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Emin verließ die Festtafel fast unbemerkt, wurde einige Zeit später mit einer Schädelverletzung bewußtlos auf der Straße gefunden und, ohne daß alle Festteilnehmer davon erfahren hätten, ins deutsche Hospital geschafft.
Es hieß, er habe in seiner Kurzsichtigkeit ein tiefreichendes Fenster für eine Balkontüre gehalten, sei hinausgetreten und aus der Höhe des ersten Stocks hinabgestürzt.
Das klingt ganz annehmbar, und man könnte wirklich an einen unglücklichen Zufall glauben, gäben nicht die Berichte der Augenzeugen zu denken.
Casati, der durch lange Jahre das Schicksal des Gouverneurs zu dem seinen gemacht hatte und sich stets bemüht zeigt, für Emins Taten und Erlebnisse die psychologischen Hintergründe aufzuweisen, Casati also weiß am Schluß seines zweibändigen Werkes nur zu sagen: »Die Freude über die Heimkehr, die festliche Aufnahme seitens derer, welche zusammengekommen waren, um uns in Bagamoyo zu begrüßen, trübte der Unfall, der Emin zustieß, der aber glücklicherweise weniger Bedeutung hatte, als man für den ersten Augenblick vermuten mußte.«
Kein Wort sonst. Vita Hassan, der sonst so schilderungsfreudige Apotheker, nicht viel mehr.
Auch Stanley, dem doch journalistische Ausschmückung zuzutrauen wäre, bleibt im wesentlichen einsilbig. Desgleichen Jephson.
Emins Tagebuch weist vom 5. Dezember an, dem Vorabend von Bagamoyo, eine Lücke auf bis zum 23. April 1890. Später erwähnt er nur den Schädelbruch, doch fehlen Einzelheiten.
Der einzige Schweitzer gibt zu, »daß der Grund, weshalb Emin seinen Platz an der Tafel verließ, wahrscheinlich nie bekannt werden würde«, führt aber auch eine Briefstelle an, allerdings ohne zu merken oder zu betonen, welch wertvollen Fingerzeig sie enthält: »Emin erhob sich, kam auf die Begrüßung des Kommandanten des ›Sperber‹ im Namen Sr. Majestät des Deutschen Kaisers zurück und brachte ein Hoch auf Se. Majestät aus, in das alle jubelnd einstimmten. Weiter wurden Trinksprüche vom Gouverneur auf Stanley und von diesem auf Major von Wißmann ausgebracht. Auffallend war es, daß niemand des Mannes gedachte, der zum ersten Male nach elf Jahren wieder unter seinen Landsleuten saß. Emin selbst aber erhob sich zum zweiten Male, jetzt um Worte des Dankes und der Anerkennung für die katholische Mission auszusprechen, die ihn unterwegs, als er vom Nötigsten entblößt in Usambiro angekommen war, unterstützt und auch schon in früheren Jahren so manchesmal ihm bei der Vermittlung von Nachrichten usw. eine helfende Hand geboten hatte. Dann erhob sich Emin, ohne Aufsehen zu machen, und ging ins Nebenzimmer. Nach kurzer Zeit war das Unglück geschehen.«
Wir wollen uns vor Augen halten, daß, wenn schon Stanley selbst, so doch Major von Wißmann und seinen Offizieren so wenig wie den englischen Offizieren und Festgästen ein unwissentlicher Verstoß gegen alles Herkommen zuzutrauen war.
Ein solcher Verstoß aber könnte es scheinen, daß unter den vielen Trinksprüchen – und wir wissen, daß Deutsche wie Engländer, zumal in den Kolonieen, recht freigebig damit sind – keiner auf Emin war. Anlaß zu einem Toast war doch genügend geboten: der deutsche Gouverneur konnte den Gast willkommen heißen, oder den Deutschen, konnte den pflichttreuen Beamten durch Zutrunk ehren oder den Forscher, den »Afrikaner« schlechthin. Konnte Emins Ankunft auch nur zum Anlaß nehmen, um des fern weilenden Dr. Peters zu gedenken und diesem, da ihm Emins Rettung versagt blieb, andere Erfolge wünschen. Oder in Deutschlands Namen dem »Retter Stanley« danken.
Stanley selbst schließlich konnte einige Worte, wenn schon nicht der Anerkennung, so doch kameradschaftlichen Abschieds an den Geretteten richten.
Nichts von alledem. Ein Zufall? Zufall auch der Sturz, wie Kapitän Hirschberg meint? »Gott führt die Menschen doch oft wunderbar! Elf Jahre war Emin im Innern Afrikas! Glücklich heraus, muß er am ersten Tage so verunglücken. Jetzt nachträglich sind natürlich Sicherungen an dem Fenster angebracht worden.«
Nun mag dem »Zufall« Herrschaft über Herdenmenschen gegönnt sein. Höher Geartete, Schicksalsträger, unterliegen anderen Gesetzen, die wir wohl nicht deuten, deren furchtbare Folgerichtigkeit aber wir erschauernd anerkennen müssen. Sind wir auch blind, so wollen wir uns doch nicht mit dieser Blindheit brüsten und es als »Zufall« abtun, wenn aus vielerlei Fäden von Verschuldung und Verdienst ein Knoten sich schürzt oder wenn die Fäden reißen, ins Nichts zerflattern.
Bleiben wir, da wir kein anderes wissen, bei dem Wort »Zufall« auch dafür, daß ein in den Sitten des deutschen Offizierkorps geschulter Gouverneur, Statthalter der deutschen Reichsmacht, vergaß, dem Manne zuzutrinken, dessen Schicksal durch Jahre die Welt in Atem gehalten hatte. Nennen wir es weiterhin noch Zufall, daß mit dem deutschen Gouverneur auch eine Schar wohlerzogener Europäer diese Ehrung vergaß, daß auch keinem der Gedanke kam, dem Festgeber eine Anregung zuzuflüstern.
Die Wirkung dieses Zufalls war kein Zufall mehr – sie war mit eiserner Notwendigkeit bedingt durch alles, was Emin durch lange Jahre getan oder gelassen hatte.
Die Wirkung war, daß die Milchglasglocke sprang, daß der Schleier riß, daß Emin plötzlich sich und die Dinge in einem Lichte sah, das seinen Augen wehe tat.
Fragen wir nicht, ob der kurze Tag in Bagamoyo genügt hatte, um an maßgebender Stelle Klarheit darüber zu schaffen, daß Emin weder Macht, noch Truppen, noch Elfenbein besessen und das Bild vom »einsamen Helden« nicht vollauf gerechtfertigt hatte, und ob man ihn am Festabend diese erste Enttäuschung fühlen ließ. Fragen wir nicht danach. Es ist so gleichgültig. Wichtig ist ja nur, was diese Unterlassung, ob gewollt oder nicht, in Emin auslöste.
Er verließ die Festtafel. Ist der Grund wirklich so schwer zu erraten? Kann es nicht die plötzliche und in ihrer Bitterkeit zermalmende Erkenntnis gewesen sein, daß das Leben ihm ungeahnte Möglichkeiten geboten und daß er sie ungenützt gelassen hatte? Kann er nicht jäh begriffen haben, welch endloser Abstand die Berühmtheit vom Ruhme trennt?
Bitter ist es für einen Mann an der Schwelle des Alters, sich sagen zu müssen: »Du hast nicht genug getan!« Doch mag der Gedanke, daß auch ein Mehr vielleicht den Erfolg nicht erzwungen hätte, oberflächlichen Trost bieten.
Bitter ist es für einen Mann, sich sagen zu müssen: »Das Werk, für das sie Dich loben, ist nicht Dein Werk!« Doch mag der Ruhmsüchtige sich in dem Gedanken trösten: »Sie wissen es nicht, werden es nie wissen, daß es nicht mein Werk ist!«
Bitter aber, so bitter, daß der Zunge, die davon gekostet, nichts mehr süß schmecken wird, bitter ist es für einen Mann, sich sagen zu müssen: »Dein Leben war wie Wachs in Deiner Hand, und Du hast es nicht nach Deinem Antlitz geformt! Nun bist Du alt und wirst ruhmlos sterben. Nie, nie wieder wird sich dein Leben in Deine Hand geben!«
Fragen wir nicht, ob Emin ein Fenster für eine Türe nahm, oder ob er sich fallen ließ. Es ist so gleichgültig.
Nördliche Völker glauben daran, ein Mensch könne »zuviel sehen«.
An jenem Abend in Bagamoyo hat Emin zuviel gesehen: sich, sein Leben und seinen Tod.
Als der Sturz ihn nicht tötete, als sein Stern noch einmal, in neuem Lichte, aufzuleuchten schien: da dachte er wohl, noch einmal das Leben fassen, formen zu können.
Doch, ihm unsichtbar, stand sein Unstern ihm zu Häupten, sein Tod war in ihm und lenkte seine Schritte.
Darum soll vor Emins letzter Reise jede Kritik verstummen. Hatte doch die Kritik auf den früheren Blättern dieses Buches nur das Bestreben, den Menschen Emin von den Hüllen zu befreien, unter denen seine Menschlichkeit zu verschwinden drohte.
Wir wollen ihn nicht begleiten auf seinem Wege, nur von ferne verfolgen, wollen an den Marksteinen Halt machen und die Gefühle auf uns wirken lassen, die die Tragödie wecken soll: Furcht und Mitleid.