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Der Sudan und der Mahdi

Bevor wir nun in der Schilderung von Emins Schicksal fortfahren, erscheint es unerläßlich, mit wenigen Strichen den Hintergrund zu umreißen, von dem sich Emins Lebenswerk abheben soll.

Dieser Hintergrund ist der ägyptische Sudan im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts. Der Nordrand dieses Landstrichs, das Stromgebiet des weißen Nils und die Bajuda-Wüste, wurde unter der Regierung des Khedive Mohamed Ali Pascha um 1820 erobert, weitere Kriegszüge, zum Teil unter europäischen Anführern, dehnten die ägyptische Herrschaft bis fast zum Äquator aus. Während es aber gegen den Äquator zu eine Menge meist kleinerer Negervölker zu unterwerfen galt, deren manche zwar kriegerisch und eigenwillig, doch durch Stammeshader an geschlossenem Widerstand gehindert waren, hatte man es im Norden mit der wesentlich einheitlicheren Front der Sudan-Araber zu tun, die sich zwar auch in vielerlei Stämme gliederten, den Eindringlingen aber doch das Band des gemeinsamen Glaubens und ein gehobenes Rassenbewußtsein entgegenzustellen hatten. Das Unabhängigkeitsgefühl der einzelnen Stämme war immerhin stark genug, um zu verhindern, daß sie sich frühzeitig zu einem gemeinsamen Führer bekannten. Der Glaube kam zunächst nicht ins Spiel, denn der ägyptische Eroberer war Moslem und Statthalter des Großherrn in Stambul. Auch blieb, nach der ersten Eroberung, die Wüste weit und frei, und die neue Herrschaft drückte kaum.

Das änderte sich, als der Khedive bei seinem Besuch in Khartum, 1840, die Sklaverei aufhob, den Sklavenhandel verbot und fast gleichzeitig den Elfenbeinhandel als Regierungsmonopol erklärte.

Diese Maßnahmen, besonders die beiden ersten, erlassen in dem europäisch-fortschrittlichen Geiste, der damals in Ägypten platzzugreifen begann, fanden das begeisterte Lob der weißen Kulturwelt. Man konnte oder wollte nicht einsehen, daß damit ein Dilemma geschaffen wurde, das eine gütliche Lösung nahezu ausschloß – tatsächlich bis heute auch nicht gefunden hat.

Wir müssen bei dem Gegenstand ein wenig verweilen, weil hier der Schlüssel zu den Vorgängen liegt, deren Schauplatz Afrika bald darauf geworden ist.

Die ganz allgemeine Frage: ob »der Herrenmensch« zu seiner notwendigen Ergänzung »den Sklaven« brauche, sich mit der Abschaffung, Befreiung des Sklaven also den Nährboden entziehe, diese Frage ist hier so wenig zu erörtern, wie die andere: ob eine noch so tiefreichende sittliche Erkenntnis ein Volk, eine Rasse ermächtige, diese Erkenntnis anderen minder einsichtigen Völkern oder Rassen, etwa auch mit Gewalt, mitzuteilen.

Sondern es geht uns hier lediglich die eine Frage an: ob »die Sklaverei« tatsächlich nur eine so oberflächliche Wucherung auf dem Riesenleibe Afrikas darstellte, daß sie mit einem glatten Schnitte zu beseitigen war. Und diese Frage ist ganz unbedingt zu verneinen. Die Sklaverei war durch ganz Afrika so verbreitet, so mit dem Land verwachsen, daß nur eine sehr behutsame, sehr zielsichere Hand es unternehmen durfte, die Fäden zu lösen, ohne Schaden im Gewebe anzurichten. Diese Hand fehlte zunächst. Auch schien »Behutsamkeit« den »Wilden« gegenüber nicht der Mühe wert. Es sollte durchgegriffen werden.

Doch auch dazu fehlte die Hand, und zwar nicht nur wegen der unendlichen Weite des neuen Landes. Denn in den Siegern, die es zunächst unternahmen, das Licht reinerer Menschlichkeit in die Finsternis zu tragen, war die »Aufhebung der Sklaverei« keineswegs zur Idee erstarkt, die ihrem Tun religiösen Antrieb, Inbrunst und Stoßkraft gegeben hätte. Nicht nur unter dem Zwang der Verhältnisse, sondern aus eigner Bequemlichkeit machten sie immer neue Zugeständnisse, und das Verbot der Sklaverei diente zunächst nur dazu, den Preis des »schwarzen Elfenbeins« höher zu treiben. (Eine Folge von »Verboten«, die sich auch bei der amerikanischen »Prohibition« pünktlich eingestellt hat.)

Gegen wen richtete sich nun das Verbot – wer hatte Nutzen davon?

Da ist zunächst zu unterscheiden zwischen dem Sklavenhandel, der mit rohester Gewalt die »Ware« in Afrika »erwarb« und außer Landes führte, und zwischen der seit unvordenklichen Zeiten bestehenden innerafrikanischen Einrichtung der Sklaverei überhaupt.

Träger des Sklavenhandels waren die erwähnten Araberstämme, die seit Jahrhunderten im Lande saßen und im Sklaven- und Elfenbeinhandel ihren Haupterwerb sahen. Da der Koran die Einrichtung der Sklaverei gelten läßt, und dem Moslem der heidnische Neger kaum besser als das Tier erschien, so fehlten religiöse wie sittliche Hemmungen gegen den Menschenschacher. Das neue Verbot, so unbestreitbar gerechtfertigt es in diesem Falle europäischen Augen auch erscheinen mochte, wirkte bei den streitbaren Wüstenstämmen nur aufreizend, als empörender Eingriff in ihre alten Rechte, und dies um so mehr, als die Eroberer selbst das Verbot kaum achteten, und die Nachfrage nach Menschenware bis weit in die Türkei hinein bestehen blieb.

Die Monopolisierung des Elfenbeinhandels durch die Regierung tat ein übriges, um den ungestörten Wohlstand zu untergraben, dessen sich die Stämme zu erfreuen gehabt hatten.

Die »sittlichen Gegenwerte« aber blieben aus. Abgesehen davon, daß sie dem unbeugsamen Freiheitssinn dieser Krieger-Händler kaum gütlich beizubringen gewesen wären, hatten – und das ist wohl das Entscheidende – die Eroberer sie nicht zu geben.

In einem Vortrag, den Prof. Dr. Schweinfurth 1889 in Berlin hielt, hat er »die Pioniere, die (in Afrika) der Zivilisation friedliche Wege öffnen sollten« in Gegensatz gestellt zu den »goldgeblendeten Eroberern Amerikas«.

Bleiben wir bei dieser Gegenüberstellung, werfen wir vergleichshalber einen Seitenblick auf die spanischen Konquistadoren, die dreieinhalb Jahrhunderte früher Südamerika unterjocht hatten; auf Fernando Cortez zum Beispiel, der mit einem halben Tausend Kriegern das blühende Aztekenreich zerschlug. Mag ihnen der Geist des Christentums fremd gewesen sein – die Idee saß ihnen fest in den behelmten Köpfen. »Nach gehörter Messe« zogen sie gegen hundertfache Übermacht in den Kampf, ihr Glaube ließ sie täglich neu das Wunder erleben, daß ihre Heiligen, den Göttern vor Troja gleich, in ihren Reihen leibhaft mitfochten; und mehr, weit mehr als Reiterei und Feuergewehr erschütterte die streitbaren Indianer das Grauen vor einer Gottheit, die ihren Kriegern solchen Mut verlieh. Dazu, vom Feldherrn bis zum letzten Fußsoldaten, die blinde Ehrfurcht vor des Kaisers »unüberwindlicher, höchst katholischer Majestät«.

Dazu endlich, in heißem Glauben geglüht und gehämmert, das Ziel: Gold und Neuland!

Dieser dreifache, inbrünstige Antrieb fehlte, den Ägyptern zumindest, im Zeitalter des beginnenden Fortschritts und der Aufklärung. Der Koran bot in den »höheren Kreisen« kaum mehr dem Buchstabenglauben Halt. Der Khedive – was war er gegen des römischen Kaisers Majestät? Der Sultan, der Großherr – weit, weit weg. Auch wollte Ägypten Selbständigkeit. Blieb als Ziel: Neuland – doch unter dem Deckmantel der »Menschlichkeit« verborgen und mit besseren Waffen, schärferem Drill erstrebt.

Professor Dr. Schweinfurth nennt als Ursache des Mahdiaufstandes die Scheu des Afrikaners gegen das Fremde, das Neue. »Behaltet Eure Waren, wir brauchen Eure Stoffe nicht, wir wollen Eure Perlen nicht – laßt uns allein!« So wurde europäischen Expeditionen entgegengerufen. Und daher der Zustrom, den der Mahdi fand? – Doch wohl nicht! Sondern: das Neue, das da kam, war nicht überwältigend, es war, zum großen Teil, wie die Glasperlen, ein glitzerndes Nichts, für das Gold und Elfenbein hingegeben werden sollte.

Über die innerafrikanische Sklaverei aber, die »einheimische«, wie Casati sie nennt, auf jahrtausendaltem Kulturboden gewachsen, ist hier wenig zu sagen. Ihre »Unterdrückung« mußte zunächst auf dem Papier stehen bleiben, weil wirklich alle Mittel dazu fehlten, dann auch, weil die befreiten Sklaven selbst mit ihrer »Freiheit« vielfach gar nichts anzufangen wußten. »Verkauft mich!« bat ein Freigelassener in Khartum. »Mein Herr wird mich schlagen, wenn ich es verdiene, – er wird mir aber auch zu essen geben. So sterbe ich vor Hunger!«

Soviel über die Vorgeschichte. Die Verhältnisse waren so verwickelt und trübe, daß selbst ein reiner protestantischer Geist wie Gordon sie nicht zu durchleuchten vermochte. Es gab keinen geraden Weg. Widerstände wie Lianen, nachgiebig, zäh. Winkelzüge. Gordon übernahm die Leitung der neueroberten Äquatorialprovinz, später, als Generalgouverneur, die des gesamten Sudans, wählte sich Helfer, die er mit seinem Geist zu erfüllen trachtete: vergebens! Dem Bau fehlte der kittende Mörtel. Die Steine saßen lose. Denn auch Gordon stand zwar in ägyptischem Dienst, glaubte aber sicher keinen Augenblick an die Möglichkeit, die afrikanische Frage vom Khedive, also von einem »ägyptischen Ägypten« aus, gelöst zu sehen. Wie lebenswichtig Innerafrika für die großenglische Politik sein mußte, hat er sicher nie verkannt. Daher ein seelischer Zwiespalt, an dem er bitter genug gelitten haben mag und den er, seinem Wesen nach, nicht anders zu stillen wußte, als indem er auf dem verlorenen Posten Blut und Leben ließ. Ehre ihm – er ist gestorben, weil er nicht wahr sein konnte! –

Immerhin: Gordon hatte ein reiches Leben voll Tatenruhm hinter sich. Er war Engländer, war gläubiger Protestant. Auch wissen wir nicht, ob nicht in seinem klaren Kopfe, als er fiel, schon der Gedanke eines britischen Großafrika lebte, eines Gegenstücks zum indischen Kaiserreich; ob also nicht seinen Tod das Gefühl der Fruchtbarkeit überstrahlte, das Gefühl, das den Tod des Helden so süß macht: »Ich säe mein Blut – mein Volk wird ernten!«

In zweien seiner Unterführer, Slatin, dem Gouverneur von Darfur, Lupton, dem Gouverneur von Bahr-el-Ghasal, hat sich die Ideenlosigkeit der ägyptischen Eroberung in einer Niederlage ausgewirkt. Beide mußten sich dem Mahdi ergeben, und zwar Lupton, ein braver Mann, verhältnismäßig rasch, weil ihn seine Truppen sämtlich verließen, Slatin aber, der wesentlich Bedeutendere, erst nach heftigem Widerstand. Junker schreibt darüber: »Erst später wurde bekannt, daß er bis zum Juni 1883 vierundzwanzig Gefechte gegen die Rebellen und Anhänger des Mahdi bestanden und während derselben zweimal verwundet worden war. Eine Kugel traf ihn am Oberschenkel, in dessen Weichteilen sie dann verheilte, ohne weitere Schmerzen zu verursachen; eine andere riß ihm den Goldfinger fort und verletzte dessen beide Nachbarn … Er verdient aber hier rühmlichst erwähnt zu werden, da er seine Provinz in mehr als zweijährigem Kampfe heldenmütig verteidigte und erst nach der Niederlage des Generals Hicks vor dem Feind kapitulierte. Von 5000 Mann regulärer und irregulärer Truppen, die unter seinem Kommando in Darfor gestanden, waren in den vielen Kämpfen über 3000 gefallen und auch die übrigen zum großen Teil verwundet. Zuletzt war Slatin Bey in Bara die Munition ausgegangen, die Offiziere und Soldaten verloren den Mut und die einreißende Demoralisation führte zu Desertionen.«

Slatin ist nach der Übergabe zum Islam übergetreten, wurde aber am Hofe des Mahdi vom Ehrengast bald zum Gefangenen. Das Grauen jener Tage wird furchtbar anschaulich in der Erzählung, wie er von Chartums Fall erfuhr: man warf ihm Gordons besudeltes Haupt ins Zelt.

Slatin hatte in der Gefangenschaft Furchtbares zu erdulden. Er wurde in Ketten geschmiedet, schwebte unzählige Male in Gefahr, als Verdächtiger hingerichtet zu werden. Endlich konnte er entweichen, erritt sich, tagelang durch wasserlose Wüste, die Freiheit, machte 1898 Kitcheners Feldzug gegen Omdurman mit und blieb seither in englisch-ägyptischem Dienst. Er hat Treue gehalten.

Wir werden zu seiner Zeit sehen, wie ganz anders Emin sich zu dem Zusammenbruch der ägyptischen Sudanherrschaft stellte. Hier sei nur vorweggenommen, daß ihm die Ideenlosigkeit nicht nahekommen konnte, weil sie das Wahrzeichen seines Lebens war: er war nicht nur zum Islam übergetreten, sondern auch Türke geworden. Darum war aber Ägypten doch nicht »sein Land«, die Türken nicht »sein Volk«, der Khedive nicht »sein Herrscher« – nur sein Brotgeber. Der Kampf des Mahdi gegen die Fremdherrschaft, für die reine Lehre ließ ihn kalt, weckte weder Hingabe noch Widerstand; seine ersten Briefe über den Mahdi zeugen von einem Unverständnis, das noch bei einem Mitteleuropäer verwunderlich sein müßte, bei einem Mohammedaner aber, der den Ereignissen örtlich so nahe war, den schlüssigen Beweis liefert, wie locker und oberflächlich der neue Glaube saß.

Gegen den Vorwurf der »Ideenlosigkeit« in Emins Leben wird man den Einwand erheben: seine Forschungsergebnisse hätten Weltgeltung erlangt. Dieser Einwand trifft aber den Kern der Frage nicht, verwischt vielmehr geflissentlich das wahrhaft tragische Problem dieses Lebens. Emin war ein ungewöhnlich begabter, äußerst gewissenhafter, geradezu leidenschaftlicher Naturforscher. »Die Wissenschaft« aber war keine Idee in unserem Sinne, »das Banner der Wissenschaft«, das Emin, dem blumigen Zeitungsstil jener Tage nach, »unentwegt hochgehalten hatte«, war keine Fahne, denn Emin kam nicht als Forscher, wie etwa Junker oder andere, sondern als Beamter der ägyptischen Regierung ins Land, unter ägyptischer Flagge, die Forschung und Erforschung war sein Nebenberuf, eine ehrgeizige Liebhaberei, die anfangs, von Gordon, nicht gewünscht, später zumindest nicht von ihm verlangt wurde. Seine naturwissenschaftliche Begabung und die Erfolge, zu denen sie ihm verhalf, waren stark genug, ihn über den Durchschnitt zu erheben und überhaupt zur tragischen Figur zu befähigen. Es geht aber bestimmt nicht an, den Forscher Emin herauszugreifen und völlig zu übersehen, was der Gouverneur Emin sich und dem Lande schuldig geblieben ist. – Dem Dr. Wilhelm Junker wird nie jemand einen Vorwurf daraus machen, daß er dem Zusammenbruch von Äquatoria »aus dem Wege gegangen ist« und nur auf seine und die Rettung seines Lebenswerks, seiner Forschungsergebnisse, bedacht war. Dr. Junker war, wie er sich selbst nennt, »Reisender«, war Forscher, nur der Wissenschaft verpflichtet – und ihr treu.

Emin war anders und tiefer gebunden: an eine Fahne – die ägyptische; an Menschen – seine Beamten und Soldaten; an ein Land – seine Provinz. Wollte er sich, so weit entrückt, der ägyptischen Scheinhoheit nicht fügen, so konnte er, ein zweiter Cäsar oder Napoleon, neue Adler auf alte Standarten setzen und herrschen, wo er befehligt oder verwaltet hatte. Die Idee lag nahe, ihre Verwirklichung greifbar unter seiner Hand: es gab so viele innerafrikanische »Reiche« und »Herrscher« – warum nicht eines unter einem weißen Cäsar, der überdies, als Moslem, dem Mahdi Paroli bieten und alle unter seiner Fahne sammeln konnte, die, altgläubig, nur den Mutamahdi, den falschen Messias, in jenem sahen?

Unter seiner Fahne – wo war Emins Fahne? – Fehlten ihm aber die Ausmaße zum Cäsar, so konnte er, immer noch ein Held, die Fahne, die ihm anvertraut war, verteidigen, fallend decken. – Doch die Fahne des Khedive war ihm nicht Erlebnis – sie hatte ihn selbst zu decken gehabt. Dem Stamme Emin war es nicht gegeben, mehr als einen Trieb, den wissenschaftlichen Trieb, zu nähren. Der blühte wurzelecht. Tatfreude und Tatkraft kümmerten daneben hin, traten als Ehrgeiz nach Wirksamkeit ans Licht. Über die Mittel, die dieser Ehrgeiz mitunter wählte, um Wirkungen zu erzeugen, wird später zu reden sein.

Man hat ihn »den Helden von Wadelai« genannt. Wir werden später auch sehen, welche Bewandtnis es damit hatte.

Dennoch: ist dies Urteil nicht zu hart? War tatsächlich eine ganze Generation unfähig, diesen einen Mann richtig zu werten?

Hier ist eine kurze Skizzierung der afrikanischen Machtverhältnisse um 1890 nötig. England hatte sich – durch ein Börsenmanöver, wenn man will, indem es dem geldbedürftigen Khedive die Aktienmajorität abkaufte, – die Kontrolle über den kurz vorher vollendeten Suezkanal gesichert. Dagegen hatte sich 1881 in Kairo unter dem Obersten Arabi Pascha eine Militärrevolte erhoben, die aber – wer weiß von wem so schlecht beraten? – den Engländern nur die höchst willkommene Handhabe bot, zur Sicherung des »weltbedeutenden Kulturwerkes« bewaffnet einzuschreiten. Alexandrien wurde bombardiert und besetzt, zur Operationsbasis für die Landstreitkräfte der Suezkanal gewählt, schließlich ganz Ägypten als englisches Protektorat erklärt.

Fast gleichzeitig aber nahm der Mahdi-Aufstand im Sudan eine Ausdehnung an, die nicht länger mehr als »Tollheit eines schmierigen Dongolaui« abzutun war. Die Vernichtung Hicks Paschas und seines Heeres im November 1883 zwang auch dem Übermütigsten das Bewußtsein für den vollen Ernst der Lage auf. Für England, als neuen Schirmherrn Ägyptens, entstand dadurch die peinliche Möglichkeit, für den Besitz des Schützlings im Sudan kämpfen zu müssen. Das konnte englischer Politik schon darum nicht wünschenswert erscheinen, weil nach Lage der Dinge der Sudan, als ägyptische Provinz, nur für Ägypten gehalten, beziehungsweise zurückerobert werden konnte. Und selbst das wirksamste Protektorat weist neben erklärtem Eigentum doch wesentliche Unterschiede auf. Darum wurde Ägypten veranlaßt, den Sudan als unhaltbar zu räumen, und zwar erhielt General Gordon, seit 1879 als Generalgouverneur zurückgetreten, den Auftrag, »die Garnisonen und Beamten des Sudans in Chartum zu sammeln und nach Ägypten zurückzuführen«.

Gordon verließ Kairo am 26. Januar 1884 mit Vollmachten, die weit genug reichten, um ihm sogar ein selbständiges, besser: selbstherrliches Verbleiben im Sudan zu gestatten, wenn es ihm möglich schien, ohne Ägyptens und vor allem, ohne Englands Prestige zu gefährden. Vielleicht hat diese lockende Möglichkeit Gordon von allzu großer Eile abgehalten. Vielleicht auch hat der Mahdi, in der Erkenntnis, daß Gordon und nur Gordon der Kopf und der Geist und der wahre Feind unter seinen Gegnern war, sich beeilt, gerade ihn aus dem Spiel zu bringen. Mitte 1884 wurde Chartum eingeschlossen und fiel am 25. Januar 1885, Gordon mit ihm. Gordons Leib wurde durch wütende Lanzenstiche zerfetzt, sein Haupt als Siegeszeichen dem Mahdi gesandt. Niemand weiß, wo seine Gebeine liegen. Doch sein Geist, sein großer Geist, zog dreizehn Jahre später mit Kitcheners Heere gegen Chartum, und der eiserne Marschall vergoß eine Träne auf Gordons Aussichtsbank.

Zwei Tage nach Chartums Fall kamen die Vorpostendampfer eines neuen Entsatzheeres den Nil herauf, erhielten aber aus den gestürmten Forts sofort starkes Feuer und kehrten um. Der Sudan war für Ägypten verloren – für seine Wiedereroberung durch England bildete aber der tote Gordon einen festeren Anker als ihn der lebende, vielleicht, geboten hätte.

Inzwischen war machtvoll daran gearbeitet worden, den Weg zu den inneren Nilländern von der Ostküste, von Suakim her, zu sichern. Hier aber warf sich Scheich Osman Digna, Heerführer des Mahdi, den Engländern entgegen, brachte ihnen einige blutige Schlappen bei und hielt sie dann, wenn auch mit wechselndem Kriegsglück, noch jahrelang in Schach.

Italien hatte im Februar 1885 den abessynischen Hafen Massaua besetzt. Es konnte England nur erwünscht sein, bei der Einkreisung des Mahdi einen Bundesgenossen zu haben. Nach dem Falle Chartums und der darauf folgenden Sperrung des Nilweges nach und von Ägypten wurde aber aus dem möglichen Bundesgenossen weit eher ein Nebenbuhler auf dem nun noch einzig möglichen Wege vom Roten Meere aus. Einer der Zufälle, an denen es der englischen Politik zur rechten Zeit nie gefehlt hat, sorgte aber dafür, daß Italien durch eine vernichtende Niederlage gegen Abessynien genügend an Ansehen einbüßte, um als Nebenbuhler keinesfalls in Betracht kommen zu können.

Im Jahre 1884 hatten ferner in Ostafrika deutsche Kolonisationsbestrebungen großen Stils eingesetzt, die sich zwar zunächst an der Küste hielten, doch aber, über unerforschtes oder schwer zugängliches Hinterland weg, ins Innere, nach den Nilquellen zu zielen schienen. Zwar gelang es schon durch das Londoner Abkommen, diesen Bestrebungen ihre für die nächstliegenden englischen Pläne bedrohliche Schärfe zu nehmen, doch war man sich in England natürlich darüber im klaren, daß gegen die Politik des greisen Altkanzlers: »Eine Landmacht: Deutschland – eine Seemacht: England, teilen, verbündet, die Herrschaft der Welt!« – daß gegen diese Politik in Deutschland selbst eine stoßkräftige Strömung im Wachsen war.

Das Londoner Abkommen hatte in das neue deutsche Gebiet einen Keil getrieben, dessen Spitze kerzengerade »ins Schwarze« wies. Immerhin: noch blieben auch deutsche Wege an die Seen und die Nilquellen.

Vom Westen schob sich die Interessensphäre des belgischen Kongostaats und, allerdings nicht vordringlich, eben noch denkbar, die des deutschen Kamerun und, vom Nordwesten über Wadai herunter, die des französischen Sudans gegen das Herz Afrikas vor.

Im Herzen Afrikas aber, im Schnittpunkte aller dieser Wellenkreise, saß Emin Pascha, Gouverneur der von Ägypten formell aufgegebenen Äquatorialprovinz, Herr eines, wie er nach Europa berichtete, wohldisziplinierten Heeres von 2000 Mann, Herr eines Elfenbeinvorrats von 75 Tonnen oder 75 000 Kilo. Der Jahresverbrauch der Welt betrug damals gegen 37 000 Kilo, der europäische Marktpreis so 30 bis 50 Mark das Kilo.

Emin hatte sich einen Postweg über Unjoro-Uganda zur Ostküste gesichert. So konnte er Briefe an befreundete Forscher, Berichte an Tagesblätter und Fachzeitschriften, konnte auch, immer wieder, kleine Sammelobjekte, Vogelbälge, Herbarien usw. nach Europa senden. Diese Berichterstattung trug vielleicht entscheidend dazu bei, daß seine Lage so gründlich verkannt wurde. Der Statthalter eines kleinen Königreichs, dem Muße zu so weitreichender, gewissenhafter Forschung blieb, konnte wohl nicht ernsthaft bedroht sein – am wenigsten natürlich von den eigenen Leuten.

Mitte Juli 1886 meldete denn auch »Die Post« in Berlin u. a.: »Als Statthalter des sodann englischen Sudans schlägt der Professor (Dr. Schweinfurth. Anm. d. V.) den jetzigen Gouverneur der ägyptischen Äquatorialprovinz vor, den ehemaligen Dr. med. Schnitzer, einen geborenen Schlesier, der gegenwärtig unter dem Namen Emin Bey in Ladò, der Hauptstadt jener Provinz, residiert und dabei der einzige Mann ist, vor dem der Mahdi einen an Furcht grenzenden Respekt empfindet.«

Emin, der nur mit Mühe abgehalten worden war, sich dem Mahdi augenblicks zu ergeben, um die Statthalterschaft aus seinen Händen neu zu empfangen!

Doch so oder so: der Stein kam ins Rollen. Dieser Mann Emin, ein weißer Kulturapostel, Bannerträger der Wissenschaft für die einen; ein deutscher Landsmann in Not für die andern; ein einsamer Held für alle – dieser Mann Emin war ein vortreffliches Aushängeschild. Daß seinem Retter das Herz Afrikas und, nebenbei, Elfenbein im Wert von einigen Millionen zufallen mußte, – das brauchte nicht betont zu werden, um den Nachbarn nicht zu reizen.

In England wurde die Idee sofort in ihrer Tragweite erfaßt, aufgegriffen und, zwar nicht von Regierungs wegen, doch mit weitreichender Unterstützung der Regierung ins Werk gesetzt. Die Unterstützung seitens der englischen Regierung äußerte sich u. a. darin, daß Ägypten einen Beitrag von 10 000 Pfund Sterling zu den Expeditionskosten leistete, unter Verzicht auf Beteiligung am möglichen Gewinn, – was ohne einen leisen amtlichen Druck wohl nicht ohne weiteres geschehen wäre.

In Deutschland war man nicht so flink. Während Stanley mit seiner »Entsatz-Expedition« nach der Reise über Sansibar, um das Kap der Guten Hoffnung, schon am 18. März 1887 bei Banana Point an der Kongo-Mündung landete, konnte Dr. Peters nach beispiellos zäher Überwindung zahlloser Widerstände erst am 17. Juni 1889, zweieinviertel Jahre später, von Witu aus ins Innere aufbrechen.

Nachdem wir so die Lage Emins in ihrer weltpolitischen Wichtigkeit gewürdigt haben, bleibt nur noch ein Überblick über den Mahdi-Aufstand selbst zu geben – die Welle von Norden, von Emins Standpunkt aus gesehen.

Im Jahre 1839 wurde als Sprößling einer alten Familie der Provinz Dongola Mohammed Achmed geboren, der sich schon in früher Jugend religiösen Studien ergab und ernsten Glaubenseifer zeigte. Die allgemeine Aufmerksamkeit lenkte er erstmals auf sich, als er sich weigerte, an einer Festlichkeit im Hause seines Lehrers teilzunehmen, weil ihm die Tänze, Gesänge und Tafelfreuden mit der reinen Lehre unvereinbar erschienen. Darauf wurde er von seinem Lehrer aus der Schule – dem Orden, wenn man will – ausgeschlossen, wies aber sowohl den Eintritt in eine andere Schule wie die in Erkenntnis des Fehlgriffs alsbald angeborene Verzeihung seines ersten Lehrers zurück und zog 1872 auf die Insel Aba, im Nil, südlich von Chartum gelegen. Dort führte er in einer Höhle ein Einsiedeldasein, trat aber schon gelegentlich, nach oft wochenlangem Fasten und Kasteien, vor seine wenigen Anhänger, die er mit visionären Ansprachen entflammte. Unter den Rechtgläubigen des Sudans bestand damals, nach Jahrzehnten der Verbitterung und Unterdrückung, eine Stimmung, die der »Fülle der Zeit« in Palästina bei Christi Geburt entsprochen haben mag. »Schutz den Bedrückten – bei Gott ist Zuflucht!« – das ließ manche aufhorchen, die in Sehnsucht nach dem Führer lebten, dem Wegweiser zu erhabeneren Zielen. Mohammed Achmed predigte von Gott, vom Propheten, von der reinen Lehre – nie von sich. Wollte nicht herrschen, nur überzeugen. Überzeugte erst und herrschte dann.

Enger und enger zog er die Kreise von rein göttlichen um immer irdischere Dinge – wie ein Seite, der aus dem weiten Blau des Himmels sich herniederschraubt, die Beute im Auge. predigte von der Mühsal der Unterdrückten – bald auch von der fluchwürdigen Verworfenheit der Unterdrücker, predigte vom Mahdi, dem Verheißenen, dem Erlöser – nannte ihn nicht. Die Frommen strömten ihm zu, bald auch die Unzufriedenen, die Kampflustigen – alle bannte er sie unter seine Rede, die ihm mit furchtbarer Gewalt vom Munde ging. Bis ihm, zur Raserei entflammt, die Gemeinde einst entgegenschrie: » Bist Du der Mahdi?« – Da hielt er seine Zeit für gekommen und bekannte – glaubte es vielleicht: »Ja, ich bin es!« Und sie beteten mit ihm. –

Nun fehlte, um ihm Märtyrerglanz, letzte Gewalt zu geben, nur noch der Versuch einer Verfolgung oder Unterdrückung, ein Mißgriff, der so viele Apostel geschaffen hat. Die ägyptischen Machthaber in Chartum waren nicht hellsichtiger als andere Machthaber vor ihnen: sie luden den Mahdi vor. Er, der neun lange Jahre gewartet hatte, in Demut und Gebet, bis er sich stark genug fühlte, er schlug es ab, sich in Chartum zu zeigen: »Mag der (Gouverneur) Hokumdar zu mir kommen, wenn er etwas von mir will – der Tag, an dem ich in Chartum einziehen soll, ist noch nicht gekommen!« Entrüstung über den frechen Dongolaui und die zerlumpten Bettler um ihn. Abu el Seûd erhält den Befehl, mit einem Dampfer hinüberzufahren und den Hetzer dingfest zu machen. 200 Soldaten müssen zur Vernichtung des Rebellen reichlich genügen. Zunächst wird eine kleine Abteilung gelandet, von den Anhängern des Mahdi aber mit Prügeln zurückgejagt. Daraufhin stürzt fast die ganze Schar herbei, racheschnaubend. Beim ersten Schuß aber reißt der Mahdi ein Schwert hervor und stößt zum ersten Male den Schlachtruf aus, vor dem noch siebzehn Jahre später selbst Kitcheners Armee erzitterte: » La Illahu il allâh – fi sabîl allâh! Kein Gott außer Gott – für Gottes Sache!« furchtbaren Widerhall weckte der Ruf, von den Soldaten auf der Insel entkam keiner, der Dampfer rettete sich, indem er die Taue kappte und eilends in den Strom hinausfuhr. Das war die Nacht vom 27. Juli 1881.

Der Mahdi verließ die Insel, zog über den Strom nach Westen auf den Gebel Gadir und verschanzte sich dort. Zum Angriff zu schwach, hätte er, unbeachtet oder stark blockiert, mit seiner Bewegung früh geendet. Die Regierung enthob ihn der Verlegenheit; erst griff ihn der Gouverneur von Faschoda, Raschid Bey, mit 120 Mann an und wurde vernichtet. Das war für ganz Kordofan und die Beduinen in Darfur das Zeichen zur Erhebung.

Dann zog der Gouverneur von Kordofan, Mohammed Pascha Said, mit etwa 2000 Mann dem annähernd gleichstarken Mahdistenheer entgegen – ein elender Rest der Truppen konnte sich mit der Kunde von der Niederlage nach El Obeid retten.

Eine andere Abteilung, von etwa 3000 Mann, unter Ali Bey Lutfi Abu Koka, sollte Bara entsetzen. Die Hälfte, samt dem Führer, fiel, die andre floh ins ausgehungerte Bara und wurde dort eingeschlossen.

Endlich wurde ein namhaftes Heer unter Jussuf Pascha El Schellâli ausgesandt, rückte bis an den Gebel Gadir, wurde aber von der durch neuen Zustrom vervielfachten Mahdistenmacht bis auf den letzten Mann vernichtet. Dieser Sieg gestattete es Mohamed Achmed, die Mehrzahl seiner Krieger mit neuzeitlichen Waffen auszurüsten.

Kleine Zwischenerfolge der Regierungstruppen wurden überreichlich ausgeglichen durch den Fall von Bara und El Obeid, deren Besatzungen hingemetzelt wurden, endlich durch die grauenhafte Niederlage eines großen, halbeuropäischen Entsatzheeres von etwa 16 000 Mann mit 70 Geschützen (teils Krupp, teils Nordenfeld) unter Hicks Pascha, in der viertägigen Schlacht von Schikân-El Birke, vom 2. bis 6. November 1883.

Das Jahr 1884 verging hauptsächlich mit den Kämpfen um Chartum, die, wie oben erwähnt, am 25. Januar 1885 mit dem Fall der Stadt endeten. Auch im Norden und Osten waren die Waffen des Mahdi siegreich. Doch hatte mit Gordons, seines großen Widersachers, Fall auch des Mahdis Schicksalswoge ihre Krönung erreicht: wenige Monate nachher, Mitte 1885, erlag der Mahdi selbst nach kurzer Krankheit, angeblich dem Typhus.

Seinem Wunsche entsprechend wählten die Glaubensstreiter seinen Vetter, Abdallah Walad Mohammed zum Kalifen. Doch lebte seit des Schöpfers Tode die Bewegung nur noch von der lebendigen Kraft des ersten Anstoßes. Neue Kraft hatte der Kalif nicht zu geben, schon deshalb nicht, weil ihm die Glaubensreinheit des großen Toten fehlte. Habsucht und der Hang zum Wohlleben trübten ihm den Blick für das hohe Ziel, das dem Mahdi vorgeschwebt hatte: den Sudan zur Wiege eines neuen Islam zu machen. Das geistliche Oberhaupt wurde mehr und mehr zum Blut- und Schreckensherrscher, die Zahl der Feinde wuchs.

Wie ungeheuer aber der Brand gewesen, den der Mahdi entfacht hatte, das zeigte sich, als beim Nahen Kitcheners, die letzten Flammen aus dem Aschenhaufen schlugen.

Die Kämpfe jenes Jahres, darunter auch die Endschlacht vor Omdurman, gehören nicht mehr in den Rahmen dieses Buches. Doch wird ihnen eines Tages wohl ein Sänger erstehen – den Streitern, die für ihren Glauben und ihre Freiheit dem Schnellfeuer der weißen Truppen entgegenzogen, langsam, im Schritt, zum Schall ihrer großen Hörner und Pauken; halbnackt, aus Munitionsmangel vielfach schon wieder nur mit Speer, Schwert, Messer bewaffnet. Langsam in den Tod. – Ihnen ein Sänger und den zweihundert Baggarareitern, die, als sie vor dem Übermaß der Vernichtung das Fußvolk wanken sahen, sich aus der Front lösten und gegen den Feuerwall anritten – in den Tod, nur um Beispiel zu sein. Nicht einer kam bis an die Linie. Der letzte fiel wenige Meter vor der Schützenkette.

Ist mit ihren Leibern auch die Idee verfault, die sie so sterben lehrte? Die weißen Herrenvölker waren sich eines Ja auf diese Frage so sicher, daß sie nicht nur vor den Augen der Überwundenen untereinander kämpften, nein, auch ihre siegreichen Machtmittel in der Besiegten Hände gaben.

Vielleicht wird Frankreichs schwarze Armee der weißen Welt einmal die Antwort darauf geben.


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