben das Hütel ehrfürchtig gerückt. Aber es wird eine Zeit kommen, da wird's heißen: Ah so, von Wien! Und unsere Gesichter werden etwas anders ausdrücken. Wer wird denn einmal die Habsburger um Kron und Reich bringen? – Seine hochmütigen Beamten und Schreiber, seine Staatsoffiziere, alle diese Windbeutel und Leutschinder, und nicht zuletzt das Fabriksgeschmeiß! Die werden sie um Kron und Reich bringen. Dann kommt eine Zeit, wo unser Volk von Sprechern und Schwänkemachern regiert werden wird. Und dann? – Dann steht der Bauer auf! – Und dann? – Dann wird der Bauer das sein, was er ist und sein soll: der erste Stand der Welt!«

Der Lichtmeßberger schien höchst vergnügt darüber, daß er es seinem städtischen Herrn Vetter und Sterngucker tüchtig um die Nase gerieben hatte. Er kam immer kräftiger ins Rauchen und Trinken und warf dazwischen schalkhafte Blicke auf die Mena, als 328 wollte er den Beifall ihrer Bauernseele gewinnen. Es war unmöglich, den Mann von der Irrigkeit seiner Anschauungen zu überzeugen. Sie waren ihm wohl aus seinen Vorfahren, seiner Umgebung und seiner Arbeit so sicher erwachsen, wie auf einem bestimmten Boden bestimmte Kräuter, auf einem Apfelbaum Äpfel und auf einem Moosbirnbaum Moosbirnen gedeihen. Es war nichts anderes, als die Abneigung des alten heidnischen Waldbauern gegen alles, was von außen auf ihn eindrängte, Kirche, Staat und Stadt, eine Abneigung, die sich von Generation zu Generation vererbte.

Die Mena aß ihr Butterbrot, mit Honig bestrichen, und dachte, wie schon oft bei solchem Streit: Wozu ist das nur? Sie war über diese Meinungsverschiedenheiten verwundert und konnte von diesen Männersachen nichts verstehen. Daß sie dem Lichtmeßberger, was die Bauern und Stadtleute anlangte, recht gab, schien ihn noch aufgeschlossener zu machen; er lachte herzlich, guckte sie dabei an, als ob er sie verschlucken wollte, und neckte: »Ja, Mena, wie kommt's denn, daß du noch immer einspännig bist? – So ein sauberes Weiberleut!«

Auf dem Weitermarsch meinte Silvester: »Wie weit sind doch die Klassen eines Volkes voneinander entfernt! Diese Bauern sind im Grund keine Christen, keine Staatsbürger, sind Heiden und Souveräne. Jeder Hof hat seinen Kopf und jeder Kopf seine eigenen Ansichten. Es ist, als ob diese Menschen außer der Zeit lebten, wie die Blumen auf den Wiesen und die Bäume in den Wäldern.«

Diese Blumen und Bäume, die frischgrünen Wintersaaten, die Wiesen und Heuhaufen, die ganze Landschaft, mit dem Schimmer der Abendsonne übergossen, nahm ihn jetzt dermaßen gefangen, daß er schwieg, während die Mena, wie ein Schulmädchen, eine Kette aus Dotterblumen flocht. Sie trieb allerlei Ulk, von dem starken Obstwein sichtlich benebelt, steckte mit ihrem Übermut auch den Bruder an, und sie lachten über einen Hasen, der mitten im Weg ein Männchen machte, über eine Vogelscheuche, mit einem Kopftuch und einer Tabakspfeife im Mund, über zwei Kleehifler, die der Wind so zueinander geneigt, als ob sie sich umarmen wollten.

»Mena, du hast den ›Ernsthaften‹ geködert!« sagte Silvester.

»Nein«, protestierte sie. »Ich und ködern? – Das tun doch nur die Fischer und die Fallensteller.« 329

»Eben! Und jedes Frauenzimmer ist exakt ein solcher Fischer und Fallensteller. Übrigens, es ist höchste Zeit, daß du heiratest.«

»Ich glaub«, rief sie, »dasselbige wär auch bei dir der Fall.«

Den Geschwistern dünkte, als ob sie wieder Kinder auf Ellenhub wären. Aber es war seltsam: die Herzen der beiden Geschwister nahmen ihren Flug in einer grundverschiedenen Richtung. Silvesters Herz sang ein Kampf- und Siegeslied, dessen Refrain lautete: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das höchste Ziel des Lebens ist: siegen oder sterben! – Der Mena Mund hingegen summte das alte, mütterliche Wiegenlied:

»Hutsche, heia,
's Kalberl lauft in Weiha . . .« 330

 


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