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Die junge Wöchnerin saß jeden Tag, das Neugeborene im Schoß, vor dem Kröll-Haus. Zuweilen knöpfte sie ihr blaues Miederleibchen auf und legte den Säugling an die Brust. Sie war in ihrer Art schön, diese Magdmutter, wie sie so vor den Brennholzzeilen in der Sonne saß, und kein Wunder, daß alles, was vorüberging, ob Mann, ob Weib, ob Greis, ob Greisin oder Kind, auf einen Sprung in den steingepflasterten Gang zwischen Haus und Garten kam, die Austragbäuerin, der Roßknecht, das Schulmädchen, heiter, verständnisinnig und ohne Ausnahme entzückt waren.
Auch die Kinderkathl kam. Aber die Mutter fürchtete sich vor der Trennung; sie fühlte schon bei dem bloßen Gedanken dran ein Schneiden ums Herz und begriff: außer der Nabelschnur war da noch ein stärkeres Band abzureißen, die Mutterliebe.
Auch konnte sie geruhig warten. Ihre Sparsamkeit zeigte nun, was sie Gutes an sich trug. Ja, sie wußte sich bei dem Gedanken gar nicht zu fassen, wie sie jetzt ohne diese Hilfe dran gewesen wäre, und dankte heimlich ihrer Mutter, die ihr den Sparsinn vererbt hatte. In Anbetracht der neun Kinder und der Sorge, wie sie wohl alle großbringen würde, hatte sie das Sparen in ein System gebracht, mit Feuer und Leidenschaft, mit hundert Schlauheiten und Kniffen, und versucht, diese Methode auch den Kindern einzuimpfen. Bei einigen, so bei der Mena, hatte es tiefe Wurzeln geschlagen.
Gewohnt, auf den einsamen Höfen zu leben, schien es ihr hier laut. Das Rauschen des Bachs, das Zwitschern der Vögel, das Geräusch des Holzzerkleinerns, das Rollen der Postwagen und Extraposten regte die Sinne an. Die Dorfleute waren wortreicher als die Bauern, und was die Durchreisenden, die Zeitungen für Neuigkeiten brachten und was es sonst jeden Augenblick gab, das war schon ganz aus der Weise. Es war überhaupt, wie sie mit besonderer Freude feststellen konnte, hier eine weisheitsvolle Fröhlichkeit im Schwang. Glücklich wurde, wer unverzagt und unverwirrt in ihr lebte, unglücklich, wer von ihr wich. 207
Es war kein Wunder, daß solche Weisheit sich hier angesetzt hatte; das Dorf war uralt. Einige Jahrtausende mochte es her sein, daß die ersten Menschen sich hier seßhaft gemacht und einen Weiler gegründet. Er war allmählich gewachsen, und besonders stark, als die Römer hier eine Brücke und ein Kastell erbaut hatten. Auf dem windgeschützten Talgrund floß ein klarer Bach, und daran breitete sich ein moosartiges Grün, das zum Rasten und Schlafen einlud. Die Bauern saßen auf den Höfen. Das so schwer Errungene sollte ungeteilt erhalten bleiben. Der Älteste erbte das Gut, die übrigen wurden Knechte, Mägde, Handwerker, Krämer und Wirte. Die vielen gleichen Namen bewiesen, daß nur wenige, höchstens ein Dutzend Familien sich hier angesiedelt hatte. Beide Teile, Bauer und Dorf, waren sich heimlich feind. Die Bauern schimpften: »Dorfgesindel!« Die Dörfler sagten: »Dumme Teufel! Bauernknollen!« hüteten sich aber wohlweislich, ihre Meinung laut werden zu lassen. Und so klein die Talspalte auch war, so waren dennoch alle Strömungen und Einschläge in ihr vorhanden, wie in der großen Welt draußen, Liebe und Haß, Freundschaft und Feindschaft, Arm und Reich.
Da waren vor allem die Eheleute Kröll. Die Meinung, daß sie vom Teufel besessen wären, mochte ihre Richtigkeit haben. Eine unheimliche Qual schüttelte sie Tag für Tag und ließ zwischen ihnen keine ruhige Viertelstunde aufkommen. Diese Teufelei schien von der Frau auszugehen und den Mann im Laufe der Zeit angesteckt zu haben. Worin sie bestand, das vermochte die Mena nicht herauszubringen. Eins spürte sie: zwischen den beiden Eheleuten herrschte Haß. Zuweilen fingen beide an, in einer ununterbrochenen Leier, ohne daß er seine Schuhflickerei und sie ihre Handarbeit unterbrach, sich gegenseitig alle Fehler und Sünden vorzuhalten, um gewöhnlich mit den Worten zu schließen: »Du bist so schlecht wie zwei Kleien, wovon einer gefault ist!« worauf sie zurückgab: »Und du nicht viel besser!« Es gab Tage, wo beide wie geistesabwesend aneinander vorübergingen. Kröll hatte die Bibel vor sich liegen, las einen Satz darin und wiederholte ihn laut. – »Und ich sehe aus dem Meere ein Tier aufsteigen, mit zehn Hörnern und sieben Köpfen, auf seinen Hörnern zehn Diademe, und auf seinen Köpfen Namen der Lästerung. Gog und Magog!« Der Schuster starrte entgeistert in die Luft. Dann streifte sein Blick die Mena mit dem 208 Kinde, und er fing an, darüber zu reden, wie es nichts Lieblicheres in der Welt geben könnte als eine stillende Mutter. Die Kröllin kreischte dazwischen: Es sei wohl seine Schuld, daß sie keine Kinder hätten! – Er gab ihr die Schuld, und der Zank war wieder da. Kröll wandte sich seinem Lieblingsbuch, der Johannes-Offenbarung, zu, doch wenn die Kröllin einmal im Reden, war alles umsonst.
»Ruhig!« sagte er scharf.
»Von dir laß ich mir das Maul nicht verbieten!« zeterte sie.
»Ruhig, Bestie!« brüllte Kröll wieder.
Sie lachte verächtlich und sagte mit einem Blick auf die Gastin: »Erztrottel!«
Kröll langte, ohne ein Wort zu verlieren, nach dem Knieriemen und fing an, seine Frau damit zu bearbeiten. Sie stieß Schreie aus, duckte sich, saß regungslos, die Augen zugekniffen, die Fäuste an die Brust gedrückt, und es machte den Eindruck, als wollte sie erproben, wie lang sie die Schläge auszuhalten vermochte. Man hörte eine Weile nichts als das Keuchen des Mannes und das Klatschen des Riemens, bis plötzlich ein hysterisches Geschrei aufflog und ein fürchterliches Klirren und Krachen losbrach: die Kröllin zerschmetterte ihr Küchengeschirr.
Nach solchen Szenen kam Kröll mehrere Tage nicht mehr aus dem Wirtshaus. Die Kröllin reiste in die Stadt, sah angelegentlich in alle Auslagen und besuchte den Zentralfriedhof. Hier verweilte sie ein paar Stunden in der Totenkammer, um für die Seelen der Abgeschiedenen zu beten, wie sie erzählte; in Wirklichkeit aber war es eine unheimliche Neugier und Freude, womit sie dem einzelnen, unbekannten Toten ins Gesicht starrte; eine ähnliche Empfindung, die sie beim Anblick der lebenswarmen Säuglinge in der Stube der Kinderkathl empfunden hatte. Es war die grausame Freude, die vom Tod Zerschmetterten liegen zu sehen, während sie selber lebte, aß, trank und in ihrer Ehe wilde Tierkämpfe aufführte.
Noch etwas berührte die Mena seltsam: abends, nach dem Finsterwerden, traten öfters Leute ins Vorhaus und verschwanden in den Hinterstuben. Und als sie einmal Wasser holte, war sie erstaunt über die Beobachtung, daß alle diese Besucher, Männer und Frauen, so tief vermummt waren, daß man nur das Glänzen der Augen wahrnehmen konnte. – Gog und Magog! dachte sie erschrocken und ging in ihr Stübchen zurück. 209
Und außerhalb des Hauses, was waren das, zum Beispiel, für kuriose Persönlichkeiten: der Krämer Lambert, der Koadjutor Kletzl, der Pfarrer Gries, der Stumpfbräu! – Der Krämer wurde wegen seines Handels mit Butter und der stolzen Art, wie er auf seinem kistenbeladenen Wagen saß, der Butterkönig genannt. Kletzl hieß der Teufelsprediger; er war ihr unheimlich, ja sie fürchtete ihn. Ganz anders war es wiederum bei dem schon ziemlich alten Pfarrer Gries, den sie, wie überhaupt alle alten Leute, geradezu liebte. Was den Stumpfbräu anbelangte, so wurde dieser von ihr als eine Art Vizegott betrachtet, den man sich kaum näher anzuschauen getraute.
Es war um die schöne Osterzeit. Vor jedem Haus und vor jeder Keusche kreischten die Sägen; man machte das Kleinholz für den kommenden Winter. Wohl wissend um den Spruch: eine warme Stube ist das halbe Leben. Die Mena saß in der Sonnenwärme und säugte ihr Kind. Gejohle, das von Zeit zu Zeit vom Postwirt herüberkam, machte sie aufhorchend; endlich unterschied sie deutlich die Stimme Pauls. Es bewahrheitete sich also, daß er an Werktagen zechte. Sie ging etwas vor und sah Wagen und Pferd stehen. Dieser Leiterwagen war es, auf dem sie als Kinder oft unter wildem Gejauchz Fangen gespielt hatten. Gebrüll schreckte sie auf. Paul, so betrunken, daß er sich kaum auf den Füßen hielt, stieg auf den Wagen, ein paar Bauern suchten ebenfalls hinaufzuklettern, fielen auf der andern Seite herab und kletterten unter tollem Gelächter wiederum hinauf. Der Bruder schlug auf die Pferde ein, und der Wagen rasselte unter wildem Geschrei zum Dorf hinaus. – Der Ellenhuber-Paul dem Spott der Dörfler preisgegeben! – Waren nicht oft Leute aus den entfernten Orten zu Vater und Ähnl gekommen, um sie um Rat zu fragen? Und hatten sie sich nicht für diesen Rat bedankt, als ob sie ein Geschenk erhalten hätten? – Sie fühlte, daß ihr und ihrer Geschwister Leben ein klarer, leibeigener Himmel überwölbt hatte, ein Himmel, wie er durchaus nicht allen Menschen zuteil wurde, und fürchtete, daß dieser Himmel eines Tages einstürzen könnte.
Wie sie sich so grämte, sah sie den Krämer Lambert in seiner ganzen Größe über den Dorfplatz kommen und auf sie losgehen. Et hatte einen schneeweißen Latzschurz umgebunden und nahm mit einem »Erlaubnis« neben ihr Platz. Er scherzte mit dem Kind, 210 schnalzte mit der Zunge, ließ seinen drallen Tabaksbeutel hin und her baumeln und rief: »Himmeldonnerwetter, bist du aber ein kleiner Trunkenbold! – Ja, Mena, wie haben wirs denn, wir zwei? – Was wirst du jetzt tun? – Die Sach ist nämlich so: meine Magd heiratet, und ich such wieder ein tüchtiges Leut.«
Die Mena war so überrascht, daß sie keine Antwort gab. Stets hatte sie mit heimlichem Neid auf die Mägde gesehen, die in solchen Häusern dienten. Aber ebenso schnell begriff sie, daß sie ihre Freude nicht merken lassen durfte. Sie machte also eine abweisende Miene, und Lambert ging mit dem angebotenen Lohn von selber in die Höhe und fügte hinzu: »Zerreißen tun wir uns nicht. Gleichmäßig arbeiten, das ist das Richtige! Wann bei mir eine Magd auf meine Sach schaut, so schau ich auf die ihre! Und dann, Mena: Seit den letzten zehn Jahren haben ein halbdutzend Mägd von meinem Haus weg geheiratet.«
Dazu lachte sie, und es war kein Wunder, daß sie sich innerhalb einer Viertelstunde als Magd für Ökonomie und Haus verdingte. Der Butterkönig war nämlich ein dualistisches Wesen. Vorn ein Landkrämer, der alles führte, von Strümpfen über Rollentabak bis zum Kümmelschnaps, von Hosenträgern übers Türschloß bis zu Drahtstiften, von duftender Süßbutter über Ingwer und Muskatnuß bis zu dem bitteren Manna und Mutterblättern, war er hinten ein richtiger Bauer und hatte stets ein paar prächtige Milchkühe und Ochsen in seinem Stall stehen.
Die Mena freute sich, zwei Fliegen auf einen Schlag getroffen zu haben: Im Dorf zu sein, was sie sich schon immer gewünscht, und in der Nähe ihres Kindes. Dann fing sie an, im Geist zu rechnen, zu addieren und zu multiplizieren und Entschlüsse zu fassen. Diese Entschlüsse verband sie wiederum mit einem bestimmten Tag im Jahr, dem sogenannten Markustag, wo die Gläubigen eine Wallfahrt zu einer fernen Marienkirche unternahmen, die nahe der Stadt lag. Und in der Stadt war ein großes Gebäude, eine Sparkasse. – Tu du das eine Wunder, dann tut Gott das andere! dachte sie.
Zur Taufe kamen ein paar Geschwister und der Ähnl. Er war überaus sorgfältig gekleidet, die gekrausten Knöpfe an seiner Weste funkelten, seine Stiefel glänzten, und alles an ihm schien zu sagen: Holla, wir sind noch auf der Welt! – Dieses Äußere und ein fühlbarer Übermut in Rede und Gehaben standen in Gegensatz zu 211 seinem runzeligen Gesicht und seinem weißen Haar. – Mit beiden Füßen schon in der Grube, fuhr es ihr durch den Sinn, und so gerührig wie ein Junger.
»Also, was macht unser neuer Sprößling?« rief er, als er bei der Kinderkathl vor dem Korbwagen stand. Die Mena war mißtrauisch, ob dieser Urenkel wohl auch als ein vollwertiger Ellenhuber angesehen werden würde. »Ähnl!« fragte sie, »wirst du es auch so gern haben wie die andern?«
»Warum nicht?« sagte er. »Ein Kind ist ja heilig!«
Von der Kinderkathl ging heute eine gesteigerte Wirkung aus. Die winzigen Fingerchen ihrer Kleinsten nannte sie Kreberl, die Hinterteile Zwetschkenkerne, den Mund Schnaberl, die Augen Guckerl und die Hände Patscherl und Tatzerl. Und wenn auch das Bestreben dabei war, sich von der besten Seite zu zeigen, so strömte doch das alte Weiblein mit dem geblumten Kopftuch fühlbar dasjenige aus, was man Mutterliebe nennt und was wohl der Uranfang aller Kultur gewesen sein mag. Aus diesem Gottelement, gemischt aus mütterlicher Liebe, mütterlicher Verwunderung und mütterlichem Staunen ist wohl der eigentliche Mensch geboren worden.
Und wie das neue, nackige Erdenbürgerlein nun vom Taufbecken zurückkam und strampelnd vor ihnen lag, erfüllt von einer grenzenlosen Begier nach dem Leben, hob dieser Anblick plötzlich den alten Mann aus den Angeln. Er schnalzte mit der Zunge und mit den Fingern, ließ sich das Bündel in die Arme legen und drehte sich im Tanz. Er stampfte mit den Stiefeln, daß die Anhängsel seiner Uhrkette klirrten und psalmierte dazu mit lauter Stimme. »Franziskus Jakobus Ellenhub . . .« Es war zweifellos eine Art Tedeum auf das »ewige Leben«, das er leibhaftig in seinen Armen hielt. 212