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Erzählungen
Es sind nun viele Jahre her, seit die arme Esther zu ihres Vaters Füßen verschieden ist, und auch Moses Freudenthal ist lange tot. Aber das große, weiße Haus an der Heerstraße, das nun dem Rabbi von Sadagóra zugehört, steht noch heute so stolz und stattlich da wie zur Zeit, da der harte, unglückliche Mann darin hauste. Über dem Tor hängt jetzt ein eirundes Blechschild, da ist auf gelbem Grund ein schwarzer Adler gemalt, und rings steht die Umschrift: »K. K. Bezirksgericht«. Denn da, wo einst Moses um seine Tochter getrauert, werden jetzt die ruthenischen Diebe verhört, die polnischen Betrüger und die jüdischen Wucherer. Das ist im Erdgeschoß zur Rechten, zur Linken aber besteht noch der Laden, den Moses geführt, nur zeigt das Schild einen anderen Namen: »Nathan Silbersteins Spezereiwaren- und Weinhandlung«. Das »W« in »Wein« ist klein, und in »Spezerei« steht statt des »z« ein »s«, das ist aber nur die Schuld des kleinen, buckligen Janko, der das Schild gemalt hat.
Im ersten Stockwerk hat sich unter dem neuen Besitzer fast gar nichts geändert, da wohnen, wie bei Moses, der Bezirksarzt zur Miete und der Bezirksrichter. Nur daß der Bezirksrichter ein anderer geworden ist, nicht mehr der gelbe, magere Herr Hippolyt Lozinski, sondern Herr Julko von Negrusz. Er ist der Amtsnachfolger des Herrn von Lozinski, aber in allen Stücken anders als dieser. Herrn Lozinskis ewige Zielscheibe waren die Juden, arm und reich – nicht ihre Herzen, aber ihre Geldbeutel. Und was er von den reichen Juden erpreßte, dafür fütterte er die armen Christen: die Adligen, die Beamten, die Leutnants. Seine Frau Kasimira aus dem hochadligen Haus derer von Cybulski, was zu deutsch »von Zwiebel« bedeutet, glänzte auf fünf Meilen in der Runde vor allen anderen Frauen durch drei treffliche Eigenschaften des Herzens: durch die meisten Schulden, die glänzendste Toilette, die rasendste Tanzsucht. Und Hörner setzte sie ihrem Eheherrn auf, so groß, daß man kaum begriff, wie er darüber den Zylinder stülpen konnte auf seinen gelben, mageren Kopf.
Aber das ist nun alles anders geworden.
Herr von Negrusz erpreßt nichts von den Juden und verpraßt nichts mit den Christen. Er lebt nur seinem Amt und seiner Familie, zwei lieben Bübchen und seiner schönen jungen Gattin. Diese Frau ist schön, sehr schön. Die Gestalt schlank und doch üppig, biegsam und doch königlich stolz, das Antlitz blaß, edel, scharf geschnitten, die Augen dunkel und träumerisch und tief, abgrundtief. Aber das Merkwürdigste an all dieser Schönheit ist die Farbe der Haut, das mattmilde, gelbliche Weiß, Bernsteinweiß könnte man es nennen, über dem die Röte der Gesundheit nur wie ein leiser Hauch liegt. Die Gestalt und dieses Antlitz – sie mahnen an die Sulamith und Suleika, an die holden Schönheitszauber des Orients. Aber die Frau Bezirksrichter trägt ein Kreuzchen am Hals, und auf ihren Visitenkarten steht: »Christine von Negrusz«.
Es ist eigentlich rätselhaft und sonderbar, aber durch diese Karten allein verkehrt diese Frau mit den übrigen Menschen. Sie empfängt keine Besuche, sie macht keine; zwischen ihr und den verehrlichen Honoratioren von Barnow ist eine Schranke aufgerichtet, die keiner der beiden Teile überschreitet. Wird ein verheirateter Beamter nach Barnow versetzt, so wird er von seinen Kollegen sorgsam instruiert. Er leiht sich vom Herrn von Wolanski die alte Karosse mit den alten Schimmeln und fährt mit seiner Ehehälfte vor das große, weiße Haus. Da schickt er die beiden Karten in den ersten Stock und empfängt die Antwort: die Herrschaften bedauerten, aber der Herr Bezirksrichter sei verhindert und die gnädige Frau unwohl. Und eine Woche später kommt Herr von Negrusz in ganz demselben Wagen mit seiner Frau vor die Wohnung des neuen Amtsgenossen gefahren, und dann vollzieht sich dieselbe Komödie mit vertauschten Rollen. Damit schließt zugleich jeder weitere Verkehr. Das ist so der Gebrauch, der schließlich zum Gesetz geworden ist.
Und dann noch etwas. Frau Christine geht nie allein aus, sie verläßt das Haus nur einige Male in der Woche zu einem Spaziergang an der Seite ihres Gatten. Alle übrigen Leute im Städtchen machen ihre Promenade im neuen, gräflichen Park, im Park um das Schloß der Gräfin Jadwiga Bortynska, geborenen Polanska. Aber der Bezirksrichter und seine Gattin gehen regelmäßig in den einsamen, schlecht erhaltenen Anlagen spazieren, die – jenseits des Flusses – um das alte Schloß liegen. Der gerade Weg dahin führt durch die Judenstadt, aber den vermeidet dieses menschenscheue Paar. Sie gehen rings um das Städtchen herum. Man könnte glauben, das geschehe darum, um den Staub und die Gerüche der Judengasse zu vermeiden. Aber nein, als sie einmal ein Gewitter überraschte, machten sie im strömenden Regen gleichfalls den großen Umweg. Warum? Herr von Negrusz sieht jedermann frank und frei ins Auge und vermeidet niemandes Begegnung, wenn er allein ist. Welcher Bann scheidet also gerade seine schöne Frau von den übrigen Menschen?
Ihr braucht nur den Neuigkeitenanzeiger von Barnow und Umgegend zu fragen, die hübsche und üppige Frau Emilie, die Gattin des neuen Aktuars. Er ist schon zehn Jahre im Städtchen, aber er heißt noch immer der »neue« Aktuar, im Gegensatz zu seinem Kollegen, der schon zwanzig Jahre in Barnow ist. Nun, Frau Emilie wird euch eine Visitenkarte zeigen und dazu sagen: »Ich bitte Sie, wie kann man mit einer solchen Frau Umgang haben? Sehen Sie sich nur die Karte an – warum hat sie nicht auch darauf setzen lassen, was für eine ›Geborene‹ sie ist? Weil es sich sehr schlecht machen würde: ›Christine von Negrusz, geborene Bilkes, geschiedene Silberstein‹. Denn sie heißt eigentlich Chane, und der Nathan Bilkes in dem kleinen Hüttchen neben der Judenschule ist ihr Vater und ein anderer Nathan, der Nathan Silberstein, ihr erster Mann. Dieser Negrusz ist nämlich ein ganz überspannter Mensch. Zuerst hat er die Tochter eines Millionärs heiraten wollen, eines armenischen Barons, und als man ihm die natürlich nicht gegeben hat, ist er plötzlich sehr genügsam geworden und hat sich in das passabel hübsche Judenweib verliebt und hat sie ihrem Mann abgekauft.«
»Abgekauft?« werdet ihr erstaunt fragen. »Um Geld, um bares Geld?«
»Natürlich – um was sonst?« wird der Anzeiger versichern. »Und das wundert Sie im Ernst? Ich bitte Sie, so einem Juden ist alles feil, sogar sein Weib. Man sagt sogar, wieviel es den Negrusz gekostet hat: tausend Gulden. Wenn Sie übrigens mir allein nicht glauben wollen, so fragen Sie die ganze Stadt, oder fragen Sie am besten den Silberstein selbst. Er ist ein Weinhändler, wenn er auch sonst das ganze Jahr herumreist, so ist er doch zu den großen Feiertagen immer hier. Er wird Ihnen bestätigen: ›Ich habe sie dem Bezirksrichter friedlich abgetreten.‹ Nun, und da frage ich Sie: Kann man mit einem solchen Weib verkehren?!«
Die üppige Emilie hat recht, sie hat in allem recht. Frau Christine hat wirklich früher Chane geheißen, zuerst Chane Bilkes, dann Chane Silberstein, und der Weinhändler hat sie dem Bezirksrichter wirklich friedlich abgetreten. Auch darin hat sie recht, daß sie, Emilie, mit einem solchen Weib unmöglich verkehren kann. Aber bezüglich des Kaufpreises ist sie im Irrtum. Der Kaufpreis war nicht eine Geldnote, sondern ein Menschenherz.
Die alte Betschul ist ein graues, verwittertes Gebäude, in fernen Zeiten erbaut, wohl gar im Mittelalter. Die Bauern nennen sie die »Judenburg«, weil sich hier einmal die Juden verborgen und verschanzt, als sie ein Fürst Czartoryski totschlagen und ausrauben wollte. Er wollte dies aus doppeltem Grund: erstens war es gerade Jagdzeit, aber wenig Füchse und Eber auf der Heide, zweitens brauchte er Geld. Aber die Juden bargen ihr Gut und Blut hinter den Mauern und Eisenriegeln der Betschul und hielten hier so lange aus, bis des jagellonischen Königs Mannen aus der nahen Veste Jagiellnica herbeieilten und die Geängstigten befreiten. Damals waren die Mauern stark und die Eisenriegel fest, jetzt ist von den Riegeln nichts mehr zu sehen, und halb geborsten, halb in die Erde gesunken sind die Mauern. Aber wie um die einstige Bedeutung dieses Gottes- und Schutzhauses anzudeuten, drängen sich hier an drei Seiten desselben am dichtesten die dürftigen Häuser und Hütten der Judenstadt.
An der vierten Seite hat der nahe Fluß, der träge, schleichende Sered, nur für zwei Häuser Raum gelassen, ein großes neues Haus, das – eine Seltenheit in dieser Gegend – mit gelber Ölfarbe bemalt ist, und für ein schmutziges, baufälliges Hüttchen, das trübselig am Ufer klebt. Es ist, als dränge das gelbe Haus seinen ärmlichen Nachbar in den Fluß, so stark neigen sich die modrigen Wände der Hütte über die trüben, langsamen Wasser. Im gelben Haus wohnte einst der reiche Weinhändler Manasse Silberstein mit seinem Sohn Nathan, und in dem Hüttlein wohnte und wohnt noch heute Nathan Bilkes, ein armer, sehr armer Mann.
Nathan war ein »Dorfgeher«, so lange seine Kräfte es erlaubten, und lebt jetzt, ein schwacher, einsamer Greis, von seinen sauer erworbenen Pfennigen und, wo diese nicht reichen, von der Unterstützung der Gemeinde. Er ist früh schwach und alt geworden wie alle Leute seines Berufes, denn es ist ein überaus harter, mühsamer Beruf. Ein »Dorfgeher« heißt in der Sprache seiner Glaubensgenossen derjenige Mann, der die Bauern in den umliegenden Dörfern mit dem Nötigen versieht und sich dabei sein Brot herausschlägt. Er zieht Sonntag am frühen Morgen aus dem Städtchen, den Rücken gebeugt von einem riesigen Pack Waren. Da drin ist alles enthalten, wonach nur ein ruthenisches Bauernherz verlangen mag, bis auf das eine, wonach ein solches Herz am meisten verlangt: Schnaps verkauft der »Dorfgeher« nicht. Aber sonst verkauft er wirklich alles: Strohhüte, Ledergurte, Stiefel, Taschenmesser für die Burschen; Blumen, Bänder, Korallen, Liebestränke, Kleiderstoffe, Spindeln für die Mädchen; Leinwand, Talg, Geschirre, Heiligenbilder, Zaubermittel, Wachslichter, Nadel und Zwirn für das Haus, Gebetbücher, alte Hosen und Kaftane, neue »Teffilim« und »Mesusas« für die vereinzelt wohnenden Glaubensgenossen; Schnupftabak, Kalender, die Zeitungen der verflossenen Woche, feine Stoffe und Stickereien für die Pfarr- und Edelhöfe; Liköre, Spielkarten, geschmuggelte Zigarren und andere Dinge für die Kavallerieoffiziere – kurzum alles, alles! So zieht er die Woche über, jahraus, jahrein, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, immer und immer, trotz Winterkälte, trotz Sommerglut. Er kennt alle Leute, und alle Leute kennen ihn. Bedürfen sie seiner, so gestatten sie, daß er ihre Schwelle betrete; brauchen sie nichts, so jagen sie ihn fort und hetzen, wenn er besonders hartnäckig ist, ihre Hunde auf ihn. Der Bauer und der Edelmann, der Kadett und der Kaplan prüfen ihren Witz an ihm oder, wenn sie nicht gerade geistreich aufgelegt sind, ihre Gerte und ihre Sporen. Er aber wird nicht müde, vom frühen Morgen bis zum späten Abend seinen heiseren Ruf zu erheben, zu feilschen und zu überlisten, wo er nur immer kann. Ist kein Bargeld im Hause, so läßt er sich mit Fellen bezahlen oder mit Getreide oder mit Hühnern und Enten oder mit Eiern. Am Freitagnachmittag aber kehrt er in die Stadt zurück und ist einen Tag lang ein Mensch und wird erst am Sonntag wieder zum »Dorfgeher«.
Solch ein Dorfgeher war auch Nathan Bilkes, und damit ist sein Leben beschrieben, es ist sonst nichts Besonderes darüber zu berichten. Sein Vater hatte ein Mädchen für ihn ausgesucht, das wurde sein braves Weib, gebar ihm zwei Kinder und starb früh. Die Kinder aber, ein Knabe und ein Mädchen, wuchsen herrlich heran in der düsteren, dumpfigen Hütte, wie ja auch zuweilen in Schutt und Moder schöne Blumen gedeihen. Aber »an ihrer Schönheit und Stärke sind sie mir gestorben«, klagt der Vater. Für ihn sind sie beide tot und begraben. Der Sohn mußte Soldat werden, weil er so trefflich dazu taugte und weil Nathan die fünfzig Gulden nicht aufbrachte, welche die Assentierungskommission für die Freigebung forderte. Wenigstens behauptete Blitzer, der Makler, es sei mit fünfzig Gulden zu richten. Aber die fünfzig Gulden waren nicht da. So ward denn der Bursche nach Italien geschickt, dann kam der Krieg, und nach Magenta stand sein Name unter den offiziell »Vermißten«.
Ach, ganz anders noch vermißte ihn sein alter Vater! Der wartete und wartete, aber der Sohn ist nie wieder gekommen, und seine Tochter ist nun auch tot. »Meine Chane«, pflegt der Greis zu sagen, »war ein ehrlich jüdisch Weib; die Frau Christine da oben, die »Goje« (Heidin), kenn' ich nicht.«
Der Dorfgeher hatte sich nicht versehen, daß ihm sein Kind so herben Schmerz bereiten werde. Seine Chane war ebenso schön wie gehorsam, ebenso züchtig wie fleißig. Nicht allein ihr Vater liebte sie, sie war bei allen Leuten wohl gelitten. Man gönnte ihr allgemein das Glück, als der alte Manasse Silberstein für seinen einzigen Sohn Nathan um ihre Hand warb. Das war ein großes, unerwartetes Glück, denn die Schranken sind sonst eng gezogen unter diesen Leuten, nur reich und reich gesellt sich, arm und arm. Es ist dies auch so natürlich bei dem Volk, dem man den Gelderwerb als einzige Beschäftigung, den Geldbesitz als einziges Glück gegönnt durch lange Jahrhunderte. Der arme Dorfgeher konnte es anfangs kaum glauben – der alte Manasse war ja reich, so reich. Er hatte einen großen Spezereiwarenladen und betrieb einen sehr schwunghaften Weinhandel mit Ungarn und der Moldau. Es war das schönste Ehrenzeugnis für des armen Dorfgehers Tochter, als die Wahl des Nachbars auf sie fiel, denn auch Nathan Silberstein war ohne Makel. Er war ein braver, klarer, verständiger junger Mensch, gesund und wohlgebaut und kannte sich im Talmud ebenso gut aus wie in Geldgeschäften. Und weil er kein Gelehrter werden sollte, sondern ein Kaufmann, so hatte der Vater ihm einen Lehrer für das Hochdeutsche genommen. Nathan hatte das Schreiben und Lesen erlernt, dann arbeitete er einen »Briefsteller für alle Stände« durch und das »Allgemeine österreichische bürgerliche Gesetzbuch«. Aus diesen beiden Büchern bestand auch offiziell und vor des Vaters Augen seine deutsche Bibliothek. In Wahrheit aber stand in seinem Bücherschrank, unter den mächtigen hebräischen Folianten versteckt, noch ein kleines deutsches Büchlein. Am Samstagnachmittag, wenn er im Festgewand mit den anderen in den gräflichen Park ging, steckte er das Büchlein zu sich, sonderte sich dann ab und las es an einer stillen, heimlichen Stelle, wo sich das Laub um ihn nur leise bewegte. Dabei fühlte er, wie sich auch etwas in ihm leise bewegte, was er sonst an den Wochentagen nie verspürte. Vielleicht war dieses Etwas das Herz. Auf dem Rücken des kleinen Büchleins stand in Golddruck: »Schillers Gedichte«. Als sein Vater ihm sagte, daß er eine Braut für ihn erwählt und wer das sei, da regte sich dieses Etwas nicht. Er sagte gehorsam: »Wie Ihr wollt, Vater!« und wurde vielleicht einen Augenblick lang etwas blasser als gewöhnlich. Und ebenso gleichmütig fügte sich die Braut in den Willen ihres Vaters, nur daß sie vielleicht dabei etwas röter wurde. Und dann ward die Verlobung gefeiert und zwei Monate darauf die Hochzeit. In der Zwischenzeit schenkte Nathan seiner Braut hübsche Perlen und kostbares Geschmeide und das arme Mädchen ihm einen Gebetmantel, auf den es kunstvoll mit Gold- und Silberfäden die Verzierungen gestickt hatte. Auch sprachen sie während der Zeit einige Male miteinander, über ganz Gleichgültiges, von ihnen selber und ihrer Zukunft sprachen sie nicht. Auch für die Vergangenheit fand sich kein herzliches Wort. Sie hatten, obwohl Nachbarskinder, keine gemeinsamen Erinnerungen.
Mit großem Aufwand ward die Hochzeit gefeiert, der Wein floß in Strömen, ganze Berge von Fleisch und Backwerk wurden vertilgt, die besten Spielleute und die besten Lustigmacher erheiterten die Gäste. Dann zogen die jungen Eheleute in das große, stattliche Hauswesen, das Manasse seinem Sohn gegenüber den Dominikanern gegründet. Sie hatten sehr viel Arbeit, sie mußten sich den Tag über schwer mühen und lebten still und friedlich miteinander. Sie waren beide gute, ehrliche Herzen, und da sie von den Tagen ihrer Ehe kaum im voraus geträumt oder sich ein paradiesisches Glück ausgemalt, so wurden sie auch in nichts enttäuscht. Die Sitte band sie, das gemeinsame Schaffen, die gegenseitige Achtung und darum auch die gegenseitige Treue. So ging alles im ruhigen, hergebrachten Geleis, und als Chane ihrem Gatten nach Jahresfrist ein Kind gebar, da fühlte dieser in seinem Innern sogar wieder jenes geheimnisvolle Etwas sich regen, das solange geschwiegen. Das Kind starb nach wenigen Wochen, aber die große Trauer brachte die Gatten nur einander näher. Dann mußten sie den guten, hochbetagten Manasse begraben, und nun lastete auch die Leitung des ganzen großen Geschäftes allein auf ihren Schultern. Nathan mußte nun viel auswärts sein, Chane war die getreueste Verwalterin des großen Hauswesens. Sie lernte deutsch schreiben und lesen, um ihrem Gatten im Geschäft helfen zu können, und sorgte insbesondere mit rührender Umsicht für alle seine persönlichen Bedürfnisse. Auch er hielt sie hoch und wert und bekleidete ihren holden Leib mit den schwersten Seidenstoffen und dem massivsten Goldschmuck aus den Läden von Lemberg und Czernowitz. Sie waren zufrieden miteinander, wohl auch glücklich, denn was fehlte zu ihrem Glück?
Sie liebten einander nicht, aber sie wußten von der Liebe nur, das sei eine Mode der Christen, bevor sie sich verheiraten. Wozu braucht ein jüdisch Kind christliche Moden mitzumachen?
Sie waren glücklich, und das Haus ihrer Ehe stand stark und fest gefügt auf dem Boden der Achtung und der Arbeit und der Gewohnheit, bis der Sturm der Leidenschaft herangebraust kam und das Haus zu Boden warf wie ein Kartenhaus und sie ohne Erbarmen in seinen Bann nahm und hinausstieß in Kampf und Schmerz . . . !
Das Städtchen Barnow ist sehr klein, ein ödes, schmutziges Nest in einem gottverlassenen Winkel der Erde, und der große Strom des Lebens und der Bildung wirft kaum das Atom einer Welle hierher, aber – ein »Kasino« hat Barnow doch. Es sieht freilich bescheiden genug aus. Hinten im Hof, hinter Nathans Laden liegt es, ein kleines Zimmer, in dem zwei Tische stehen und mehrere Stühle. Das hat Nathan für seine Stammgäste eingerichtet. Hier trinken die Beamten und sonstigen Honoratioren von Barnow ihren Frühschoppen und politisieren dabei, und wenn es ihre Frauen erlauben, so politisieren sie auch hier des Abends und trinken ihren Abendschoppen dazu. Der hochgeborene Florian von Bolwinski, ein Gutsbesitzer ohne Gut, der keine Frau hat, trinkt hier seinen Morgen-, Vormittags-, Mittags-, Nachmittags-, Abend- und Nachtschoppen und unterbricht sich nur zuweilen, um einen Spaziergang zu machen, einer Köchin seine Liebe zu erklären, einen Juden anzupumpen oder sonst ein wichtiges Geschäft zu verrichten. Auch der frühere Bezirksrichter, Herr Hippolyt Lozinski, war hier Stammgast, und ein Verdienst dieses Zimmerchens war es, daß mindestens die Nase rot wurde in seinem gelben, magern Gesicht. Aber eben, als sie durch fortgesetzte Bemühungen zum leuchtenden Rubin geworden, starb der Wackere, zur ziemlichen Freude des Bezirks, zum unaussprechlichen Schmerz seiner überaus zahlreichen Gläubiger. Frau Kasimira zog sich auf die Güter derer von Cybulski zurück, einen kleinen, überschuldeten Meierhof bei Tarnopol, und in das erste Stockwerk des weißen Hauses zog der neue Bezirksrichter, Herr Julko von Negrusz. Er nahm auch den Platz des Verewigten im »Kasino« ein, freilich ohne ihn so häufig und so ausgiebig zu benützen wie dieser.
Herr von Negrusz war ein junger Mann, etwa im Anfang der Dreißig. Man achtete ihn gleich von Anfang an als ausgezeichneten Juristen und bald auch als guten Menschen. Ein Bezirksrichter in Podolien ist ein Halbgott und kann zum Fluch oder zum Segen seines Bezirkes werden. Herr von Negrusz übte seine Macht nur zum Guten. Was sein Äußeres anbelangt, so läßt sich nicht viel darüber sagen: er war ein schlanker Mann, und stille braune Augen standen in einem Gesicht, das man weder schön noch häßlich nennen könnte. Die drei grünlichen, überaus erwachsenen Töchter des Herrn Steueramtsvorstehers behaupteten, er sei ein Barbar und gegen Frauenreize ganz unempfindlich. In der Tat liebte er Damengesellschaft nicht sonderlich.
Also, auch Herr von Negrusz wurde, wie erwähnt, Stammgast in der kleinen Weinstube. Er pflegte sich dort täglich, nachdem er aus dem Amt gekommen, eine halbe Stunde aufzuhalten und die Zeitung zu lesen, ehe er in seine Wohnung zum Mittagessen hinaufging, das ihm seine alte Wirtschafterin bereitete. Und da der Zugang durch den Hof so unbequem und schmutzig war, so ging auch er, wie die meisten Gäste, durch den Laden, wo die schöne Frau des Kaufmanns immer selbst das Geschäft beaufsichtigte. Doch begnügte er sich, sie im Vorbeigehen stumm zu grüßen und sprach und scherzte nie mit ihr, wie es wohl die anderen älteren Herren zu tun pflegten oder die jungen Offiziere. Er unterließ dies nicht etwa aus besonderen Gründen, sondern weil Lachen und Scherzen einfach nicht in seiner Natur lag. Auch mochte er glauben, daß das, was die anderen da an Huldigungen aufwendeten, für die Frau ohnehin lästig genug sei. Da irrte er aber, Chane war in der Beziehung sehr gleichmütig und nahm alles das so auf wie die anderen kleinen Unannehmlichkeiten, die das Verweilen im Laden mit sich brachte, so zum Beispiel die scharfe Zugluft. Diese Frau hatte eine merkwürdig sichere Manier, sich jeden Vorwitz, wenn auch nur in Worten, vom Leibe zu halten; erwiderte sie auch den ältlichen Herren meist so munter, wie sie angesprochen wurde, die Offiziere erhielten nur sehr kärglichen und oft recht sonderbaren Bescheid. Spöttisch und lustig bis zur Ausgelassenheit konnte sie insbesondere werden, wenn man ihr von Liebe sprach. Dieses Gefühl war ihr nicht allein rätselhaft, weil sie es nicht kannte, es war ihr allmählich überaus komisch und verächtlich geworden. Wer ihr also zwischen dem ersten und zweiten Seidel sagte: »Ich liebe Sie!«, der ward nur öffentlich ausgelacht und insgeheim verachtet, wer sie aber dabei auch um die Hüfte zu fassen suchte . . . fragt nur den kleinen Oberleutnant Albert Sturm, das ekelhafte, zudringliche, heimtückische Subjekt, warum einmal acht Tage lang seine rechte Wange voller und röter war als die linke.
Nun, dem Bezirksrichter gegenüber hatte sie weder in Worten, noch in Taten eine Abwehr nötig. Die beiden sprachen während der ersten drei Monate auch nicht eine Silbe miteinander. Und da dies etwas Auffälliges war in einem so kleinen Städtchen, wo jedermann mit jedermann verkehrt, und doppelt auffällig, da sie zugleich Hausgenossen waren, so sprach Chane einmal mit ihrem Gatten darüber, ganz zufällig und ganz unbefangen. Nathan war mit dem Bezirksrichter und mit Seiner Hochgeboren, dem Herrn Florian von Bolwinski, lange in eifrigem Gespräch vor dem Laden gestanden, dann war Negrusz aufs Amt gegangen, während Florian mit dem Kaufmann in den Laden trat, um heute ausnahmsweise zwischen dem Mittags- und Nachmittagsschoppen noch einen besonderen Verdauungsschoppen in Versorgung zu bringen. »Nathan«, sagte die Frau, »mit dem Bezirksrichter ist es ein eigen Ding. Ist er so stolz? Er hat noch nie ein Wort mit mir gesprochen.« – »Stolz ist er nicht«, erwiderte Nathan, »im Gegenteil, er ist der beste, hilfreichste Mensch von der Welt, aber wortkarg ist er, wer weiß, warum? Vielleicht ist er unglücklich.« – »Hoho!« grölten Seine Hochgeboren, »was für eine eitle Frau Sie haben, Pani Nathan! Wir machen ihr alle auf Tod und Leben die Cour, aber sie hat noch immer nicht genug. Jetzt sticht ihr dieser junge Herr Julko in die Augen. Hohoho! Aber da ist alle Mühe umsonst, hoho! Der ist schon verliebt, ernstlich verliebt, ja! Das ist Gottes Strafe!« Die schöne Frau hörte das alte Weinfaß geduldig an, sie war seine Witze schon gewohnt. »Es hat nicht jeder eine so glückliche Natur wie Sie«, erwiderte sie darauf, »dieser Mann scheint mir zu ernst und zu tüchtig, als daß er sich verlieben könnte!« Herr Florian stemmte die Arme in die Seiten und lachte einige Minuten lang sein wieherndstes, lustigstes Gelächter. »Hohoho!« keuchte er, »da muß ich schon bitten . . . hat man je so etwas gehört? Hohoho! Als ob sich nur dumme Leute verlieben könnten . . . zum Beispiel ich, bin ich dumm? Und . . . Pani Nathan, werden Sie nicht eifersüchtig –, ich bin doch in Sie verliebt. Aber dafür muß ich Ihnen doch zur Strafe sagen: bei dem Negrusz ist alle Mühe umsonst, der ist vergeben . . . hohoho! Fest vergeben, er liebt eine Tote! Hohoho!«
»Unsinn«, murmelte die Frau unmutig, indes der Hochgeborene in Nathans Begleitung ins »Kasino« torkelte. Es ging ihr aber doch nicht aus dem Kopf; denn am späten Abend, als sie neben ihrem Gatten im Wohnzimmer saß und ihm, da er am nächsten Tag in aller Frühe verreisen mußte, die Geschäftsbriefe schreiben half, fragte sie plötzlich: »Was hat denn heute der Bolwinski nur mit der Toten gemeint, in die der Bezirksrichter verliebt sein soll?«
»Was weiß ich«, erwiderte Nathan, »man spricht so hie und da. Er war in ein Mädchen verliebt, und wie das gestorben ist, hat er beschlossen, ledig zu bleiben. Vielleicht ist es wahr. Die Christen treiben viel Unsinn mit der Liebe.«
»So, so«, erwiderte die Frau und starrte sinnend in die Flamme des Lichtes. Dann aber griff sie zur Feder und schrieb den Brief an Moses Rosenzweig in Czernowitz zu Ende, in welchem sie ein Faß Heringe bestellte und fünf Zentner Zucker.
Am nächsten Tag geschah etwas Seltsames.
Der Herr Florian von Bolwinski ist nicht bloß ein dicker Mann, er ist auch ein braver Mann. Und weil er noch niemand unrecht getan hat, so fürchtet er sich auch vor niemand, ausgenommen vor seiner Wirtschafterin, obwohl er auch dieser niemals unrecht getan hat. Ein braver Mann, aber er hat einen großen Fehler: er erzählt alles, was er in Erfahrung bringt, und noch einiges dazu. Das kommt teils von der natürlichen Phantasie, teils vom vielen Weintrinken. Und so erfuhr denn der Bezirksrichter am nächsten Vormittag, als er mit Herrn Florian zufällig allein im »Kasino« war, wie Frau Chane gestern dem hochgeborenen Herrn unter einem Strom siedender Tränen ihr Herz geoffenbart und in diesem Herzen eine wahnsinnige Liebe für Herrn von Negrusz, und wie es sie fast zum Selbstmord treibe, daß der so übermenschlich Geliebte und Begehrte nichts von ihr wissen, ja, sogar kein Sterbenswörtchen an sie verschwenden wolle. Und zwar erzählte Herr Florian diese ergreifende Geschichte nicht so kurz und bündig, wie sie hier berichtet wird, sondern mit saftiger Ausmalung aller Einzelheiten, unterbrochen von zahlreichen »Hohoho!« und »Verstehen Sie mich!« Diese Selbstunterbrechung war notwendig, damit der Hochgeborene bei Atem bleibe, denn der Bezirksrichter unterbrach ihn nicht. Er saß stumm und ernst da wie immer, nur zuweilen spielte ein stilles Lächeln um seine Lippen. Dieses Lächeln war Herrn Florian unangenehm, und sooft es sich zeigte, wurde er etwas verlegen und bemühte sich, diese Verlegenheit durch doppelt saftige Einzelmalerei zu verbergen. »Und was sagen Sie dazu?« fragte er endlich tief aufatmend.
»Was ich dazu sage?« meinte der Bezirksrichter, »nichts, ich bewundere nur Ihr poetisches Talent, Adam Mickiewicz ist gegen Sie ein Stümper!«
»Wie? Was? Hohoho! Ich glaube gar, Sie glauben mir nicht! Oh, verehrter Herr von Negrusz, oh, verehrter Herr Wohltäter, wodurch verdiene ich das? Haben Sie mich je auf einer Lüge ertappt? Und dann, was hätte ich davon? Nein, auf Ehre, es ist Wahrheit, heilige Wahrheit. Ich versichere Sie, ich habe Mitleid mit dem Weib gehabt . . . ganz weg ist sie, ganz weg aus Liebe zu Ihnen. Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen, ich, der ich doch . . . hohoho, Sie verstehen mich, die Weiber kenne! Ganz weg, ganz weg! Und jetzt frage ich Sie, was soll ich ihr sagen? Der Nathan verreist – verstehen Sie mich? –, auf drei Wochen verreist, hohoho! Das Weib . . .«
»Herr von Bolwinski«, unterbrach ihn der Bezirksrichter, legte die Zeitung zusammen, in die er bisher ab und zu geblickt hatte, und richtete sich hoch auf, »was Sie, der katholische Edelmann, der Ehegattin des Juden Silberstein in seiner Abwesenheit sagen wollen, muß ich in Ihr Belieben stellen, aber ich für mein Teil, ich hätte Ihnen etwas zu sagen. Wüßte ich nicht, daß der ganze Roman, den Sie mir da erzählt haben, erlogen ist vom ersten bis zum letzten Wort . . .«
»Herr von Negrusz!«
»Ich wiederhole es: erlogen vom ersten bis zum letzten Wort, hätten Sie sich mir in Wahrheit als Vermittler eines Ehebruchs angetragen, ich würde von dieser Stunde ab Ihre Gesellschaft nicht mehr dulden. Aber Sie haben nur Spaß gemacht in Ihrer Art, die freilich nicht die meine ist. Ich erlaube mir keinen Spaß mit der Ehre so achtungswerter Leute, wie es dieses Ehepaar ist. Und darum ersuche ich Sie ernstlichst, den Scherz nicht fortzuspinnen und wenn Sie sich anderen gegenüber dazu veranlaßt finden, sich einen andern Akteur wider Willen auszusuchen als mich!«
Herr Florian ist außer sich. Erstlich glaubt ihm dieser merkwürdige Mensch da nicht und verdirbt ihm einen prächtigen Spaß. Aber das wäre noch zu verwinden, Herr Florian ist in diesem Punkt ein geprüfter Dulder, es glauben ihm auch andere Leute nichts. Aber dieser Mann da geht soweit, die ganze Sache ernst zu nehmen, fast tragisch! Er macht seine Hochgeboren herunter wie einen Schulbuben. Das kann man nicht dulden, das geht gegen die Ehre. Hier ist auch ein Einlenken unmöglich. Und darum richtet er sich auf und stemmt die Arme in die Seiten und ruft in jenem Ton, in dem er sonst nur die hartnäckigsten Gläubiger anzurufen pflegt: »Ich frage Sie, mit wem Sie sprechen, hohoho! Verstehen Sie mich? Mit wem Sie sprechen, frage ich Sie! Also, Sie sprechen mit mir, Florian von Bolwinski. Also, Respekt, ich muß sehr bitten, gebührenden Respekt! Hat man schon so etwas gehört?! Ein Lügner, ein Kuppler, ich, hohoho! Also, verstehen Sie mich? Respekt! Bleiben Sie tugendhaft, wenn Sie wollen, aber was ich gesagt habe, ist wahr. Diese Chane ist eine verliebte, leichtsinnige.«
»Still!« Zischend wie ein Pfeil kommt der Laut geflogen, und haarscharf schneidet er die imponierende Rede entzwei. Der Hochgeborene blickt zur Tür und läßt blitzschnell die aufgestemmten Arme niedersinken und wird sehr blaß. Aber dem Bezirksrichter steigt die helle Röte ins Antlitz. »Still!« befiehlt die schöne Frau noch einmal und streckt die Hand gebieterisch aus gegen den dicken, zitternden Niding. Hoch aufgerichtet steht sie da in der geöffneten Tür, totenbleich, aber königlich stolz und königlich schön. Seine Hochgeboren haben das Haupt tief herabgebeugt und lassen die Unterlippe hängen wie das Schaf vor dem Gewitter. Die Frau schließt die Tür hinter sich und tritt auf die beiden Herren zu. »Sie . . . haben . . . gehorcht!« stammelt der alte Sünder und macht den Versuch zu lächeln.
»Ich habe nicht gehorcht!« erwidert Frau Chane sehr entschieden. »Gott ist mein Zeuge – ich habe sonst nicht die Gewohnheit, zuzuhören, was die Herren hier untereinander sprechen, es geht mich auch nichts an. Aber ich habe gerade im Laden hier neben der Tür bei den Gewürzen zu tun gehabt, und da habe ich jedes Wort hören müssen. Es war mir bitter genug und noch bitterer« – eine heiße Röte flammt ihr über Stirn und Wangen –, »noch bitterer ist es mir, daß ich selbst sprechen muß in dieser Sache. Aber mein Nathan ist nicht zu Hause. Also muß ich selbst Ihnen, Herr von Bolwinski, ins Gesicht hinein sagen, daß Sie ein ganz schlechter Lügner sind. Ich habe bloß gestern meinen Mann gefragt, ob . . . ob der Herr Bezirksrichter stolz ist, weil er niemals mit mir spricht, und die anderen Herren tun es alle. Ich habe nichts Böses dabei gedacht. Und darum, Herr von Bolwinski, schämen Sie sich!« Herr von Bolwinski tut, wie ihm befohlen wird: er schämt sich. Die Unterlippe hängt sehr tief herab, und er erhebt die Augen nicht vom Boden. Herr von Negrusz aber sieht die Frau starr an und wendet keinen Blick von ihr. Es ist vielleicht nicht gut, daß er diese stolze, lebendige Schönheit so in sich aufnimmt, er, der doch nur »eine Tote liebt« . . .
»Dem Herrn Bezirksrichter«, fährt Frau Chane fort und stockt gleich nach den ersten Worten, und als sie dennoch weiter spricht, flammt die Röte noch viel heller auf, »dem Herrn Bezirksrichter danke ich schön, daß er sich um uns so angenommen hat, um meinen Nathan und um mich. Und wenn auch der Herr Bezirksrichter . . . nicht mit mir sprechen will, so sprech' ich doch zu ihm und sag' ihm: Sie sind ein guter, braver Mann, und die Leute haben recht, wenn sie Sie loben, und ich dank' Ihnen . . .«
Auch der Bezirksrichter findet kein Wort der Erwiderung gerade wie der Herr Florian, und fast so wie dieser schlägt auch er jetzt den Blick zu Boden. Dann greift er nach dem Hut und macht der Frau eine stumme und sehr, sehr respektvolle Verbeugung und geht in seine Wohnung hinauf.
Seine alte Wirtschafterin, die ihn auch liebt wie alle Welt, ist heute untröstlich. Er ist sonst bei gutem Appetit, aber heute rührt er sein Mittagessen kaum an, und selbst seine Lieblingsspeise, die Käspiroggen, kommen fast so vom Tisch, wie sie aufgetragen worden. Und dazu blickt er so sonderbar drein, so ganz anders als gewöhnlich . . .
Und die Tage kamen und gingen, leise und unvermerkt spannen sie zwischen zwei reinen und guten Herzen ein Band, das sündhaft und verbrecherisch war vor Gott und den Menschen.
Äußerlich hatte jener sonderbare Auftritt in der kleinen Weinstube freilich keinerlei Folgen gehabt, höchstens, daß Herr Florian von Bolwinski an jenem Tag seinen Nachmittags-, Abend- und Nachtschoppen in seinen vier Wänden trank, natürlich in doppelter Quantität, um die so unverdient erlittene Kränkung zu vergessen. Aber am nächsten Tag schon erschien er zum Frühschoppen wieder am gewohnten Platz und nahm auch wieder den gewohnten Weg dahin, durch den Laden und an der Frau des Kaufmanns vorüber. Und auch Herr von Negrusz erschien um die Mittagsstunde pünktlich wie immer. Nun, das war weiter nicht verwunderlich. Aber fast unerklärlich war es, daß auch in dem Benehmen der beiden gegen Chane scheinbar keinerlei Änderung eintrat. Herr von Bolwinski fuhr fort, sie mit seinen gewohnten Witzen und Schmeichelreden zu beglücken, und wenn sie nichts erwiderte, so sagte er höchstens:
»Hohoho! Wie stolz! Deshalb bleib ich doch in Sie verliebt, hohoho!« Und Herr von Negrusz fuhr fort, mit stummem Gruß an ihr vorbeizugehen.
Warum? Wenn sich jemand selbst belügen will, so gelingt es ihm bald. »Ich tue es nicht«, sagte er sich, »um nicht dem alten Schwätzer Gelegenheit zu Stichelreden oder neuen Verleumdungen zu geben.« Aber er fühlte dabei sehr wohl, daß dies nicht der wahre Grund sei, und zuweilen war er sogar so kindisch, der schönen Frau zu zürnen, weil sie sein ehrliches Herz veranlasse, unwahr gegen sich selbst zu sein. Was aber war der wahre Grund? Nicht die »Schüchternheit«, die ihm die üppige Emilie nachsagte, weil er einmal nach einem sehr verständnisinnigen Händedruck ihrerseits aufgehört hatte, ihr bei Begegnungen überhaupt die Hand zu reichen, auch nicht seine »Unempfindlichkeit gegen weibliche Reize«, über welche sich die drei grünlichen Grazien des Herrn Steueramtsvorstehers beklagten. Er war nicht schüchtern, weil das ein tüchtiger und begabter Mann niemand gegenüber ist, und was seine »Unempfindlichkeit« betrifft – ach, das Bild der schönen, in ihrer Entrüstung und Verlegenheit doppelt schönen Frau hatte tiefern Eindruck auf ihn gemacht, als ihm lieb war. Aber die Erbärmlichkeit des hochgeborenen Herrn hatte ihn in so eigentümliche Beziehung zu dem ihm bisher fremden Weib gebracht, und, um nun das rechte Wort und den rechten Ton für den Verkehr mit ihr finden zu können, hätte er unbefangen sein müssen. Und das war er ihr gegenüber nicht, obwohl er es sich hoch und teuer zuschwor. Und mochte er sich noch so häufig sagen: »Ich sprech' nicht mit ihr, damit das alte boshafte Weib in Schnürrock und Stiefelhosen nicht wieder etwas zu schwatzen hat – und übrigens, was hab' ich denn mit ihr zu reden, oder ist es gar eine Notwendigkeit, daß ich mit ihr rede?!« – er fühlte doch, daß er sich da nur selbst belog und wie unpassend es war, daß er schwieg. Und als Woche auf Woche verstrich und damit die Unmöglichkeit wuchs, seinen Fehler zu verbessern, da wurde ihm auch dieses tägliche stumme Vorbeigehen immer peinlicher. Und doch konnte er es nicht lassen! Und um sein Leben gern hätte er gewußt, was sie dazu sage.
Was sagte sie dazu? Zu anderen nichts, gar nichts, auch zu Nathan sprach sie kein Wort darüber. Vor jener Szene hätte sie ihm sehr ruhig, sogar in Gegenwart eines Fremden, darüber berichten können, jetzt hätte sie es nicht mehr vermocht. Sogar die Heldentat des Herrn von Bolwinski verschwieg sie ihm, als er endlich nach mehr als einmonatiger Abwesenheit von seinen Geschäftsreisen heimkehrte. »Wozu soll er sich ärgern?« entschuldigte sie sich vor sich selbst, aber in Wahrheit fühlte sie, daß sie es nur darum unterließ, um nicht zugleich des Bezirksrichters erwähnen zu müssen. Eine unerklärliche Scheu hielt sie davon ab. Gerade, weil sie soviel über ihn und sein Benehmen nachdenken mußte, darum konnte sie nicht davon sprechen. Und sie dachte so viel und so verschiedenes darüber – fast jeden Tag etwas anderes. »Es ist gar nicht schön von ihm, daß er nicht einmal ein Wort an mich wenden will, jetzt, da wir doch bekannt sind.« Oder: »Glaubt dieser hochmütige Christ vielleicht im Ernst, daß ich in ihn verliebt bin, und will er mir so beweisen, daß ich ihm gar nichts bin? Das ist nicht nötig, er ist mir auch gar nichts.« Aber dann gleich wieder: »Er ist ein braver Mensch, wie er sich um mich angenommen hat! Er spricht gewiß nur deshalb nicht mit mir, um diesem dicken, häßlichen Bolwinski allen Grund zu weiteren Lügen zu nehmen.« Ihr häufigster Gedanke aber war: »Das von der Toten muß wahr sein. Er liebt sie so, daß er mit einem lebendigen Weib gar nicht sprechen will. Er spricht ja sogar mit der Frau Bezirksaktuarin nicht. Wie kann man eine Tote lieben? Was ist denn diese Liebe überhaupt?«
Die Macht, die über unser aller Leben waltet, gebraucht oft seltsame Mittel. Hier brachte sie zwei Menschen dadurch einander nahe, daß sie nicht miteinander sprachen. Sie schwiegen und sahen einander täglich und schwiegen fort durch lange drei Monate. Der Hochsommer neigte dem Ende zu, von den Bäumen im Klostergarten fielen die ersten gelben Blätter zur Erde, die Zeit der Weinlese rückte heran, und Nathan trat seine große Reise in die Weinländer an, nach Ungarn und der Moldau. Am Sabbat vor den großen Feiertagen wollte er wiederkommen. »Bleib gesund und schau, daß wir aus dem verdorbenen Most einen guten Weinessig erzielen!« Das waren seine Abschiedsworte. Dann schloß er sein Weib wie gewöhnlich fest und ruhig in die Arme und küßte sie auf die Stirn. Er ahnte nicht, daß sie da zum letzten Mal in seinen Armen geruht. –
Es war ein Tag im September, ein schöner, klarer, sonniger Herbsttag. Im Laden stand Frau Chane und wog den Kunden Kaffee und Zucker zu, im »Kasino« drinnen saßen Herr von Bolwinski und der Herr Steueramtsvorsteher und sprachen über den Liberalismus. Alles wie gewöhnlich. Und wie gewöhnlich trat auch Herr von Negrusz in den Laden. Er lüftete schweigend den Hut, sie nickte schweigend den Gegengruß, und dann wollte er vorüber. Aber er konnte nicht, denn ein großes Faß mit Heringen stand mitten im Weg. »Sie müssen hier herum kommen«, sagte die Frau und wies auf den Weg hinter dem Ladentisch.
»Ich danke«, sagte er leise und ging an ihr vorbei. Dann aber blieb er doch stehen. »Sie machen hier neue Ordnung?« fragte er, um irgend etwas zu sagen.
»Ja, für den Herbst, da kommen die Früchte.«
»Das war ein gesegneter Herbst . . .«
»Ja, besonders die Äpfel . . .«
»Auch der Wein, sagt man. Wo ist denn der Herr Nathan jetzt?«
»Jetzt wird er wohl in der Hegyallja sein. Ich weiß es nicht gewiß, er hat während der Reise selten Zeit zu schreiben, aber er wird wohl schon in Tokay sein.« Und dann siegte der Stolz der Kaufmannsfrau über die Befangenheit, und sie fügte hinzu: »Seit diesem Frühjahr sind alle Potocki und Czartoryski unsere Kunden, da müssen wir natürlich echten Tokayer führen. Auch vom Rhein beziehen wir jetzt alles direkt.«
»So, so, ich gratuliere.« Damit ging er ins Kasino. Das war ihr erstes Gespräch. Sogar Herr Florian von Bolwinski hätte selbst nach dem dreißigsten Seidel nicht behaupten können, daß es ein Liebesgespräch gewesen, aber das Eis war gebrochen, und an dieses Gespräch knüpfte sich eine Reihe ähnlicher Gespräche. Sie sprachen über das Wetter, über die Geschäfte, über die kleinen, alltäglichen Vorkommnisse. Und seltsam, während sie im Schweigen sehr befangen gewesen und schließlich nur noch errötend einander zu gedenken vermocht, löste sich während dieser ruhigen, freundlichen Gespräche die Befangenheit, und sie wurden fest und sicher im Verkehr. Damals mochten die beiden an einem Scheideweg stehen: entweder machten diese einfachen, ruhigen Unterredungen der sonderbaren Beziehung, in die sie durch jene Szene und durch ihr Schweigen geraten waren, gänzlich ein Ende, oder aus diesem Verkehr baute sich jene Beziehung erst recht auf, viel tiefer, viel gefährlicher als früher, weil sie nun wirklich in gegenseitiger Vertrautheit wurzelte und nicht mehr in blauen Träumen. Sie ahnten nicht, daß sie an jenem Scheideweg standen, und als sie so allmählich immer vertrauter wurden und immer länger miteinander sprachen und immer mehr Gefallen aneinander fanden, da ahnten sie auch nicht, daß sie nun gewählt und einen Weg betreten hatten, der nach den Verhältnissen zu Weh und Entsagung führen mußte oder tief zur Schande.
Sie ahnten es nicht. Wie hätten sie sonst so unbefangen Dinge besprechen können, an die sich leicht ein glühendes Wort knüpfen konnte, eine unbedachte Aufwallung des Herzens?! Da erzählte sie ihm zum Beispiel einmal, was ihr Herr von Bolwinski von seiner Leidenschaft für eine Verstorbene mitgeteilt. Sie sprach fast scherzhaft darüber, aber sie bereute es sehr, als sie sah, wie sich sein Antlitz bei der Erwähnung verdüsterte. »Ich hab' Ihnen weh getan?« fragte sie besorgt. – »Nein, nein«, erwiderte er. »Ich muß Ihnen wohl auch einmal davon sprechen, nachdem es schon andere getan haben. Es ist an der Sache nichts, was ich verbergen müßte.« Und darauf erzählte er ihr die Geschichte seines Herzens, eine einfache, traurige, alltägliche Geschichte. Er hatte als Student ein Mädchen geliebt, das er unterrichtete, die Tochter vornehmer, adliger Eltern. Die junge Baronesse hatte seine Liebe erwidert, aber die Welt war stärker gewesen als ihre Herzen. Sie ward einem andern vermählt und starb nach kurzer Ehe. Die Judenfrau hörte die ganze Geschichte an wie eine Wundermär, es war etwas darin, was sie vor wenigen Monaten gar nicht verstanden hätte und was sie noch jetzt nicht ganz klar verstand. Vielleicht faßte sie das in die Frage zusammen, die sie nach langer Pause an ihn stellte: »Und – und Sie lieben sie noch?« – »Sie ist tot«, erwiderte er, »und ich liebe sie nicht mehr mit jener Liebe, mit der ich die Lebende umfaßt habe. Aber ihr Andenken bleibt mir teuer und lebendig, bis ich sterbe. Ich werde sie nie vergessen.« –
Die Frau sah lange sinnend vor sich hin. »Die Liebe muß etwas Großes sein«, flüsterte sie. Er erwiderte nichts, vielleicht hatte er die leisen Worte nicht vernommen.
Woche um Woche verstrich, die großen Feiertage rückten immer näher. Nathan sollte wiederkehren. Die beiden sprachen über ihn häufig, sehr häufig und lobten seine Tüchtigkeit, seine Ehrlichkeit, sein braves, gutes Herz. Das war sonderbar – immer wieder kamen sie auf ihn zu sprechen. Vielleicht fühlten sie es instinktmäßig, daß es notwendig sei, sich gegenseitig in der Achtung für diesen Mann zu bestärken, denn diese Achtung war ja die Schranke zwischen ihnen und zugleich der letzte Halt, an den sich ihr Ehr- und Rechtsbewußtsein klammerte.
So kam der Freitag vor dem jüdischen Neujahr heran, der Tag von Nathans Ankunft. Noch war das entscheidende Wort zwischen beiden nicht gesprochen. Da brachte der Zufall dieses Wort auf ihre Lippen, und sie erkannten, unendliche Seligkeit und unendliches Weh im Herzen, den Abgrund, vor dem sie standen.
Das war an einem trüben, nassen Oktobertag. Die Nacht über hatte es gestürmt, unablässig war der Regen niedergegangen über das öde Gelände und über das düstere Städtchen. Dann hatte ihn der Herbstwind weggepeitscht und jagte nun ruhelos hinter den einzelnen Wolken her, durchstöhnte die winkligen Gassen und warf von den Pappelbäumen der Mönche drüben die letzten roten, zitternden Blätter nieder in den Schlamm. Es war ein trauriger, trauriger Tag, und wen Kummer oder Einsamkeit drückte, dem mußte es heute doppelt bang ums Herz sein.
Im Laden saß Frau Chane allein, heute ließen sich keine Käufer blicken. Sie sah zu, wie der Wind mit den Blättern sein Spiel trieb. Sie hatte gerade keine bestimmte Sorge, oder sie empfand sie nicht deutlich, und doch war's ihr schwer ums Herz, so schwer.
Dann kam die Rosel Juster in den Laden, ein armes Mädchen, aber schön und üppig. Sie machte große Einkäufe an Zucker und Mandeln und Rosinen und allerlei Gewürz.
»Das ist zum Gebäck bei deiner Verlobung?« fragte Frau Chane freundlich. »Ich habe davon gehört und wünsch' dir viel Glück. Er soll ein braver Mann sein.«
»Ich dank Euch«, erwiderte das Mädchen. »Am Dienstag ist die Verlobung und schon am zweiten Dienstag darauf die Hochzeit. Es ist wegen seiner kleinen Kinder, er ist Witwer.«
»Da wirst du wohl viel Arbeit haben?«
»Ach, wenn es nur die Arbeit wär'! Aber er hat auch eine Schwester im Haus, und dann – er ist ein alter Mann, aber was nützt da das Reden!«
»Also ist es nicht mit deinem Willen?«
Die Rosel sah erstaunt auf. Dann erwiderte sie finster: »Seit wann fragt man bei uns nach dem Willen?! Ich bin ein armes Mädel, und er nimmt mich und versorgt mich – das ist alles.« Sie zuckte die Achseln, fuhr sich über die Augen und fügte rasch hinzu: »Und dann brauch' ich noch zwei Lot Ingwer.«
Frau Chane sagte nichts mehr und wog ihr das Gewünschte zu. Aber ihre Hand zitterte, als sie die Tüte zudrehte, und auch in den Gewichten vergriff sie sich einige Male und mußte mehrmals nachwiegen.
»Mir scheint, Euch ist nicht wohl«, sagte die Rosel, als sie fortging. »Ihr seht so bleich.«
»Ich bin müde«, erwiderte die Frau und sank auf einen Stuhl. Als sich die Tür hinter der Käuferin geschlossen hatte, schlug sie die Hände vors Antlitz und saß so lange, lange. Es waren wilde, wüste Stimmen, die in ihr kämpften und riefen . . . »Wann hat man je bei uns nach dem Willen gefragt? Ich war ein armes Mädel, und er hat mich genommen und hat mich versorgt. Mein Gott, das ist alles – alles!« Sie hielt die Augen krampfhaft geschlossen, aber sie sah dennoch klar in jenem Augenblick, klarer als je vorher, o fürchterlich klar! Ihr ganzes Leben lag vor ihr und die große Lüge dieses Lebens. »Alles gehört ihm, mein Leib und meine Seele, nicht, weil ich so will, nicht, weil er so will, nein! Weil unsere Väter es so für weise befunden haben. Und jetzt, wo ich fühle, daß ich auch ein Mensch bin, der seinen Willen hat und sein Herz, jetzt, wo ich einen anderen liebe, jetzt bleib' ich elend, oder ich muß . . .«
Sie dachte den Gedanken nicht aus, ihre Sinne begannen sich zu verwirren. Unendliches Mitleid mit sich selber überkam sie, und brennend heiß quollen ihr die Tränen aus den Augen. Sie bedachte nicht, wo sie war, sie bedachte nicht, daß der, den sie liebte und dessen Anblick sie gerade darum jetzt am meisten fürchtete, jeden Augenblick eintreten mußte. Sie dachte erst daran, als die Mittagsglocke der Dominikaner erklang, und raffte sich auf. Aber es war zu spät, da stand er schon in der geöffneten Tür.
Und nun geschah etwas Seltsames zwischen den beiden. Sie hatten bisher nie von ihrer Liebe gesprochen, sie hatten wohl auch nichts davon gewußt, aber wie er auf sie zutrat und ihre Hand faßte und in ihre Augen blickte, die großen, braunen, tränenerfüllten Augen, die mit so unsäglich rührendem Ausdruck auf seinen Zügen hafteten, da erriet er alle ihre Gedanken, ihren Kampf, ihren Schmerz, ihre Liebe. Und als er ihr die Hände drückte und ihr dann leise und zärtlich wie einem kranken Kind das Haar aus der Stirn strich, da wußte sie, daß sein Herz ihr gehöre und daß sie auf ihn bauen dürfe bis in den Tod. Dann ließ er ihre Hände los und trat zurück. »Wir werden viel zu leiden haben«, sagte er, als verstünde sich ihre Liebe und alles Erringen von selbst. »Aber ich werde fest sein und Sie auch. Ich habe Ihnen viel zu sagen. Aber hier ist nicht der rechte Ort und heute abend« – er stockte und fuhr dann mit fester Stimme fort –, »heute abend kommt schon Ihr Mann zurück, und ich mag Sie nicht zu einer heimlichen Zusammenkunft hinter seinem Rücken bewegen. Ich werde Ihnen also schreiben, was ich für gut halte.«
Er drückte nochmals ihre Hand, dann ging er in seine Wohnung. Die Frau erhob sich, schickte den Lehrling, der bisher draußen das Silber- und Messinggeschirr für die Festtage geputzt hatte, in den Laden und blieb selbst in der Küche, für den Sabbat zu rüsten und für den Empfang ihres Mannes. Sie tat alles pünktlich, aber doch in anderer Art als sonst. »Schmerzt Euch der Kopf, Frau?« fragte ihre Magd, als sie plötzlich stehenblieb und die Hände flach an die Schläfen drückte, als müßte sie sich selbst besinnen. Ihr war's wirr und wüst und doch wieder, als müßte sie jubeln. So verging der Tag.
Gegen Abend brachte ihr der Amtsdiener einen Brief. »Vom Bezirksgericht für Ihren Mann«, sagte er, aber als sie den Umschlag entfernte, lag ein Brief an sie darin. Sie öffnete ihn nicht, sie zitterte vor dem Inhalt.
Die Dämmerung brach an, die Lichter wurden angezündet, und sie sprach den schönen uralten Segensspruch über sie, wie es Pflicht der Hausfrau ist, daß Licht und Friede im Hause wohne, daß Gottes Erbarmung jeden Kummer fernhalte, jede Not, jede Schmach . . . Es sind nur wenige Worte, sie kannte die Formel sehr gut, und doch kam sie ihr heute nur zögernd und unsicher über die Lippen. Ach, war sie noch wert, zu Gott zu beten, sie, ein jüdisch Weib, das den Brief ihres christlichen – Geliebten bei sich trug?! Todesmatt sank sie auf einen Sitz und stöhnte auf in herbem Seelenkampf. Dann zog sie den Brief hervor und besah ihn. Er war versiegelt, ein Siegel darf man am Sabbat nicht brechen. »Es ist nicht meine größte Sünde«, sagte sie dumpf, als sie es dennoch tat. Sie las. Er schrieb, wie sehr er sie liebe, wie er ohne sie sterben müsse oder wahnsinnig werden. »Werde Christin, werde mein Weib! Die Sünde an Deinem Gatten ist nicht so groß wie die Sünde an uns beiden, wenn Du es nicht tust. Daß Du mich liebst, weiß ich – nun sage mir nur noch Deinen Entschluß, mit mir zu gehen. Alles übrige ist meine Sorge.«
Sie ballte den Brief zusammen und schleuderte ihn von sich und hob ihn dann doch wieder auf und glättete ihn und las ihn wieder. Dann ließ sie die Hände auf den Tisch sinken, ihre Finger schlangen sich krampfhaft ineinander, die Tränen strömten ihr wie Bäche über die Wangen, und schluchzend stammelte sie: »Mein Herr und Gott, hilf mir, erleuchte mich, laß mich nicht werden wie die Esther Freudenthal, laß mich nicht enden in Schmach und Verachtung! Mein Herr und Gott, verlaß mich nicht! Ich bin ein ehrlich Weib gewesen bisher, mein Mann ist gut, ich kann keine Ehebrecherin werden, aber ich liebe ihn, ich kann nicht leben ohne ihn . . . Er ist ein braver Mann, aber sogar, wenn er so schlecht wäre wie jener Husar, der die Esther unglücklich gemacht hat. Mein Herr und mein Gott, ich werde wahnsinnig, hilf mir, hilf mir!«
Und wie sie also aufschrie aus den Tiefen ihrer gequälten Seele, hörte sie nicht, wie die Tür geöffnet wurde und ein Mannesschritt hinter ihr klang. Da berührte eine, Hand ihre Schulter, sie zuckte empor – ihr Gatte stand vor ihr.
»Gott zum Gruß«, rief er fröhlich. »Endlich bin ich da. Der Sturm heut nacht hat die Straßen . . .« Er sah sie an, er stockte. »Chane«, schrie er angstvoll auf, »wie du aussiehst, Chane, was ist dir?«
Sie antwortete nicht. Da fiel sein Blick auf den Brief. Er langte darnach, sie ließ es ruhig geschehen. Er las die Überschrift und wurde totenbleich. »An dich – und so!« Darauf überflog er die ersten Zeilen und blickte hastig nach der Unterschrift. »Also der!« murmelte er, »den hätte ich nicht vermutet.« Dann las er weiter. Die Augen drangen fast aus ihren Höhlen, die Hand, die den Brief hielt, zitterte, man sah dem Mann an, wie sehr er litt. »Was?« schrie er an einer Stelle auf, mit entsetzter, heiserer Stimme, »was – ist das wahr?« Er fügte nichts Näheres hinzu. Sie glitt auf den Boden nieder und umklammerte seine Knie. So las er den Brief zu Ende. Dann warf er ihn auf den Tisch und beugte sich zu ihr hinab. »Steh auf!« befahl er, »setze dich!« Sie gehorchte. »Nur eines«, sprach er und trat vor sie hin, »ich will nur eines wissen: Der Christ schreibt, du liebst ihn auch . . . nicht wahr, da lügt er?! Chane, der Christ lügt?!«
Sie senkte ihr Haupt tief, tief. »Töte mich«, sagte sie leise aber fest, »töte mich, wenn ich es verdiene, aber er hat die Wahrheit geschrieben.«
Nathan zuckte wild auf. Es war eine gräßliche Verwüstung in seinen sonst so milden, ruhigen Zügen. »Die Wahrheit?« zischte er, »und du bleibst in meinem Hause, Ehebrecherin?«
Sie richtete sich hoch auf. Sie war furchtbar blaß, die Augen blitzten. »Nathan!« rief sie, »ich schwör' dir bei meiner toten Mutter, er hat heute zum ersten Mal meine Hand berührt!«
Er lachte gellend auf. »Und wenn ich dir glaube, was tut es?! Sollen wir uns in dich teilen, mir den Körper, ihm die Seele?! Ist mir nicht auch deine Seele angetraut, und wenn du mir nur deinen Körper geben konntest, warum nahmst du mich zum Mann?«
Sie trat näher auf ihn zu und ließ die Hände, die sie beteuernd erhoben hatte, schlaff niedersinken. Es war etwas Unheimliches in dem Blick ihrer Augen, und unheimlich klang es, als sie leise, dumpf, drohend sagte: »Nathan, sei nicht so hart. Über meinen Körper habe ich den Willen und wahre dir dein Recht, aber über meine Seele habe ich keine Macht. Mann, reize mich nicht zum Äußersten, ich leide ja ohnehin entsetzlich! Warum ich dann dein Weib geworden bin, fragst du! Ach, habt ihr mich denn je nach meinem Willen gefragt?!«
Das Wort mußte ihn hart getroffen haben, sehr hart. Er sah sie an, trat einen Schritt zurück und verstummte. Dann war eine lange Stille zwischen den beiden. Sie war nach jenen Worten gebrochen zusammengesunken und barg ihr Haupt in den Kissen des Ruhebettes, er ging hastig auf und ab. Dann blieb er plötzlich vor ihr stehen und sagte leise: »Geh, wir werden morgen darüber sprechen!«
Sie wankte aus dem Zimmer.
Er verriegelte die Tür und begann wieder in der Stube auf und ab zu gehen. Eine alte Dienerin kam und klopfte, sie bringe das Nachtessen. Er wies sie ab. Sie ging murrend fort, und er hörte, wie sie zur Köchin sagte: »Das schreit ja zu Gott, was für eine Verwirrung jetzt im Hause ist. Der Herr riegelt sich in die Weinstube ein und die Frau in die Schlafstube. Beide wollen nichts essen.« Dem Mann stieg die heiße Röte der Scham in die Wangen. »Die Dienstleute merken es schon«, dachte er, »bald wird es alle Welt merken! Oh, unsere alte Jütta hat recht, das schreit zu Gott, was für eine Verwirrung über mein Haus gekommen ist. Und nur Gott kann helfen, nur Gott allein, ich weiß keinen Ausweg.«
Er warf sich auf das Ruhebett und schloß die Augen und überdachte, wie alles so gekommen. Es trieb ihn auf, er konnte nicht ruhen, während es so wild in ihm stürmte. »Nur Gott kann helfen?« fragte er sich und ging wieder unablässig auf und ab in der einsamen, lichterfüllten Stube. »Das ist ein törichtes Wort gewesen. Gott hat nicht die Pflicht, immer ein Wunder für uns zu tun. Was kann Gott tun? Er kann ihn sterben lassen oder mich, ist das eine Lösung?!«
Er preßte die glühende Stirn an die Fensterscheiben und starrte in die wüste, regnerische Nacht hinaus. »Ich habe den Schatz besessen«, sagte er leise, »ich habe ihn besessen und nicht geahnt, daß es ein Schatz ist, bis ein anderer gekommen ist, der sich besser darauf verstand. Mir – mir ist vielleicht recht geschehen.«
»Recht?« schrie er dann wild auf. »Nein, nein! Ist sie nicht mein Weib? Hat sie mir nicht Treue gelobt? Mein – mein ist sie, mein Eigentum, und wer sie mir stiehlt, ist ein feiger Dieb!«
Ein feiger Dieb – er! Er ist sonst ein so braver Mann, wacker und tüchtig. Ihm kann ich kaum etwas Schlechtes zumuten. Also ihr, nur ihr. Sie ist die Frevlerin. Aber war sie denn wirklich mein, mein Eigentum?! Ist denn ein Weib eine Sache, die man besitzt wie einen Schmuck oder ein Haus? Hat sie nicht einen freien Willen? Und haben wir sie denn damals nach ihrem Willen gefragt?
»Damals ist ein Verbrechen begangen worden«, schrie er plötzlich auf. »Was jetzt geschieht, ist nur die gerechte Vergeltung für jenes Verbrechen. Ich habe damals keine Schuld gehabt. Sie auch nicht. Und dann haben wir rein und fleckenlos weiter gelebt durch lange Jahre. Nun ist dennoch die Schande über uns gekommen, die Vergeltung für den Frevel. Wer nimmt die Sühne auf sich?«
Er trat an den Tisch. »Kann ich mich von ihr scheiden lassen? Mein Herz wird mir sehr wehe tun, aber ich frage nicht nach meinem Herzen. Ich frage nicht nach mir, aber darf ich das Gott antun und dem Gesetz? Darf ich ein jüdisch Kind, darf ich mein Weib entlassen aus meinem Hause, daß sie hingehe und die Buhlerin des Christen werde oder selbst eine Christin? Darf ich es zulassen, daß so Schande komme auf unseren Namen, auf den Namen unseres Gottes?« Er richtete sich hoch auf und streckte die Hände wie schwörend gegen den Himmel: »Und wenn mir und ihr das Herz bricht – auf Deinen Namen soll keine Schande kommen, auf Deinen Namen nicht, mein Herr und Gott.«
Da ließ er plötzlich die Hand jäh niedersinken und hielt inne. »Ist nicht schon Schande auf Deinen Namen gekommen?« zischte er leise. »Hat sie nicht die Hände über diese Lichter meines Hauses gestreckt und zu Dir gefleht mit dem Bild des Christen im Herzen? Ist das nicht auch ein entsetzlicher Frevel, und kann es Dein Wille sein, daß solcher Frevel noch länger währe, unser ganzes Leben lang? Kannst Du das wollen, mein Herr und Gott?!«
Dann faßte er sein Haupt in die Hände und ächzte tief auf. »Ich finde keinen Ausweg«, stöhnte er. »Hilf Du mir, mein Gott. Du hast uns Deinen Willen kundgetan durch Deine Priester und Weisen. Ich will das Gesetz befragen.«
Er schritt auf den Bücherschrank zu, öffnete ihn und zog einen der mächtigen Folianten heraus. Hinter diesem her kollerte ein kleines, dünnes Büchlein zur Erde. Er achtete nicht darauf, er trug den Folianten zum Tisch, schlug ihn auf und begann darin zu lesen.
Er las sehr lange an den verschiedenen Stellen. Dann schüttelte er das Haupt und schlug das Buch heftig zu und stand auf. Er legte die geballte Faust auf den Deckel. »Das Gesetz reicht nicht aus«, sagte er finster, »das Gesetz weiß nichts von meinem Fall. ›Sie soll gesteinigt werden‹, sagt das ältere Gesetz, und das Gesetz der Talmodim sagt: ›Tötet sie, wenn Ihr es könnt, nach den Gesetzen des Landes, in dem Ihr lebt. Könnt Ihr es nicht, so soll sie verstoßen sein aus dem Hause ihres Gatten und heimkehren in das Haus ihres Vaters, und dieser soll sie strafen und züchtigen, wie ihm beliebt. Sie soll ehrlos sein und rechtlos, ausgeschlossen von allem Erbe und allen Wohltaten der Verwandtschaft. Ihr Name soll nicht genannt werden.‹ Das Gesetz paßt nicht«, wiederholte er, »sie hat nicht gemein gefrevelt, sie hat mir mein Recht gewahrt, soweit es in ihrer Kraft stand. Ihr Körper war mein, sie hat ihn mir rein erhalten. Ihr Herz, ich habe ihr Herz nie begehrt. Das Gesetz paßt nicht. Wer aber weiset mir ein höheres Gesetz?!«
Er seufzte tief auf und schob den Folianten wieder an seine Stelle. Als er die Tür seines Bücherschrankes schließen wollte, konnte er es nicht, ein Büchlein hatte sich dazwischengeklemmt. Er bückte sich und hob es auf. Es berührte ihn seltsam, als er jenes deutsche Büchlein wiedererkannte, in dem er als Jüngling sooft und soviel heimlich gelesen. Jenes Büchlein, das er nie ganz verstanden, nach dem er doch immer wieder gerne gegriffen, weil sich ihm im Lesen so seltsam das Herz bewegte. Das Büchlein mit den Gedichten des Friedrich Schiller, das er nun seit langen, langen Jahren nicht mehr angesehen und das ihm gerade jetzt wieder in die Hand fiel in dieser drangvollen, dunklen Stunde.
Er setzte sich an den Tisch, schlug es auf und begann zu lesen. Seine Jugend ging ihm dabei wieder auf, und er erinnerte sich, wie er diese Stelle bei den großen Eichen gelesen und jene heimlich im Keller, während er die Arbeiter des Vaters beaufsichtigte. Dann aber ward ihm der Inhalt des Büchleins selbst wieder lebendig und – seltsam, er hatte seitdem nichts Neues gelernt, höchstens die Weinarten, und dennoch verstand er jetzt weit mehr von diesen Gedichten als damals. Und was er verstand, das ergriff ihn tief, weil es so ganz anders war als das, was er sonst hörte und las und dachte, so ganz anders. Ob besser, ob schlimmer, er grübelte nicht darüber, aber da sich sein Herz wieder leise bewegte und der Krampf sich löste, in dem es gelegen, so mochte es gewiß nichts Schlimmes sein . . .
Er erhob sich und ging auf und ab in der sabbatlichen Stube und sprach flüsternd die Worte des Buches vor sich hin. Es war sehr still um ihn, nur die vielen Kerzen knisterten leise, und zuweilen schlug ein vereinzelter Regentropfen an die Fenster . . .
Die lange, lange Herbstnacht ging zu Ende. Der Regen hatte aufgehört, die letzten Wolken trieben noch, vom Wind zerrissen, am mattgrauen Himmel dahin. Das Morgenrot glomm im Osten auf und warf seinen verklärenden Schimmer über die traurige herbstliche Ebene.
Auch in die Wohnstube des Nathan Silberstein drang das Morgenrot, es fand ihn noch wachend. Aber er ging nicht mehr umher, er flüsterte nicht mehr, stumm und still stand er am Fenster, das Antlitz gegen Osten gewendet, und das Morgenrot spielte um dies blasse, überwachte Antlitz, das nun wieder ruhig, mild und klar war, es war die Milde und Klarheit eines festen, guten Entschlusses. Da er sein Haupt immer gegen Osten gewandt hielt und die Augen wie verklärt blickten, so mußte er wohl beten, aber nicht mit den Lippen. Er mochte lange so gestanden sein, stundenlang. Er hatte wohl viel auf dem Herzen, was er vor Gott aussprach in jener stillen Morgenstunde.
Da erwachten die übrigen Bewohner des Hauses. Unter den Dienern und Mägden erhob sich ein Flüstern. Sie wußten, daß etwas vorgegangen war in dieser Nacht, wenn sie auch unklar waren, was es gewesen. Dann kam Chane aus der Schlafstube, bleich, mit überwachten, vom Weinen geröteten Augen. Sie ging gesenkten Hauptes an Nathan vorüber.
Er sprach sie an. »Chane«, sagte er mild und ruhig, »ich habe meinen Entschluß gefaßt. Ich hoffe, er wird zum Guten sein für dich und – und für ihn! Und was mich anbelangt, unser Gott ist ein barmherziger Gott, er wird mich nicht verlassen.« Das letzte sagte er sehr leise, sie konnte es kaum verstehen. Eine Purpurröte schoß ihr ins Antlitz, aber sie erwiderte nichts. Dann ging sie hinaus, und nach einer Weile brachte sie ihm das Frühmahl.
Und dann wandelten sie beide miteinander in die Betschul, und wer sie so gehen sah, konnte nicht ahnen, was in ihnen vorging. Es haben vielleicht noch nie zwei Menschen so innig zu Gott gebetet wie an jenem Sabbatvormittag Nathan und sein Weib. Ihre Seelen lagen im Staub und flehten um Stärkung und Erhebung.
»Gottlob, es ist nichts«, sagte die alte Jütta zu den anderen Mägden, als die Eheleute so friedlich aus der Schul heimkamen und das Mittagessen gemeinschaftlich einnahmen. Aber nach dem Essen sagte Nathan zu Chane: »Was vollbracht werden muß, wird am besten schnell vollbracht. Sei guten Mutes, ich werde zu ihm gehen und mit ihm sprechen. In einer Stunde hast du klaren Bescheid.«
Dann ging er in das erste Stockwerk, in die Wohnung des Bezirksrichters. Herr von Negrusz saß gerade an seinem Schreibtisch und wurde sehr blaß, als er den Gatten des geliebten Weibes eintreten sah. Er fürchtete wohl eine peinliche Szene, aber Nathan blieb ruhig, und nach höflichem Gruße sagte er: »Herr Bezirksrichter, Sie wissen, warum ich zu Ihnen komme, denn Sie sind blaß geworden. Sie haben meinem Weib diesen Brief hier geschrieben. Darauf möchte ich Ihnen die Antwort geben. Vorher aber nur noch eine Frage: Warum haben Sie es getan? Steht das Gebot: ›Begehre nicht deines Nächsten Hausfrau‹ nicht auch für Sie geschrieben?«
Der Bezirksrichter sah ihm ruhig ins Auge, »Ja«, erwiderte er, »es ist eine Sünde, aber ich liebe Ihre Frau. Das ist alles. Mehr weiß ich nicht zur Entschuldigung.«
Nathan nickte. »Es freut mich, daß Sie mir so offen antworten. Die Antwort ist auch ganz genügend, und ich weiß nichts dagegen einzuwenden. Und nun will ich Ihnen auch den Bescheid auf Ihren Brief geben. Mein Weib liebt auch Sie. Darum kann sie nicht mehr mein Weib bleiben, und ich werde die Scheidung veranlassen. Sie wird frei werden. Was aber dann, Herr Bezirksrichter?«
»Dann heirate ich sie«, jubelte dieser auf.
Nathan sah ihm ruhig und scharf ins Auge. »Gut«, sagte er, »ich zweifle nicht, daß Sie das wollen, denn Sie sind ein braver Mann, aber Sie sind Beamter, Christ, von Adel. Sie ist ein Judenweib. Sie sind gebildet, Chane nicht. Auch haben Sie Rücksichten zu nehmen. Vielleicht lassen Sie sich durch die Rücksichten bestimmen und stürzen das Weib nur in Schmach und Unglück. Dem muß ich vorbeugen, denn Chane war mein Weib, und in dem Augenblick, wo die Sache mit Ihnen offenkundig wird, wird sich ihr Vater und die ganze Gemeinde von ihr wenden, und sie wird ganz verlassen sein. Und dann muß ich mich der Chane annehmen, weil ich – doch das geht Sie nichts an. Darum sage ich Ihnen eines, kurz, klar: Heiraten Sie die Chane nicht, so töte ich Sie, so wahr mir Gott helfe! Sie sind der Herr Bezirksrichter, ich bin nur ein Jude. Sie haben hundertfache Mittel, mich ohnmächtig zu machen, aber mein Wort werd' ich dennoch halten!«
Der Bezirksrichter war bleich geworden und erhob wie beteuernd die Hand. Aber Nathan fiel ihm scharf ins Wort: »Schwören Sie nicht! Halten Sie Ihr Wort, damit ich das meine nicht zu halten brauche. In den nächsten Tagen ist die Scheidung. Wünschen Sie, daß Chane länger in meinem Hause bleibt, so habe ich für einige Wochen nichts dagegen. Aber noch einmal, ist die Chane nicht in zwei Monaten Ihr Weib, so sind Sie ein toter Mann. Leben Sie wohl!«
Dann ging er heim und sagte zu seinem Weib: »Wir werden morgen vor den Rabbi gehen und erklären, wir hätten eine unbesiegbare Abneigung gegeneinander. Das ist der einzige Grund, auf den hin er uns gleich scheiden muß. Der Christ hat versprochen, daß er dich heiratet. Hätte er es früher nicht ernst gemeint, jetzt wird er es tun.«
»Nathan!« rief sie und glitt zu seinen Füßen nieder und bedeckte seine Hand mit Küssen und Tränen. »Nathan, was bist du für ein guter Mensch!«
»Nein«, sagte er, »es ist keine besondere Güte dabei, es ist nur Pflicht. Ich sühne eine Schuld, die freilich nicht die meine ist. Sie haben uns zusammengegeben und nicht gefragt, ob wir einander mögen. Das war eine Sünde, und sie hat sich gerächt. Denn ich liebe dich, wenn ich es auch erst seit gestern erkannt habe, du aber liebst mich nicht, sondern einen andern. Soll ich dich von diesem deinem Glück fernhalten? Es hat ja jeder Mensch ein Recht darauf, glücklich zu sein. Da sühne ich jetzt lieber den alten, den ersten Frevel. So steht die Sache – du siehst, es ist gar keine Güte von mir. Aber eins bedrückt meine Seele: Du fällst von unserem Glauben ab, und ich helfe dazu. Aber ich habe Gott so sehr um Verzeihung dafür angefleht, daß ich hoffe, er wird mir vergeben. Er sieht mein Herz, er weiß ja: ich kann nicht anders.«
Es bleibt wenig mehr zu berichten übrig.
Nach einigen Tagen hatte Nathan die Scheidung durchgesetzt, und wenige Wochen darauf ward Chane die Gattin des Bezirksrichters. Seit Jahr und Tag hatte kein Ereignis so ungeheures Aufsehen im Land gemacht wie dieses. Unzählige Verwünschungen, Neid und Mißgunst folgten dem Paar, und selbst die Wohlwollenden schüttelten das Haupt über den seltsamen Bund.
Ihr wißt, daß sich die Flüche als machtlos erwiesen haben und die Befürchtungen als unbegründet. Ihr wißt, daß Chane, daß Frau Christine von Negrusz als glückliche Gattin und Mutter in demselben Hause wohnt, vor dessen Schwelle Esther Freudenthal sterben mußte, weil sie einen Christen geliebt. Diesmal hat sich die Liebe stärker erwiesen als der Glaube. Sie hat sich nahezu wundertätig erwiesen, denn sie hat nicht nur alle Hindernisse weggeräumt, sondern trotz aller widrigen Verhältnisse, trotz der Verschiedenheit der Ehegatten, den Bund der neuen Ehe schön, friedlich und stark gemacht. Es war eben die echte Liebe, und diese ist ja auch wundertätig und allmächtig wie Gott, der auserwählte Herzen durch sie begnadet.
Nur ein Schatten trübt Christines Glück. Es ist dies nicht der Umstand, daß Frau Emilie sie kaum des Grußes würdigt, daß die drei Töchter des Steueramtsvorstehers, die im Laufe der Zeit ganz alt und ganz grün geworden sind, ihr bei zufälligen Begegnungen den Rücken kehren, es ist auch nicht das freche, vertrauliche Lächeln, mit dem ihr Herr von Bolwinski bei jeder Begegnung zuflüstert: »Ich hab's doch zuerst bemerkt, hohoho!«, es ist ein wirklicher Schatten in ihrem lichten Leben. Das ist der Groll ihres Vaters, der wohl erst enden wird, wenn der alte, einsame, verbitterte Mann die Augen zum ewigen Schlummer schließt.
Nathan hat sich bemüht, ihr auch diesen Kummer vom Herzen zu nehmen, aber es ist ihm nicht gelungen. Er gibt freilich die Hoffnung nicht auf und besucht den alten Mann jedesmal, sooft er nach Barnow zurückkehrt. Es geschieht nur wenige Male im Jahr und immer auf kurze Zeit. Das Geschäft im Städtchen führt ein Vetter für ihn, er selbst ist fast immer auf Reisen, die ihn sehr weit führen – bis nach Italien und in das südliche Frankreich. Er ist kein kleiner Kaufmann mehr, sondern der erste Weingroßhändler des Landes.
Er ist unvermählt geblieben. Einmal hieß es, er habe sich mit einem schönen, reichen Mädchen aus Czernowitz verlobt, aber es ist nichts daraus geworden. Warum? Das weiß nur eine Seele auf der Welt, Frau Christine.
Es war das einzige Mal, wo sie miteinander gesprochen, seit sie aus seinem Haus gegangen. Denn mit dem Bezirksrichter spricht Nathan häufig und unbefangen, und die beiden Bübchen sind in den Tagen, wo er zu Hause ist, fast mehr im Laden als oben bei der Mutter, aber mit Christinen hat er jedes Wiedersehen vermieden. Nur einmal, zufällig, als eben jenes Gerücht unter den Leuten war, fügte sich eine Begegnung. Die beiden Knaben saßen bei Nathan auf der Holzbank im Hausflur und freuten sich der schönen Geschenke, die er ihnen mitgebracht hatte. So blieben sie lange aus, und die Mutter kam selbst herab, sie zu holen. Sie liefen ihr jubelnd entgegen, zeigten ihr die Sachen und führten sie zu dem Kaufmann.
So standen sich die beiden Menschen nach langer Zeit wieder gegenüber. »Ich danke Ihnen, Herr Silberstein«, begann sie zögernd, aber dann verbesserte sie sich sogleich und wiederholte: »Ich danke dir, Nathan – wie gut du zu den Kindern bist!«
»Es sind so liebe Knaben«, erwiderte er gepreßt. »Es freut mich sehr, sehr, daß es dir so gut geht, Chane.«
»Ja«, erwiderte sie, »ich bin sehr glücklich. Und du?«
»Ich danke«, sagte er, »die Geschäfte gehen gut.«
»Und dann«, meinte sie, »habe ich neulich noch etwas gehört, was mich sehr gefreut hat – von Czernowitz.«
»Oh, damit ist es nichts«, wehrte er ab.
»Warum?« fragte sie, »es soll ein schönes, braves Mädchen sein.«
Er sah sie an, dann schlug er den Blick zu Boden, und eine hohe Röte überflammte sein männliches Antlitz. »Ich habe es doch nicht übers Herz bringen können«, sagte er leise.
Auch seitdem sind wieder Jahre verflossen, und Nathan ist nun der reichste Mann der Gegend. Alle Welt wundert sich, warum er so ruhelos arbeitet, er, der doch für niemand zu sorgen hat. Aber Nathan pflegt auf solche Fragen zu erwidern, er wisse schon, für wen er arbeite.
Wer jemals in Barnow gewesen ist, der hat gewiß auch die alte Frau Hanna, des Vorstehers Mutter, kennengelernt und sich ehrlich gefreut an ihrer feinfühligen, grundgütigen Art, und wer nicht dort war, dem ist kaum eine Vorstellung davon zu geben, wie lieb und klug die Greisin war. »Babele« (Großmütterchen) nannten sie alle Leute des Städtchens, nicht bloß ihre eigenen Enkelkinder, und mit gutem Grund, denn sie stand allen bei mit Rat und Tat, unermüdlich ihr ganzes langes, gesegnetes Leben hindurch. Auch jene, die weder ihr Geld noch ihren Beirat brauchten, suchten sie gerne auf, um sich eine leere Stunde mit einer hübschen Geschichte ausfüllen zu lassen. Sie war als Erzählerin ebenso geschätzt und geliebt wie als Helferin, und wer an einem Sabbat- Nachmittag im Sommer gegen die dritte Stunde an der alten Synagoge, der »Judenburg«, vorüberging, konnte mit eigenen Augen sehen, wie viele ihr gerne lauschten, und zugleich mit eigenen Ohren vernehmen, wie sehr sie dies verdiente. Da saß die Greisin auf dem Treppchen im Schatten, und um sie her wohl an die fünfzig Männer und Frauen, dicht geschart und lautlos, um kein Wort aus diesem Mund zu verlieren. Was sie erzählte, ist bald gesagt: Geschichten aus dem Leben der Gemeinde, die sie gehört oder mit angesehen. Wie sie erzählte, wäre kaum zu schildern. Wenn ich es dennoch unternehme, ihr eine dieser Geschichten nachzuerzählen, so habe ich nur eine Ermutigung für dies Wagnis: es ist jene Geschichte, die sie am häufigsten zu berichten pflegte, und ich selbst habe sie oft genug mit angehört, um sie, soweit dies eben in hochdeutschen Worten möglich ist, treulich wiedergeben zu können, wie ich sie vernommen habe.
»Wer ist groß«, begann Frau Hanna, »und wer ist klein? Wer ist mächtig, und wer ist schwach? Unsere armen kurzsichtigen Menschenaugen können das selten richtig entscheiden! Uns ist der Reiche und Starke mächtig und groß, der Arme und Hinfällige schwach und klein. Aber in Wahrheit ist es anders, nicht der Reichtum entscheidet, nicht die Kraft in den Armen, sondern der starke Wille und das gute Herz. Und zuweilen, Ihr Leute, zuweilen läßt uns Gott dies deutlich erkennen, und wir Barnower wissen etwas davon zu erzählen. Zwei Male ist unsere Gemeinde in Not und Jammer gewesen, in Bedrängnis und Todesgefahr, und zwei Male sind Retter unter uns erstanden und haben die Not abgewehrt und den Jammerschrei in Dankgebet gewandelt. Und wer waren diese Retter? Etwa die Stärksten und Reichsten unter uns?! Höret, was ich erzähle, genauso, wie es geschehen ist.
Wenn Ihr über den Marktplatz geht, so seht Ihr gerade vor dem Kloster der Dominikaner einen dicken, großen Holzblock aus dem Boden emporragen. Er ist morsch und verwittert, und längst hätte man ihn weggeschafft, wenn er nicht eine Erinnerung wäre an eine furchtbar drangvolle Zeit. Ihr wißt nichts von dieser alten Zeit – freut Euch dieses Glückes! Ich will es Euch nicht nehmen. Was ich erzählen will, ist eine schöne Tat aus jener häßlichen Zeit. An dieser Tat möget Ihr Euch freuen, denn sie war eine Heldentat, so hell, so stolz, so groß, wie nur jemals eine auf Erden vollbracht worden ist. Ein einfach jüdisch Weib hat sie vollbracht; der Drang der Zeit hat ihr weiches Herz gestählt und sie zu einer Heldin gemacht. Lea hieß sie und war die Gattin des reichen, frommen Samuel – das Geschlecht ist später, als die kaiserliche Herrschaft ins Land kam und deutsche Namen für unsere Familien festgesetzt wurden, Beermann genannt worden, denn zur Zeit, wo diese Geschichte sich begeben hat, da hatten wir noch keine solchen Namen. Das war vor mehr als hundert Jahren, und wir lebten unter dem polnischen Adler.
Oh, das war ein grimmiger Raubvogel, dieser einköpfige weiße Adler! Als noch sein Gefieder unversehrt war und sein Auge klar und seine Fänge fest und scharf, da war er ein edles, stolzes Tier, das scharf um sich hieb und großmütig alles schützte, was unter seine Flügel flüchtete. Auch wir wohnten dadurch lange drei Jahrhunderte in Licht und Freiheit. Aber als der Adler alt und schwach wurde und die anderen Raubvögel ringsum ihm eine Feder nach der andern ausrupften, da wurde er feig, heimtückisch und schlecht, und weil er sich nicht traute, den Schnabel gegen die Dränger zu gebrauchen, so hieb er auf die wehrlosen Juden los. Der Könige Macht war zum Kinderspott und mit ihr die Freiheitsbriefe, die sie uns gegeben hatten. Die Adligen wurden unsere Herren und quälten uns und schalteten und walteten über unserem Gut und Leben, wie es ihnen beliebte. Oh, es war eine unsagbare Bedrückung!
Unser Städtchen gehörte schon damals dem adligen Geschlecht der Bortynski, denen später der gute Kaiser Joseph den Grafentitel geschenkt hat. In jenem Jahr hatte gerade der junge Joseph Bortynski das Besitztum angetreten, ein stiller, frommer, demütiger Mensch. Er war in einem Kloster erzogen worden. Seine Art war nicht wie die der anderen jungen Herren, er haßte den Wein, die Karten und die Weiber, stand selbst der Wirtschaft vor und betete täglich vier Stunden. Gegen seine Untertanen war er gerecht und liebreich. Wir freilich bekamen wenig davon zu spüren, gegen uns war er hart und grausam, und selbst wenn sich sein Herz regen wollte, so wußte dies sein Erzieher zu verhindern, der jetzt sein Schloßkaplan war und großen Einfluß auf ihn hatte. Sein Name ist nicht auf uns gekommen, man pflegte ihn immer nur den ›schwarzen Herrn‹ zu nennen.
Wir Juden hielten uns damals sehr ängstlich geduckt, und selbst die Bösen unter uns hüteten sich vor jedem Unrecht. ›Ihr habt mir meinen Gott gekreuzigt‹, hatte ja der Graf zu Samuel gesagt und zürnend hinzugefügt: ›Wehe Euch, wenn ich einen Frevel unter Euch entdecke, ich lasse Euer Nest ausbrennen, wie es einst Euer Gott mit Sodom und Gomorrha getan hat.‹ Da könnt Ihr denken, wie uns zumute war. So kam der Frühling des Jahres 1773 heran. Das Osterfest stand vor der Tür, und es ging das Gerücht, die Kaiserin in Wien wolle den Polen alles Gebiet wegnehmen und ihre Schreiber darüber setzen; aber vorläufig war nichts davon zu sehen.
In demselben alten Hause, das noch heute am Marktplatz steht, im ›Gelben Hause‹, wohnten damals der Vorsteher Samuel und sein Weib Lea. Sie waren beide sehr geachtet in der Gemeinde, der Mann wegen seines Reichtums, seiner Klugheit und Frömmigkeit, und sein junges, schönes Weib wegen ihrer Milde und Wohltätigkeit. Sie waren gerade zur Osterzeit in schwerer Betrübnis: ihr einziges Kind, ein Knäblein von anderthalb Jahren, war wenige Tage vorher plötzlich gestorben, und die Eltern konnten den Schmerz kaum überwinden. So saßen sie auch eines Sonntags, des Abends spät, in stummer Trauer nebeneinander. Am nächsten Abend sollte das Osterfest beginnen, es war den ganzen Tag über im Hause gereinigt und gescheuert worden, und die Frau fühlte sich sehr müde, da schreckte sie plötzlich ein Pochen am Haustor empor. Samuel ging zum Fenster, öffnete und blickte hinaus. Vor dem Tor stand mit einem Bündel auf dem Rücken ein altes Bauernweib, das kläglich wimmerte und stöhnte und um Einlaß bat. Sie sei zu schwach, um heute noch in ihr Dorf heimzukehren, klagte sie, und bitte daher um ein Nachtlager. ›Hier ist kein Wirtshaus‹, erwiderte ihr Samuel kurz und schlug das Fenster zu. – ›Das arme Weib‹, meinte Lea, ›sollen wir sie von unserer Schwelle weisen?‹ – ›Es ist eine böse Zeit‹, erwiderte Samuel, ›ich mag keine Fremde in meinem Hause dulden!‹ – ›Aber sie ist ja krank und schwach‹, bat Lea, und da das Weib draußen noch immer flehte und stöhnte, willfahrte er ihr und ließ es ein. Da die Dienerinnen bereits schliefen, geleitete Lea selbst den späten Gast herbei und entfernte sich mit freundlichem Gruß.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich das fremde Weib schon sehr früh unter tausend Dank- und Segensworten. Lea hatte den Tag über sehr viel für den Feiertag zu rüsten, und erst am späten Nachmittag kam sie dazu, in jener Bodenkammer nachzusehen, denn vor Beginn des Festes wollte die Hausfrau in allen Räumen Umschau halten, ob sich nicht irgendwo noch gesäuertes Brot vorfinde. In der Kammer war alles in Ordnung, nur die Luft war von einem sehr widrigen Geruch erfüllt. Er verlor sich nicht, auch als Lea das Fenster öffnete. Sie konnte nicht entdecken, woher der abscheuliche Geruch kam, sie forschte in allen Ecken und sah endlich unter der Bettstatt nach. Da gerann ihr das Blut, ihr Haar sträubte sich vor Entsetzen, unter der Bettstatt lag der nackte, abgezehrte Leichnam eines Kindes mit breiten Wunden an Hals und Brust. Mit Blitzesschnelle durchschaute das Weib den Frevel und kämpfte mit allen Seelenkräften gegen die Ohnmacht. Die Fremde hatte den Leichnam ins Haus geschleppt, damit man das alte, furchtbare Märchen, die Juden schlachteten Christenkinder zu dem Osterfest, wieder einmal glaubhaft machen und grausam rächen könne. Mit Blitzesschnelle erkannte sie auch die furchtbaren Folgen, sie gedachte der Worte, die der Graf zu ihrem Mann gesprochen. Das arme Weib brach fast zusammen unter der Wucht dieser entsetzlichen Gedanken. Ach, sie, sie allein hatte den Jammer, die Verfolgung und den Tod über ihr Haus, über die ganze Gemeinde heraufbeschworen, denn sie war ja die Ursache, daß jenes Weib eingelassen worden. Und während sie so in Todesängsten dasaß, klang von der Straße wildes Rufen und Schreien und Jammern zu ihr empor. Dazwischen klang das Klirren von Waffen. ›Sie kommen schon‹, flüsterte sie, und in diesem Augenblick durchzuckte sie ein Gedanke, so seltsam und gräßlich, wie er vielleicht noch nie vorher in eines Weibes Hirn entstanden war, und doch wieder edel und opfermutig, wie ihn nur ein Weib zu fassen vermag. ›Ich habe die Schuld‹, rief es in ihr, ›ich muß sie büßen.‹ Sie richtete sich hoch auf und preßte die Lippen aufeinander und überwand ihr Grauen. Dann griff sie nach dem Leichnam des Kindes, hüllte ihn in ein Linnen und nahm ihn auf den Schoß. Sie horchte . . . furchtbar langsam verrannen die Minuten. Dann hörte sie, wie draußen der junge Graf mit ihrem Gatten und dem zweiten Vorsteher heftig sprach, wie er sagte: ›Das Weib hat das Todesröcheln ganz deutlich gehört. Keinen Stein lasse ich auf dem andern, wenn ich den Leichnam finde.‹ Sie hörte, wie die Männer alle Gemächer durchsuchten. Als sie sich der Kammer näherten, erhob sie sich und trat ans offene Fenster. Das Dach fiel steil ab, unten in der Tiefe dehnte sich der Steinhof des Hauses.
Die Tür ward aufgerissen, der Graf trat mit den beiden Vorstehern ein, hinter ihm seine Trabanten. Mit gellendem Lachen stürzte ihnen Lea entgegen, wies ihnen den Leichnam und schleuderte ihn dann durch das Fenster, daß er auf den Steinen des Hofes zerschellte. ›Ich bin eine Mörderin‹, rief sie dem Grafen entgegen, ›ja, ja, nehmt mich, bindet mich, tötet mich, ich hab' heute Nacht mein eigen Kind getötet, ich leugne es nicht!‹
Die Männer standen starr. Dann wildes Rufen, Schreien und Fragen. Samuel, der starke, kluge Mann verlor die Besinnung. Die anderen Juden durchschauten schnell den Sachverhalt und unterstützten Lea in ihrer Notlüge; so allein ersahen sie sich Rettung aus sicherem Untergang. Lea blieb fest bei ihrer Aussage. Der Graf sah sie durchdringend an, sie hielt seinen Blick ruhig aus. ›Höre, Weib‹, sagte er, ›ist es wahr, was du sagst, so sollst du den furchtbarsten Martertod erleiden, den je ein Mensch gestorben ist, haben aber andere das Kind geschlachtet, um sein Blut beim Fest zu trinken, so sollst du und dein Mann straflos ausgehen, nur die anderen sollen es büßen. Das schwöre ich dir! Und nun – entscheide dich!‹ Lea schwankte keinen Augenblick. ›Es war mein Kind!‹ erwiderte sie. Der Graf ließ das Weib allein in den Kerker führen. Er sah wohl ein, wie unwahrscheinlich ihre Angabe war, aber er glaubte an keine Seelengröße bei unserem Volke. ›Wenn es nicht wahr wäre‹, dachte er, ›wie käme das Weib dazu, sich zu opfern?‹
Die Untersuchung brachte nicht die Wahrheit an den Tag. Alle jüdischen Zeugen belasteten die Lea. Der eine erzählte, wie sie ihr Kind gehaßt, der andere, wie sie gedroht habe, es zu töten. Die Todesangst legte ihnen diese Lügen auf die Zunge. Die einzige christliche Zeugin aber war – die Haushälterin des ›schwarzen Herrn‹. Als Bäuerin vermummt, war sie an jenem Abend vor das Haus gekommen, um die Gemeinde zu verderben. Sie habe in der Nacht das Kind röcheln hören, erzählte sie. Das allein konnte sie vorbringen, ohne sich zu verraten, und das paßte zu Leas Erzählung. Der ›schwarze Herr‹ selbst schien sich um die Untersuchung gar nicht zu kümmern, er fürchtete wohl die zufällige Entdeckung seines Frevels.
Des Grafen Richter sprachen das Urteil. Lea sollte auf dem Marktplatz gerädert, dann enthauptet werden. Jener Holzblock wurde dazu aufgerichtet.
Aber Lea starb nicht auf der Richtstätte, sie starb, eine hochbetagte Greisin, umgeben von Kindern und Enkeln, vierzig Jahre später friedlich in ihrem Hause. Die kaiserliche Militärregierung war im Sommer jenes Jahres ins Land gekommen, ein Auditor übernahm alle peinlichen Fälle, ihm entdeckte der verzweifelte Samuel die Wahrheit, er ließ Lea frei.
Der Holzblock steht noch heute. Er mahnt an dunkle Zeiten, aber auch an eine lichte, heldenmütige Tat. Und ein Weib war's, das sie vollbracht hat, ein schwaches Weib hat die Gemeinde gerettet.
Und siebzig Jahre später, Ihr Leute, siebzig Jahre später waren wir in gleicher Bedrängnis und Todesangst, und wer hat uns da gerettet?! Nicht ein Weib, aber doch nur ein kleines, zittriges Männlein, dessen Namen ich bloß zu nennen brauche, um Euch zum Lachen zu bringen, es war Klein-Mendele. Ei seht, wie Ihr schmunzelt! Nun, 's ist aber auch ein närrisch Männlein, denn erstens steckt er voll von lustigen Schnurren und weiß sie auch prächtig zu erzählen, und dann ist er selber so komisch, der grauhaarige Mann mit der Gestalt und dem Wesen eines Kindes. Er geht nicht durch die Straßen, er hüpft; er spricht nicht seine Reden, er singt sie, und seine Hände scheint er nur dazu zu haben, um auf den Tisch zu trommeln oder den Takt zu schlagen. Aber, was tut das?! Lieber ein lustiger Mensch als ein Kopfhänger. Mendele Abendstern ist ein braver und ein großer Sänger, und wir können stolz darauf sein, daß er unser Vorbeter ist. Freilich trällert er manchmal ein rührendes Gebet herunter, als wär's ein Walzer, und springt vor der Thora von einem Bein aufs andere, als wär' er ein Tänzer auf dem Theater, aber unsere Andacht stört das nicht, wir sind an Klein-Mendele gewöhnt seit vierzig Jahren, und wenn einer sich mit Recht über ihn ärgert, so darf er es ihm nicht nachtragen, denn der muß daran denken, wie Klein-Mendele auch ernst sein kann und wie er einstmals als armer ›Chasen‹ der Stadt durch seinen Gesang einen größeren Dienst erwiesen hat als alle ihre Weisen und Reichen durch ihren Rat und durch ihr Geld. Ich will Euch erzählen, wie das kam.
Ihr wißt, daß jetzt der Jude ein Mensch ist, so gut wie jeder andere. Und wenn jetzt ein Edelmann oder ein Bauer einen Juden schlägt oder bedrückt, so braucht er nur in das Haus zu gehen, wo der große Adler über dem Tor hängt, und der kaiserliche Bezirksrichter, unser Herr Negrusz, verschafft ihm schon sein Recht. Aber vor dem großen Jahr, wo der Kaiser alle Menschen gleichgemacht hat, da war das nicht, da hat der Gutsherr das Recht geübt durch seinen Mandatar, aber dieses Recht war meistens ein großes Unrecht. Ach, Kinder, das war eine sehr schwere Zeit! Dem Gutsherrn hat der Grund und Boden gehört, dem Gutsherrn die Menschen, dem Gutsherrn das Mark in den Knochen, sogar die Luft und das Wasser haben dem Gutsherrn gehört. Unser Herr, der Graf Bortynski, hat immer in Paris gelebt und sich gar nicht um sein Besitztum gekümmert. Alle Vollmachten hat sein Mandatar gehabt, und so haben wir immer beten müssen, daß dieser ein guter Mensch sei, denn nur so haben wir ruhig leben können. Zuerst ist unsere Bitte von Gott erhört worden, und der dicke Herr Stephan Grudza war ein Mandatar, wie wir Juden ihn nicht besser wünschen konnten. Betrunken war er freilich vom Morgen bis zum Abend, aber wenn er betrunken war, so war er lustig, und wenn er lustig war, so hat er nicht gern andere Menschen traurig gemacht. Aber einmal war er bei der Mittagstafel besonders lustig, und nach der Tafel hat ihn der Schlag getroffen. Als er begraben wurde, war große Betrübnis in unserer Gemeinde. Denn erstens war dieser Herr Grudza wirklich ein guter Mensch und dann – konnte man wissen, wie sein Nachfolger sein würde?!
Diese Betrübnis war auch sehr begründet. Der neue Mandatar hieß Friedrich Wollmann und war ein Deutscher. Sonst sind die Deutschen milder gegen uns als die Polen, aber er war eine Ausnahme. Er war ein großer, magerer Mann mit schwarzen Haaren und dunklen, blitzenden Augen. Sein Gesicht war finster und traurig – immer, immer –, er hat nie gelächelt. Auf die Wirtschaft und auf die Menschen hat er sich ausgezeichnet verstanden, die Mörder und Gauner hat er zum Geständnis zu bringen gewußt wie kein anderer, und bezüglich der Steuern hat ihn gewiß niemand um einen Heller betrogen. Aber uns Juden hat er furchtbar gehaßt und uns jeden Tag brennendes Leid angetan. Unsere Abgaben hat er verdreifacht, unsere Söhne hat er ins Militär gesteckt, unsere Feste hat er gestört, und hatten wir Rechtshändel mit den Christen, so war unser Wort nichts und des Christen Wort alles. Auch die Bauern hat er gewiß streng gehalten, erbarmungslos streng, und die Robot hat seit Menschengedenken kein Mandatar in Barnow so durchgeführt wie er, jedoch darin war noch immer eine gewisse Gerechtigkeit, aber sobald es sich um Juden handelte, hörte aller Verstand auf und alles Recht.
Und warum verfolgte er uns so? Man wußte es nicht, aber man ahnte es. Man erzählte sich, er habe früher Froim Wollmann geheißen und sei ein getaufter Jude aus Posen. Er habe aus Liebe zu einem Christenmädchen seinen Glauben gewechselt, aber die Juden seiner Heimat hätten ihn aus Zorn und Empörung darüber so verfolgt und verleumdet, daß ihm die Eltern das Mädchen doch nicht gegeben. Wer die Kunde unter uns gebracht hat, weiß ich nicht, aber wenn man sein Gesicht sah, so klang es nicht unwahrscheinlich und besonders, wenn man sein Benehmen gegen uns sah. So haben wir damals traurige Tage gehabt, und Wollmann hat uns gedrückt, gleichviel, ob wir etwas verschuldet hatten oder nicht. War aber wirklich ein Grund da, so gab es kein Entrinnen aus seiner Hand. Und so war es im Herbst vor dem großen Jahr.
Bei uns Soldat zu sein, ist nichts Angenehmes, aber in Rußland gar ist es ärger als der Tod, und wenn ein jüdisch Kind dort zum Militär abgestellt wird, so ist es verloren für Gott, für seine Eltern und für sich selbst. Kann man sich da wundern, wenn die Juden in Rußland alles tun, um ihre Kinder loszukaufen, oder wenn ein Jüngling, den das Unglück trifft, zu entfliehen sucht?! Viele solche Fälle kommen vor; manche Flüchtlinge werden eingefangen, und denen wäre besser, sie wären nie geboren; manchen aber glückt es auch, sie entkommen über die Grenze, nach der Moldau oder zu uns. So ein Fall ereignete sich auch in jener Zeit. Ein jüdischer Soldat – er war aus Berdiczow – kam bei Hussiatyn über die Grenze herein und wurde von da nach Barnow gebracht. Die Gemeinde tat für ihn, was sie konnte, und ein reicher, mildtätiger Mann, Chaim Grünstein, der Schwiegervater von Moses Freudenthal, nahm ihn als Pferdeknecht in seinen Dienst.
Die russische Regierung forschte natürlich nach dem Flüchtling, und alle unsere Ämter erhielten den Befehl, nach ihm zu suchen. Auch unser Mandatar bekam eine solche Schrift. Sogleich ließ er die Vorsteher der Gemeinde zu sich entbieten und fragte sie aus. Sie erschraken sehr, dann aber faßten sie sich und leugneten, von dem Fremdling zu wissen. Es war gerade am Vortage des ›Versöhnungstages‹, wie hätten sie am Abend vor Gott treten können, wenn sie den Ärmsten verraten hätten?! Darum blieben sie fest, ob auch der Mandatar drohte und wütete. Als er sah, daß sie entweder nichts zu sagen wußten oder nichts sagen wollten, entließ er sie und sagte nur finster: ›Weh Euch, wenn der Bursche doch in Barnow ist! Ihr kennt mich noch nicht, aber dann, bei Gott, dann sollt Ihr mich kennenlernen!‹
Die Männer gingen, und es ist kaum zu sagen, welche Trauer, Furcht und Betrübnis diese Kunde in der Stadt hervorrief. Der Bursche, um den es sich handelte, war ein braver, fleißiger Mensch, man durfte ihn nicht in seiner Not verlassen. Wenn er in Barnow blieb, so war das sehr gefährlich, denn Wollmann fand ihn doch, früher oder später, diesem Menschen konnte nichts verborgen bleiben. Wenn man ihn aber fortschickte, so ohne Paß, ohne alle Ausweise, so fingen sie ihn gewiß einige Meilen weiter. Man beriet lange hin und her, endlich kam Chaim Grünstein auf einen Einfall. Er hatte einen Verwandten, welcher Gutspächter in der Marmaros war in Ungarn. Dorthin sollte der Bursche gleich in der Nacht nach dem Versöhnungstage abreisen und nur die Nächte zur Fahrt benutzen. So konnte er seinen Drängern am sichersten entgehen. Alle stimmten bei, und erleichterten Herzens nahmen sie die große Mahlzeit ein, welche für das Durchfasten des Versöhnungstages stärken soll. Dann brach die Dämmerung herein, in der Betschul wurden die vielen, vielen Wachslichter angezündet, und die ganze Gemeinde eilte dorthin, bangen und zerknirschten Herzens, voll Demut und Reue. Denn das sind ja die schweren Stunden, wo wir zu unser aller Richter flehen, daß er uns gnädig sei und unsere Schuld vergebe. In weißem Gewande gingen die Frauen, in weißem Sterbekleide die Männer. Auch Chaim Grünstein und sein Haus gingen dahin, sich vor Gott zu beugen, darunter auch der arme Bursche, der vor Angst an allen Gliedern zitterte.
Als alle versammelt waren und der Gottesdienst beginnen sollte und Klein-Mendele die Hand flach an die Kehle setzte, um die ersten Töne der ›Kol-Nidra‹ recht beweglich und zitternd hervorzubringen, entstand eine Bewegung an der Tür, gräfliche Trabanten besetzten den Ausgang, und an den Sitzreihen vorüber schritt langsam Herr Wollmann vor, bis er an der Thora-Lade stand, hart neben Klein-Mendele. Dieser wich zitternd zur Seite, die Gemeindevorsteher aber traten demütig heran, ›Ich weiß, daß der Bursche unter Euch ist‹, sagte Wollmann. ›Wollt Ihr ihn jetzt herausgeben?‹ Die Männer schwiegen. ›Nun‹, fuhr der Mandatar fort, ›so werd' ich ihn denn fassen lassen, wenn Ihr das Bethaus verlasset. Und nicht nur er, Ihr alle werdet des Abends gedenken, das versichere ich Euch. Doch nun laßt Euch nicht stören, betet nur immer zu. Ich habe Zeit, ich will zuhören.‹ Totenstille folgte, nur von oben aus der Frauenschul hörte man den schrillen Angstruf eines Weibes. Alle waren wie gelähmt vor Entsetzen, dann aber faßten sie sich und erhoben die Blicke zu Gott. Stumm kehrten sie auf ihre Sitze zurück.
Klein-Mendele zitterte an allen Gliedern. Dann aber richtete er sich auf und begann die Töne der ›Kol-Nidra‹, jener uralten, einfachen Weise, die niemand vergessen kann, der sie einmal gehört hat. Zitternd und unsicher klang anfangs seine Stimme, dann aber ward sie immer mächtiger, klar und voll und herzbewegend klang sie durch den Raum und über die Beter hin und empor zu Gott. So hat Klein-Mendele nie wieder gesungen wie an jenem Abend. Eine wundersame Weihe war über den Menschen gekommen. Wie er so sang, war er kein trällernd Männlein mehr, sondern ein gewaltiger Priester, der für sein Volk zu Gott die Stimme erhebt. Er dachte an die einstige Herrlichkeit und dann an die vielen Jahrhunderte der Schmach und der Verfolgung, und in seiner Stimme klang es, wie wir ruhelos gehetzt worden sind über die Erde, die Ärmsten unter den Armen, die Unglücklichsten unter den Unglücklichen. Und wie die Verfolgung noch nicht geendet hat, wie immer neue Dränger gegen uns den Arm erheben und wie immer neue Schwerter in unserem Fleisch wühlen, all unser Leid klang in seiner Stimme, unser unsägliches Leid, unsere unzähligen Tränen.
Aber noch etwas anderes klang darin, unser Stolz, unsere Zuversicht, unser Gottvertrauen. Oh, es ist nicht zu sagen, wie Klein-Mendele sang in jener schweren Stunde, weinen, weinen, weinen mußte jeder, und doch mußte er wieder stolz sein Haupt erheben . . .
Die Weiber weinten laut, als er geendet. Die Männer schluchzten. Klein-Mendele aber barg sein Antlitz in den Händen und brach zusammen.
Wollmann hatte sein Gesicht während des Gesanges der Thora-Lade zugekehrt, dann aber wendete er sich um. Er war entsetzlich blaß, seine Knie zitterten, der starke Mann konnte sich kaum aufrecht erhalten. In seinen Augen flimmerte es wie von Tränen. Wankenden Schrittes, gebeugten Hauptes schritt er an Mendele vorüber und durch die Reihen gegen den Ausgang. Dort gab er den Trabanten einen Wink, ihm zu folgen.
Was über ihn gekommen war, ahnte man wohl, man sprach es aber nicht aus.
Am Tage nach dem Fest ließ er Chaim Grünstein zu sich rufen und gab ihm einen unausgefüllten Paß und sagte nichts dazu als: ›Ihr könnt's vielleicht brauchen.‹ Von da ab war er milder gegen uns. Es dauerte aber nicht lange. Im Frühling des ›großen Jahres‹ haben ihn die Bauern, die er einst sehr gequält, erschlagen . . . Seht, Ihr Leute, das ist die Geschichte von unseren Rettern. Und nun überdenket noch einmal, wer groß ist und wer klein, wer schwach und wer mächtig!«
Von einem Kind handelt diese Geschichte. Es hieß Lea und war vierjährig und hatte schwarze, glänzende Haare und große, dunkle Augen. Diese Augen aber waren nicht glänzend, wie ein Schleier lag es über ihnen und über dem blassen, zarten Gesicht des kleinen Mädchens. Es war sehr armer Leute Kind und hatte ein einziges Kleidchen, das arg geflickt war, dasselbe für die Samstage, dasselbe für die Wochentage, man konnte kaum noch die ursprüngliche Farbe des gelben Zitzes heraus erkennen. Aber daher rührte jener Schleier nicht. Was wußte Lea von der Armut?! Alle Tage wurde sie satt, wenn nicht ganz, so doch halb satt, alle Tage durfte sie im Sonnenschein spielen, so viel ihr beliebte. Und den allerschönsten Spielplatz hatte sie, den man sich nur wünschen kann, groß und grün und still, und unzählige Blumen wuchsen da, und mit schweren Blütenzweigen neigte sich der Holunder über vielen, sehr vielen Ruhesitzen, denn Leas Spielplatz war der Judenfriedhof zu Barnow. Es war eigen, wenn man das ernste Kind so still zwischen den Gräbern einhergehen sah, oder wenn es auf einem der Steine saß und zusah, wie die lustigen Goldkäfer dahinliefen durch das aufsprossende Gras. Aber auch daher rührte jener Schleier nicht. Was wußte Lea von dem Tode?! Der Vater war tot, das wußte sie, und Totsein heißt schlafen und niemals, gar niemals mehr Hunger haben. Und wie hätte sie etwa sonst der tägliche Anblick der Gräber betrüben können?! Nein, das war's nicht, und auch die Juden in Barnow logen, wenn sie sagten: »Das Kind ist nun einmal ein ›Kind der Sühne‹ – wie sollt es ein ander Gesicht haben?!« Nein, ein Erbteil war jener Zug des Leidens in dem blassen Gesichtchen. Die arme Miriam Goldstein hat dies Kind unter einem Herzen getragen, das von schwerem Kummer gequält war, von schier unsäglichem Seelenschmerz. Und blutige Tränen waren auf das Antlitz des kleinen Wesens gefallen, als es an ihrem Busen lag. Auch solche Tränen vertrocknen, aber sie lassen eine Spur zurück. Die kleine Lea trug in ihrem Antlitz die Spur der Tränen, die einst ihre Mutter darauf geweint hatte.
Denn später, als das Kind heranwuchs, da weinte die Mutter nicht mehr. Die arme Witwe hatte dazu keine Zeit mehr. Den Tag über mußte sie schaffen und sorgen, und des Nachts sank sie ermattet hin, und selbst wenn sie aufwachte und so nachgrübelte über ihr hartes, armseliges Leben, auch da weinte sie nicht, denn zum Schluß konnte sie doch immer sagen: »Gottlob, mein Kind und ich, wir brauchen weder zu betteln noch zu verhungern, gottlob, das Kind ist gesund!«
»Das Kind ist gesund!« Die Miriam Goldstein, die Witwe des Totengräbers zu Barnow, die von der Gemeinde als Witwengehalt ein kleines Stübchen in der Hütte am Friedhoftor eingeräumt erhalten, die den Tag über für fremde Leute wusch und nähte, die arme Frau weinte auch des Nachts nicht in schlaflosen Stunden. Ihr Kind war gesund – ich frage alle Mütter: Warum hätte Miriam Goldstein weinen sollen?!
So kamen und gingen die Tage. Die kleine Lea ward vierjährig und spielte den Sommer über auf den Grabhügeln und schlüpfte still, aber fröhlich unter den Holunderzweigen hindurch und unter der Wäsche, welche die Mutter an langen Stricken über den Gräbern zum Trocknen aufgehängt hatte.
Dann aber kam der Herbst und die kühlen, feuchten Abende. Es dämmerte früh, die arme Frau kam erst immer in der Dunkelheit heim, und das Kind wartete so lange geduldig in der Kammer. Es wußte ja doch, daß endlich draußen der wohlbekannte Schritt klingen müsse, dann tat sich die Tür auf, und die Mutter rief »Lea!« – und das Kind stürzte in die ausgebreiteten Arme. Dann machte die Mutter Licht und Feuer und kochte für sich und das Kind eine warme Suppe.
Aber einmal, an einem trüben, kalten Septembertag, war es nicht so. Wohl kam die Wäscherin heim und rief den Namen ihres Kindes, aber es kam ihr nicht entgegen. Die Frau machte zitternd Licht. Die Stube war leer. »Lea!« rief die Mutter noch einmal laut, gellend. Keine Antwort. Sie ließ die erhobenen Hände wie gelähmt sinken. Dann raffte sie sich auf und stürzte in die Wohnstube ihres Nachbars, des Totengräbers, der einst der Gehilfe ihres Mannes gewesen und nun selbständig das Ämtchen versah. »Mein Kind!« schrie sie, »wo ist mein Kind?« Der Mann und sein Weib sahen die arme Miriam an, als wäre sie wahnsinnig. »Woher sollten wir's wissen?« fragten sie endlich zögernd. – »Es ist verschwunden, helft, helft!« jammerte die Verzweifelte und stürzte hinaus in die Nacht, auf den Friedhof.
Des Totengräbers Weib lief suchend auf die Heerstraße gegen das Städtchen zu, ihr Mann folgte der armen Mutter. Er kannte sich sehr gut aus unter den Hügeln und den Steinen, aber er vermochte Miriam nicht einzuholen. Wie ein gehetztes Wild eilte sie über Stock und Stein, bald stieß sie sich an einem Grabstein, bald stolperte sie über eine Baumwurzel, aber vorwärts rannte sie und kreuz und quer und schrie in Todesangst immer wieder den Namen ihres Kindes. Der Mann kannte diesen Ort, und alle Schrecken dieses Ortes waren ihm ein Alltägliches, dennoch sträubte sich sein Haar vor Entsetzen, als er so in dunkler Nacht über die Gräber lief und der Notschrei des Weibes immer wieder an sein Ohr schlug. So näherten sich beide der Stelle, wo der Friedhof von dem Flußbett begrenzt wird, von dem Bett des tiefen, langsam und träge dahinflutenden Sered. »Der Zaun ist schadhaft«, flüsterte der Mann vor sich hin, er wagte den Gedanken nicht auszudenken.
Aber das Schicksal war barmherzig gewesen. Als die beiden längs des Zaunes hineilten und Miriam mit fast versagender Stimme den Namen des Kindes schrie, da ward plötzlich hinter einem Grabstein hervor ein dünnes, zitterndes Stimmchen vernehmbar, das »Mutter!« rief. Das kleine Mädchen hatte sich den Tag über müde gelaufen und war von der Dämmerung an der entlegenen Stelle überrascht worden. So hatte es sich denn hingesetzt und war eingeschlafen. Das Kind begriff kaum, warum die Mutter es so hastig empor und an ihre Brust riß, warum sie ihm das kleine Antlitz mit tausend Küssen und Tränen bedeckte. Langsam trug sie es in das Häuschen zurück. Der Totengräber folgte ihr, auch er war erfreut, aber dennoch schüttelte er den Kopf und murmelte: »Es hätt' mich nicht gewundert, wenn wir das Kind tot gefunden hätten oder gar nicht. Das ›große Sterben‹ soll ja wieder heranziehen, man sagt, es ist schon bei den Türken.«
Aber Miriam vernahm diese sonderbaren Worte nicht. Sie trug das Kind in das Stübchen und bettete es da viel weicher als gewöhnlich und strich ihm das Haar aus der Stirn und küßte es unzählige Male. Dann ging sie zu den Nachbarn hinüber und dankte ihnen nach Weiberart mit sehr vielen Worten. Und darauf kam sie in ihr Stübchen zurück und dankte auch Gott. Das aber tat sie mit einem einzigen langen, langen Blick gegen den Himmel.
Schlafen konnte sie nicht. So hockte sie denn neben der kleinen Lagerstatt hin und blickte ihr schlafendes Kind an. Aber Himmel, was war das?! Dem armen Weib gerann das Blut wieder zu Eis, das sonst so bleiche Antlitz des Kindes war fieberhaft gerötet, die Atemzüge gingen schwer und röchelnd, die Hände und die Füßchen waren kalt und der Kopf glühend heiß. »Lea, bist du krank?« rief die Mutter. »Sprich, mein Leben!« Das Kind öffnete beim Klang der wohlbekannten Stimme die Augen: sie waren nicht glanzlos wie sonst, ein fremdes, unheimliches Feuer glühte in ihnen. »Mich friert!« stammelte das Kind, dann schloß es wieder die Augen, und die Händchen griffen in krampfhaftem Zucken an der Decke umher.
»Das Kind stirbt!« Die Witwe sprach es nicht aus, aber sie fühlte, wie ihr der Gedanke riesengroß über Seele und Körper kam, daß sie kein Glied zu regen vermochte. Dann aber ermannte sie sich, riß das dünne Tuch von den Schultern und ihr Feiertagskleid aus der Truhe und deckte beides über das Kind. Es fror sie heftig, ihre Zähne schlugen aneinander, aber was achtete sie das? Sie stürzte wieder zur Nachbarstube und rüttelte an der verschlossenen Tür. Die arme Frau wollte ihren Nachbar bitten, herüberzukommen und zu sehen, was dem Kind fehle, denn ein Totengräber versieht unter den Juden jener Landschaft meist noch ein anderes Amt: er wartet die Kranken. Wer den Arzt nicht ruft, ruft doch mindestens den Totengräber. Aber der Mann war in das Städtchen gegangen, um die Nachtwache bei einem eben Verstorbenen zu halten, bei dem reichen Moses Freudenthal. Nur sein Weib kam und wachte mitleidig mit der Witwe. »Es ist nur ein Fieber«, tröstete sie, »das Kind hat sich erkältet. Es ist nur ein gewöhnliches Fieber, seht, nun folgt auf die Kälte die Hitze.« In der Tat glühte nun der ganze Körper des Kindes, und die Mutter mußte alle Decken entfernen. Die Frauen kochten einen Tee aus kräftigen Kräutern, aber davon mochte das Kind nichts nehmen. Langsam, langsam verging die furchtbare Nacht.
Als der Morgen graute, kam der Totengräber von seinem traurigen Amt nach Hause. Er trat an das Lager des kranken Kindes und schüttelte den Kopf. Verzweiflungsvoll rang die Mutter die Hände bei dieser Gebärde und stöhnte leise auf. Der Mann fühlte Mitleid mit ihr. »Es ist nicht gefährlich«, sagte er zögernd, »das Kind wird wohl wieder gesund werden.«
»Sagt mir die Wahrheit«, bat Miriam, »den Doktor will ich jedenfalls rufen.«
Der Totengräber zuckte die Achseln. »Der Doktor ist in Zalesczyki, seit acht Tagen schon, bei der Assentierung. Aber wär' er auch hier – dem Kind kann kein Doktor helfen!«
»Also muß es sterben?« fragte Miriam leise, sie war dem Umsinken nahe.
»Kein Doktor, mein ich«, wiederholte der Totengräber langsam, »nur ein frommer Mann, ein Rabbi. Heute um zehn Uhr ist die Bestattung des alten Moses Freudenthal. Da kommt unser Rabbi mit heraus. Bittet ihn, daß er das Kind ansieht und segnet. Er ist ein frommer Mann, vielleicht ist seine eigene Kraft groß genug zu retten, vielleicht gibt er Euch einen Rat.« Damit ging er hinaus, dem neuen Ankömmling die Stätte zu bereiten. Sein Weib folgte ihm.
»Ich sollt' eigentlich gleich zwei Gräber graben«, sagte er und stieß den Spaten in die Erde.
»Du meinst das Kind?« fragte sein Weib. »Die arme Miriam, daß Gott behüte.«
»Ja«, erwiderte er, »es tut mir selbst das Herz weh, aber da gibt es keine Menschenhilfe. Man sagt, das ›große Sterben‹ kommt wieder. Gott will uns verschonen, er nimmt nur das ›Kind der Sühne‹, das wir ihm bestimmt haben.«
»Um Gottes willen!« schrie das Weib auf, »darum soll ein unschuldig Leben vergehen?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Was willst du frömmer sein als unser frömmster Rabbi? Was willst du gerechter sein als der große Reb Srolce, der Wunderrabbi von Sadagóra, der es so angeordnet hat?!«
Die Frau verstummte.
Was hatte der Wunderrabbi angeordnet? Warum nannten sie dies Kind ein »Kind der Sühne«?!
Unheimlich, riesengroß, ein entsetzlicher Würgengel des Herrn, war im Jahre des Unheils 1831 eine bisher ungekannte Pest über alle Länder gekommen. Man nannte sie die Cholera. Vom fernsten Osten kam sie, in den fernsten Westen drang sie und verödete die Städte und bevölkerte die Grabstätten. Furchtbar lag sie über den schmutzigen, armseligen Städtchen der podolischen Ebene, wie Fliegen sanken unzählige dahin, und nicht Menschenhände genug gab es, die Toten zu begraben. Kein Heilmittel rettete, keine Lebensweise schützte. Stumpfe Ergebung kam über die Menschen oder wilde, ingrimmige Verzweiflung. Und Gott ließ es geschehen, und von Gott kam keine Hilfe. Sie schrien zu ihm, und er hörte sie nicht.
Warum, warum?! War es denn nicht ihr Gott, zu dem sie flehten, der Gott ihrer Väter, der Starke, der Gerechte, Einzige?! Hatte er keine Ohren mehr, um zu hören, keine Arme mehr, um zu helfen? Warum wütete er plötzlich gegen sein eigen Volk, warum schonte er nicht einmal die Guten und Gerechten?!
Die Gedanken dieser unglücklichen Menschen begannen sich zu verwirren. Für sie gab es ja nur ein Licht in ihrem Leben: ihren Glauben, und dieser Glaube trog sie. Sie faßten es nicht. Da kam über sie ein anderer Gedanke, furchtbar, zerschmetternd und doch zugleich trostvoll. War ihr Gott nicht auch ein Gott der Rache?! War er nicht ein eifervoller Gott, der jeden Frevel grausam, unerbittlich sühnte? Und wenn er heute seine Hand auf Guten und Bösen so fürchterlich lasten ließ, geschah es nicht vielleicht deshalb, weil die Bösen sündigten und die Guten diese Sünden ungeahndet und ungerächt geschehen ließen?
»Reinigen wir uns!« erscholl plötzlich der gellende Ruf durch das unglückliche, verblendete, von Angst und Trauer gepeitschte Volk. »Suchen wir den Frevel auf in unserer Mitte, und versöhnen wir durch seine Bestrafung Gottes Zorn!« Und sie reinigten sich. Ein Volksgericht entstand, ein unheimliches Gericht, das im Dunkel prüfte, im Dunkel entschied, im Dunkel strafte, grausam, grimmig, mit einer Gewalt, der man nicht entrinnen konnte. Es hatte tausend Augen und tausend Arme und war doch unsichtbar und unfaßbar. Sie »rächten Gottes heiligen Namen«, und in der Tat mag in jener Zeit manchem Verbrecher, der der Justiz des Staates entronnen war, die Stunde der Vergeltung geschlagen haben. Aber mit wieviel unschuldigem Blut sich die Wahnsinnigen beluden! Es sind in jenen düsteren Tagen Taten geschehen, daß das Herz erstarrt, wenn man ihrer gedenkt.
Aber die Seuche ward nur immer furchtbarer und bösartiger. Und nun legten auch die wenigen Ärzte die Hände in den Schoß. Sie konnten nun nicht einmal lindern, geschweige denn erretten.
Da ließen die Menschen ab, gegeneinander zu wüten. Die wachsende Wucht des Unglücks machte sie kleinmütig, ja entsetzlich feig. Sie wagten es nicht einmal mehr, selbst zu Gott zu beten. Ein, anderer, ein Vermittler, sollte es für sie tun.
Zu diesem Fürbitter wählten sie den Rabbi von Sadagóra, einem kleinen Städtchen in der Bukowina. Der Mann hieß ohnehin seiner angeblichen Taten wegen allgemein der »Wundermann«. Er sollte helfen und erlösen durch Flehen vor Gott, durch eigene Tat. Denn er war ja in der Meinung jener Unglücklichen der Mann, aus dessen Geschlecht einst der Erlöser erstehen würde, und es ging die Sage, er trage auf der innern Handfläche das Wahrzeichen des königlichen Stammes Davids, das Abbild des Löwen, seltsam als äußeres Zeichen göttlicher Sendung in die Haut eingegraben. Darum rafften sie Geld und Kostbarkeiten zusammen, und selbst die Armut opferte ihre Habe, den Rabbi zu beschenken und so zur Fürsprache bei Gott zu vermögen. Der uneigennützige Mann versprach zu helfen. »Ihr alle habt Gott beleidigt«, versicherte er, »Ihr alle müßt Buße tun.« Und er schrieb Bußtage aus, und pünktlich, schier grausam, ward Fasten und Kasteiung durchgeführt, denn die Angst vor dem Tode wachte über der Erfüllung des Gebots. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr, daß in jener Zeit drei Wochen hindurch die gesamte jüdische Bevölkerung jener östlichen Lande nur jeden zweiten Tag Speise und Trank genoß.
Die Folgen sind leicht zu begreifen. Über die gemarterten, geschwächten Körper kam die Seuche nur um so rascher. Der Ruf des Rabbi stand auf dem Spiel und damit die Einträglichkeit seines Geschäfts. Er ersann ein anderes Mittel. »Gott am meisten wohlgefällig«, verkündete er, »ist die Vermehrung seiner Gläubigen. Jede Gemeinde statte daher ein oder mehrere Paare aus und vermähle sie – ein Opfer dem erzürnten Gott – auf dem Friedhof.«
Das Mittel hatte verschiedenen Erfolg. In manchen Orten bewirkte die Ansammlung der Menschen auf dem Friedhof, die Schwelgerei bei dem Hochzeitsmahl nur noch ein Wachsen der Seuche. Anderwärts aber schadete das wahnsinnige Mittel nicht, weil das »große Sterben« ohnehin im Abnehmen war, und bald darauf erlosch dieses.
Das Mittel blieb in Erinnerung. Und als das Jahr 1848 herankam mit all seinem Freiheitsjubel und all seinen Todesnöten, als auch das »große Sterben« wieder herangeschlichen kam durch die Steppen des Ostens, da griffen die Geängstigten wieder zu jenem Mittel, und allerorts gab es wieder solche schauerlichen Hochzeitsfeste.
Also war es auch in Barnow. Das arme Paar, das dort – ohne gegenseitige Neigung, durch den Willen der Vorsteher – erwählt, mit kümmerlichem Heiratsgut bedacht und dann mitten zwischen den frischen Gräbern getraut wurde, war Nathan Goldstein, der Totengräber, und Miriam Roth, die blutarme Waise, die im Hause des Gemeindevorstehers als Magd diente. Sie sahen sich eigentlich zum ersten Mal recht an, als sie bereits unter dem Trauhimmel standen. Aber die Ehe, die so plötzlich, in so gräßlicher Umgebung, zu so traurigem Zweck geschlossen worden, war dennoch still und friedlich. Der Knecht und die Magd – wer wußte besser als diese den Segen des eigenen Hausstandes zu schätzen?
So lebten Nathan und Miriam glücklich miteinander, und zwei Kinder wurden ihnen geboren. Der erste große Schmerz kam über sie, als die beiden Kinder plötzlich rasch hintereinander starben. Das war im Jahre 1859. Aber freundlichen Ersatz wollte Gott ihnen gewähren: im Frühling desselben Jahres fühlte sich Miriam wieder Mutter. Als aber der Sommer jenes Jahres ins Land kam, da kam auch wieder jener entsetzliche Würgengel aus Osten geschritten, und wieder hielt er fürchterliches Gericht über die verwahrlosten jüdisch-polnischen Städtchen der großen Ebene.
Barnow blieb verschont. Hier fiel nur ein einziges Opfer: Nathan, der Totengräber. Grenzenlos war der Schmerz der Witwe, die nun in ihrem Zustand doppelt hilflos war. Aber die Gemeinde jubelte über den glücklichen Verlauf der großen Krankheit, und als diese auch rings im Lande erloschen war, sandte sie die Nachricht davon mit Danksagungen und Geschenken nach Sadagóra, an den Sohn des Wundermannes, der des Vaters Geschäft geerbt hatte. Die Geschenke nahm der Rabbi an, die Danksagungen ließ er sich gefallen, und als ihm die Abgesandten von dem einzigen Todesfall berichteten, versicherte er: »Ihr wart Gott wohlgefällig, darum ließ er die Seuche vor elf Jahren, kaum daß Ihr das Opfer gebracht, erlöschen. Aber die Menschen, die Ihr so gütig bedacht, waren ihm nicht wohlgefällig. Darum ließ er die Kinder sterben und dann – ein Sühnopfer für Euch alle – den Mann. Und wenn das Weib wieder ein Kind gebärt, so wird auch dies Kind nur darum leben, um dereinst ein Sühnopfer für Euch alle zu sein.«
So sprach der Rabbi, denn die Witwe eines Totengräbers kann keine Geschenke geben.
Die Männer aber kehrten heim und verbreiteten den Spruch unter den Leuten. Auch Miriam hörte davon und weinte blutige Tränen darüber. Dann aber hatte sie keine Zeit mehr dazu, sie mußte arbeiten, um mit ihrem Kind nicht zu verhungern.
So vergingen die Jahre, und es kam der Herbst heran, der trübe Herbst von 1863. Die Polen hatten sich erhoben gegen das große Volk des Ostens, und unheimliches Gerücht ging durch die Lande, daß auch jener Würgengel wieder erwacht sei, der gräßliche Bruder und Gefährte des Krieges. Und darum glaubte der Totengräber nicht, daß das arme »Kind der Sühne«, die kleine Lea, gerettet werden könne.
Das Begräbnis des Moses Freudenthal war vorüber. Er war ein sehr alter Mann gewesen, ganz vereinsamt, an seinem Sarg war keine Klage, die wenigen Begleiter gingen rasch auseinander. Auch der alte Rabbi des Städtchens wandte sich zum Gehen. Auf diesen Augenblick hatte die Witwe von ferne demütig geharrt. Nun trat sie dem Rabbi in den Weg und bat ihn, nach ihrem Kind zu sehen. Sie fügte kein flehendes Wort hinzu, aber in ihrer Stimme und dem Blick ihrer Augen lag etwas, das dem alten Mann unwillkürlich ans Herz griff. Gleichwohl zögerte er einen Augenblick. Dieses Weib war ihm peinlich, war sie doch Gott nicht wohlgefällig! Und was nun gar vollends das Kind betraf, dieses »Kind der Sühne« . . .
Aber er trat doch in das Häuschen und in die Kammer. Dann beugte er sich über das Lager des kranken Kindes und sah es lange an. Sein Antlitz war streng und herb, als er sich wieder aufrichtete.
In tödlicher Angst harrte die Mutter seines Ausspruchs. Aber der alte Mann schwieg und schickte sich zum Gehen an.
»Wollt Ihr das Kind nicht segnen?« fragte das Weib des Totengräbers.
»Frau«, erwiderte der Rabbi dumpf, »dem Kinde hilft kein Segen. Und dann . . . ich tue es nicht, es wäre ein Eingriff in den Willen des Allmächtigen.«
Mit einem Schrei stürzte die Mutter an das Lager und umschlang das fiebernde, bewußtlose Kind, als wollte sie es gegen jede fremde Hand schützen, selbst gegen Gottes Hand. Dann rief sie gellend: »Warum, Rabbi, warum?«
Der alte Mann sah sie finster an, dann suchten seine Augen wie verlegen den Boden. »Du weißt«, sprach er zögernd, »warum du deinem Mann angetraut worden bist. Du weißt, warum er gestorben ist und welche Folgen sein Tod brachte. Du weißt, welche Worte der große Rabbi von Sadagóra über dich und dein Kind gesprochen hat. Nun, und . . . und das große Sterben zieht wieder heran.«
Das Weib verstand ihn. »Ah!« schrie sie auf, es war ein unbeschreiblicher schriller Laut des Jammers und des Zornes. Mit glühenden Augen, mit flammendem Antlitz richtete sie sich langsam vom Lager empor, bis sie dem Rabbi dicht gegenüberstand. Und so, Aug in Aug, zischte sie es ihm ins Antlitz: »Du lügst, Rabbi, du lügst! Mein Kind wird nicht sterben! Gott ist weise, milde, gerecht, du aber, du und ihr alle, ihr seid es nicht! Gerecht wollt ihr sein und könnt verlangen, daß ein unschuldig Kind für eure Sünden büße?! Milde wollt ihr sein und wünscht eurem Nächsten den Tod?! Weise wollt ihr sein und könnt glauben, daß Gott das zulassen wird, unser guter, starker, gerechter Gott?!«
Wild griff sie sich an die Stirn, wankte und sank besinnungslos zusammen.
»Gott mag entscheiden zwischen mir und ihr«, murmelte der alte Mann und verließ die Stube.
Ein Tag und eine Nacht waren vergangen, und es schien, daß Gott bald entscheiden werde zwischen der armen Frau und dem Rabbi. Es schien, daß er für den Rabbi entscheiden wolle, für den Wundermann und die harten, törichten Menschen. Als der Morgen des zweiten Tages grau durch die Fenster der Kammer lugte und die Nachtlampe hin und her schwankte im Hauch des kalten Herbstwindes, der durch alle Sparren drang, da flackerte auch das junge Leben nur noch wie ein verlöschendes Kerzlein vor dem eisigen Hauch des Todes.
Die Mutter weinte nicht mehr. Der tröstende Quell der Tränen war ihr versiegt. Mit starren, trockenen Augen kauerte sie neben dem Krankenlager. Nur zuweilen, wenn Fieberschauer den Leib des Kindes durchrüttelten, ächzte sie leise auf. So vergingen die Stunden, es wurde Tag, und die Stube füllte sich mit Besuchern. Zahlreiche Weiber gingen aus und ein, aber auch einige Männer kamen. Vielleicht gab es auch solche darunter, die das Mitleid zum Besuch bewog, die meisten aber trieb ein Gefühl hierher, das aus Selbstsucht und Grauen gemischt war. Stumpf und gleichgültig sah Miriam zu, wie sie kamen und gingen. Nur einmal erhob sie sich und schrie wild auf: »Geht, geht! Es ist noch nichts zu sehen, das Kind stirbt noch nicht!« Darauf schlichen die Leute stumm hinaus.
Am Nachmittag hielt ein Wagen vor der Hütte am Friedhof. Es war die »Britschka« des Gemeindevorstehers, und eine sehr alte Frau saß darin. Man hob sie vorsichtig herab, und da die Greisin ohne fremde Hilfe nicht mehr gehen konnte, so mußte man sie in die Stube tragen. Das war Sara Grün, die Witwe des erschlagenen Simon Grün und die Mutter jener Frau Hanna, deren Geschichten man so gerne hörte. Hanna war sechzig-, sie aber achtzigjährig, und wie jene überall »Babele« hieß, so ward Frau Sara »Urbabele« (Urgroßmutter) genannt von allen im Städtchen, von Großen und Kleinen, Christen und Juden, und es gab niemand, der sich nicht vor ihrem Alter, ihrer Weisheit und Frömmigkeit ehrfurchtsvoll beugte. In ihrem Hause hatte einst Miriam als Magd gedient, und die alte Frau hatte sie sehr liebgewonnen. Darum ließ sie sich jetzt, trotz des Widerstrebens der Ihrigen, nicht abhalten, selbst zu kommen. Man trug sie in die Stube und setzte sie da auf einen Sessel hin. Die Witwe sah gleichgültig auf, dann belebte sich ihr Blick. »Urbabele«, schrie sie auf und stürzte der Greisin zu Füßen, »Urbabele, Gott lohn es Euch.«
Sie sprach nicht aus, Schluchzen erstickte ihre Stimme, nun konnte sie wieder weinen. Leise fuhr die Greisin mit der zitternden Hand über das verhärmte Antlitz der Knieenden. »Sprich nichts«, sagte sie, »ich kenne deine Trübsal, sie haben mir alles berichtet. Sprich nichts, hör an, was ich dir sagen muß, hör mich ruhig an.«
Aber dann konnte sie selbst die Tränen nicht zurückhalten, sie rannen über ihr blasses, ehrwürdiges Antlitz, als sie weiter sprach: »Ich weiß nicht, ich bin nur eine alte Frau, meine Füße wollen mich nicht mehr tragen, auch mein Kopf wird schon schwach, aber ich glaube, es ist ein groß Unrecht, wenn wir dein Kind so sterben lassen. Ja, ein groß Unrecht. Und darum glaube ich auch, das kann nicht der Wille Gottes sein und darum auch nicht der Wille des großen Rabbi von Sadagóra, denn er ist vom Geist Gottes beschattet.«
Die alte Frau hielt einen Augenblick inne und schüttelte den Kopf, als wollte sie einen Gedanken bekämpfen, der ihr heimlich aufgestiegen. Dann fuhr sie fort: »Ja, gewiß, er hat Wunder getan, Gottes Geist spricht aus ihm. Und er hat nun einmal das Wort über dich und dein Kind ausgesprochen, und wir müssen uns an sein Wort halten. Hörst du, ob wir wollen oder nicht, wir müssen. Denn wenn wir an dem einen zweifeln, so zweifeln wir an allem. Und darum hat auch unser Rabbi die harten Worte nicht verdient, die du gestern zu ihm gesprochen hast.«
»Oh, wenn Ihr wüßtet.«
»Sprich nicht!« Die alte Frau schrie es förmlich, als träfe sie jedes Wort der Witwe ins Herz. »Sprich nicht, entschuldige dich nicht, du brauchst keine Entschuldigung! Mein Gott, wer könnte dich darum anklagen – es ist ja dein Kind! Mein Gott, ich bin ja auch eine Mutter . . . Aber höre, was der Rabbi gesprochen hat, kann nur er allein zurücknehmen, verstehst du mich?! Ich hab' meinen armen alten Kopf zerquält, ich hab' keinen anderen Ausweg gefunden. Fahre nach Sadagóra und erbitte dir dort das Leben deines Kindes!«
»Ich soll das Kind in seiner Krankheit verlassen?« schrie Miriam auf.
»Ich will für die beste Wartung sorgen«, versicherte die Greisin. Und die Frau des Totengräbers fügte hinzu: »Ich will dein Kind pflegen, als wäre es mein eigenes.«
»Muß es denn sein?« rief die unglückliche Mutter wieder.
»Es muß sein«, erwiderte die Greisin fest. Dann aber setzte sie leise und schwankend hinzu: »Es scheint wenigstens, daß es so sein muß. Ach, nur Gott allein weiß das Richtige. Ach, Miriam, wenn du wüßtest, wie viel ich gedacht und gelitten hab' um dich und dein Kind! Achtzig Jahr bin ich alt geworden, und nie ist mir ein Zweifel gekommen an Gott oder an dem Wort seiner Weisen. Und nun erst habe ich fragen müssen: Ist es auch recht so?«
Dann richtete sie sich wieder auf und sprach fest, ja befehlend: »Miriam, du mußt zum Rabbi fahren. Morgen in aller Frühe fährt Simon, der Kutscher, mit zwei Frauen nach Czernowitz. Er wird dich bei Sadagóra absetzen. Ich werd' einen Platz im Wagen für dich mieten, und hier hast du auch Geld für Zehrung und Rückweg. In drei Tagen kannst du wieder zurück sein. Ich bin überzeugt, du findest dein Kind auf dem Weg zur Besserung. Willst du es tun, Miriam? Es geht um die ganze Gemeinde, doch das hat dich nicht zu kümmern, aber es geht um dein Kind. Miriam, willst du es tun?«
Die arme Frau rang einen harten Kampf. Ihr Gottvertrauen hatte sie belogen, das Kind war immer schwächer geworden. Und der Ertrinkende greift auch in die Schneide des Schwertes, um sich zu halten. So gab das Weib nach, den Menschen, welcher sie verflucht hatte, um Schonung anzuflehen. »Ich will's tun!« versprach sie endlich. Es klang wie ein Wehruf.
Und sie tat es. Am nächsten Morgen fuhr sie im Wagen Simons, des Kutschers, mit den beiden anderen Frauen aus dem Städtchen und hinaus auf die Straße, die gegen Süden führt, in die Bukowina. Wie sie von ihrem Kind Abschied genommen, wie ihr dabei ums Herz gewesen – es soll hier nicht beschrieben werden . . .
Die Sonne stieg empor, eine kalte, matte Spätherbstsonne, und sie schien herab auf das öde, flache Gelände und auf das armselige Gefährt, das mühsam dahinschlich im tiefen Kot der Straße. Dann zogen sich die Wolken zusammen, eine graue Riesendecke über der traurigen, schmutzig braunen Ebene, und die Decke ward immer dunkler und senkte sich immer tiefer herab, und dann begann es zu regnen. Lau und schwach, aber unablässig ging der Herbstwind über die Ebene wie ein Seufzer. Nur manchmal ward er stärker und rüttelte an der Leinwanddecke des Wagens.
Langsam krochen die Pferde dahin auf der breiten, verwahrlosten Straße, vorüber an entlaubten, triefenden Bäumen, an nebelumschleierten Weihern, an ärmlichen Dörfern, die doppelt trostlos erschienen im Lichte dieses trostlosen Tages. An mancher Stelle war der Grund der Straße klaftertief aufgeweicht, und der Wagen blieb ganz stecken. Dann stiegen Simon und die drei Frauen ab und mühten sich, ihn wieder flottzumachen. Miriam war sicherlich die schwächste unter ihnen, aber sie arbeitete am meisten. Nur dann zeigte es sich, daß sie bei Besinnung war. Denn die übrige Zeit lag sie wie schlafend, mit geschlossenen Augen in ihrer Ecke, und Fieberschauer durchrüttelten sie.
Oh, wie sie litt! Sie hielt die Augen geschlossen, aber klar, furchtbar klar und quälend standen ihr entsetzliche Bilder vor der Seele. Das Lager ihres Kindes sah sie, und wie das arme kleine Wesen seine Ärmchen nach ihr ausstreckte. Eine Gestalt beugte sich über das Lager, die Frau des Totengräbers, aber nein, das war nicht die Frau, das war eine Gestalt in weißen, wallenden Gewändern, mit einem blutlosen, furchtbar ernsten Antlitz: der Todesengel.
Und wieder war es ihr, als stehe sie vor dem großen Rabbi in Sadagóra, dem finsteren, harten Mann, und flehe ihn an, o so innig, wie nur eine Mutter flehen kann für ihr Kind, aber er weise sie fort mit harten Worten, und sie komme zurück und finde ihr Kind unter der Erde. Und wieder war es ihr, als habe er sich ihr freundlich zugeneigt und gesagt: »Ich gestatte, daß dein Kind lebe!« und sie sei heimgekehrt und habe ihr Kind dennoch tot gefunden, tot. Oh, wie sie litt! Immer und immer und unablässig ging der laue Herbstwind über die Heide. Aber war es wirklich nur der Wind, der so klagend dahinstrich?! Wie sich das Seufzen nun stärker erhob, da verstand sie es auf einmal, das war die Stimme ihres Kindes, das nach ihr rief: »Mutter! Mutter!« – »Habt Ihr nichts gehört?« schrie die Brütende wild auf und faßte angstvoll nach der Hand der Frau, die neben ihr saß . . .
Gegen die zweite Nachmittagsstunde hielt der Wagen bei einer großen, einsamen Schenke, die auf dem Weg zwischen Tluste und Zalesczyki liegt. Hier sollte kurze Rast gehalten werden. Vor dem Tor hielt eine elegante, aber arg mit Kot beschmutzte Reisekalesche; die schönen, feurigen Rappen wurden eben wieder angeschirrt. »Miriam, wir bleiben hier zwei Stunden«, sagte der Kutscher, und die Weiber setzten mitleidig hinzu: »Kommt, Miriam, steigt aus, Ihr müßt wenigstens eine warme Suppe essen, Ihr werdet sonst ernstlich krank.« Die Frau gehorchte und trat mit den anderen in die große Wirtsstube. »Ich darf nicht krank werden«, sagte sie laut vor sich hin. Der große Raum mit den grauen, triefenden Mauern und dem schmutzigen, schlüpfrigen Lehmboden war leer. Nur an einem Tischchen – nahe dem Fenster – saß ein junges, schönes Paar in eleganter Reisekleidung, ein blonder Mann, nahe den Dreißig, mit milden, aber energischen Zügen, und eine schöne, junge Frau mit dunklem Haar und blitzenden braunen Augen in dem frischen, mutwilligen Gesicht. Es waren offenbar Neuvermählte, das sah man an ihren Blicken und der fröhlichen, seligen Art, in der sie sich beim Speisen neckten. Sie nahmen ein sehr ärmliches Mahl ein, es bestand aus Brot und Eiern. Die vornehmen Reisenden hatten wohl die etwas eigentümliche Kost des Landwirtshauses verschmäht.
Die drei Frauen setzten sich in eine Ecke. »Das ist der Herr Oberförster von unserer Frau Gräfin«, zischelte die eine Frau der andern zu, »er hat sich seine junge Frau aus Czernowitz abgeholt und fährt nun wahrscheinlich nach Barnow zurück.« – »Nach Barnow?« fragte Miriam hastig. Dann aber sank sie matt auf ihren Sitz zurück, sie mußte ja nach Sadagóra!
Die Weiber bestellten Suppe, und auch Miriam nahm wenige Löffel davon. Dann aber schob sie ihren Teller zurück. Eben trat Simon, der Kutscher, in die Stube, auf den ging sie zu. »Ich bitt' Euch«, bat sie, »müssen wir so lange hier bleiben?«
»Ja, wegen der Pferde«, erwiderte er, »bis vier Uhr.«
»So lange?« seufzte sie. »Wieviel Meilen sind wir denn schon von Barnow?«
»Drei Meilen, der Weg ist so schlecht.«
»Drei Meilen«, wiederholte sie erschreckt, »wann kommen wir da nach Sadagóra?«
»Übermorgen gegen Mittag.«
»Übermorgen!« schrie sie auf, »da komm' ich ja nicht vor sechs Tagen wieder zurück, und der Sabbat kommt dazwischen! Also sieben Tage, eine volle Woche! O mein Gott, o mein Gott!«
Sie setzte sich wieder in ihre Ecke und preßte die Hände vors Antlitz. Aber es nützte ihr nichts, daß sie die Augen schloß und die Finger auf die Lider preßte: sie sah doch all die furchtbaren Bilder wieder, die sie auf der Heerstraße gequält hatten. Und wieder vernahm sie von fernher und durch die Mauern des Hauses hindurch den zitternden Ruf: »Mutter! Mutter!«
Die Reisenden hatten das Zwiegespräch mit dem Kutscher angehört, sie sahen das Weib zu ihrem Sitz wanken und riefen Simon herbei.
»Was ist's mit dem Weibe?« fragten sie.
Simon lüpfte ehrfurchtsvoll seinen Hut und berichtete dem Herrn Oberförster, was er von der Sache wußte. Als er geendet hatte, sahen sich die beiden Gatten lange schweigend an. »Es ist entsetzlich, Ludmilla«, sagte endlich der Oberförster. »So ein Aberglaube!«
»Es ist entsetzlich, Karl«, wiederholte die junge Frau. Aller Mutwille war aus dem blühenden Gesichtchen verschwunden, mit warmem Mitleid sah sie nach dem armen Weib. Miriam saß noch immer bewegungslos da, die Hände fest auf das Antlitz gepreßt. Fieberschauer machten ihren Körper erbeben, aber stärkere Schauer durchrüttelten ihre Seele.
Der Herr zahlte seine Zeche, dann trat sein Kutscher ein und meldete, die Pferde seien eingespannt, und die jungen Ehegatten legten ihre Oberkleider an. Aber sie gingen nicht, unschlüssig blieben sie stehen. »Karl«, begann zögernd die junge Frau. – »Du meinst, Ludmilla?« – »Das arme, arme Weib!« – »Ja, Ludmilla, es ist ein Elend.«
Und wieder blieben sie unschlüssig stehen. Miriam ließ die Hände sinken. Langsam, wie erwachend, strich sie sich über die Stirn. Dann, als sie die beiden Reisenden schon zum Gehen bereit sah, erhob sie sich rasch und schritt auf sie zu. Vor der Frau blieb sie stehen, unendlich flehend blickten ihre Augen, sie faltete ihre Hände, wie man sie vor Gott faltet, aber sprechen konnte sie nicht . . .
Die Augen der schönen Frau hatten sich mit Tränen gefüllt, als sie in dieses totenbleiche, gramerfüllte Antlitz sah.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie.
»Nach Barnow«, stammelte Miriam, »nehmt mich nach Barnow mit.«
»Gern«, erwiderte die junge Frau. »Kommen Sie nur, wir nehmen Sie gern mit.«
»Und der Rabbi?« riefen die beiden Judenweiber. »Ihr wollt nicht zum Rabbi?« Und Simon, der Kutscher, klagte: »Was wird die Gemeinde sagen?«
Miriam richtete sich auf. »Mögen sie sagen, was sie wollen«, sprach sie, »es ist mein Kind, ich muß zu meinem Kinde!« Aber dann verließen sie wieder die Kräfte, und der vornehme Herr und sein Kutscher mußten sie fast zum Wagen tragen. Sie setzten sie in den Fond neben die junge Frau, der Herr nahm gegenüber Platz. Die arme Miriam merkte diese Güte gar nicht und bedankte sich nicht. Nur, als der Herr dem Kutscher zurief: »Fahr zu, was die Pferde laufen können!« da blickte sie ihn demütig dankbar an.
So saß sie still neben den beiden fremden Herrschaften im Wagen, und nur zuweilen erhob sie sich ungeduldig, als ginge ihr die Fahrt noch zu langsam. Aber diese ging sehr rasch, und es war noch Tag, als sie in das Städtlein einfuhren. Die Leute auf der Straße blieben verwundert stehen, als sie die seltsame Gesellschaft im Wagen gewahrten, und steckten die Köpfe zusammen. Die junge Frau wurde rot. Aber ihr Gatte schüttelte den Kopf. »Was kümmert's uns?« fragte er. Und als sie an dem großen Standbild der Muttergottes vorüberfuhren, das vor dem Kloster der Dominikaner steht, da kam ihm ein seltsamer Gedanke. Er sagte leise vor sich hin: »Sie hieß auch Miriam und war ein armes Judenweib, und auch ihr Mutterherz durchbohrten die Schmerzen.« In der Dämmerung hielten sie vor der kleinen Hütte am Friedhof. Rasch sprang Miriam ab. »Gott lohn' es Euch«, stammelte sie atemlos.
»Habt Ihr einen Arzt?« fragte der Herr.
»Nein«, erwiderte sie, »der Stadtdoktor ist fort – zur Assentierung.«
»So schicke ich Euch den herrschaftlichen Wundarzt vom Schloß«, rief er ihr noch nach.
Sie hörte es aber nicht mehr. Sie war schon drinnen in der Stube. Das kranke Kind war allein. Eine Lampe warf ihren Schein auf sein hochrotes, über und über mit Schweiß bedecktes Gesichtchen. Es war aber nur mit einer ganz dünnen Decke umhüllt. Rasch langte Miriam einige Kleider hervor und deckte das Kind zu. »Der Schweiß«, jubelte sie, »das ist ein Zeichen der Rettung.«
Gleich darauf kam die Frau des Totengräbers. Sie war sehr erstaunt, als sie Miriam erblickte, aber sie wagte es nicht, ihr darüber einen Vorwurf zu machen. »Dem Kind war so heiß«, meldete sie nur, »da habe ich alle Decken entfernt.«
»Das war nicht gut«, meinte die Mutter, »man darf den Schweiß nicht vertreiben.«
Dann kauerte sie am Lager nieder. Ihr war's, als müßte nun alles wieder gut werden.
Eine Stunde später hielt ein Wagen vor dem Haus. Ein fremder Mann trat ein; es war der Wundarzt vom Schloß. Er sah das Kind an, fühlte nach seinem Puls und deckte es sorgsam wieder zu. Dann ließ er sich von den Frauen die Ursache und alle Zeichen der Krankheit erzählen.
»Es war eine große Gefahr«, meinte er, als sie geschlossen hatten, »nun ist sie vorüber. Ein großes Glück ist, daß Ihr so richtig den rettenden Schweiß erkannt und das Kind sorgsam zugedeckt habt.«
Miriams Augen glänzten. »Und wenn das nicht geschehen wäre?« fragte sie.
Der Arzt sah sie erstaunt an. »Wie Ihr sonderbar fragt.«
»Antwortet!« rief sie, »Ich bitt' Euch, Herr Doktor!«
»Nun«, meinte er ohne Besinnen, »dann wäre das Kind sicherlich oder mindestens höchstwahrscheinlich gestorben.«
»Gott, ich danke Dir!« rief Miriam. Und stolzen, leuchtenden Blickes rief sie der Nachbarin zu: »Wollt Ihr noch behaupten, ich sei von Gott verflucht, ich, an der er soeben ein starkes Wunder vollbracht hat? Ein Wunder war's, daß die guten Herrschaften gerade in derselben Stunde in das Wirtshaus gekommen sind – ein Wunder, sonst wäre mein Kind verloren gewesen.«
Das Kind genas.
Und die Leute von Barnow? Hätten sie ahnen können, daß es nur die Liebe war, die Mutterliebe, die hier dem Haß entgegengetreten war und ihre heilende, erlösende Kraft geübt hatte, sie hätten wohl nicht aufgehört, der Witwe und ihrem Kind zu grollen. Aber hier war ja ein sichtliches »Wunder Gottes« geschehen! Und ein Wunder, das Gott selbst tut, das allein ist mächtiger als eine Satzung des Wunderrabbi!
Esterka Regina! Wir nannten sie alle so, wir jungen Schüler, wenn wir in den Sommerferien von den Gymnasien zu Tarnopol oder Czernowitz heimkamen in das Städtchen, und später, wenn wir als Studenten in Wien zeitweilig zusammentrafen und von den Mädchen von Barnow sprachen, da nannten wir sie wieder mit diesem stolzen, klingenden Namen. Sie hieß aber in Wahrheit Rachel Welt und später, als sie den magern Chaim, den Ochsenhändler, geheiratet hatte, Rachel Pinkus und war ein armes, schüchternes Mädchen aus der Judengasse zu Barnow. In dem kleinen Häuschen neben der jüdischen Schlächterei wohnte sie, und ihr Vater, Hirsch Welt, war ein Fleischhauer, ein sehr dicker und seiner Grobheit wegen verrufener Mann.
Aber das hinderte uns nicht, aus der Ferne für sie zu schwärmen. Die Elegants von Barnow taten dasselbe aus der Nähe. Die ledigen Herren vom Bezirksgericht promenierten in ihren Freistunden nicht im gräflichen Garten, wo es viel frische Luft und Blumenduft gab, sondern in der kleinen Gasse vor der Schlächterei, wo wenig frische Luft war und durchaus kein Duft. Und die Offiziere der Garnison konnten sogar stundenlang zusehen, wie Hirsch Welt mit seinem Messer streng nach den Gesetzen des Talmuds hantierte. Und das alles, um einen Blick zu erhaschen aus den leuchtenden Augen der Esterka Regina!
Der Name paßte prächtig und war gar nicht überschwenglich, obwohl ihn ein Poet erfunden hatte. Dieser Poet war der junge Herr Thaddäus Wiliszewski, ein sehr hoffnungsvoller Mensch, der immer eine verschlossene Czamara trug und lange Haare hatte und eine Menge Verse machte, teils zum Hausgebrauch, teils für die Krakauer Damen-Zeitung. Dieser Herr Thaddäus also hatte, als er die Rachel Welt zum ersten Mal sah, wie sie in ihrem ärmlichen Sabbatkleid am Fluß spazierenging, entzückt ausgerufen: »Jetzt verstehe ich die Bibel! So hat die Esther ausgesehen, die dem Perserkönig den Kopf verdrehte und den Hamann an den Galgen brachte, und jene andere Esther, die unsern guten König Kazimirz, den Bauernfreund, bewog, den Juden in Polen eine Freistatt zu geben, nachdem diese klugen Deutschen sie beizeiten fortgejagt hatten. Das ist Esterka, die Königin!« Und von da ab nannten sie alle gebildeten Menschen in Barnow nur Esterka Regina.
Dieser Name war nicht überschwenglich, ich wiederhole es. Vielleicht wäre es das beste, ich begnügte mich mit dieser Versicherung. Denn wenn ich auch hinzufüge, daß ihre Augen tief, dunkel und leuchtend waren wie das Meer in Sternennächten und ihre Haare schwarz und duftig wie die Nacht des Südens und das Lächeln ihres Gesichtes wie ein Frühlingstraum – Ihr könnt ja deshalb doch nicht ahnen, wie schön sie war! Ich weiß es, ich kannte sie. Aber tiefe Wehmut überkommt mich bei dem Gedanken an diese Schönheit, denn sie war kein Segen für das arme, holde Kind. Die schöne, königlich schöne Esterka ist sehr unglücklich gewesen. Jetzt ist sie es nicht mehr, schon seit langen Jahren. Jetzt ist sie glücklich. Da liegt sie draußen am »guten Orte« und schläft. Dort haben sie an einem Frühlingstag vor langen Jahren das schöne, bleiche Weib zur Ruhe gelegt. Sanft und gut mag sie ruhen, denn ihr Unglück war noch größer als ihre Schönheit, und sie hat im Leben viel gelitten. Im Totenschein stand, die Rachel Pinkus sei einem Herzleiden erlegen. So war es auch wirklich, sie ist an gebrochenem Herzen gestorben.
Das ist eine Krankheit, die seltener ist, als man so hört und liest. Es sterben nur sehr wenige Menschen daran, und die am lautesten klagen, sie seien unrettbar diesem Tod verfallen, leben gewöhnlich noch sehr lange und sterben schließlich an Altersschwäche oder Überladung des Magens. Die Rachel hat mit keinem Wort, mit keinem Seufzer geklagt. Sie ging im Hause umher und schaffte rüstig, so lange sie konnte. Und als sie es nicht mehr konnte, da schrieb sie noch zitternd einen langen Brief in hebräischen Schriftzeichen und siegelte ihn zu und wankte damit ins Posthaus. Dort bat sie den Schreiber, in deutschen Lettern die Adresse auf den Brief zu setzen: »An den wohlgeborenen Herrn Dr. Adolf Leiblinger, holländischen Stabsarzt in Batavia«. Der junge Mann lächelte frivol, als sie ihm das diktierte, aber er wurde ernst, als er ihr ins Antlitz blickte und darauf die Schatten des Todes sah. Und dann ließ sie sich einen Aufgabeschein geben und wankte heim und starb.
Es ist eine einfache Geschichte. So einfach wie die Geschichten alle, die das Leben selbst dichtet, dieser größte und grausamste Poet.
Ich kannte sie, noch als sie ein kleines, siebenjähriges Mädchen war und ich ein wilder Knabe, der in der Schule unter der strengen Zucht knirschte. Da sah ich sie täglich. Wenn ich so in der trüben, kalten Dämmerung des Wintermorgens mit dem Ränzlein durch die kleine Gasse trabte, blieb ich immer vor der Tür des Hauses, wo sie wohnte, stehen und rief in den Hausflur: »Aaron! Aaron!« Denn dort, in einem düsteren, engen Dachstübchen, wohnte auch mein Mitschüler, der kleine Aaron mit seiner Mutter. Hirsch Welt hatte dieser Frau, der Chane Leiblinger, welche die Witwe eines Fleischerknechts war, aus Barmherzigkeit das Stübchen eingeräumt, denn ihr Obsthandel schützte sie und ihren Knaben kaum vor dem Verhungern. Wenn ich so gerufen hatte, tat sich zuerst leise die Tür auf, und die kleine Rachel trat heraus, die Händchen immer unter der Schürze. Und dann stieg der arme Junge in seinem leichten Röckchen die morsche Holztreppe herab, und die Rachel steckte ihm rasch das Brot und die Leckerbissen zu, die sie unter der Schürze verborgen gehalten.
Er nahm's, oft erst zögernd, und dankte nie. Aber er blickte das Kind so sonderbar an und lächelte. Man hätte es kaum für möglich gehalten, daß dieser finstere, verschlossene Knabe überhaupt lächeln könne. Und nun gar so freundlich lächeln . . . !
»Aaron, willst du nicht mitkommen – auf dem Eis schleifen?« – »Nein!« – »Warum nicht? Du bist immer so still und machst so zornige Augen!« – »Warum soll ich fröhliche machen? Die Kälte tut nicht wohl und der Hunger auch nicht. Und der Lehrer schlägt mich und die Christenjungen alle. Warum? Weil wir ihn gekreuzigt haben? Ich hab' ihn nicht gekreuzigt. Warum schlägt man mich?« – »Das wird schon anders werden, wenn wir groß sind, Advokaten.« – »Ich werde kein Advokat, ich werde ein sehr großer Arzt. Dann komme ich wieder nach Barnow und sage zum alten Hirsch: Hier ist der Mietzins für die Stube, hundert Dukaten. Und dann kommen die Polen und wollen, daß ich sie kuriere und ihnen Geld leihe. Aber dann sage ich: Weg, ihr Hunde.« – »Und die Rachel?« – »Was geht das dich an? Übrigens – wenn du es wissen willst – die Rachel heirate ich, und nur seidene Kleider wird sie tragen, noch tausendmal schönere als die Gräfin Bortynska . . .«
Aaron Leiblinger war eine eigentümliche Natur; schon während seiner Knabenzeit war dies sichtlich. Er war klein, unansehnlich, aber in seinem häßlichen Antlitz standen zwei Augen, schön durch den Feuergeist, der daraus blitzte. Unter dieser niedrigen Stirn, in die sich das schwarze, krause Haar drängte, wohnten Gedanken, von denen schwer begreiflich war, wie sie diesem Knaben hatten kommen können, dem Sohne der armen, unwissenden Hökerin in der Dachstube. Rasch im Erfassen, zäh im Behalten, rücksichtslos energisch, so ging – nein, so drängte sich der Knabe durch das Leben. Für eine gewisse Zeit kann man von ihm sagen: er erreichte, was er wollte. Seine Mutter hatte ihn, kaum daß er das Lesen der Gebete erlernt, für ihren Handel bestimmt. Aber Aaron wollte Talmud lernen, alle seine Mitschüler übertreffen, und es gelang ihm. Und dann wollte er die Christenschule besuchen, und obwohl derlei bis dahin unerhört war im Städtchen, so gelang ihm auch dies. Freilich durch kein gewöhnliches Mittel. Er sprach zuerst der Mutter von seinem Entschluß. Die fromme, beschränkte Frau verwünschte ihn und lief heulend zu den Vorstehern der Gemeinde: ihr Sohn wolle Christ werden, denn was könne sonst ein jüdisch Kind in der Christenschule wollen? Der Doktor lasse seinen Knaben hingehen, aber der Doktor sei ja auch nur ein halber Jude und trage sogar »deutsches« Gewand. Die Vorsteher lobten den frommen Eifer der Frau und ließen den Knaben rufen. Er kam. Aber ehe sie noch mit ihren Drohungen beginnen konnten, begann er: »Ich weiß, was ihr mir sagen wollt, aber was ich euch sagen will, wißt ihr schwerlich, hört also ihr mich an. Ich will die Christenschule besuchen, weil ich alles lernen will, was man lernen kann. Und was ich will, das werd' ich. Nur darum handelt es sich, ob ich's als Christ tue oder als Jud. Meine Mutter kann mich nicht länger ernähren, sie wird alt. Wollt ihr mir also Freitisch geben, Kleider und Bücher, so bleib' ich Jude und will die Kinder dafür unterrichten. Wollt ihr's nicht, so werd' ich Christ, der dicke Dechant tut um eine Seele alles.«
Diese unerhörte Rede wirkte. Die Männer beugten sich dem Willen des Knaben und gaben ihm das Wenige, was er brauchte. Er besuchte die Klosterschule als Jude mit Kaftan und Schmachtlöcklein. Was er um dieser Tracht willen litt, war entsetzlich. Vielleicht hat Gott die Tränen und die Schläge gezählt, er selbst ward müde, sie zu zählen, müde, zu weinen. Düster und trotzig ließ er alles über sich ergehen, Unrecht und Schläge, Hunger und Kälte, oder, was spärlich genug an ihn herantrat, Wohltat und Wohlwollen. Ungeheure Sehnsucht nach dem Wissen, ungeheurer Rachedurst erfüllten ihn. Selbst sein Gesicht hatte nichts Kindliches mehr. Er war ein armer, sehr armer Junge, mein Mitschüler Aaron Leiblinger. Aber selbst das ärmste Herz hat noch irgendein Kleinod, an dem es hängt. Und so liebte der düstere Knabe die kleine Rachel. Fremd und rührend, so ganz anders als sonst, ward sein Antlitz, wenn er mit ihr sprach. Es war etwas Ergreifendes, ich habe es damals noch nicht recht verstanden; ich empfand es nur so, daß es ihm sehr wohl tat, wenn man mit ihm von der Kleinen sprach. Ich glaube, er hätte sich, ohne zu zucken, für sie töten lassen. Und einmal geschah sogar etwas Unerhörtes – er weinte wieder: die Rachel lag an den Blattern darnieder.
Aber als seine Mutter starb, da weinte er kaum; das riß keine Lücke in sein Leben, das rührte ihn nicht an sein Herz, mindestens nicht so, daß man es ihm ansah. Er wohnte nun allein im Dachstübchen, das war alles. Der alte, dicke Hirsch Welt gab ihm sogar von da ab auch die Nahrung. Er nahm aber die Güte nicht lange in Anspruch. Einmal, frühmorgens im Sommer, kam er zu mir. »Du warst freundlich mit mir«, sagte er, »darum sage ich dir Lebewohl. Ich gehe heute fort, ein reicher Mann werden.«
»Aber du wirst ja am Weg verhungern!«
»Oh, ich habe das Erbteil von meiner Mutter, drei Gulden – nach Lemberg geh' ich, leb wohl . . .«
Und fort war er, und ich hörte lange, lange nichts mehr von ihm.
Esterka Regina!
Ein Tag im Sommer, ein schöner, leuchtender Julnachmittag. Die Sonne liegt über der Heide, auf der es blüht und duftet und summt; so öde sie sonst sein mag, im Sommer ist auch ihr Farbe, Duft und Leben beschieden. In der Gasse ist es still, ganz still, der Handel ruht. Draußen am Fluß wandelt das junge Volk geputzt auf und ab. Die Jünglinge sehen blaß und frühreif aus, und auch ihre Reden entsprechen nicht ihrem Alter – sie unterhalten sich von ihren Talmudstudien und von ihren Geldgeschäften, und nur selten flüstert einer dem Freunde zu, das Mädchen, das eben vorüberwandle, gefalle ihm ausnehmend, und er gäbe etwas darum, wenn sein Vater ihm just die zur Braut bestimmte. Aber wovon die Mädchen sprechen, ist schwer zu sagen: wer weiß, an was alles so ein geputzt jüdisch Mädchen denkt und worüber sie kichert beim Spaziergang an einem schönen Sabbatnachmittage? . . . Worüber?! Vielleicht über die jungen Herren, die keinen Kaftan, keine Hängelöcklein tragen und dennoch eifrig, als müßte es so sein, auf- und abwandeln auf der »jüdischen Promenade« am Fluß. Das ist die elegante Herrenwelt von Barnow, und sie bewegt sich sonst nicht gerade gern in diesen Kreisen.
Aber der Anblick der Esterka Regina wird gern selbst durch ein größeres Opfer erkauft als durch das Verweilen unter den Juden. Und die Herren harren geduldig aus und belorgnettieren einstweilen die Sterne, die Rebekkas, Miriams und Sarahs, bis endlich die Sonne aufgeht: die schöne Tochter des Fleischhauers. Da sind die himmelblauen Kadetten und Leutnants von den Lichtenstein-Husaren unter Führung des kleinen, blonden, geschwätzigen Szilagy; da sind die jungen polnischen Adligen und Schöngeister, an ihrer Spitze der hoffnungsvolle, langhaarige Dichter, Herr Thaddäus Wiliszewski; da sind endlich die eben zu den Ferien heimgekommenen Herren Gymnasiasten und Abiturienten, und unter ihnen ein Jüngling, der heute kein Jüngling mehr ist, und dem es wehmütig ums Herz wird, gedenkt er all des Glanzes jenes Sommertages, denn dieser Glanz ist längst verweht, und das arme, schöne Mädchen ist längst, ein bleiches, geknicktes Weib, zur frühen Gruft gesunken.
Aber noch sehe ich's deutlich wie damals, wie sie langsam am Arm einer Freundin den Gang unter den Linden emporgeschritten kommt. Selbst unter die jüdischen Jünglinge kommt Bewegung, und mancher schiebt sich heimlich den Kaftan zurecht oder ringelt sich die zierlichen Schmachtlöcklein noch zierlicher. Und jene Herren machen sich vollends bereit zum Gefecht. In erster Linie stehen die blauen Husaren, wie sich's für mutige Kämpfer geziemt, und allen voran der kleine Szilagy, wie sich's für den Frechsten geziemt. Sie kommt langsam heran und steht nun dicht vor ihm, der sich ihr in den Weg gestellt. Sie hält die Augen nicht niedergeschlagen, wie dies die anderen Mädchen tun, sooft sie an dem Gefährlichen vorüberwandeln, sie blickt ruhig und frei um sich, als wäre rings statt der blauen Krieger die blaue Luft. Aber als sie nun notgedrungen vor dem frechen Kleinen stehenbleibt, da zeigt ihr Blick einen anderen Ausdruck. Es wird aus seinem Benehmen ersichtlich: der kleine Mensch wird rot und tritt zurück, und – es klingt unglaublich, aber es ist so – er salutiert verlegen. Und dann sagt er zu Herrn von Szervay, der ihn verhöhnt: »Ich habe Mut, ich hab's bewiesen, aber den Blick möchte ich nicht noch einmal aushalten . . .« Die zweite Gruppe, die das Unglaubliche mit angesehen, weicht beizeiten zurück, und der langhaarige Dichter starrt wie verzückt, mit weitgeöffneten Augen, dem schönen Mädchen entgegen. Und in jenem Moment ist in diesem armen, kleinen Gehirn, das sonst nur Verse zum Hausgebrauch und für die Krakauer Damen-Zeitung erzeugt, der Name aufgeblitzt, den ich über diese Geschichte geschrieben habe . . . Und die dritte Gruppe?! Die jungen Schüler sind weder unwiderstehlich, noch wollen sie dafür gelten, sie wagen es kaum, den »Sternen« in die schwarzen, blitzenden Augen zu schauen, und als nun erst die Sonne gezogen kommt, scharen sie sich eng zusammen wie die Schafe vor dem Gewitter. Aber gerade aus ihrer Mitte ersteht einer – ich weiß noch heute nicht, wie ich den Mut dazu fand –, der dem schönen Mädchen dreist in den Weg tritt und es sogar, freilich schon viel weniger dreist, anspricht . . .
»Mein Fräulein«, sag' ich stotternd und ziehe den Hut, »verzeihen Sie, vielleicht erinnern Sie sich meiner nicht mehr – der kleine Aaron . . .«
»Ei freilich«, erwidert sie freundlich, »Ihr seid ja immer gut Freund mit ihm gewesen. Und wißt Ihr nichts Neues von ihm?«
»Kein Sterbenswort, seit er fortgegangen ist.«
»Oh, da weiß ich schon mehr. Der alte Itzig Türkischgelb, der ›Marschallik‹ – Ihr kennt doch den närrischen Menschen? –, nun, der ist neulich in Lemberg gewesen und hat dort zufällig den Aaron gesprochen. Freilich hätt' er ihn kaum erkannt, denn ratet nur einmal, was aus unserem armen, kleinen Aaron geworden ist?! Ein Herr ist aus ihm geworden, ein junger Herr, der sich deutsch kleidet und nur deutsch spricht. Ja, und mit den lateinischen Schulen ist er schon vor drei Jahren fertig geworden und ist seitdem fast immer in Wien, Doktor zu werden! Wer hätte das geglaubt? Und«, fügte sie zögernd hinzu, »der ›Marschallik‹ erzählt auch, daß er jetzt sehr stolz ist und gar nicht mehr mit Juden sprechen will. Denkt Euch nur, er soll jetzt Adolf heißen und Christ werden wollen. Aber das glaub' ich nun einmal nicht – nein! nein! – und Ihr?«
Nicht um eine Welt möchte ich etwas glauben, was diesem Mädchen widerwärtig ist. »Nein!« erwidere ich also, »ich glaub's auch nicht. Übrigens werde ich bald Gelegenheit haben, Gewisses darüber zu erfahren. Ich gehe ja auch in einigen Wochen nach Wien zur Universität. Da will ich den Aaron oder Adolf gewiß aufsuchen.«
»Ja, tut das«, sagt sie eifrig. »Es wird ihn gewiß sehr freuen. Und«, setzt sie hinzu, indem Purpurröte das holde Antlitz jäh überflammt, »wenn er sich meiner noch erinnert, so grüßt ihn auch recht herzlich von mir. Aber hört Ihr – nur, wenn er sich meiner noch erinnert . . .«
»Oh!« rufe ich begeistert und kühn, »wer könnte Sie je vergessen!« Aber über diese Kühnheit bin ich selbst so entsetzt, daß ich gleich darauf den Hut lüfte und mich stotternd verabschiede. Bis ich jedoch zu meinen Kommilitonen zurückkomme, habe ich wieder soviel Sammlung, um all die Ausbrüche der Neugier, des Neides und der Bewunderung mit imponierender Ruhe entgegennehmen zu können . . .
Ich hatte den Aaron oder Adolf Leiblinger nicht aufgesucht, nachdem ich nach Wien gekommen war, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte. Aber wenn so ein armer, schüchterner, achtzehnjähriger Mensch mit einem schüchternen Herzen, das auch so recht achtzehnjährig ist, und einem so karg gefüllten Beutelchen dazu aus einem kleinen Landstädtchen hingeschleudert wird auf das Pflaster der Weltstadt, der hat genug zu tun, sich vorerst selber durchzubringen durch das Gewirre der himmelhohen fremden Häuser und der Hunderttausende von fremden Menschen, der darf nicht viel nach rechts und links blicken, sondern immer gerade vor sich hin und muß dabei noch sein armes, schüchternes Herz fest in beide Hände fassen, daß es nicht verzagt wird. Und dann: wie hätt ich ihn finden sollen unter den viertausend Studenten? So überließ ich's dem Zufall.
Und der führte uns auch zusammen. Es war an einem trüben Dezembernachmittag. Die Nebel lagen auf den Straßen, dann begann ein feiner, dichter Regen herabzurieseln und trieb mich in ein großes, qualm- und menschengefülltes Café der Alser-Vorstadt. Nur noch im Billardzimmer fand ich ein freies Plätzchen. Und da der Regen länger dauerte als mein Gefallen am Durchstöbern all der Blätter und Blättchen, so sah ich endlich, in mein Schicksal ergeben, dem Spiel zu.
Vor mir vergnügten sich drei junge Leute am grünen Brett. Der Marqueur sagte »Herr Doktor« zu ihnen, es waren also Studenten der Medizin. Einer von ihnen fiel mir auf, ein mittelgroßer, schlank, fast zierlich gebauter junger Mensch mit feinem, scharfgezeichnetem Gesicht, das an sich bleich sein mochte, aber durch das tiefschwarze, leicht gekräuselte Haupt- und Barthaar fast schreckhaft fahl erschien. Hübsch war das Gesicht nicht zu nennen, dazu waren die Lippen zu dünn, die Stirn zu niedrig, aber ich mußte es doch immer wieder ansehen, denn auf diesem Gesicht stand etwas geschrieben wie eine Geschichte; daß ich es schon früher einmal gesehen haben könnte, fiel mir nicht entfernt ein. Aber plötzlich, als sich – aus geringfügigem Anlaß, über das Neckwort eines Mitspielers – die dünnen Lippen fest aufeinanderpreßten und die niedrige Stirn sich faltete, blitzte es in mir auf: »Das ist ja der schwarze Aaron!«
Nun, er war es wirklich. Ob wir uns freuten, einander zu begegnen, vermag ich kaum zu sagen, jedenfalls war es keine ungetrübte Freude. Wenn junge Leute nur kurze Zeit auseinander gewesen, so müssen sie sich beim Wiedersehen erst ordentlich wieder kennen und ineinander fügen lernen. Und nun erst nach so langer Zeit! Wir rangen qualvoll nach dem alten Ton und fanden ihn nicht. Schon wollte das Gespräch stocken, da fielen mir die Grüße ein, die ich auszurichten hatte. »Es lebt jemand in Barnow«, sagte ich, »der sich lebhaft für dich interessiert. Ahnst du nicht, wer's ist?«
»Nein!« Er blies den Rauch seiner Zigarre nachlässig in die Luft. »Mein lieber Junge, du glaubst gar nicht, wie viele Mühe ich mir gegeben habe, die Leute von Barnow recht gründlich zu vergessen.«
»Auch deinen Schutzgeist, die kleine Rachel?«
»Also die ist's?!« rief er lebhaft, aber gleichgültig setzte er hinzu: »Was macht die Kleine? Sie wird wohl jetzt recht groß sein, etwa sechzehnjährig?«
»Und wunderschön dazu!« Und ich gab eine so begeisterte Schilderung ihrer Schönheit und Klugheit, daß der blasse junge Mensch neben mir ironisch zu lächeln begann. Aber als ich zu Ende war, da sagte er ernst: »Das tut mir aufrichtig leid!«
»Wie? Warum?«
»Weil ich meinem kleinen Schutzgeist in der Tat Dankbarkeit bewahre und ihn glücklich sehen möchte. Dazu ist aber, wenn das Mädchen wirklich so schön und dabei so klug ist, verdammt wenig Aussicht. Entweder läßt sie sich durch all die Versuchungen betören und fällt trotz ihrer Klugheit einem dieser polnischen oder ungarischen Herren zum Opfer –«
»Unmöglich!« rief ich entrüstet.
»Oder sie bleibt die brave, gehorsame Tochter ihres Vaters, und der verschachert sie dann eines Tages, ohne sie zu fragen, an einen rohen chassidischen Bengel. Und da sie klug ist, so wird sie den Jammer und die Niedrigkeit eines solchen Daseins über kurz oder lang begreifen und schließlich als armes, geknicktes Judenweib in irgendeiner Ecke eines podolischen Gettos verkümmern.«
»Du siehst zu schwarz.«
»Ich sehe die Dinge, wie sie sind. Ich bitte dich, lehre du mich nicht die Chassidim kennen. Doch sprechen wir nicht weiter darüber. Und nun leb wohl!« Wir gingen auseinander, und es klang recht kühl, als wir sagten: »Auf Wiedersehen!« In der Tat suchten wir dieses Wiedersehen nicht. Aber der Zufall führte uns wieder einmal zusammen, und diesmal dauernder. In den ersten Frühlingstagen bezog ich eine neue Stube. Und als ich zum ersten Male aus dem Fenster sah, blickte mir aus dem Fenster gegenüber neben einem stattlichen Totenkopf das Antlitz meines Schulkameraden aus Barnow entgegen. Er wohnte in demselben Haus, in demselben Hof. So sprachen wir denn wieder miteinander, kamen so unvermerkt einander näher und wurden schließlich, soweit es eben die studentische Rangordnung (er stand im vierten, ich im ersten Jahrgang) und noch mehr: soweit es der ungeheure Unterschied unserer Naturen erlaubte, sogar gute Freunde.
Was aber seine Natur anbelangt, so erwies sich auch an diesem Menschen wieder einmal die ganze Wahrheit des alten Satzes: »Die Eindrücke der Kindheit wurzeln am tiefsten.« Der Student der Medizin Adolf Leiblinger war im Grunde ganz der schwarze Aaron. Die Verwandlung aus dem verschlossenen, häßlichen Knaben in den gewandten, weltfreudigen jungen Mann hatte den Kern seines Wesens unberührt gelassen; in ihm lebte derselbe Trotz, dasselbe Selbstbewußtsein wie einst und im Grunde auch der alte Haß. Aber daneben war er – wie einst – voll Dankbarkeit für jede teilnahmsvolle Gesinnung und ebenso noch immer von der alten, rührenden Sehnsucht nach dem Wissen erfüllt. Er hatte sich anfangs entsetzlich schwer aufgerungen. Aber später – und nun auch in Wien – brachte er sich ganz gut durch. Und so war auch nun noch sein Spruch: »Man kann, was man will.«
Nur das Verhältnis zu seinem Gott und zu seinem Glauben hatte sich gründlich geändert. Früher war ihm, eben weil er sehr stolz war, sein Glaube um so lieber geworden, je mehr er um seinetwillen litt, und sein Gott war ihm so recht der Gott seiner eigenen Rache, den er nicht müde wurde, um Blitzstrahlen gegen die Christenjungen und unseren dummen, rohen Lehrer anzuflehen. Aber nun war er gegen Gott kühl und haßte seinen Glauben glühend. Er geriet ordentlich in Wut, wenn er auf Juden und Judentum zu sprechen kam. Herr Thaddäus Wiliszewski, der doch eine eigene »Hymne gegen die Juden« gedichtet hatte, war dagegen ein harmloses Kind. Aber dabei blieb er doch formell in diesem Glauben. »Mein Rock ist unbequem«, pflegte er zu sagen, »aber ich sehe auf dem Erdenrund keinen bequemeren, den ich statt seiner anziehen könnte. Und ohne Rock wird man so lästig angegafft!«
Ich gewann Adolf lieb, wie ich einst Aaron liebgewonnen hatte, und als die Ferienzeit kam und ich zur Reise in die östliche Heimat rüstete, lud ich ihn ein, mit mir zu kommen, und freute mich herzlich, als er es annahm. Auf dieser Reise, nachts im Eisenbahnwaggon, kamen wir wieder auf das schöne Mädchen zu sprechen, von dem seltsamerweise seit jener ersten Begegnung nicht wieder die Rede unter uns gewesen. »Nimm dich in acht«, sagte ich neckend, »alte Liebe rostet nicht!« Aber er lachte: »Ich und – lieben?! Du weißt, Liebe ist ein weiches Gefühl, ich aber, ich bin ein harter Mensch.« Er lachte wieder, fügte dann aber ernst hinzu: »Sieh, ich werde sogar vermeiden, die Kleine zu sehen. Die Erinnerung an sie ist der einzige Lichtpunkt meiner trostlosen, dunklen Knabenzeit. Soll ich mir die Erinnerung selbst trüben, indem ich sie aufsuche und von dem schmutzigen, schüchternen Mädel einige Begrüßungsworte im bekannten, lieblichen Jüdisch-Deutsch erpresse?!« Er riß das Waggonfenster auf und starrte lange in die dunkle Nacht hinaus.
In den letzten Julitagen trafen wir in Barnow ein. Die Ankunft des »schwarzen Aaron« weckte stürmisches Aufsehen, und es war halb komisch, halb betrüblich, wie die Leute von Barnow ihr Stadtkind begrüßten. Er, der »schwarze Aaron«, der Aaron Leiblinger, der Sohn der Chane Leiblinger aus dem Hüttlein am Fluß, hatte es gewagt, »christliche« Kleider zu tragen, »christliche« Kost zu essen und am Sabbat zu rauchen, ja, noch mehr, er hatte es sogar gewagt, zu studieren! Das waren in den Augen dieser Menschen ebensoviele Todsünden, die bitter gerächt werden mußten. Niemand sprach ihn an, und wen er ansprach, der fertigte ihn höhnisch ab; die kleinen Jungen liefen auf der Gasse hinter ihm her und riefen ihm nach: »Abtrünniger!« Darüber lachte der junge Mann, und die Verachtung der Erwachsenen vergalt er mit gleicher Münze. Auch waren wir ja auf den Verkehr mit ihnen nicht angewiesen. Wir streiften viel in der Landschaft umher und besuchten zuweilen die christlichen Honoratioren des Ortes. Man kam uns da recht freundlich entgegen. Herr Thaddäus Wiliszewski begnadete uns mit einer Vorlesung seiner Poesien, und die drei gründlichen Töchter des Herrn Steueramts-Vorstehers erlaubten den »Herren Studenten«, ihnen den Hof zu machen. Adolf war in jenen Tagen ausgelassen lustig; ich allein ahnte, wie sehr ihm die Bitterkeit am Herzen fraß. Seinen Vorsatz hatte er getreulich ausgeführt und die schöne Rachel weder gesprochen noch gesehen.
Da trat eines Tages – an einem glühheißen Sonntag im August, dem zweiten, den wir im Städtchen verbrachten – der Versucher an ihn heran oder eigentlich zunächst an mich. Denn ich allein war daheim, als sich die Tür auftat und ein kleines Männchen mit glühroter Nase und dünnen Beinchen in unsere Stube tänzelte. Das war Herr Isaak Türkischgelb, der »Marschallik« von Barnow, was zu deutsch einen Lustigmacher oder Hochzeitsmarschall bedeutet. Ein solcher Würdenträger hat neben tausend anderen kleinen Pflichten auch die, die Gäste zur Hochzeit einzuladen, und in dieser Eigenschaft beehrte er mich mit seinem Besuch, um mir und Adolf die dringliche Einladung der Frau Sprinze Klein zu überbringen, am nächsten Dienstag in ihrem Hause das Hochzeitsfest ihrer Tochter Jutta Klein mit Herrn Isidor Spitz (vulgo »Rotzigel«) mit unserer Gegenwart zu verherrlichen.
»Schön!« sagte ich, »aber treffen wir auch hübsche Mädchen dort? Kommt auch die Esterka Regina?«
»Wer?« fragte das Männchen erstaunt und legte die Hand ans Ohr.
»Ich meine die Rachel Welt.«
»Ob die dabei sein wird?« rief der Marschallik pathetisch. »Heißt eine Frage! Soll man alle häßlichen Mädchen von Barnow laden und nur gerade die Schönste nicht?! Verlassen Sie sich darauf, wir wissen, was sich schickt, und wenn man junge Herren einladet, so muß man auch schöne junge Mädchen einladen. Und dann wissen wir, wenn wir die Rachel im Zimmer haben, wo getanzt wird, so können wir uns ersparen, Blumen hineinzustellen, denn die Rachel ist die schönste Blume, so wahr mir Gott einen guten Erwerb geben soll! Die schönste Blume!« wiederholte er, »und schon darum werden Sie kommen! Nicht wahr, Sie und Ihr Freund Aaron – verzeihen Sie, daß ich ihn so heißen tu', aber wie kann ich ihn Adolf nennen, da ich ihn doch selbst auf den Händen getragen habe und seine Mutter Chane mein leibliches Geschwisterkind war?! Sie werden kommen und nicht dulden, daß die Leut' in Barnow vom alten Marschallik sagen: ›Gemeine Juden kann er einladen, der grobe Klotz, aber feine junge Herren nicht!‹«
Ich mußte lachen. »Nun, für mein Teil könnt Ihr ruhig sein. Ob aber Adolf kommt, möchte ich bezweifeln – holt Euch morgen seine Antwort selbst.«
Wieder hob das Männchen die Hände empor und duckte dabei zusammen. Und dann trippelte es endlich grinsend zur Tür hinaus.
Ich war überzeugt, daß ich allein gehen würde. Und in der Tat erwiderte mir Adolf, als ich ihm die Einladung übermittelte: »In die Hölle will ich dich begleiten, aber unter dieses Volk nicht!«
»Schade!« sagte ich, »du hättest da eine interessante Charakterstudie machen können – an unserer Wirtin, Frau Sprinze Klein. Sie ist aus Brzezan gebürtig, jetzt verwitwet, sehr reich, hat einen Schnittwarenladen.«
»Sehr interessant«, höhnte er.
»Mehr, als du glaubst. Bei dieser Frau zeigt sich ein sonst sehr ernster seelischer Prozeß: das Aufringen aus den drückenden Fesseln des orthodoxen Glaubens zu einer freien Lebensanschauung in einer merkwürdigen, geradezu komischen Form. Frau Klein lebt ganz wie die andern, wagt nicht, ihr eigenes Haar zu tragen, und könnte den leisesten Verstoß gegen das Speisegesetz nicht übers Herz bringen. Aber weil sie einmal als Mädchen ein halbes Jahr lang in Lemberg gelebt hat, so hat sie eine gewisse platonische Liebe für die ›Aufgeklärtheit‹ und ›feine‹ Formen. ›Als ich in Lemberg war‹ – so beginnt jede ihrer Reden. Um nun diese platonische Neigung zur Aufgeklärtheit stellenweise auch durch die Tat zu beweisen, verfällt sie auf die seltsamsten Mittel. Sie spricht z. B. mit wahrer Wut hochdeutsch, und kann sie gar irgendwo ein Fremdwort ergattern, so läßt sie es gewiß eine Woche lang nicht wieder los. Welchen Mißhandlungen das arme Fremdwort dabei ausgesetzt ist, kann man kaum denken. Oder eine andere Probe. Frau Sprinze kann nicht deutsch lesen. Gleichwohl hat sie bei irgendeiner Auktion drei abgegriffene Bände erstanden: Schillers ›Räuber‹, eine Erzählung von Caroline Pichler und einen Band Casanova. Und eins von diesen drei Büchern hat sie auch immer aufgeschlagen in ihrem Laden liegen und starrt, wenn sie sich beobachtet weiß, aufmerksam die fremden, rätselhaften Zeichen an. Sagt ihr ein Frommer, das Lesen deutscher Bücher sei ja eine Todsünde, so erwidert sie: ›Als ich in Lemberg war, habe ich selbst gesehen, wie sogar die Tochter des Oberrabbiners deutsche Bücher gelesen hat!‹ Insgeheim jedoch denkt sie: ›Wenn das Lesen wirklich eine Sünde ist, so begehe ich sie ja nicht!‹ Und der jüngsten Probe ihrer Liebe für den Fortschritt haben wir eben unsere Einladung zu verdanken. Sie hat es nämlich durchgesetzt, daß bei der Hochzeit ihrer Tochter nicht nach ›jüdischer Art‹ getanzt werden soll – die Männer mit den Männern, die Weiber mit den Weibern –, sondern nach der ›christlichen Mode‹: die Herren mit den Damen. Und der traurigen Tatsache, daß es dabei an geschulten Tänzern fehlt, verdanken wir wahrscheinlich die Einladung . . .«
»Sehr schmeichelhaft!«
»Pah, gleichviel! Es kann ein hübscher Spaß werden! Und bliebe es auch eine langweilige Tanzrobot, die Aussicht, mit einem schönen Mädchen, wie die Esterka Regina ist, tanzen zu können, wiegt ein Opfer auf. So denke mindestens ich! Und du?«
»Ich nicht«, erwiderte Adolf kurz. Aber nachdenklich war er bei der Nennung ihres Namens doch geworden. Und als der Marschallik am nächsten Tag kam, sich den Bescheid zu holen, da erhielt er zu meiner und seiner Überraschung eine zustimmende Antwort.
Am Dienstag abend gingen wir nach dem festlich geschmückten Hause der reichen Witwe. Die Zeremonie war bereits vollzogen, und die Unterhaltung sollte eben beginnen. Voll überquellender Freundlichkeit kam uns an der Tür des Tanzsaals die Hausfrau entgegen, gehüllt in ein Kleid von schwerster gelber Seide und darüber eine hellgrüne Sammetmantille, bei jeder Bewegung klirrend und rasselnd von dem Juwelenladen, mit dem sie behangen war. »Sie werden alles finden wie in Lemberg«, sagte sie strahlend, »denn wie ich in Lemberg war, habe ich gelernt, wie man macht die Horreurs als Wirtin.«
Wir traten in den Tanzsaal. Die Männer machten sauersüße Gesichter, aber den Mädchen schien unsere Ankunft nicht ungelegen. Und so erfüllten wir denn, was man von uns erwartete – wir tanzten.
Da trat ein alter Mann in das Zimmer und an seiner Seite ein junges Mädchen. Das war Hirsch Welt und seine Tochter. Wir sahen sie da zum ersten Male seit unserer Ankunft und sagten wie aus einem Munde: »Wie schön sie ist!« – »Stört dir dies Mädchen deine lichte Erinnerung?« fragte ich Adolf lächelnd.
Aber er erwiderte nichts. Er war nur einen Augenblick noch bleicher geworden als gewöhnlich. Dann trat er auf sie zu und bat sie um einen Tanz.
Sie erbleichte gleichfalls, sah ihn starr an und sagte dann ganz leise: »Nein.«
Ihm schoß die Röte ins Antlitz.
»Sie . . . Sie tanzen wohl überhaupt nicht?«
»Ich tanze«, sagte sie langsam und blickte ihn noch immer starr an, »aber mit Euch nicht!«
Er zwang sich zu einem Lächeln, es war mühsam genug. »Und wodurch verdiene ich solche Strafe?«
»Weil Ihr uns alle haßt und verspottet, uns, unsere Art, unsere Sprache. Was nützt es Euch? Ihr bleibt deshalb doch auch ein jüdisch Kind.«
Sein Gesicht verfinsterte sich. »Oh, wenn Sie wüßten –« begann er jäh und stockte wieder. Dann sagte er lächelnd: »Da irren Sie. Die Leute von Barnow tun mir kein Unrecht und ich ihnen nicht. Wie würde sich das auch unter Landsleuten schicken! Ich bin ja hier geboren und aufgewachsen!«
»Oh, ich weiß«, erwiderte sie lebhaft, »in unserem Hause, in der Dachkammer habt Ihr ja gewohnt, Ihr und Eure alte Mutter, mit der Friede sei . . .«
Er sah ganz selig. »Also, Sie erinnern sich? Ich habe es kaum erwartet! Es sind ja elf Jahre her!«
»Oh, und wie ich mich erinnere! Wir haben ja so gute Freundschaft gehalten! Und habt Ihr die Rachel vergessen?«
»Gewiß nicht!« beteuerte er.
Von da ab begannen sie halblaut und eifrig zu plaudern, und ich konnte dem Gespräch nicht mehr folgen. Er mochte wohl das schöne Mädchen an seiner Seite an eine Menge kleine Geschichten aus ihrer Kinderzeit erinnern. Denn immer wieder überflog ein seliges Lächeln die holden Züge. Sie merkten es wohl nicht, wie auffällig lange sie so vor aller Augen beisammenstanden. Die Leute begannen zu flüstern, und dicht hinter mir ward die Stimme der platonischen Verehrerin des Fortschritts laut. »Als ich noch in Lemberg war«, sagte sie zu einer Gevatterin, »habe ich manches erlebt, aber daß eine Braut es wagt, so lange mit einem fremden Menschen zu konkurrieren, ist mir wahrhaftig noch nie vorgekommen.« Aber nun traten auch schon die beiden auseinander. »Das freut mich, daß Ihr so der alten Zeit gedenkt«, sagte das Mädchen laut, »das ist ein Zeichen, daß Ihr kein schlechter Mensch geworden seid, wie manche Leute sagen . . . Aber nun – lebt wohl!«
Und fort war sie, ehe er sich's versah. Er sah ihr nach wie ein Träumender. Ich trat auf ihn zu. »Du hast dem armen Bräutigam eine schwere Stunde gemacht«, meinte ich lachend.
»Dem Bräutigam?« fragte er hastig. »Also ist sie verlobt? Mit wem?« – »Das weiß ich nicht. Hat sie dir nicht davon gesprochen?« – »Nein«, erwiderte er kurz, verstimmt, und drängte zum Gehen. Das war ihr erstes Wiedersehen.
Zwei Monate später. Milder Herbstsonnenschein lag auf dem leisen Sterben und Entfärben der Heide. Wieder saß mir mein alter Reisekumpan im Waggon gegenüber. Aber diesmal gings nordwärts, fort von der Heimat.
Adolf war in den letzten Wochen recht seltsam gewesen. Bald überlaut, bald mäuschenstill, bald übermütig, bald sentimental – man sah es dem Menschen auf zehn Schritte an, daß die Liebe über ihn gekommen war und sein ganzes Wesen durcheinanderrüttelte. Wie er zu seiner Liebsten stand, wußte ich nicht, mochte ihn auch nicht darum fragen. Ich begnügte mich mit dem stillen Behagen, daß nun auch diesem armen, einsamen Herzen sein Frühling gekommen sei.
Heute während der Reise war er sehr weich. Auf seinem Antlitz lag ein Schimmer, wie ich ihn auf diesen scharf geschnittenen Zügen nie vermutet hätte. Und plötzlich begann er: »Du, ich möchte dir etwas Hübsches erzählen.« – »Ich höre!« – Aber er schwieg wieder. Erst nach einer Weile brach er los, plötzlich und hastig: »Ich liebe sie. Sie liebt mich. Ich ertrage das Schweigen nicht länger, ich will dir erzählen, wie alles gekommen ist . . .« Ich drückte ihm die Hand, und er erzählte: »Du erinnerst dich jener Hochzeit. Ich bin kein Phrasenmensch, ich kann dir nicht sagen, welchen Eindruck das Mädchen auf mich gemacht hat. Aber obwohl mir die lieblichen Züge immer lockend vorschwebten, mochte ich doch ihren Anblick nicht durch einen Besuch im Hause des Vaters erkaufen. In diesem Hause liegen die düsteren Gespenster meiner Kinderjahre eingesargt, ich mag sie nicht ohne Not wecken. Auch ist ja Hirsch Welt einer der allerfrömmsten Frommen in der Gemeinde, und es gelüstete mich nach keinen weiteren Proben der Herzlichkeit von dieser Seite. So überließ ich denn ein Wiedersehen dem Zufall, der mich auch, etwa eine Woche später, das Mädchen finden ließ. Und zwar an einer Stelle, wo ich alles eher erwarten konnte als ein Zusammentreffen mit ihr.
Du kennst die alte, zerbröckelte Schloßruine am linken Ufer des Sered. Ich liebe die Stelle sonst nicht, mir fehlt der romantische Nerv. Aber an jenem Tage, nachdem ich lange planlos auf der Heide umhergeschweift war, trieb es mich das Hügelchen empor, auf dem die Ruine liegt. Ich war – lächle nur! – in einer Gemütsstimmung, welche es mir zum Bedürfnis machte, so recht ins Weite zu blicken.
Nun denn – auf einem der Steine im verfallenen Schloßhof fand ich das Mädchen sitzen, gerade unter dem großen, roten Holzkreuz, das den Juden sonst den Besuch dieser Stätte verleidet. Sie nähte emsig, ein Buch lag im Grase neben ihr. Beim Geräusch meiner Tritte blickte sie auf und erwiderte ruhig meinen Gruß. ›Nun, da seid Ihr ja endlich!‹ sagte sie. Ich sah sie erstaunt an. ›Wußten Sie, daß ich kommen würde? Ich bin ja nur zufällig hier!‹ – ›Gesagt hat es mir niemand‹, erwiderte sie und errötete, ›aber ich wußte es so sicher und bestimmt wie nur etwas in der Welt! Ja, das Buch hier habe ich nur dazu mitgenommen, um es Euch zu zeigen.‹ Und sie reichte es mir. ›Kennt Ihr es noch?‹ Ich kannte es freilich, und es war ein sonderbares Gefühl, das mich überkam, als mein Blick auf diesen verdrückten, mürben Blättern ruhte. Es war ein Gebetbuch für Frauen, im Jüdisch-Deutsch geschrieben, eines der wenigen Erbstücke, die meine Mutter mir hinterlassen hatte. Mich überschlich tiefe Rührung, die Augen wurden mir feucht, stumm gab ich das Buch dem Mädchen zurück. ›Ihr gabt es mir zum Abschied‹, sagte sie, ›an einem schönen Sommermorgen, als Ihr fortzogt in die weite Welt. Wir haben damals viel um Euch geweint, ich und der blonde Chaim, der nun mein Bräutigam ist.‹ – ›Also der!‹ sagte ich so ruhig wie nur möglich, ›Sie sagten mir neulich nichts davon?‹ – ›Weil wir nicht davon sprachen‹, erwiderte sie und setzte dann hinzu: ›Sagtet Ihr mir doch auch nichts von Eurer Braut, und Ihr habt ja eine, eine schöne und stattliche dazu.‹ Ich mußte lachen. ›Nein, Rachel‹, versicherte ich, ›ich habe noch keine Braut.‹ Sie sah mich forschend an. ›Wirklich nicht? Dann haben unsere Leute wieder einmal gelogen. Sie sagen bei uns, Ihr wäret mit einer schönen und reichen Christin verlobt. Aber seht‹, fuhr sie eifrig fort, ›daß man von Euch so viel Schlechtes und Falsches erzählt, daran seid Ihr doch im Grunde selbst schuld. Ihr seid stolz, tut gegen jedermann fremd und verspottet uns, wo Ihr könnt. Darum war ich Euch jüngst bei der Hochzeit anfangs so böse. Daß Ihr kein schlechter Mensch geworden seid, habe ich schon neulich erkannt und Euch gesagt, aber stolz seid Ihr, auch gegen mich! Sagt nicht nein, denn wahr bleibt's doch. Warum nennt Ihr mich immer ›Sie‹, warum duzt Ihr mich nicht mehr wie einst?‹ – ›Weil aus der kleinen Rachel nun ein erwachsenes Fräulein geworden ist!‹ – ›Da spottet Ihr wieder‹, fiel sie mir heftig ins Wort. ›Ich bin kein Fräulein, ich bin ein Judenmädchen. Und darum bitte ich, sagt ›Du‹ zu mir! Sonst kommt Ihr mir so fremd vor und seid doch eigentlich ein alter Freund.‹ – ›Ich will's gern tun‹, versprach ich, ›aber dann mußt auch du mich duzen.‹ – ›Nein!‹ sagte sie entschieden. ›Das geht nicht. Ihr seid ein gelehrter Student, der bald ein Doktor sein wird, und ich – ich bin die Rachel Welt. Das müßt Ihr nicht von mir verlangen.‹
Wir plauderten noch lange und über vieles – nicht nur an jenem Morgen, auch in den nächsten Tagen und Wochen. Rachel kam alltäglich mit ihrer Arbeit zum Schloßhof. ›Unten ist's dumpf‹, sagte sie, ›und hier oben ist lichter Sonnenschein, und die Vögel zwitschern. Ich liebe das Licht so sehr.‹ Du weißt, es ist sonst wenig Sinn für Naturschönheit unter den Juden unserer Landschaft; die Not, die Schmach, der Jammer haben ihn erstickt. Aber diesem herrlichen Gemüt war eben auch dieser Sinn wieder aufgegangen. Und pünktlich wie das Mädchen fand auch ich mich im Schloßhof ein. Was wir da alles besprachen, könnte ich dir beim besten Willen nicht sagen – es war uns eben das unscheinbarste Ding wichtig genug, um lange dabei zu verweilen. Was uns täglich trieb, einander aufzusuchen, war uns wohl beiden nicht klar. Und dieses sachte Hinleben in der Dämmerung schöner Gefühle, das will mir nun fast als das Lichteste erscheinen an jenen lichten Tagen . . .« Mein Freund verstummte. Wieder spann sich jenes eigene Schimmern über sein bleiches Antlitz. »Du hast recht«, sagte ich, »das ist das Seligste an der seligen Zeit der ersten Liebe, daß diese Liebe so gar nicht klügelt, daß ihr das Wunderbarste einfach erscheint und das Einfachste als ein Wunder. Erst ein äußerer Einfluß zeigt den Liebenden in der Regel, wie tief ihr Gefühl geworden ist.«
Adolf lachte. »Du sprichst wie ein Damen-Almanach. Aber – so ist's. Auch bei uns sollte der äußere Einfluß nicht ausbleiben.«
Dann fuhr er fort: »Eines Morgens war ich allein oben in der Ruine. Ungeduldig schritt ich mehrere Stunden unter dem verfallenen Mauerwerk auf und ab; es war vergeblich, Rachel kam nicht. Und an meiner Ungeduld fühlte ich erst, wie lieb mir das Mädchen geworden war. Sie kam auch am zweiten, dritten Tag nicht. Und so eine Woche lang; ich war in Verzweiflung. Da fand ich sie eines Morgens wieder am gewohnten Platz. Ich eilte freudig auf sie zu und faßte ihre Hand. ›Gottlob, da bist du wieder!‹ rief ich fröhlich, ›Mädchen, Mädchen, wieviel Trauer und Angst hast du mir bereitet!‹ Sie lächelte trüb, ihr Antlitz war bleich, die Augen gerötet. ›Ich konnte nicht kommen‹, sagte sie leise, ›ich war krank!‹ – ›Krank?‹ rief ich besorgt, ›und ich konnte nicht bei dir sein! So hatte ich doch recht, als ich mich um deinetwillen so ängstigte!‹ – ›Es war nicht bedeutend‹, erwiderte sie. ›Und Ihr wart oft hier?‹ – ›Täglich, und harrte und harrte!‹ – ›Ich danke Euch‹, sagte sie leise und reichte mir nochmals die Hand. Und wie wir so stumm dastanden und einander ins Auge blickten und keine Worte fanden, da durchzuckte uns zuerst das klare Bewußtsein unserer Liebe. Wir haben wohl beide in jenem Augenblick gezittert . . . ›Ich muß gehen‹, sagte sie endlich und löste ihre Hand aus der meinen. ›Die Mutter wird Angst um mich haben. Leb wohl!‹ – ›Bis morgen‹, sagte ich. ›Du kommst?‹ – ›Ich komme‹, versprach sie leise.
Ich hatte am nächsten Tag nicht lange oben zu warten. Sie kam pünktlich. Ich ging ihr entgegen, aber gedrückt und befangen, nicht fröhlich wie gestern. Sie war auch heute noch sehr bleich, ihr Schritt schwankend. ›Du bist kränker, als du mich glauben machen willst‹, empfing ich sie besorgt. – ›Nein‹, erwiderte sie, ›ich bin nicht mehr krank, und‹ – sie stockte und fuhr dann mit fester Stimme fort – ›ich war es auch nicht. Ich habe Euch gestern belogen! Ja, ich log, weil ich nicht den Mut hatte, die Wahrheit zu sagen. Ich bin blaß, und meine Augen sind gerötet, weil ich sehr viel geweint und getrauert habe in den letzten Tagen. Ich habe Euch viel zu sagen, ich bitte, hört mich ruhig an.‹
Wir setzten uns auf den großen Stein, der zu Füßen des roten Kreuzes liegt. ›Wer meinen Eltern davon erzählt hat‹, begann sie, ›daß ich täglich hier mit Euch spreche, weiß ich nicht – es ist auch gleichgültig. Ich hätte es ihnen selbst bei irgendeiner Gelegenheit gesagt, denn ich sah nichts Arges darin. Der Vater aber empfing mich, als ich jüngst nach Hause kam, mit heftigen Vorwürfen und mit Worten, ich will sie nicht wiederholen, sie waren sehr böse und ungerecht. Er sagte, ich vergäße meiner Ehre und meiner Pflicht, er erinnerte mich an meinen Verlobten, er beschwor mich, von Euch, dem Ungläubigen, dem Verführer zu lassen. Ich erschrak sehr, als er so sprach, doch nicht vor seinem Zorn. Ich erschrak über die Erkenntnis, die mir da aufging. Ich hatte nicht daran gedacht, warum ich immer hierherkommen mußte, warum mich Euer Wort und Euer Blick so glücklich machten. Nun – nun wußte ich es. Und als mein Vater mir einen heiligen Eid abforderte, Euch nie wieder zu sprechen, da konnte ich nicht schwören. Und wenn mir Gott und alle Engel des Himmels es befohlen hätten, ich hätte es nicht getan, es wäre mir als eine gar zu gräßliche Lüge erschienen gegen das, was in mir war. Ich ertrug den Zorn des Vaters und die Tränen der Mutter, denn ich wußte, daß ich . . . daß ich Euch lieb habe . . . ‹ Ich wollte sprechen, aber sie hob abwehrend die Hand und fuhr fort: ›Seht, als ich das erkannte, da war es mir zuerst entsetzlich – ich kam mir selbst so fremd vor. Und doch war ich wieder sehr glücklich. Ich sah den Kummer und die Verzweiflung meiner Eltern, aber ich hätte es nicht vermocht, nach ihrem Wunsch noch ferner Chaims Verlobte zu bleiben. Ich bin es noch vor der Welt, aber Euer ist in Wahrheit meine Seele und mein Leib. Darum konnte ich Euren Anblick nicht länger entbehren, und so bin ich gestern heimlich hergekommen. Da hab' ich aus Eurem Wort und Blick gesehen, daß Ihr auch mich lieb habt wie ich Euch. Und nun frage ich Euch: Was soll dies, und wie wird das Ende sein?‹ Ich hörte nicht das Weh, das durch diese Worte klang, mir tönte nur Jubel durch das Herz. ›Mädchen‹, rief ich, ›du liebst mich, dann ist ja alles, alles gut!‹ Aber sie sah mich ernst und traurig an. ›Nein‹, sprach sie, ›dann ist alles verloren! Ihr fühlt nur das Glück, ich fühle es mit Euch, aber ich blicke auch in die Zukunft, und da ist kein Trost für mich! Eure Gattin werden kann ich nicht, dazwischen steht mein Leben, wie es bisher war, meine Herkunft – und dann, wie sie mich erzogen haben. O Gott, ich bin ja nichts, ich weiß ja nichts, ich kann ja nichts. Weh mir, ich kann ja nicht einmal deutsch sprechen! Was wollt Ihr, der einst ein Doktor sein wird, mit einer Frau, die gar nichts von der Welt versteht, in der Ihr leben werdet. Oh, ich fürchte mich so sehr vor dieser Welt! Und hätte ich dann oft gegen den Brauch gefehlt und Euch vor anderen beschämt, da müßtet Ihr ja sagen: diese Liebe war mein Unglück . . . ‹
›Rachel‹, rief ich, ›sprich nicht so, du quälst dich und mich mit leerer Furcht!‹
›Und doch ist es so‹, erwiderte sie mit zuckenden Lippen. ›Und dann, soll ich mein Glück mit dem Schmerz und, wie unsere Leute denken, mit der Schande meiner Eltern erkaufen, die sie töten würde?! Oh, mir war es in meinem Leid oft, als müßte ich Euch anflehen, abzureisen, schnell, gleich. Vergessen, das wäre nicht Glück, aber Rettung!‹ – ›Und glaubst du, ich könnte dich vergessen?!‹ fragte ich ernst, ›glaubst du ein Gleiches von dir?‹ – ›Nein‹, erwiderte sie, ›ich könnte es nicht. Aber sagt, wo seht Ihr eine Rettung?‹ – ›Ich sehe sie‹, sagte ich entschlossen. Der trotzige Mut von einst war wieder über mich gekommen. ›Man kann, was man will‹, klang es durch meine Seele. – ›Mit deinem Vater will ich sprechen, ich will ihm nachweisen, wie töricht sein Vorurteil gegen mich ist, ich will ihn anflehen, sein einziges Kind nicht unglücklich zu machen, ich will dich von ihm fordern als mein Eigentum. Gelingt es mir nicht, dann will ich dich durch eigene Kraft erkämpfen. Du aber mußt die Eltern lassen, um des Geliebten willen. Freilich, zwei Jahre werden wir noch harren und kämpfen müssen, aber du wirst nicht ermatten, wie ich nicht ermatten werde. Und dann wirst du mein geliebtes Weib und lächelst über deine Sorgen von heute. Ich schwöre dir, dich will ich heimführen oder keine!‹ – ›Ich bleibe dir treu‹, sagte sie nur einfach und leise, aber es klang wie ein heiliger Schwur. So schieden wir . . .«
Mein Gefährte verstummte. Wir starrten schweigend in die Dämmerung hinein, die sich allmählich über die weite, westgalizische Ebene breitete. Erst nach langer Pause fragte ich: »Warst du bei Hirsch Welt?«
»Ja . . . Er hat mir die Tür gewiesen. Was liegt daran? Das Mädchen wird deshalb doch mein Weib. Man kann, was man will . . .«
An die fünfzehn Monate waren seit jener Unterredung im Waggon vergangen. Wir waren nach Wien zurückgekehrt, wohnten in verschiedenen Stadtteilen und sahen uns selten genug. Nur soviel wußte ich von ihm, daß er mit eiserner Energie arbeite und gute Nachrichten von seinem Mädchen habe.
Da ward eines Morgens im Dezember, in grauer Frühe, stürmisch an meine Stubentür gepocht, und noch ehe ich antworten konnte, trat mein Freund herein, totenbleich, mit verstörtem Antlitz. »Du bist's, Adolf?« rief ich erschreckt. »Wie du aussiehst! Was ist geschehen?«
Er strich sich über die Stirn und warf das wirre Haar zurück, in dem noch einige Schneeflöckchen hingen. »Was geschehen ist?! Das weiß ich nicht, eben darum tötet mich ja die Unruhe . . . Steh auf und komm mit!«
Ich gehorchte und fuhr in meine Kleider. Es war etwas in seiner Stimme und seinem Wesen, was mich nicht länger zaudern ließ. Er war schwankenden Schritts ans Fenster getreten und dann wie todmüde in meinen Lehnstuhl gesunken und starrte nun in den grauen, trübseligen Wintermorgen hinaus. Sein Antlitz war fahl, die Augen glühten wie im Fieber.
»Adolf«, rief ich besorgt, »du bist krank?«
»Nein, ich bin nicht krank«, erwiderte er ungeduldig, »ich darf nicht krank werden. Aber komm, komm!« Besorgt folgte ich ihm in den kalten, stürmischen Dezembertag hinaus. »Wo ist die nächste Telegrafenstation?« fragte er.
»Ziemlich weit! Was sollen wir dort?«
»Komm hin, frag nicht viel!« Er war offenbar in so furchtbarer Aufregung, daß ich ihm schweigend willfahrte. Als wir endlich nach geraumer Zeit vor dem Tor des Amtes standen, sagte er: »Und nun, ich flehe dich darum an, geh hinein und frag bei deiner Mutter telegrafisch an, ob es wahr ist, daß – meine Braut in nächster Woche heiratet.«
»Hast du dergleichen gehört?«
»Später, du sollst später alles hören, aber nun geh und telegrafiere. Und erbitte die Antwort schleunigst, hörst du, schleunigst, hab Erbarmen mit mir.« Diese Worte, dieses Benehmen waren bei dem klaren Menschen so unerhört, daß sie mich tief erschütterten. Ich trat ins Amt und gab die Depesche auf. Erst als ich fertig war, ging's mir durch den Sinn, was meine Mutter davon denken würde, daß ich mich so jäh und leidenschaftlich nach der Rachel Welt erkundigte, und ich mußte fast lächeln. Aber das Lächeln verging mir wieder, als ich auf Adolf zutrat. Seine Augen brannten, und Fieberschauer durchrüttelten ihn. »Du bist krank!« rief ich wieder. Ich ergriff seinen Arm und führte ihn ins nächste Café. Auf der Straße ging eben der Schneesturm wieder lustig an.
»Oh, es ist nichts von Bedeutung«, erwiderte er, folgte aber willig. »Ein leichtes Fieber, ich werde mich erkältet haben, ich bin heute die ganze Nacht ziellos durch die Gassen gegangen. Ich weiß, was du sagen willst, eine Torheit war's, und ich bin selbst ein angehender Arzt, aber was nützt das, ich konnte nicht ruhig . . . Wann kommt die Antwort?« unterbrach er sich dann wieder heftig.
»Spät nachmittags, vielleicht erst nachts. Wir haben ja keine direkte Verbindung, dazu der Schneesturm. Aber wenn die Antwort kommt, bringe ich sie dir augenblicklich.«
»Ich danke dir«, erwiderte er. »Du weißt nicht, was ich litt, als ich es so unvermutet erfuhr.«
»Durch wen?« fragte ich.
»Es hat sich seltsam gefügt«, erzählte er. »Ich ging gestern abend zufällig durch die chirurgische Abteilung des allgemeinen Krankenhauses. Da ward ich plötzlich angerufen. Ich trat an das betreffende Bett, ein jüdischer Bursche lag darin – es war der Salomon Pinkus, der Bruder des Ochsenhändlers Chaim Pinkus aus Barnow. Der Bursche erzählte mir klagend, daß er vor einigen Tagen eine Herde seines Bruders nach Wien gebracht und nach glücklichem Verkauf wieder nach Hause habe zurückkehren wollen, da sei er im Glatteis auf der Straße ausgeglitten und habe sich den Arm gebrochen. ›Oh!‹ wimmerte er, ›ich habe nicht nach Wien gehen wollen, ich habe mich gefürchtet, aber ich habe es ja für meinen Bruder tun müssen, der kann nicht von Hause fort, er heiratet ja in nächster Woche die Rachel, die Tochter des Fleischhauers.‹ – ›Wen?‹ rief ich außer mir und packte ihn so heftigen Griffs am gesunden Arm, daß er aufschrie, ich zerbräche ihm auch diesen. Nun, und dann erzählte er mir, die Braut seines Bruders sei ja die Rachel Welt, und ich müßte sie ja kennen – ich glaube, der Bursche lächelte höhnisch –, sie sei plötzlich wieder zur Vernunft gekommen und wolle den Chaim doch heiraten . . . Ich weiß nicht mehr, was ich ihm darauf erwiderte, nur, daß ich schließlich fortrannte wie ein Wahnsinniger, kreuz und quer durch die Straßen, trotz des Sturms und der Kälte. Wie mir dabei zumute war, kann ich dir nicht sagen, du würdest es auch nicht begreifen . . .«
»O doch, du Armer«, erwiderte ich mitleidig.
»Nein!« rief er heftig, »kein Mensch kann es begreifen. Sieh, es ist ja bei mir keine gewöhnliche Liebelei, wie käme auch meine Natur dazu?! Es ist ja die erste große Leidenschaft meines Lebens und wird unter allen Umständen die letzte sein. Ich habe alles, was an Gefühl in mir ist, auf dieses Mädchen gesetzt. Betrügt sie mich, so werde ich wahnsinnig oder muß sterben. Glaube mir, ich fasele nicht, ich sehe mich auch jetzt so scharf und klar wie etwa einen meiner Kranken. Ein Beweis dafür, daß ich selbst in meiner Leidenschaft nie blind war, mag dir das Bekenntnis sein, daß mir die Schranken, die mich von dem Mädchen trennen, keinen Augenblick kleiner erschienen, als sie sind. Ich weiß, daß zwischen uns eine Welt liegt, wir sind in unseren Anschauungen so gründlich verschieden, daß kein Dichter einen größeren Gegensatz ersinnen könnte. Dafür können wir beide uns bei dem orthodoxen Judentum bedanken. Aber ich weiß auch, daß diese Schranken nicht unübersteiglich sind. War ich Manns genug, mir selbst mein Leben zu schaffen, so werde ich auch Manns genug sein, mir selbst meine Frau zu erziehen. Niederwerfen, dann aber auch ganz und gar in den Staub schleudern, kann mich nur eins: die Untreue des Mädchens . . .«
»Und hältst du das für möglich?«
»Noch sträube ich mich dagegen, niemand gesteht sich willig ein, daß sein Leben plötzlich wertlos geworden ist. So wenig wahrscheinlich es ist, daß der Bursche gelogen hat, denkbar ist es doch . . . Freilich habe ich schon darum fast gar keine Hoffnung, weil ihre Briefe, die sonst pünktlich allwöchentlich kamen, seit vierzehn Tagen ausgeblieben sind . . .«
»Wie aber«, meinte ich, »wenn sie nicht untreu wäre, sondern gezwungen, überwältigt durch weiß Gott welche Mittel!«
»Das ist unmöglich«, erwiderte Adolf fest. »Wäre mir dies auch nur einen Augenblick als möglich erschienen, ich säße jetzt nicht dir gegenüber, sondern im Waggon auf dem Weg nach Barnow. Aber die Annahme ist für mich, der ich das Mädchen kenne, geradezu vernunftwidrig. Rachel ist klar wie ein Edelstein. So eine Natur läßt sich nicht zwingen, nicht betäuben, nicht überwältigen. Käme es aufs äußerste an, so liefe sie ihren Eltern fort und käme zu mir und müßte sich bis hierher durchbetteln. Ich kenne sie . . .«
Wir sprachen noch lange an jenem düstern Wintervormittage. Dann bewog ich Adolf, doch wieder ins Krankenhaus zu gehen und seine gewohnten Pflichten zu erfüllen. Aber er tat dies erst, nachdem ich feierlich versprochen hatte, ihm die Nachricht, wie sie auch immer sei, keinen Augenblick vorzuenthalten.
Erst im Morgengrauen des nächsten Tages kam die Antwort:
»Ja, Rachel heiratet nächsten Dienstag den Ochsenhändler Pinkus. Aber was geht's Dich an?«
Ach! Die Nachricht ging mich in diesem Augenblick näher an, als meine gute Mutter ahnen mochte. Bekümmert machte ich mich auf und fuhr in die Mariengasse, wo Adolf ein kleines Stübchen bewohnte. Mein Herz klopfte, als ich die Klingel zog.
Seine alte Hausfrau kam mir entgegen. »Gottlob, daß Sie da sind«, rief sie mir freudig zu. »Welche Angst habe ich in dieser Nacht ausgestanden! Denken Sie nur, gestern nachmittag kommt wieder ein Brief für den Herrn Doktor aus der Polakei, ich hab's am Poststempel gesehen, nun, den lege ich ihm auf den Leuchter, wie gewöhnlich, damit er ihn gleich findet, wenn er heimkommt. Hätte ich aber gewußt, was das für ein böser Brief war – lieber Herr, ich bin eine ehrliche Frau, aber diesen Brief hätte ich unterschlagen, so wahr mir Gott helfe, und es wäre ein gutes Werk gewesen. Denn hören Sie nur! Er kommt schon früh am Abend nach Hause und fragt atemlos, ob Sie noch nicht dagewesen sind. Nein, sag' ich, aber ein Brief aus der Polakei ist gekommen. ›Wo?‹ ruft er und ist mit einem Satz im Zimmer und liest den Brief. Darin muß aber etwas Furchtbares gestanden haben, lieber Herr, etwas ganz Furchtbares, denn der Herr Doktor wird totenblaß und zittert, und seine Augen glühen. Aber plötzlich wirft er den Brief fort und fängt an, laut zu lachen – es war furchtbar anzuhören, das Herz ist mir stillgestanden, es war ganz so, wie ein Verrückter lacht. Und dann blickt er um sich – mit solchen Augen« – die alte Frau suchte ihren Blick recht starr zu machen –, »und dann ruft er mir zu: ›Fort!‹ Und – verzeih mir's Gott – es war mir gar nicht unangenehm, und ich bin schnell hinausgegangen. Drinnen bleibt es eine Weile ruhig, dann höre ich den Herrn Doktor rasch auf und ab gehen, und dann sinkt er auf das Sofa und stöhnt leise. Aber wie das geklungen hat, das ist gar nicht zu beschreiben, und ich bin darüber wieder tödlich erschrocken. Denn, wissen Sie, vor zwei Jahren war ein großes Unglück hier im Hause, bei meiner Nachbarin: ihr Zimmerherr, ein junger Apotheker, hat sich wegen einer Liebe vergiftet. Ich habe zugehört, wie er gestöhnt hat – genauso hat heute nacht der Herr Doktor gestöhnt. Da denke ich mir: hier ist ein Unglück geschehen, und fasse mir ein Herz und trete in sein Zimmer. Er steht auf und starrt mich mit großen Augen an, als müßte er sich erst besinnen. ›Ich bin es ja‹, rufe ich, ›sind Sie krank?‹ – ›Nein‹, sagt er, ›ich möchte nur ganz allein sein, ganz allein!‹ Und da gehe ich wieder fort, aber die ganze Nacht . . .«
Ich hörte sie nicht länger an und trat in das Zimmer. Adolf saß regungslos im Lehnstuhl, die Hände aufs Gesicht gepreßt, es schien fast, als schlafe er. Aber beim Geräusch meiner Schritte ließ er die Hände sinken und erhob sich. Ich kann nicht beschreiben, wie sein Gesicht war, ich habe nie einen Seelenschmerz sich erschütternder in den Zügen eines Menschen ausprägen sehen.
»Lies!« sagte er kurz und heiser und reichte mir einen Brief hin, der auf dem Tisch lag. Er lautete:
»Herr Doktor!
Ihr müßt mir verzeihen, daß ich erst jetzt schreibe, daß ich mich getäuscht habe. Ich habe Euch nicht lieb, es war nur Freundschaft. Ich habe es bald bemerkt, aber ich habe nicht den Mut gehabt, es Euch früher zu schreiben. Darum schreibe ich erst jetzt, daß ich nächste Woche Chaim heirate. Ihr könntet vielleicht glauben, daß ich das gezwungen tue, aber es wäre nicht wahr, ich tue es freiwillig. Verzeiht mir also, Herr Doktor, es war ein Irrtum.
Rachel.«
»Es war ein Irrtum!« schrie Adolf verzweiflungsvoll und brach dann zusammen.
Mehr als vier Jahre waren seit jenem düsteren Wintermorgen vergangen. Wieder grünte und blühte der Frühling. Ich aber saß in einem Hause der großen, dumpfen Stadt, die heiße Stirn über ein Manuskript gebeugt. Da trat der Diener in die Stube und überbrachte mir eine Karte: »Dr. Adolf Leiblinger«. Der Herr warte draußen. Ich stürzte selbst zur Tür und riß sie auf. Ich hatte meinen Freund seit zwei Jahren nicht gesehen, seit jenem Tag, wo er zu mir kam und mir kurz und kühl sagte: »Ich bin als Arzt in holländische Dienste getreten und gehe nach Batavia, leb wohl!« Aber er hatte sich in der Zwischenzeit wenig verändert: dasselbe blasse Gesicht mit dem unveränderlichen Ausdruck finsterer, trotziger Ruhe. Nur brauner war er geworden von der tropischen Sonne.
»Also wieder in Europa«, rief ich freudig, »das ist recht von dir! Du weißt ja, wie sehr ich mich gemüht habe, dir deinen Plan auszureden. In dieses mörderische Klima zu gehen, das war ja eine Art anständigen Selbstmords!«
»Ja«, erwiderte er ruhig, »das war's.«
»Aber nun bleibst du hier?«
»Ja, ich habe auch jetzt keine Freude am Leben, aber es macht mir auch keinen Schmerz mehr. Der Tod wird mir wohl immer als etwas Gleichgültiges erscheinen. Aber da ich nun einmal lebe, so habe ich wohl auch die Pflicht, mich so nützlich als möglich zu machen. Ich werde mich hier oder auswärts als Dozent habilitieren.«
»Das freut mich«, sagte ich, »ich habe übrigens nie die Hoffnung verloren, daß dich die Zeit doch endlich heilen wird.«
»Es war, wenn du das, was mit mir vorgegangen ist, eine Heilung nennen willst, nicht die Zeit, die es bewirkt hat, sondern ein Brief.«
»Ein Brief? Von ihr?«
»Ja. Nachdem ich ihn erhalten hatte, reiste ich sogleich nach Europa – direkt nach Barnow. So wahnsinnig rasch hat bisher noch kein Mensch die ungeheure Reise zurückgelegt, aber ich bin dennoch zu spät gekommen.«
»Sie ist tot?« fragte ich.
»Ja, vier Wochen sind's her, daß sie starb.«
»Und sie rief dich durch jenen Brief an ihr Sterbelager?«
»Nein, aber da du alles übrige kennst, so ist es wohl meine Pflicht, dich auch diesen Brief lesen zu lassen.« Er reichte mir das Schreiben hin. In zitternden, kaum lesbaren Zügen stand darin geschrieben:
»Es wird bald Frühling, aber ich fühle, daß ich ihn nicht mehr erleben werde, darum will ich schreiben, solange ich es noch vermag. Ich tue es wohl auch um meinetwillen, aber noch mehr um Euretwillen. Um meinetwillen nur, damit Ihr mich nicht auch noch bis über den Tod hinaus verachtet, aber um Euretwillen, um Euch wenigstens jetzt den Schmerz zu nehmen, daß Ihr ein Mädchen geliebt habt, welches schlecht war und Eurer Liebe nicht wert.
Ich habe gelogen, was ich zuletzt vor vier Jahren schrieb. Ich hatte Euch damals lieb und liebe Euch jetzt, und ich werde Euch lieb haben, bis ich sterbe. Und wenn uns Gott nach dem Tod diese Gnade gestattet, so werde ich Euch auch dann noch lieben. Aber eben wegen meiner Liebe habe ich mich so auf immer von Euch geschieden. Schüttelt nicht das Haupt und wundert Euch nicht über die seltsamen Worte. Es wäre mir kein reines Glück geworden, das ich erkauft hätte mit dem Fluch des Vaters und mit der Verzweiflung der Mutter. Aber das hätte ich überwunden. Eines jedoch hätte sich niemals ausgeglichen! Ihr habt darüber gelächelt, und es war doch richtig: Eure Stellung und wie sie mich erzogen haben. Sie haben mich zu lange hier gehalten, so in der Traurigkeit und in der Unwissenheit; ich hätte die Welt und das Licht nicht ertragen können. Ich hätte Euch nicht so recht verstehen können, nicht Euer Weh, nicht Eure Lust, und das wäre mir und vielleicht noch mehr Euch ein großer Schmerz gewesen. Ich wäre so unter Euren Freunden und ihren Frauen immer fremd und ungeschickt geblieben, sie hätten gelacht über mein Tun und über mein Sprechen, und das hätte mir furchtbar weh getan und Euch nicht minder. Ihr hättet mich vielleicht deshalb von der Welt abgeschlossen gehalten, aber dann hätte ich es nicht ertragen können: ›Dein Mann muß sich deiner schämen‹, und auch Euch wäre es sehr schmerzlich gewesen. Und eines Tages wäre es so gekommen, wie ich Euch damals gesagt habe: Ihr hättet die Stunde verwünscht, wo ich Eure Gattin geworden wäre. Ihr hättet mich nicht verstoßen, das weiß ich, aber unglücklich wären wir geworden, Ihr vielleicht noch unglücklicher als ich.
Das habe ich alles genau gesehen und erkannt, und weil ich Euch so sehr liebe, wollte ich nicht, daß Ihr durch mich unglücklich werdet. Darum habe ich beschlossen, es allein zu werden, und habe meinen Eltern gesagt, daß ich den Chaim heiraten wolle, und habe Euch jenen Brief geschrieben. Aber wenn ich auch Euch gegenüber log, meinem Bräutigam habe ich die Wahrheit gesagt. Ich habe ihm gesagt, wie es um mich steht, und daß ich ihm nur eine treue Dienerin sein kann. Er hat darauf erwidert:
Mit der Zeit wird es schon anders werden. Ich wußte, daß es nicht anders werden wird, aber ich habe mein Leid auf mich genommen. Das war gut, und ich klage auch jetzt nicht darüber.
Aber sagen muß ich, daß ich zu schwach war für dieses Leid. Ich bin bleich und krank geworden, mein Herz klopft so stark, daß ich oft davon ohnmächtig werde, ich werde immer schwächer und fühle, daß ich bald sterben werde. Aber ich habe kein Bangen vor dem Tode und danke Gott, daß er mich nur so kurz hat leiden lassen und nicht ein ganzes langes Leben hindurch. Was hätte ich auch noch sollen auf dieser Erde? Es war mir immer ein Glück – und ich habe darauf gehofft seit jener Stunde, wo ich meinen Entschluß gefaßt habe –, Euch alles dies einmal, bevor ich sterbe, zu schreiben. Ich habe nicht geahnt, daß ich schon so bald dies Glück haben werde, daß ich schon so bald gereinigt dastehen werde vor Euren Augen.
Nun ist es mir beschieden – unser Gott ist doch ein barmherziger Gott. Und so danke ich Euch noch einmal für alle Eure Liebe. Ihr seid mir der Trost und das Licht gewesen in meinem armen, dunklen Leben. Ihr habt mich nur selig gemacht und seid unschuldig gewesen an meinem Leid. Verzeiht darum das Weh, das ich Euch bereitet habe. Es ist meine letzte Bitte, und ich werde ja bald sterben.
Aber nein, noch eine Bitte habe ich an Euch, und wenn Ihr sie nicht erfüllt, so kann ich keine Ruhe haben im Grabe. Euer Freund, des Doktors Sohn, hat hierher geschrieben, daß Ihr jetzt in einem sehr fernen Land seid, wo die Sonne heiß brennt und fast alle Fremden an einem bösen Fieber sterben. Er hat auch geschrieben, daß Ihr wahrscheinlich aus Verzweiflung über meine Heirat dorthin gegangen seid. Was ich bei dieser Nachricht und seitdem gelitten habe, kann ich nicht sagen, und wenn ich es sagen könnte, würdet Ihr es gar nicht glauben. Aber ich flehe Euch an, geht weg aus diesem mörderischen Land. Mein Herz sagt mir, daß Ihr der geschickteste Arzt seid, der je gewesen ist. Kommt zurück und helft den armen Menschen.
Das Gebetbuch Eurer Mutter, welches Ihr mir einmal geschenkt habt, werde ich mit ins Grab nehmen.
Lebt wohl und lebt so lang und so glücklich, als ich Euch wünsche. Ich aber werde tot sein, wenn Ihr diesen Brief lest.
Rachel.
Stumm gab ich den Brief dem Freunde zurück.
Er erhob sich und sagte ruhig wie früher: »Nun weißt du, warum ich wieder in Europa bleibe. Auf Wiedersehen.« Aber wie wir so schweigend einander gegenüberstanden, verließ den stolzen, düsteren Menschen plötzlich seine Kraft. Er sank mir in die Arme und schluchzte leise, herzzerbrechend: »Warum mußte es so kommen – warum?«
Auch ich weiß keine Antwort auf diese Frage. Und darum wage ich es nicht, dieser Geschichte noch ein Wort beizufügen.
Mein Onkel Bernhard ist eigentlich nicht mein Onkel gewesen, noch hat er Bernhard geheißen. Seine Schwester hatte einen entfernten Vetter geheiratet. Das war die ganze Verwandtschaft. Aber wenn nicht nach dem Blute, so war er doch nach dem Herzen unser aller Onkel. Die ganze Familie, soweit sie noch kurze Kleider oder Knabenjacken trug, wendete sich an ihn, wenn sie etwas haben wollte. Denn er war stets von der Notwendigkeit bunter Bilderbücher und schöner Puppen tief überzeugt, oder er gelangte doch leicht zu dieser Überzeugung: durch einen einzigen bittenden Blick aus Kinderaugen. Und wenn jemand etwas nicht haben wollte, Schläge oder Schelte, so flüchtete er gleichfalls zu diesem kleinen, stillen Manne. Der Onkel Bernhard schüttelte den Kopf, hielt eine kurze, aber gewichtige Rede und ging dann als Vermittler zu den Eltern. In der Regel glückte es ihm auch, das Gewitter abzuwenden, denn, von den gütigen Müttern abgesehen, auch kein Vaterherz in der Sippe konnte ihm widerstehen, wenn er in seiner milden, ernsten Weise sagte: »Schlag' die Kinder nicht! Freue dich, daß sie dir leben und erblühen! Nicht jeder hat es so gut!«
Es war dies vielleicht nicht sehr logisch, noch lag darin besondere pädagogische Weisheit. Aber, wie gesagt, kein Herz widerstand diesen Worten, und geschadet haben sie wohl keinem seiner Schützlinge. Der ungebärdigste Range schämte sich, den Onkel Bernhard zu oft für sich bitten zu lassen, und schmerzlicher als die schneidigste Rute tat es jedem, wenn ihm dieser Mann endlich zürnte. Warum er so großen Einfluß auf uns hatte, war uns selbst nicht klar. Denn imponierend war er nicht, weder in seiner Erscheinung noch in seiner Lebensstellung. Ein dürftiges, gedrücktes Männchen mit langem, hagerem, furchenreichem Antlitz, welches durch einen grauen Spitzbart nur noch länger und hagerer erschien. Dieser Spitzbart wurde allmählich weiß, aber im übrigen änderte sich das Antlitz nicht, und auch die Kleidung war ewig dieselbe: ein langer, dunkelgelber Rock, im Sommer aus Nanking, im Winter aus Wolle. Außer dem Onkel Bernhard trug kein Mensch in der ganzen Stadt Czernowitz einen solchen Rock, und kein Mensch führte auch eine solche Lebensweise.
Am frühen Morgen und am späten Abend machte er lange, einsame Spaziergänge, und den Tag über saß er in seinem Stübchen und schrieb auf längliche Papierstreifen krause hebräische Zeichen. Das seien Beiträge für die hebräischen Zeitungen, erzählten die Leute, politische Artikel, und es sei eigentlich ewig schade, daß der kleine Mann das Deutsche nicht so gut erlernt, um für die Wiener Blätter arbeiten zu können, denn er sei nicht bloß ein großer Talmudist, sondern auch ein »scharfer Schreiber«. Und ein anderer, wirklich Onkel, Salomon Brunnstein, pflegte immer zu sagen: »Der Zar in Petersburg soll täglich Gott danken, daß unser Bernhard nicht Deutsch kann!« Von dem Ertrag dieser Arbeiten und den Zinsen eines kleinen Vermögens lebte der Mann und ersparte noch so viel, um alle Kinder, die er kannte, häufig durch Geschenke zu erfreuen. Das war aber auch die einzige Freude in seinem dunklen, einsamen Leben, und wenn wir, ein halbes Dutzend Rangen, auf seine Stube rückten, so konnte er mit uns spielen und fröhlich sein und so herzlich lachen, daß ihm die Tränen ins Auge traten. Wir begriffen gar nicht, warum die Erwachsenen immer sagten, der Onkel Bernhard sei doch eigentlich der unglücklichste Mensch, den diese Erde trage.
Kinder sind selten scharfe Beobachter. Vielleicht waren auch jene Tränen, die ihm so jählings über die Wangen rannen, keine Freudentränen. Vielleicht zuckte sein armes, zertretenes Herz nie schmerzlicher, als wenn er mit den fremden Kindern lachte und spielte.
Alles an diesem Manne hatte seine Geschichte: die Furchen im Antlitz, der lange, gelbe Rock und die länglichen Papierstreifen. Es soll auch alles erzählt werden und sorglich der Reihe nach; nur von dem langen, gelben Rock berichte ich zuerst. Dieses sonderbare Kleidungsstück war aus einem Kompromiß hervorgegangen, welchen der Onkel mit seiner Schwester Henriette abgeschlossen. Er hatte im Schnitt gesiegt und sie in der Farbe. Als er vor manchem Jahr aus seiner Heimatstadt in Russisch-Podolien nach Czernowitz gekommen, weil er nun niemand mehr auf Erden hatte als eben diese Schwester, da trug er jenen langen, schwarzen Talar, wie ihn die Juden des Ostens zu tragen pflegen, und nannte sich, wie er seit seiner Geburt hieß, Berisch Reinmann. Aber die Schwester lebte nicht umsonst bereits seit fünfzehn Jahren in der deutschen Stadt, sie war aus einer schlichten Hendl Reinmann eine emanzipierte Henriette Schwarzenthal geworden und mühte sich, nun auch den Bruder mit den Segnungen einer vorgeschrittenen Kultur zu beglücken. »Du mußt Bernhard heißen«, sagte sie ihm, und der kleine Mann remonstrierte ein wenig und fügte sich dann und hieß Bernhard. »Du mußt einen deutschen Rock tragen«, gebot sie; aber dem setzte er hartnäckigen Widerstand entgegen, nicht aus Abneigung gegen die Kultur, sondern weil er sein Leben lang den langen, weiten, bequemen Rock getragen. Aber sie fuhr fort, ihn zu bestürmen, und so ließ sich Bernhard seinen neuen Talar aus dunkelgelbem Stoff machen. Das war keine »jüdische« Tracht mehr, und Henriette war zufrieden.
Weitere Versuche, ihren Bruder »deutsch« zu machen, unterließ sie. Er selbst aber rang freilich still und verschämt nach demselben Ziele, ohne daß es jemand genau wußte. Er nahm Unterricht in der Sprache, die er bisher nur in einem korrumpierten Jargon gesprochen. Der alternde Mann wendete lange Jahre daran, das Hochdeutsche zu erlernen. Viele mögen nach diesem Quell westlicher Bildung sehnsüchtig gedürstet, viele mögen schmerzlich danach gerungen haben, aber vielleicht noch nie ein Mensch so innig, so eifrig wie dieser kleine »jüdische Schreiber«. Warum? Ihn trieb nicht der Durst nach Wissen, nicht die Hoffnung, das mühsam Errungene einst gut verwerten zu können, ihn trieb keine Eitelkeit – sondern sein Herz, das zertretene Herz, welches sich rächen und andere warnen wollte. Bernhard Reinmann wollte ein »deutscher Schreiber« werden, er wollte in deutschen Zeitungen gegen Rußland schreiben. »Was habe ich davon«, seufzte er, »wenn ich für den ›Hamagid‹ und den ›Ibri‹ arbeite? (Die beiden Hauptblätter in hebräischer Sprache.) Palmerston liest nicht den ›Hamagid‹, und Thiers liest nicht den ›Ibri‹. Ja, wenn ich für die ›Ostdeutsche Post‹ schreiben könnte, oder gar für die ›Augsburger Allgemeine‹!« Aber dieser Herzenswunsch ging nie in Erfüllung. Er erlernte das Hochdeutsche so weit, um jedes Buch lesen und verstehen zu können, zum Schreiben kam er nicht, sei's, daß ihm der Mut fehlte, oder daß er wirklich zu spät begonnen, um die Schwierigkeiten bewältigen zu können. Je älter er wurde, desto tiefer nagte diese vergebliche Sehnsucht an seinem Herzen. »Was« – fragte er oft seine Besucher, indem er wehmütig von den krausen Schriftzeichen aufblickte, »was tue ich jetzt? Ich flüstere! Ich aber möchte schreien, daß mich die Gewaltigen dieser Erde hören und sich ihrer Brüder erbarmen!«
Nun quält ihn dieses Dürsten längst nicht mehr, und seine Seele ist befreit von jedem Weh, auch von dem bittersten, das sie bedrückt: der nagenden Erinnerung an das gemordete Glück. Denn mein Onkel Bernhard ist tot, schon lange, lange Jahre. Die Kinder weinten sehr, als man ihn begrub, denn Kinder sind egoistisch in ihrer Liebe. Aber die älteren Leute und seine Freunde meinten: »Ihm war der Tod ein Erbarmer! Nun sieht er Weib und Kinder wieder, nach denen er sich so sehr gesehnt!« Auch mein Onkel Brunnstein sprach so, nur fügte er noch hinzu: »Der Zar in Petersburg kann sich freuen, daß Berisch Reinmann gestorben ist, ehe er in der ›Ostdeutschen Post‹ seine Geschichte erzählt hat.«
Mein Onkel Brunnstein war ein guter und kluger Mann, aber ich glaube, daß er da doch diese Geschichte überschätzt hat. Ich, der ich sie nun erzähle, bin fern davon. Und was gar den Zaren in Petersburg betrifft, so hat sie gar keinen Bezug auf ihn. Aber ich glaube, es ist doch der Mühe wert, zu erzählen, wie Berisch Reinmann der unglücklichste Mensch wurde, den die Erde trug.
Wie? Im Grunde nur durch ein Mißverständnis. Aber wehe dem Staate, in welchem ein solches Mißverständnis passieren kann. »Das ist der schlimmste Fluch schlechter Menschen«, sagt ein Weisheitsspruch des Orients, »daß sie nicht gut werden können, selbst wenn sie wollen.« Das ist der Fluch tyrannischer Staaten, daß sie nicht gerecht sein können, selbst wenn sie wollen, daß sie auch da zermalmen müssen, wo sie sich mühen, zu erheben und zu beglücken . . .
Unzählige wissen, gleich mir, um die Geschichte dieses Mannes. Wäre die Wahrheit nicht ohnehin allimmer die einzige Göttin, der ich diene, so zwänge mich schon dieser äußere Grund, nichts hinzuzufügen, nichts zu verschweigen.
Berisch Reinmann war bis in sein vierzigstes Jahr ein glücklicher Mensch. Armer Eltern Sohn, hatte er sich aus eigener Kraft ein ansehnliches Besitztum, einen fröhlichen Hausstand geschaffen. Er war Getreidehändler in einer kleinen Stadt des russischen Podoliens, dicht an der österreichischen Grenze. Das ist ein Handel, zu dem viel Klugheit und Glück gehören. Die Ernte wird, bei den verlotterten Verhältnissen der dortigen Edelleute, die nicht zuwarten können, gewöhnlich schon im Frühling an den Händler verkauft, so daß ihn, nicht den Grundbesitzer, alle Not eines Mißjahres trifft, freilich auch aller Segen eines guten Jahres. Man kann da, trotz aller Vorsicht, arm werden, freilich auch in kurzer Zeit zu Reichtum gelangen. Reinmann wurde reich. Zudem hatte er ein liebes Weib und zwei blühende Kinder. Das Weib war kränklich, die Ehe war lange Jahre kinderlos geblieben, um so ängstlicher hegte und pflegte der Mann den Segen, der ihm so spät, fast nicht mehr erhofft, gekommen. Auch sonst hatte er allen Grund, mit seinem Geschick zufrieden zu sein. Er hatte einen ausgezeichneten Ruf unter seinen Mitbürgern und war sich bewußt, ihn durch Wohltätigkeit und Ehrlichkeit vollauf verdient zu haben. Mit den Behörden kam er gut aus, weil er die Welt nahm, wie sie ist. Er wußte, daß die beiden Gewaltigen seines Heimatstädtchens, der Richter und der Polizeimeister, nicht berechtigt seien, Geschenke von ihm zu fordern, aber wenn sie es taten, so gab er ihnen den gewünschten, nicht eben niedrig bemessenen Tribut. Er hatte keinen Grund, sie zu fürchten, aber er wußte, daß sie ihm leicht das Leben sauer machen konnten, wenn sie wollten. »Jeder tut's«, dachte er, »ich werde Rußland nicht anders machen.«
Da starb der alte Polizeimeister, ein neuer trat an seine Stelle. Ich würde den Namen gerne nennen, aber er ist mir im Laufe der Jahre entfallen. Der Mann war eine habgierige Bestie; wer es gelinder ausdrücken wollte, würde lügen. Er hatte in der Armee gedient und war da seiner Trunksucht und einer schmutzigen Geschichte wegen entlassen worden. Aber einer der mächtigsten Beamten des Gouvernements Podolien war sein Vetter. Wer einen solchen Vetter hat, braucht in Rußland nicht zu sorgen; der schimpflich Entlassene erhielt jenes Amt, welches ihn auch in Ehren reichlich nähren konnte. Zu einem ausschweifenden Leben, wie er es führte, reichten freilich die regelmäßigen Einnahmen nicht hin, auch jener ungesetzliche Tribut nicht, den ihm die Leute, wie dem Vorgänger, ohne Widerrede zollten. Er erhöhte den Tribut, er ließ sich jede Amtshandlung, zu der er verpflichtet war, bezahlen – die Leute murrten, aber sie fügten sich. Reinmann war der reichste Jude im Orte, er hatte darum mehr zu leiden als die anderen, er mußte nicht bloß die größten Summen opfern, sondern auch im Vergleich zu seinem Vermögen größere als die anderen Glaubensgenossen; aber er war gleichwohl der einzige, der nicht murrte. »Ich werde Rußland nicht anders machen«, wiederholte er resigniert sein Sprüchlein und zahlte.
Aber gerade diese Resignation ward ihm zum Verderben. »Wenn dieser Jude«, dachte der Polizeimeister, »tausend Rubel zahlt, ohne eine Miene zu verziehen, so wird er jammern, wenn ich zweitausend von ihm verlange, aber er wird sie bezahlen.« Und danach handelte auch der Edle bei der nächsten Gelegenheit, die er vom Zaune zu brechen wußte.
Er irrte. Der Jude jammerte nicht. Wohl aber sagte er, nachdem er das Geld auf den Tisch gezählt: »Herr, Sie richten mich zugrunde. Das ist keine Übertreibung, ich kann es Ihnen nachweisen. Ich will nicht Ihre Großmut anrufen, aber seien Sie klug! Ein kluger Wirt schlachtet nicht die Kuh, die ihm Milch gibt!«
Der Polizeimeister wurde verlegen. Dann half er sich durch einen feinen Scherz: »Ihr seid ja keine Kuh, Berisch, sondern ein Jude, also ein Schwein! He! He!«
Berisch verzog keine Miene. Wer als Jude in Rußland und Polen aufwächst, wird solche Scherze gewohnt. »Beherzigen Sie meine Worte,« sagte er nur noch zum Abschied.
Der Polizeimeister beherzigte sie wirklich – durch volle vier Wochen. Dann schickte er zu Reinmann und ließ ihn um ein kleines Darlehn bitten.
»Wieviel?« fragte der Jude den Boten.
»Tausend Rubel!«
»Die gebe ich nicht. Geht!«
Der Bote, ein junger, untergeordneter Beamter, stand starr vor Staunen. So hatte noch nie ein Jude mit ihm zu sprechen gewagt, wenn er im Auftrage des Gewaltigen kam. »Bist du verrückt?« fragte er.
»Geht!«
Es war etwas in dieser Stimme und dem Ausdruck der Augen, was den jungen Menschen fast unheimlich berührte. Er ging rascher, als er gekommen.
Der Polizeimeister schäumte vor Wut. Eine Stunde darauf erhielt Reinmann eine offizielle Vorladung, sofort auf dem Amte zu erscheinen.
Er kam auch sogleich.
»Warum leihst du mir die tausend Rubel nicht?« begann der Polizeimeister.
»Wenn ich darum amtlich vorgeladen bin«, war die Antwort, »so will ich Ihnen den Grund zu Protokoll sagen.«
»Ich werde dich zugrunde richten!«
»Das haben Sie ohnehin halb getan. Für die andere Hälfte will ich mich wehren!«
»Wehren? – gegen mich! Weißt du, wer mein Vetter ist!«
»Der Zar ist er nicht!«
Der Jude wurde entlassen; dem Polizeimeister fiel es nämlich, trotz allen Nachdenkens, nicht ein, warum er den Mann eigentlich amtlich hatte vernehmen wollen.
Einige Tage darauf – es war gegen Ende Juni – wußte er es. Eine verschollene, längst nicht mehr gehandhabte Verordnung verbietet es den Juden, christliche Diener und Taglöhner zu halten. Reinmann beschäftigte das ganze Jahr hindurch an fünfzig christliche Schaffner und Fuhrleute und zur Erntezeit oft ein halbes Tausend Mäher.
Als ihm der Polizeimeister das Verbot publizierte, erbleichte er, faßte sich aber rasch.
»Ich werde an das Gouvernement rekurrieren«, erklärte er. »Um meinetwillen wie um meiner Leute willen. Ich werde gänzlich ruiniert, aber auch sie werden brotlos. Und sie sind ja rechtgläubige Christen!«
Die Entscheidung kam bereits nach einer Woche; der Polizeimeister habe nach dem Gesetze gehandelt. Dem unbefugten Querulanten wurde eine Mutwillensstrafe auferlegt.
Der Jude war verzweifelt, aber die Teilnahme seiner Glaubensgenossen rettete ihn aus der Not. Sie standen ja gut mit dem Polizeimeister, sie durften christliche Arbeiter halten. So übernahmen sie dann alle Rechte und Pflichten Reinmanns. Er kam dabei nicht ohne schweren Verlust weg, aber das Schlimmste war vermieden.
Bis zum Herbste blieb alles ruhig. Der Polizeimeister schien des tödlich gehaßten Mannes nicht mehr zu gedenken. Da wurde in einer Oktobernacht des Juden Haus von Polizisten umstellt und durchsucht, er selbst aus dem Bette gerissen und ins Gefängnis geschleppt. Mit Ketten gefesselt lag er dort acht Tage auf faulendem Stroh bei Wasser und Brot. Endlich erfuhr er, wessen er beschuldigt wurde: er habe seinem Nachbar, dem Küster, ein Säckchen Getreide gestohlen. Dasselbe war bei der Haussuchung im Keller vorgefunden worden, und der Küster hatte durch Eid erhärtet, daß das Säckchen Weizen sein Eigentum sei und ihm kürzlich abhanden gekommen.
Das war auch gewiß kein Meineid. Aber ebensowenig zweifelte jemand, wie das Säckchen in des Juden Haus gekommen: durch die Polizisten selbst, bei der Haussuchung.
Die Familie des Unglücklichen bot alles auf, ihn aus dem Kerker zu befreien, oder mindestens aus den Händen seines Todfeindes. War in der Tat seine Schuld so offenkundig, so hatte die Polizei kein weiteres Anrecht auf ihn, sondern die judizielle Instanz, der Stadtrichter. Ein tragisches Zusammentreffen spornte noch diesen Eifer der Verwandten. Das Weib Reinmanns, ohnehin immer kränklich und hinfällig, war einige Tage nach seiner Verhaftung an den Folgen des Schrecks und aus Kummer verschieden. Sie mühten sich daher doppelt, den beiden verwaisten Kindern mindestens den Vater baldmöglichst zurückzugeben.
Der Stadtrichter war ihnen dabei behilflich, vielleicht auch nicht ohne äußere Gründe – gleichviel! er bestand energisch auf seinem Rechte, den Gefangenen ausgeliefert zu erhalten. Der Polizeimeister tat es gleichwohl erst dann, nachdem er von den Verwandten fünfhundert Rubel hierfür erhalten.
Die Untersuchung dauerte kurz. Der Angeschuldigte wurde, trotz des corpus delicti, freigesprochen. Das Gericht, hieß es in dem Urteil, habe gleichwohl die Überzeugung gewonnen, daß ein Mann von dem Charakter und Vermögen Reinmanns sich unmöglich soweit habe vergessen können, seinem Nachbar ein Säckchen Weizen zu stehlen.
Auch dies Urteil mag, trotz der Unschuld Reinmanns, einiges Bargeld gekostet haben; es ging aber nicht anders.
Als der Jude wieder in sein Haus trat und den Tod seines Weibes erfuhr, entlud sich sein Schmerz in heißem, tagelangem Weinen. Dann aber wurde er merkwürdig ruhig, so ruhig, daß es den Kindern und Verwandten fast unheimlich war. »Jetzt will ich erst mein eigentliches Recht suchen«, sagte er, und wenn sie ihm sein eigenes weises Sprüchlein vorhielten: »Du wirst Rußland nicht anders machen«, so schüttelte er den Kopf und sagte: »In diesem einen Stück muß ich es versuchen, wenn nicht um meinet-, so doch um Gottes willen. Er, der Ewig-Gerechte, soll auch hier nicht zuschanden werden!«
Was er plante, erzählte er niemand. Man erfuhr es erst später, daß er habe nach Petersburg gehen und dem Zaren seine Geschichte erzählen wollen.
Ein Zufall, scheinbar günstig, ersparte ihm die Reise. Ein Mitglied des kaiserlichen Hauses sollte in den nächsten Tagen auf seinem Wege aus dem Ausland nach Kiew ein Nachbarstädtchen passieren und daselbst Nachtruhe halten. Dem Großfürsten ging ein guter Ruf voraus; man sagte ihm nach, daß er ebenso edel wie energisch sei; man freute sich, daß ihm ein wichtiger Verwaltungsposten in Kiew zugefallen.
Der Ruf trog nicht, das sollte auch Berisch Reinmann erfahren. Es kostete ihn viel Geld und Mühe, noch am späten Abend eine Audienz bei dem hohen Herrn zu erhalten; aber als er vor ihm stand, da schien auch alles gewonnen. Der junge Prinz hörte ihn trotz der Ermüdung leutselig an und geriet in tiefste Erregung. »Entsetzlich«, rief er und rang die Hände; die Tränen traten ihm in die Augen. Seine rein menschliche Anteilnahme wie sein Patriotismus hatten gleichen Anteil an dieser Erregung. »Ich danke Ihnen!« rief er. »Sie haben recht, derlei darf die Sonne nicht bescheinen!« Er notierte sich alles ausführlich. »Ich werde den Fall untersuchen lassen, strengstens, sofort, wenn ich in Kiew anlange. Ich werde das Gouvernement anweisen.«
»Das Gouvernement?« fiel ihm der Jude ins Wort. Und er erzählte ihm die Geschichte von dem Vetter.
Wieder geriet der Fürst in tiefste Erregung. »Das ist ja furchtbar!« rief er. »Dann sind ja auch jene Verleumdungen, welche elende Buben im Auslande –«
Er stockte. Es übermannte ihn, daß ja dann jene Männer im Exil keine »elenden Buben« seien und ihre Anklagen keine Verleumdungen.
Er wendete sich ab. Dann trat er das gebückte Männchen hart an. »Lügen Sie nicht?« fragte er und bohrte ihm die blitzenden Augen ins Antlitz.
Der Jude hielt den Blick ruhig aus. »Es ist alles wahr«, sagte er feierlich. »So wahr, als mir meine Kinder teuer sind; so wahr, als ich hoffe, dereinst wieder mit meinem Weibe vereinigt zu sein!«
»Gut« sagte der Großfürst nach einer Pause. »Ich werde die Untersuchung von Kiew aus direkt führen!«
. . . Drei Wochen waren seit dieser Unterredung vergangen, da erhielt der Polizeimeister eines Morgens ein Telegramm aus Kiew aus der Kanzlei des Großfürsten. Es lautete: »Der Kaufmann Berisch Reinmann ist zum Zwecke amtlicher Untersuchung unter strengster Bewachung sofort hierher einzuliefern.«
Der Unhold jubelte. Nun hatte er ja sein Opfer wieder in den Krallen. Das Telegramm legte er sich so aus, daß das Obergericht das freisprechende Urteil des Stadtrichters bemängelt habe und die Untersuchung wegen Diebstahls neuerdings eröffne.
Er ließ Reinmann verhaften, fesseln und stellte ihm einen Zwangspaß aus: »Inquisit, von Kiew requiriert.« Dann beorderte er zwei Kosaken, die den Unglücklichen von Station zu Station, das heißt: von Gefängnis zu Gefängnis, befördern sollten. »Besonders gefährlich«, schrieb er noch überdies hinein, und um jeden Fluchtversuch unmöglich zu machen, befahl er auch zugleich, wie die Kosaken den Mann eskortieren sollten: zwischen den beiden Pferden, die beiden Arme an die Steigbügel gebunden.
Das war alles, was er vorläufig für seinen Todfeind tun konnte. Aber für dessen Kinder konnte er mehr tun. Es waren dies ein sechsjähriger Knabe und ein vierzehnjähriges Mädchen. Die blieben nun ganz verlassen, die Mutter war tot, der Vater in Haft. Das Gesetz schreibt vor, daß in solchen Fällen sich die Behörde der Verlassenen annehmen müsse. Der Polizeimeister nahm sich ihrer an und versorgte sie. Den Knaben steckte er in das nächste griechisch-orthodoxe Kloster. Welchem Hause er aber das Mädchen anvertraute, das zarte, reine, bisher ängstlich behütete Kind, das – sträubt sich die Feder, niederzuschreiben.
Es dauert lange, bis man von der Grenze nach Kiew kommt, besonders wenn man die Reise in der Art machen muß, wie Berisch Reinmann. Hätte ihn nicht eine wilde, verzweifelte Energie aufrecht erhalten, er wäre wohl den unsäglichen Mühsalen dieser Wanderung erlegen.
Endlich, endlich war Kiew erreicht. Zwei Tage saß er dort im Kerker, da trat am dritten Morgen in aller Frühe ein junger Offizier, ein Adjutant des Großfürsten, in seine Zelle.
»Kommen Sie!« rief er ihm atemlos entgegen. »Der Großfürst ist trostlos über das Mißverständnis, dessen Opfer Sie geworden sind. Er erwartet Sie in seinem Schlosse!«
»Ein Mißverständnis!« murmelte der gebrochene Mann und ließ die Tränen fließen, die ihm ungestüm aus den Augen brachen. Alle Qual hatte er tränenlos ertragen, die jähe Rettung warf ihn fassungslos nieder.
Auch der Adjutant war erschüttert. Er geleitete den Wankenden sorglich zum Wagen und hob ihn hinein. »Der Großfürst wird Ihnen alles aufklären«, sagte er. »Ich bin überzeugt, Sie werden die glänzendste Genugtuung erhalten.«
Der Jude nickte stumm. »Mein armes Weib wird doch nicht wieder lebendig«, dachte er, »und was ich gelitten habe, kann mir auch niemand ersetzen und vergüten.«
Laut aber fragte er: »Gnädiger Herr, wie ist es zugegangen?«
Der Adjutant konnte es ihm ganz genau erzählen.
»Ein Mißverständnis!« betonte er. Es war in der Tat nur ein solches. Als der Großfürst in Kiew ankam, erinnerte er sich seines Versprechens und ließ den Präsidenten des Tribunals zu sich bitten, um den Fall mit ihm zu beraten. Der Präsident empfahl, den Juden nach Kiew kommen zu lassen, um vor allem ein sicheres Substrat der Anklage zu gewinnen und ferner, weil dieser Hauptzeuge hier unbeeinflußt bleiben könne. Denn er erinnerte sich aus seiner Praxis manchen Falles, wo derartige Untersuchungen zu keinem Resultate geführt – man hätte nämlich inzwischen auf die Beschädigten durch Drohungen oder Geld so energisch eingewirkt, daß sie sich urplötzlich nicht mehr für beschädigt erachteten. Der Großfürst meinte, er glaube nach dem Eindruck, den ihm der Mann gemacht, wohl nicht an eine solche Gefahr, stimme aber im übrigen zu, daß er hierher gebracht werde.
In seinem Eifer übernahm er es selbst, dies zu veranlassen, und sagte seinem vortragenden Rat: »Sorgen Sie dafür, daß der Kaufmann Berisch Reinmann aus B. sich baldmöglichst hier einfindet.« Aber ein vortragender Rat führt natürlich solche Aufträge nicht selbst aus. Er sagte darum einem der Departements-Chefs der Kanzlei: »Der Großfürst wünscht, daß der Kaufmann X. baldmöglichst hierher gebracht wird. Sie bürgen mir für die genaue Ausführung, es ist eine Amtssache.« Worauf der Departements-Chef seinem Sekretär auftrug: »Lassen Sie den Kaufmann X. sofort unter allen Vorsichtsmaßregeln und strengster Bewachung zum Zwecke amtlicher Untersuchung hierher schaffen.« Der Sekretär aber wendete sich natürlich sofort telegraphisch an jene Behörde, welcher die Vollziehung solcher Aufträge für ihren Sprengel oblag, an das Polizeiamt von B.
Der Jude schwieg, als ihm der Adjutant diese Geschichte auf dem Wege zum Schlosse erzählte, und nickte nur immer, als verstünde sich alles von selbst, was da geschehen, und als müßte er es billigen. Dann, nachdem er eine Weile mit geschlossenen Augen dagesessen, schlug er sie plötzlich voll auf und sagte mit lauter, harter Stimme einen hebräischen Spruch vor sich hin.
»Was heißt das?« fragte der Offizier.
»Ein Spruch unserer Väter«, war die Antwort. »Übersetzen läßt er sich schwer.«
Dieser Spruch aber, einer der düsteren, dunklen Sätze der Kabbala, lautete: »Aus Fluch wird Fluch, und aus Sünde wird Sünde bis ins letzte Glied. So aber die Sünder fühlen, daß ihr Maß voll ist, und ihnen grauet vor Gottes Gericht und sie wollen büßen und sühnen, so wird er ihren Verstand verwirren, und aus der Sühne wird wieder Sünde werden, auf daß sich an ihnen erfülle, was sie verdient.«
Der Großfürst empfing ihn freundlich und doppelt freundlich, als er sah, wie furchtbar der Unglückliche sich in den wenigen Wochen verändert. »Es soll Ihnen Gerechtigkeit werden«, versprach er und hielt auch sein Wort, so weit er konnte.
Acht Tage später stand der abgesetzte Polizeimeister in Kiew vor dem Großfürsten. Auch der Jude war zugegen. Anfangs leugnete der Mann heftig, je Erpressungen geübt zu haben, und »hielt es unter seiner Würde, sich gegen einen solchen notorischen Dieb zu verteidigen.« Aber mitten während des Verhörs wurde dem Großfürsten ein Telegramm überbracht, welches eben aus B. angelangt. Die Polizisten hatten dem dorthin entsendeten Untersuchungskommissar gestanden, daß sie jenes Säckchen mit Getreide vom Polizeimeister vor der Haussuchung erhalten und mitgenommen, um es dann geschickt im Keller zu »finden«.
Da leugnete der Elende nicht mehr, sank in die Knie und winselte um Gnade.
Schon zwei Tage darauf stand er vor den Richtern. Reinmann wohnte der Verhandlung auf der Zeugenbank bei.
Die Prozedur war kurz. Das Urteil lautete auf zwanzigjährige Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken und Ersatz der erpreßten Summen an Reinmann.
Nach der Publikation erbat sich der Ruchlose das Wort. Er sagte: »Ich weiß, daß es keine Appellation gegen das Urteil gibt, und nehme es an. Um aber dem hohen Gerichtshofe zu beweisen, daß ich im Grunde meines Herzens doch ein guter Mensch bin, will ich den Juden hier aus der Besorgnis reißen, die ihn gewiß um seiner Kinder willen erfüllt. Ich habe gut für sie gesorgt, mein Herzensfreund!«
Der Jude beugte sich zitternd vor und heftete seine Augen in Todesangst auf das Antlitz des Feindes.
»Sehr gut!« fuhr dieser langsam fort. »Was zunächst deine Tochter betrifft, so habe ich sie zu einer Frau gegeben, die sich bereits manches vereinsamten jungen Mädchens angenommen hat, zur alten Iwanowna – du kennst sie, Berisch?«
Er kannte sie. Seiner Brust entfuhr ein Schrei, so wild, so schrill, daß die Richter entsetzt von ihren Sitzen auffuhren.
»Und was deinen Sohn betrifft«, fuhr der Unhold fort, »so mußt du mir gleichfalls dankbar sein! Er wird nicht in der Hölle braten wie du, ungläubiger Jude! Die hochwürdigen Mönche haben ihn getauft, er wird in Christi Reich eingehen!«
Da griff sich der Unglückliche an's Herz und sank ohnmächtig zu Boden.
Man fürchtete anfangs, er werde wahnsinnig werden oder sterben vor Schmerz. Aber das Menschenherz kann mehr erdulden, als man gewöhnlich glaubt. Berisch Reinmann blieb leben.
Der Großfürst sorgte dafür, daß ihm die Tochter sofort zurückgegeben wurde. Den Sohn konnte auch er dem Vater nicht zuwenden, hier hatte seine Macht ihre Grenze. Wer in den Schoß der herrschenden, rechtgläubigen Kirche in Rußland aufgenommen worden, darf ihr nicht wieder entzogen werden. Schon der Versuch ist ein Kapitalverbrechen, welches mit dem Tode bestraft wird – noch heute!
Berisch Reinmann blieb in B., weil sie ihm die Tochter sterbenskrank ins Haus gebracht, und harrte ihrem Tode entgegen. Er wußte, daß sie nicht genesen könne – sie hatte zu Furchtbares erduldet . . . Nach ihrem Tode übersiedelte er nach Czernowitz. Das ist die Geschichte von meinem Onkel Bernhard.
Es sind zwölf Jahre seitdem verflossen, lange volle, schwere zwölf Jahre, aber wär' ich ein Maler, ich könnte doch alles aufzeichnen, Zug um Zug, so überaus deutlich steht es vor meinen Augen. Sogar an das graue Röcklein weiß ich mich zu erinnern, das mein Nachbar zur Linken trug, der Moses Salzmann, und an die Stiefelhosen des Theodor Bohusiewicz. Aber ich bin leider nur ein Zeichner in Worten geworden und muß es daher so versuchen. Denkt euch also einen recht düstern, regnerischen Februartag und in seinem Licht ein recht düsteres, verregnetes Städtlein und in einer der koterfüllten Straßen ein großes, graues, unheimliches Haus und in diesem Hause eine große, graue, unheimliche Stube. Freilich zittert für mich, während ich dies niederschreibe, hellgoldiger Sonnenschein über dies düstere Bild, der Sonnenschein der Erinnerung an die eigene Jugend. Denn ich sehe ja auch mich unter den vielen fünfzehn-, sechzehnjährigen Jungen, die da auf niedrigen Schulbänken beisammensitzen in jener grauen Stube. Bang und klopfenden Herzens sitzen wir da und blinzeln nur zuweilen scheu nach dem Katheder hin, als stände dort ein Tiger oder ein Gespenst oder gar der Herr Direktor.
Es steht aber nichts Ähnliches dort, sondern im Gegenteil ein hübscher, freundlicher junger Mann, der eben lächelnd den Knoten einer Schnur löst, durch die ein Haufen von Heften zusammengehalten wird. Das ist der Professor des Latein, Herr Wilhelm Lang, und diese Hefte sind unsere Hauspensa. Er lächelt, weh uns, wir kennen dieses Lächeln. Wer die Aufgabe schluderhaft gearbeitet, erbleicht, und wer sie gar von anderen abgeschrieben, knickt zusammen wie ein Taschenmesser. Aber selbst durch die Reihen der ›Vorzugisten‹ geht leises Beben. Denn wer kann sich rühmen: »Ich bestehe vor Professor Lang«, und wer darf von sich sagen: »Ich bin ein Gerechter in seinen Augen?!«
Er lächelt – ach! Er lächelt immer stärker. Und nun ergreift er eines der Hefte und hält es hoch empor. »Raten Sie«, fragt er, »wer hat die Aufgabe am besten gearbeitet?«
Tiefste Stille. Nur einige Seufzer werden hörbar.
»Nun – niemand? Also, die beste Arbeit ist die unseres weisen Aristides, Aristides Lewczuk.«
Das ist ein Witz. Und darum wird in den ersten drei Bänken, wo die braven Schüler sitzen, pflichtschuldigst gelacht und in den mittleren Bänken, wo die minder braven Schüler sitzen, minder pflichtgemäß gekichert. In den letzten Bänken aber, wo die Trotzigen und die Faulen hocken, die verkannten Genies und die Spezies, denen immer »Unrecht« geschieht, dort lacht man nicht und kichert man nicht, wenn ein Professor einen Witz macht. Dort bleibt es grabesstill. Aber warum ist das mit dem weisen Aristides ein Witz? Und wer ist Aristides Lewczuk?!
Quintaner, Quintaner des Gymnasiums zu Czernowitz. Aber noch manches dazu. Seht ihn euch nur einmal an, den großen, plumpen, sechsundzwanzigjährigen Menschen – dort, nahe an der Wand, auf der hintersten Bank. Er hat den Spitznamen »das Faultier«, und wer ihn so in seiner Bank, in welcher er Alleinherrscher ist, lümmeln sieht, das gelblich aufgedunsene Antlitz mit den schwarzen, glotzigen Äuglein auf beide Arme gestützt, wird die Bezeichnung nicht so ganz unpassend finden. Er ist soeben durch einen freundschaftlichen Nasenstüber seines Vordermannes aus sanftem Dusel aufgewacht und blickt nun nicht sonderlich geistreich um sich. Geistreich sein ist überhaupt nicht seine Sache. Der arme Junge! Bis zu seinem vierzehnten Jahr hat er selig und zufrieden zu Mamornitza gelebt, dem schmutzigen Rumänendörflein an der Grenze, allwo sein Vater Ortsrichter ist, und kein Drang nach dem Höheren hat ihn gequält. Aber das war leider bei seinem Vater der Fall: Aristides mußte studieren und Priester werden. Und so ist der arme, dumme Junge zur Stadt gekommen und hat die Volksschule absolviert. Ach, nur Gott hat die Tränen und die Schläge gezählt! Darauf freilich hat Aristides dem Vater erklärt, ihm scheine, er habe »keinen Kopf für das Lateinische«. Aber der Herr Ortsrichter war anderer Ansicht, und so hat sich Aristides in sein Schicksal gefügt, eine Leuchte der griechisch-nichtunierten Christenheit zu werden. Freilich scheint sich gleichzeitig die Überzeugung bei ihm ausgebildet zu haben, besagte Christenheit habe es nicht so eilig. Denn er hat sich nicht überstürzt und genau acht Jahre für das Untergymnasium gebraucht. Und nun sitzt er in der Quinta, in der letzten Bank, der arme, tölpelhafte, vielgehänselte ›ultimus ultimorum‹ . . .
»Lewczuk!« sagt der Professor – Aristides erhebt sich zögernd und kratzt sich hinter dem Ohr –, »daß ein anderer die Aufgabe abgefaßt hat, ist klar, denn sie ist nicht bloß grammatikalisch richtig, sondern in fast elegantem Latein geschrieben. Und darum begnüge ich mich nicht damit, Ihnen eine ›Dritte‹ einzuzeichnen und dazu die Note ›Hat zu betrügen versucht‹« – Aristides kratzt sich stärker –, »sondern ich frage Sie auch sehr ernst: Wer ist der Autor?! Ein Gymnasiast ist's nicht!« Aristides schweigt.
»Nun – wird's bald?«
»Ich kann nicht sagen, wer ist«, stammelt Aristides endlich weinerlich in seinem schwerfälligen Deutsch, »ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil er kriegt sonst gleich fünfundzwanzig.«
Wir brechen in stürmisches Lachen aus, auch der Professor lächelt. Nur Aristides bleibt todernst. »Herr Hauptmann laßt ihm gewiß geben«, fügt er bestätigend hinzu.
»Kommen Sie her, Lewczuk!« ruft Lang ungeduldig. Aristides avanciert langsam, bis er endlich vor dem Katheder steht. »Ist denn Ihr bißchen Verstand auch noch rebellisch geworden? Wer hat die Aufgabe gemacht?«
»Der lateinische Kanonier hat gemacht . . . Ich weiß nicht, wie er heißt . . . Andere Soldaten sagen immer ›Lateiner‹. Herr Hauptmann ruft auch ›Lateiner‹.«
»Und wo haben Sie diese merkwürdige Bekanntschaft gemacht?«
»Bei uns – im Hof – bei der Frau Terlecka. Da wohnt auch Herr Hauptmann mit Pferde. ›Lateiner‹ ist Privatdiener vom Herrn Hauptmann, bedient Pferde . . .«
Die Klasse windet sich in Lachkrämpfen. »Und dieser Pferdeknecht hat die Aufgabe verfaßt?« ruft der Professor. »Wer ist denn dieser Mensch?«
»Sehr guter Mensch!« versichert Aristides. »Brave Seele, aber ist immer traurig, immer traurig, krank, so auf der Brust. Kommt er neulich zu mir, sagt: Sie sind Student? Sag' ich: Ja! Sagt er: Ich bitte, leihen Sie mir Bücher. Sag' ich: Ich hab' nur Schulbücher. Sagt er: Leihen Sie mir Schulbücher. Geb' ich Mathematik. Fragt er: Vielleicht Klassiker? Frag' ich: Können Sie Lateinisch, Griechisch? Sagt er: Ja! Geb' ich ihm Ovid, liest er Ovid. Geb' ich ihm Xenophon, liest er Xenophon. Geb' ich ihm Homer, liest er Homer. Ohne Wörterbuch – kann sehr gut! Frag' ich: Warum sind Sie gemeiner Soldat? Sagt er: Schon fünfzehn Jahre – erzählt mir – wegen Paket, wegen Spitzel, wegen schlechte Menschen.«
»Wie?« unterbrach ihn der Professor erstaunt.
»Wegen Paket«, wiederholte Aristides unerschütterlich, »wegen Spitzel, wegen schlechte Menschen. Wissen Sie – Prager Revolution. Hör' ich zu, Herz tut mir weh, sag' ich: ist traurig! Frag' ich: Aber können S' vielleicht diese Aufgabe machen? Sagt er: Ja! Sag' ich: Also machen S'. Macht er. Schreib' ich ab.«
Der Professor war ernst und nachdenklich geworden. »Wohnt jemand von Ihnen in der Nähe des Lewczuk?« fragt er dann.
Ich meldete mich.
»Bitte, lassen Sie sich von Lewczuk hinführen. Sprechen Sie mit dem Mann, und berichten Sie mir dann darüber. Vielleicht läßt sich etwas für ihn tun.«
Die drei Schulstunden des Vormittags waren vorüber. Ich ging mit Lewczuk durch die kotigen, schmutzigen Gäßchen, auf denen der dicke Nebel lag, seiner entlegenen Wohnung zu – in der »Russischen Gasse«. Mein Mitschüler war so aufgeregt, als es nur überhaupt möglich war bei so glücklicher Naturanlage. »Verflucht, wann aufkommt«, meinte er in seinem sonderbaren Deutsch. »Hauptmann bekommt Wind – wird bös – laßt fünfundzwanzig geben – Mensch ist krank – wird hin – wer ist schuld? Ich!« Dann aber meinte er: »Was, ich? Nicht ich! Er selbst! Sag' ich ihm gleich: Ich bin kein Primus – ich bin kein Vorzugist – ich bin ein schlechter Schüler. Machen S' also Fehler hinein: vier Fehler – genügend – oder fünf – hinreichend – oder sechs – zur Not ausreichend. Aber – so er verspricht – macht doch ohne Fehler – natürlich! – Lang riecht Braten!« Ich erlaubte mir bescheiden zu fragen, warum mein geehrter Kollega nicht bestrebt sei, durch eigene Kraft nur sechs Fehler in einer Aufgabe zu machen. »Nützt nichts«, meinte er in fatalistischer Ergebung, »bin ja erstes Jahr in Quinta, muß ja ohnehin repetieren. Kein Kopf – zu dumm. Aber schadet nichts! Will ich denn ein Doktor werden? Nein! Oder Advokat? Nein! Oder Professor? Nein! Also – nur Pfarrer – Dorf, Bauern – Kopf gut genug!« Dieses Bekenntnis legte er mir an der Pforte seiner Wohnung ab. Wir wateten durch den Kot des Hofes. »Dort Stallung«, sagte Aristides und wies auf einen kleinen, halb verfallenen Bau, »dort wirst finden. Ich geh' Schlaf machen – bis Mittag. Servus!« Und fort war er.
Ich trat in die Stalltür. Zwei glänzend gestriegelte Pferde wieherten mir entgegen, an den Wänden hingen Waffen und Monturstücke. Schon wollte ich mich zurückziehen, da klang mir aus dem Hintergrund, wo ein Lager sein mochte, heftiges Husten entgegen und dann die Frage: »Was wünschen Sie?«
Ich blickte hin, vermochte aber im düstern Licht dieses Tages nichts wahrzunehmen. So rührte ich an den Hut und sagte so in die Dämmerung hinein: »Ich wünsche den Herrn lateinischen Kanonier zu sprechen.«
Der Mann erhob sich und trat mir entgegen. Er war ziemlich hoch gebaut, aber die Haltung war schlaff, die Gestalt verfallen. Er mußte sehr krank sein, hoffnungslos krank. Man sah es auch an dem Gesicht. Es war fahl und eingesunken und düster, so entsetzlich düster. Und noch etwas anderes las man aus diesem Gesicht: daß Reithose und Stalljacke nicht die rechte Bekleidung für diesen Menschen sind. Ich weiß nicht, wie es kam, aber – ich zog den Hut.
»Ich bin der Kanonier, den Sie suchen.« Ein leises, leises Lächeln spielte dabei um seine Mundwinkel. Hierdurch wurde ich erst inne, daß ich, der Wildfremde, ihn eigentlich bei seinem Spitznamen genannt. Dies machte mich so verlegen, daß ich die Erzählung von dem Hauspensum unseres Aristides und dem Auftrag Langs nur sehr verwirrt hervorbrachte.
Er sah mich dankbar an mit seinen traurigen blauen Augen. »Ich danke dem Herrn Professor für seine Freundlichkeit und Ihnen für die Mühe – ich danke Ihnen herzlichst. Es tut mir leid, daß der arme Lewczuk Verdruß gehabt hat, aber die ›sechs Fehler‹ habe ich wirklich vergessen. Ich hab's überhaupt nicht gern getan, aber ich war ihm auch Revanche schuldig für die Bücher, die er mir geliehen hatte. Und die Aufgabe war richtig?«
»Und wie! Der Herr Professor hat gleich gesagt: Das hat kein Gymnasiast geschrieben!«
»Ja«, sagte er, »wenn man einmal sein Leben an etwas gewendet hat, so vergißt man's nicht so leicht wieder.« Er hustete krampfhaft, und ich sah entsetzt, wie ihm einen Augenblick lang blutiger Schaum auf die Lippen trat. Dann ließ der Anfall nach, und er fuhr fort: »Seit fünfzehn Jahren habe ich kein lateinisches Buch in der Hand gehabt. Nur den Homer hatte ich.« Er ging nach seinem Lager und brachte mir das kleine, dicke, abgerissene Büchlein – eine alte Duodezausgabe der Iliade und der Odyssee. »Das hatte ich in jener Nacht vom 9. auf den 10. Mai 1849, da sie mich zu Prag aus dem Bett rissen, zu mir gesteckt und seitdem, wie durch ein Wunder, überall durchgeschmuggelt. Ich sollte dem Buch eigentlich zürnen«, fuhr er mit entsetzlichem Lächeln fort, »es hat mich am Leben erhalten.«
»Oh, ich weiß«, rief ich, »Sie waren bei der Prager Revolution!«
Er schüttelte den Kopf. »Nein! Ich habe mich nie um Politik gekümmert. Ich war ein stiller, fleißiger Student der Philologie, der nur seinen Studien lebte. Mein Verbrechen war ein anderes: Ich habe einmal einen gekannt, der sich um Politik kümmerte.«
»Wie?!« rief ich entsetzt. »Und darum hat man Sie so behandelt?«
»Ja, darum!« Dann aber meinte er ablenkend: »Sagen Sie, ich bitte nochmals, dem Herrn Professor, daß ich ihm herzlich danke, aber ich wüßte kaum, was sich noch etwa für mich tun ließe.«
»Aber, Sie sind ja krank! Sie können ja unmöglich länger hier bleiben – in dem feuchten Stall!«
»Es wird ja bald Frühling!« erwiderte er mit einem Lächeln, welches mir durchs Herz schnitt. »In der schönen Zeit wird mir immer besser. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, mein junger Freund, so werde ich sogar in diesem Frühling gesund, ganz gesund!«
Mir schossen die Tränen in die Augen. »Sprechen Sie nicht so!« bat ich. »Es kann ja noch alles gut werden! Wir haben ja jetzt den Schmerling!« Ich erinnerte mich, wie drei Jahre vorher, Ende Februar 1861, die ganze Stadt und insbesondere das Gymnasialgebäude zu Ehren der Februarverfassung beleuchtet gewesen und wie wir Schüler auf Anweisung unseres Klassenlehrers damals ein riesiges Transparent angefertigt: ›Libertas et justitia Austriae fundamenta‹. Und darum fuhr ich fort: »Wir haben ja jetzt eine Konstitution. Jetzt darf niemand länger Unrecht geschehen. Jetzt ist ja Österreich auf Freiheit und Gerechtigkeit erbaut.«
Er lächelte, lächelte so sonderbar, daß ich stockte. Ich habe mich oft dieses Lächelns erinnern müssen – am 30. Juli 1865 – am 6. Februar 1871. Und wer weiß, wie bald mir wieder dieses Lächeln wird einfallen müssen?
»Vielleicht können wir«, schloß ich, »Ihnen einstweilen Ihr Los erträglicher machen. Sie wünschen Bücher?«
»Oh!« rief er erfreut, »das wäre freilich sehr schön! Wenn Sie diese Güte haben wollten! Sie wissen gar nicht, wieviel Sie da an mir täten!« Er war wie elektrisiert, seine Augen glänzten. »Wenn mir der Herr Professor einen tüchtigen Kommentar zum Homer leihen könnte! Oder ist vielleicht eine neue bedeutende Streitschrift über die Entstehung dieser Epen erschienen? Ich bin in dieser Frage ein Anhänger des Alten von Halle, Friedrich August Wolfs. Dann vielleicht Horaz. Sehen Sie, wie ich gleich unersättlich bin! Und dann: Schillers Gedichte möchte ich auch noch einmal gern lesen, bevor ich – bevor es Frühling wird!«
»Alles will ich besorgen«, versprach ich eifrig. »Die Klassiker hole ich nachmittags vom Herrn Professor, aber den Schiller habe ich selbst, den hole ich gleich!«
Ich lief heim und brachte ihm das Buch. Die Art, wie er danach griff und zitternd die erste Seite aufschlug und halblaut zu lesen begann, werde ich niemals vergessen.
Darauf ging ich zu Lang und erzählte ihm alles. Er war tief erschüttert und zeigte die lebendigste Teilnahme. Damals sah ich erst, wie edel und gut der Mann war und daß seine Schärfe gegen uns nur das Ergebnis eines vielleicht nicht ganz richtigen pädagogischen Kalküls. Er hätte mir gern gleich seine ganze Bibliothek mitgegeben. Beladen wie ein Maulesel trabte ich in die »Russische Gasse«. Gleichzeitig überbrachte ich eine Einladung des Professors, ihn doch ja baldmöglichst zu besuchen. Der arme Kanonier war bis zu Tränen gerührt. Alle Bücher schlug er auf und las die Titel und rief einmal über das andere: »Oh, daß ich das noch erlebe!« Dann brachten wir alles in Lewczuks Stube. Hier, im ärarischen Stall, waren die Bücher nicht vor Konfiskation sicher. Der wackere Aristides begriff zwar die Freude des armen Lateiners nicht recht, aber er teilte sie. »Freut sich über Bücher«, sagte er erstaunt zu mir, »ich freu' mich nie über Bücher. Aber wann sich nur freut – armer, kranker Mann – freu' ich mich auch!«
Auch die Einladung nahm der Kanonier dankbar an. »Am nächsten Sonntag«, sagte er, »wenn mein Hauptmann auf der Jagd in Zuczka ist.«
Ich führte ihn an gedachtem Tage in das Haus des Professors und durfte auch dableiben. Es war ordentlich rührend zu sehen, wie der gebrochene, todkranke Mann gleichsam neu auflebte im Verkehr mit einem gebildeten Mann, der lebhaftesten Anteil an ihm nahm und überdies dieselben gelehrten Studien betrieb wie einst er selbst. Und an jenem Tage erzählte er uns die Geschichte seines Leben, eine schlichte, hausbackene Geschichte und doch voll zermalmender Tragik.
»Ich heiße Franz Bauer und bin im südlichen Böhmen bei Budweis geboren. Meine Eltern waren sehr arme Leute, und ich mußte mich ganz durch eigene Kraft emporringen. Schon während der Gymnasialzeit erhielt ich mich von Privatlektionen und half mir dann auch durch die beiden philosophischen Jahrgänge und später auf der Universität auf gleiche Weise fort. Ich bezog die Prager Hochschule 1847 und studierte Philologie. Die Klassiker waren mir schon früher lieb und wert gewesen, jetzt vollends wurde mir mein Studium zur Leidenschaft, die mein ganzes Sinnen und Trachten ausfüllte. An der Bewegung von 1848 nahm ich so gut wie gar keinen Anteil, den Prager Junitagen stand ich ganz fern. Nicht etwa, als ob ich stumpf gewesen wäre für die Ideale, die man damals verfocht. – Es waren die Ideale der Nationalität und der Freiheit, und die hatten mir auch meine Alten gepredigt, wenn auch in ihrer Weise, aber ich war keine Natur, die für lautes Treiben, für Demonstrationen und Agitationen paßte. Ich war ein stiller, scheuer Mensch und kannte mich eigentlich nur in meinen Büchern aus. Damals begann ich auch die Vorarbeiten für eine große Abhandlung: ›Über die Entstehung der homerischen Epen‹. Der Winter verging mir in rastloser Arbeit, der Frühling von 1849 kam. Da entlud sich das Unglück über mich, jäh und plötzlich wie der Blitz.
Ich verkehrte damals hie und da mit einem Landsmann und Studiengenossen, der Mitglied der damaligen Burschenschaft ›Marcomannia‹ war. Er war ein braver, fleißiger Mensch, dabei schwärmerisch und den revolutionären Ideen mit Leib und Seele ergeben. Der kam nun eines Tages im März zu mir und erzählte mir, es habe sich ein großer Geheimbund gegen die ›schwarzgelbe Tyrannei‹ gebildet, dem auch er angehöre. Der Bund bestehe aus jungen Leuten aller Stände, Deutschen und Tschechen, und habe Fühlung mit dem Landvolk und durch einige Offiziere böhmischer Regimenter auch mit dem Militär. Zweck des Bundes sei, sich des Prager Hradschins und sämtlicher Festungswerke zu bemächtigen. Auf dieses Signal hin werde sich das ganze Land erheben. Er lud mich ein, dem Bund beizutreten, was ich rundweg abschlug. Auch warnte ich ihn, sich nicht in so gefährliche Dinge einzulassen. Er aber meinte, erstens sei es Pflicht, das Vaterland zu befreien, zweitens könne die Sache gar nicht fehlschlagen, denn der Prager Bund stehe nicht allein, er habe durch den russischen Agitator Bakunin Fühlung mit einer großen revolutionären Liga in Dresden und unterhalte Beziehungen zu Görgey, der ja die k. k. Truppen ununterbrochen schlage und sehr bald in Pest, bald auch in Wien sein werde. Überdies stehe der Bund unter der Leitung bewährter und erfahrener Patrioten.
Natürlich blieb ich trotzdem bei meiner Weigerung und Warnung, und er brach verstimmt ab, nachdem er mir noch das Versprechen abgenommen, nichts von den anvertrauten Geheimnissen zu verraten. Wir sprachen auch in der Folge nicht wieder über das Thema, und ich vergaß fast die Sache. Sonderlich viel interessiert hatte sie mich überhaupt nicht; sie war mir mehr als eine törichte, knabenhafte Schwärmerei erschienen denn als etwas Ernstes. Da sollte ich fürchterlich daran erinnert werden.
Mein Freund und Landsmann hatte mich auch in der Folge, während des April, mehrere Male besucht. Er pflegte mich gewöhnlich am späten Nachmittag abzuholen, worauf wir bis in die Nacht hinein einen größeren Spaziergang machten. So kam er auch in der Abenddämmerung des 9. Mai zu mir, wie wir schon früher verabredet. Er trug ein großes versiegeltes Paket unter dem Arm. ›Da bin ich‹, sagte er. ›Aber nun mußt du mich auf meine Stube begleiten, da will ich das Paket hier in Sicherheit bringen. Dann stehe ich zu deiner Disposition.‹ Da er aber in einem entlegenen Gäßchen der Kleinseite wohnte und wir einen Spaziergang in entgegengesetzter Richtung geplant hatten, so meinte ich lachend: ›Laß doch deinen Schatz bis morgen hier, hier ist er auch in Sicherheit. Was ist denn drin?‹ – ›Allerlei Papiere‹, erwiderte er und ging auf meinen Vorschlag ein. Wir gingen fort und verbrachten einige recht angenehme Stunden. Gegen zehn Uhr kehrte ich heim, las noch einige griechische Verse und schlief dann ein.
Es mochte gegen drei Uhr morgens sein, da weckte mich Gepolter an meiner Tür. Erschreckt fuhr ich auf. Ich hörte draußen den Jammerruf meiner alten Hausfrau, die barsche Frage: ›Wo schläft er?‹ und dazu das Geklirr von Waffen. ›Die Soldaten!‹ rief ich entsetzt und sprang auf. Mein erster Gedanke war das verhängnisvolle Paket. Das mußte ich beiseite bringen. Aber es war zu spät, da war schon die Patrouille im Zimmer. Ich ward verhaftet, meine Bücher flüchtig durchstöbert, meine Papiere, darunter das Paket, welches ich noch immer in der Hand hielt, zusammengerafft und fortgeschleppt. Dann zerrte man mich die Treppe herab und führte mich auf einem Wägelchen durch die dämmerigen Gassen zum Hradschin. An den Straßenecken der Stadt, die noch im tiefen Schlaf lag, war eine Proklamation angeschlagen, welche die Einführung des Belagerungszustandes verkündete. Auch ich sah, wie eben aus einem Haus eine Eskorte heraustrat, in ihrer Mitte ein junger Mensch, ein Student. Er war totenblaß, aber er hielt das Haupt aufrecht und seine Augen leuchteten. ›Hoch die heilige Sache!‹ rief er mir begeistert zu. Ich erwiderte nichts, ich war wie betäubt.
Droben waren die Kanonen auf die Stadt gerichtet, der Hradschin glich einem Feldlager . . . Ich ward in ein Gefängnis geworfen. Hier erst kam ich allmählich zum Bewußtsein meiner Lage. Kein Zweifel, jene Verschwörung, von der mein Freund gesprochen, war entdeckt, ich als Mitschuldiger verhaftet. Man hatte die Papiere bei mir gefunden. Ich wußte nicht, wie man darauf gekommen, aber ich war verloren. Dann aber richtete ich mich wieder auf. Ich war ja unschuldig, und wenn ein Gott im Himmel lebte, so konnte er nicht dulden, daß ich ein Verbrechen büßte, welches ich nicht begangen . . .«
Der Erzähler hielt inne. »Und ich habe es doch gebüßt!« rief er laut und verzweiflungsvoll. »Gebüßt mit meinem ganzen Leben.« Dann beruhigte er sich wieder und setzte hinzu: »Die näheren Umstände haben für Sie wohl wenig Interesse. Ich war durch jenen Freund ins Unglück gekommen, aber nicht mit seinem Willen. Er war kurz nach Mitternacht verhaftet worden. Er war noch wach gewesen, hatte die Tür verriegelt und in fliegender Hast einen Zettel an mich geschrieben: ›Vernichte die Papiere!‹ Den hatte er seinem gleichfalls aus dem Schlaf gestörten jammernden Hausherrn zur Besorgung übergeben. Und dieser, ein seltsamer Biedermann, hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihn samt meiner Adresse dem Führer der Patrouille zu übergeben. Es ging sehr rasch.
Nicht so rasch ging es mit dem Verfahren gegen mich. Erlassen Sie es mir, Ihnen meine Qualen zu schildern, glauben Sie mir, es würde Ihnen das Herz schwer machen. Die Verhandlung rückte langsam vor, und ich erfuhr eigentlich erst während der unzähligen Verhöre vom Auditor, was für ein gefährlicher Mensch ich war. Meine Unschuld kam nicht an den Tag. Die Herren vom Kriegsgericht sprachen mich schuldig. Ich ward zum Tod verurteilt. Die Strafe ward im Gnadenweg zu zwanzigjährigem Dienst im Fuhrwesenkorps gemildert. Was so die Menschen Milde und Gnade nennen!
Fünf Jahre später lernte mich mein Hauptmann kennen. Er war Vorsitzender eines Militärgerichts, welches mich wegen Aufhetzung meiner Kameraden – ich hatte ihnen meine Geschichte erzählt – zur Versetzung in eine Strafkompanie verurteilte. Mein Schicksal rührte ihn, er nahm mich als Privatdiener zu sich und behandelt mich ziemlich menschlich, das heißt, wenn er nüchtern ist. Sehen Sie, das ist mein Leben!« Und leise, sehr leise, fügte er noch hinzu: »Ach! Wenn es nur schon Frühling wäre!«
Ich will nicht beschreiben, was wir beiden Zuhörer bei dieser Erzählung empfanden. Der Professor suchte das Los des Mannes zu mildern, wo er nur immer konnte, und ich trug ihm wenigstens fleißig Bücher zu, da ich doch nichts andres für ihn zu tun vermochte. Seine Ahnung, seine Hoffnung, er werde im Frühling genesen, hat ihn nicht getäuscht.
An einem sehr schönen Maitage – es war ein Sonntag – ging ich mit mehreren Mitschülern die »Russische Gasse« hinab. Wir wollten nach dem Wäldchen von Horecza. Da kam uns Aristides entgegen. Er schlenderte der Stadt zu. »Hei!« riefen wir, »komm mit, Lewczuk!« Er war uns als Sündenbock immer willkommen. Aber Aristides schüttelte ernst das Haupt. »Ich geh' auf Begräbnis«, sagte er, und zu mir gewendet fuhr er fort: »Komm mit, ›Lateiner‹ ist tot, armer, kranker Mann, tut nichts mehr weh. Donnerstag bekommt Blutsturz – Hauptmann laßt ihn in Spital schleppen – Freitag früh gestorben. Heute, vier Uhr, ist Begräbnis – ich hab' Sanitätssoldat Schnaps gezahlt – hat mir erzählt.«
Wir gingen zum Militärhospital. Punkt vier Uhr kam der traurige Zug geschritten – der Leichenzug eines gemeinen Soldaten. Nur ich und Aristides mochten Leid empfinden. Die Zeremonie auf dem Friedhof war sehr kurz. Der Seelsorger sprach ein kurzes Gebet, dann ward der Sarg ins Grab gesenkt, und zwei tschechische Sanitätssoldaten schaufelten es lustig zu.
Ich kann nicht sagen, was ich dabei empfand. Auch Aristides war sehr bewegt. »Wegen Paket«, murmelte er, »warum hat Gott zugelassen?« Warum? Ich weiß keine Antwort darauf. Aber der liebe Gott wohl auch nicht und ebensowenig die – österreichische Regierung.
Es war ein Tag im Herbst, ein schöner, klarer Septembertag. Die Ofener Berge lagen in blauem Dufte schier wie zur Sommerzeit, die blaue Donau schimmerte im Sonnenstrahl, und am Pester Kai wogte der Strom geputzter Spaziergänger auf und ab. Es läßt sich gut wandeln hier am herrlichen Strom zwischen den beiden prächtigen Städten, und es gibt wenige Orte auf Erden, wo ein Blick des Auges soviel Farbenpracht und Fülle der Schönheit umfassen kann. Es gilt dies vor allem von dem Strom, dem Verkehr, den Bauten und ganz besonders von den Frauen. Aber alle Pracht tut auf die Dauer dem Auge weh. Und so ging ich an jenem schönen, stillen Tag am Fluß hin, und der Kai blieb hinter mir und die fashionable Promenade und die geputzten Menschen, und ich ging weiter und weiter, bis mir der sonderbare Blocksberg gegenüberlag. Hier bog ich in eine große öde Straße zur Linken ab, und dann nahm mich ein Gewirr von Gassen und Gäßchen auf, in dem ich mich kaum mehr auskannte.
Ein größerer Gegensatz zweier Stadtviertel ist kaum denkbar, als zwischen dem, woher ich kam, und jenem, in welchem ich nun umherirrte. Dort moderne Paläste und Zinsburgen, hier kleine, ärmliche, altertümliche Häuslein, dort lautes Wogen und Treiben, hier nur selten ein Mensch. Die kleinen Gäßchen lagen wie ausgestorben – es war just Arbeitszeit und die Bewohner in den Häusern oder auswärts. Wenn ich auf einen Haufen von Leuten stieß, so waren es eben kleine Leute mit blonden Haaren und blauen Augen und putzbedürftigen Näschen – junges, übermütiges Germanentum.
Der Dialekt, in dem sie sich sehr geräuschvoll unterhielten, wird freilich kaum irgendwo in deutschen Landen gesprochen, es ist eben ein sonderbares Gemisch aus bayrischen, schwäbischen, fränkischen, niederrheinischen und ganz besonders urwienerischen Elementen, das Zeug klingt zuerst fast unverständlich. Aber hätte ich auch daran gezweifelt, daß dies deutsche Kinder seien, so wäre mir dies gleich darauf sonnenklar geworden. Just als ich vorüberging, erklärten einige, »nicht mehr mitzutun«. Und richtig prügelten sie sich gleich darauf. Soviel ich bei flüchtigem Rückblick bemerkte, stand auch kein Bismarck unter ihnen auf. Im übrigen achtete ich ihrer nicht mehr und studierte die Schilder, welche hier und da, klein, buntfarbig, oft mit sonderbarster Ausstattung und Schreibweise, an den Häusern hingen. Da war zum Beispiel ein phantastischer Stiefel mit einem Riesensporn, und darunter stand: »Schwemminger Janos«. Oder eine großmächtige Schere mit der Unterschrift »Haubele Mihály«. Im Hause daneben an einer kleinen Gassentür eine ockergelbe Brezel, ein zinnoberrotes Bierglas und ein giftgrünes Schnapsfläschchen und darunter ein Name, der schlimm dazu paßte: »Wassermacher Zsigmond« . . .
Dann begegneten mir einige Mühlknappen, und als ich in eine Straße gelangte, wo von allen Seiten melodisches Kuhgebrülle an mein Ohr schlug, da wurde mir zur Gewißheit, was ich bisher nur geahnt: ich war in der Franzstadt.
Es gibt wohl keine andere Stadt, deren Teile so grundverschiedenen Charakter aufweisen als die Hauptstadt Ungarns. Mehr oder minder findet sich dergleichen überall, nur wird es wenig beachtet. Dem flüchtigen Touristen sticht es nicht grell genug ins Auge, und der Einheimische nimmt es eben als Gewohntes hin, über das man sich weiter keine Gedanken macht. Wer aber Sinn und Auge für solche kleine Eigentümlichkeiten hat, kann ganz interessante und ergötzliche Studien machen, insbesondere in Budapest. Denn hier gleicht nicht allein eine Vorstadt der anderen, sondern jede derselben zerfällt noch überdies in sehr verschiedene Bezirke. So ist in dem kosmopolitischen Gewirr der inneren Stadt ganz deutlich ein kleines Gebiet mit spezifisch magyarischer Physiognomie erkennbar, so scheiden sich in Ofen die Bewohner nach den Nationalitäten, in der Josefstadt nach dem Besitztum und in der Franzstadt, die fast ganz von ärmeren Leuten deutscher Zunge bewohnt wird, nach der Berufsart. Da wohnen die Fiaker und Wäscherinnen, die Müller und die Milchmeier, die Schuster und die Schneider, die Wagenbauer und die Schmiede, und sie halten sich, ganz gegen alle Grundsätze moderner Volkswirtschaft, gern in eigenen Gassen zusammen. So kam ich in eine lange Zeile von Gärten, wo rechts und links an Stricken die gesamte Wäsche der vereinigten Hauptstädte schwankte, und wieder in eine andere Gasse, wo wohl an die dreißig Schuster wohnten, stattliche Schuhmacher und kleine, dürftige Flickschusterlein. Und wo ein Schild zu sehen war, da war gewiß ein kerndeutscher Familienname darauf und dazu ein kernmagyarischer Vorname. Es berührt dies den Deutschen eigen, und auch ich machte mir so meine Gedanken darüber an jenem stillen Herbstnachmittag.
Aber zu dem gebräuchlichen Manöver, dem Faustballen in der Tasche gegen den magyarischen Chauvinismus, konnte ich's nicht bringen. Etwas ist schon daran, aber ich denke, wir Deutschen hätten allen Grund, uns da auch an die eigene Nase zu fassen. Denn warum sind die Väter dieser Leute fortgezogen aus der liebvertrauten Heimat an der Donau, am Neckar oder am Rhein, fort ins fremde, wilde Land? Weil sie's daheim nicht mehr ertragen konnten, weil sie die Verhältnisse zu Boden drückten. Der eine wollte Meister werden und durfte es nicht – das Zunftrecht stand entgegen, der andere wollte heiraten und konnte es nicht – ein grausames Gesetz der Patrizier hinderte ihn daran, den dritten, einen Landmann, trieb sein Herr durch Fronden und Lasten schier zur Verzweiflung. So zogen sie fort. Und was nahmen sie mit? Etwa einen deutschen Staatsgedanken, ein deutsches Volksbewußtsein?! Ach, damals gab's kein Deutschland, selbst der Gedanke an den ideellen Zusammenhang aller Deutschen dämmerte nur in erleuchteten Köpfen, und was sie mitnehmen konnten, war höchstens ein reichsstädtisch Ulmsches oder kurfürstlich Mainzsches oder reichsritterlich Katzenellenbogensches Bewußtsein. Solch ein Bewußtsein aber verduftet leicht in der Fremde, und verduftet es nicht von selber, so ist man sehr gern geneigt, es freiwillig von sich zu werfen! Was die Väter wirklich aus der Heimat mitgebracht: deutsche Sprache, deutsche Sitte, deutsche Tüchtigkeit, das haben die Söhne meistens bis heute bewahrt. Aber weil es ihnen hier gut ging, weil sie hier gedeihen durften im Schutz verhältnismäßig freisinniger Gesetze, so nahmen sie gern den neuen Staatsgedanken an und damit zugleich – unglückseliger-, irrtümlicher-, aber sehr leicht begreiflicherweise! – das neue Nationalitätsbewußtsein.
Diese Leute fühlen sich als Magyaren, auch wenn sie magyarisch nur »Eljen!« zu rufen wissen und »hunczut a német!« Diese Erscheinung ist sicherlich sehr beklagenswert, und geradezu peinlich wäre sie, könnten wir uns nicht mit dem Worte trösten, das Grabbe seinen Hermann von den abtrünnigen Sigambrern sprechen läßt: »Blätterabfall der Eiche, die in Europas Mitte prangt. Sie kann viel entbehren und bleibt stark.« Aber wer darüber empört ist, der richte seine Empörung nicht gegen diese Leute, mit denen es ging, wie es gehen mußte, sondern gegen – die Schuldigen. Und die Hauptschuldigen sind nicht die Bekämpfer des Deutschtums, sondern diejenigen, die dafür eintraten, indem sie offiziell, wie man es eben verstand, »germanisierten«.
»Du schwarzgelber Hund!«
Laut und gellend klangen mir die Worte ins Ohr. Ich fuhr auf aus meinen Gedanken und blickte um mich. Ich war noch in der Gasse der Schuster. Daß der Schimpf mir galt, konnte ich nicht zweifeln, denn die Straße lag im hellen Sonnenschein verödet, nur weit oben balgten sich zwei flachshaarige Buben, und ein altes Weiblein hinkte an den Häusern dahin. Aber wie kam just ich zu dem Ehrentitel, den ich doch so wenig verdiene wie selten ein Mensch? Und wer war der Rufer?
»Eljen Kossuth! Eljen Kossuth!«
Ich wendete mich hastig um. Der Rufende mußte im kleinen Gassenladen stecken, vor dem ich stand. Es war die Werkstätte eines Flickschusters. Aber der alte Mann hockte mit überaus harmloser Miene auf seinem Dreibein und mühte sich emsig, eine lebensmüde Sohle zu fernerem Gang durchs Leben zu stärken. Er blickte erst auf, als ich dicht vor ihm stand. Derselbe nicht schmeichelhafte Zuruf klang mir gleichzeitig aus dem Hintergrund entgegen. Und nun konnte ich auch deutlich erkennen, daß das keine Menschenstimme war.
»Ah, mein Starl«, lachte der Meister und rief in einen Winkel: »Hansl, halt's Maul!« Da saß der stahlgrau schillernde Übeltäter und blinzelte mich mit den klugen Äuglein an. »Er meint's nöt bös!« tröstete mich sein Herr. »Wissen S', er hat's amal so g'lernt!«
Ich mußte herzlich lachen. »Das ist ja ein seltenes Tier«, meinte ich dann, »man trifft kaum einen Star, der so viele Worte kann und dabei so deutlich.«
»Ja!« bestätigte der Schuster stolz, »a rares Stuck. ›Eljen Kossuth‹ kann er rufen und ›Du schwarzgelber Hund!‹« Und der Vogel bewies auch ununterbrochen, daß er das wirklich könne.
»Sie sind wohl ein guter Patriot?« frug ich.
»Na, freili!« Der Mann blickte mich stolz an. »Und ob! Und was für a Badhrot! Die Kontschtiduzion – dös is das Höchste!«
»Sie meinen wohl die von achtundvierzig?«
»Na, die neuche a, die vom siebenundsechz'ger Jahr.«
»Ich meinte, Sie wären von der Linken, weil der Vogel ›Eljen Kossuth‹! schreit.«
»Na, wissen S', dös kummt daher, weil i 's den Hansl noch im sechz'ger Jahr g'lernt hab'. Da war noch der Kossuth 's Höchste. Später, im siebenundsechz'ger Jahr, hätt' ich's gern g'sehn, daß er a ›Hoch der König!‹ lernt, oder weil er 's Eljen noch vom Kossuth kann, ›Eljen a Király‹! Aber da ist er z' dumm dazu – i hob mi eh g'nug gift! Ja, wann mei' Michel noch lebet! Der hätt's ganze Badernoster g'lernt, wenn i g'wollt hätt'. Aber der is g'storben, schon im sechsundfünfz'ger Jahr.« Der alte Mann wurde fast wehmütig in der Erinnerung an den toten Liebling. Aber gleich darauf setzte er grimmig hinzu: »Die schwarzgelben Hund haben ihn um'bracht!«
»Wen?« fragte ich erstaunt.
»Na, den Michl, wen denn sonst?«
»Und den haben die Schwarzgelben getötet?«
»Freili, ja! In Ofen haben s' ihn eingesperrt, und a Prozeß haben s' ihm g'macht und nachher umbracht. Wissen S' – wegen Hochverrat!«
»Wa – a – s? Einen Star?«
»Sie glauben's nöt? Wahr is doch! Fragen S' nur in der ganzen Pester Stadt! Wegen Hochverrat! So a liebs Tierl!«
»Aber wie ist das nur zugegangen?«
»Ja, sehen S', das war a so!« Der alte Mann nahm die Hornbrille von der Nase und erzählte:
»'s war grad a Tag wie heut, schön, zu heiß a nöt, da sitz i da mit mei' Michl, und wir plauschen halt. No ja, jemanden muß der Mensch zum Plauschen hab'n, i hab' kei' Weib, i hab' kei' Kind, also plausch i mit 'n Michel. I red', und er plappert, was er g'lernt hat: ›Du schwarzgelber Hund‹! und ›Eljen Kossuth‹! Ich sag' Ihna, der Michel hat verstanden, was er g'sagt hat, und mi hat er a vastanden, besser wie a Mensch. Und wie mir so sitzen und plauschen, stürzt auf amal a blutjunger Leitnant herein, rot wie a Indian, und schreit: ›Wo ist der Hund? Wo ist der Kerl, der mich beschimpft hat?‹, und dabei zittert er Ihna nur so vor Wut . . . ›Herr Leitnant‹, sag' i, ›verzeihen S', mei Michel, das Starl!‹ ›Wo?‹ schreit der Offizier, ›wo ist die infame Bestie, ich dreh' ihr den Hals um!‹ Da werd' i a fuchtig. ›Herr Leitnant‹, sag' i, ›a Beschtie ist der Michel nöt, und infam noch wen'ger und dös mit 'n Halsumdrehn – dös schon am wenigsten! Das Tierl g'hört mein, verstanden, Herr Leitnant?‹
Da gibt er mir an Stoß in d' Brust und schreit alleweil vom Erschießen und Hängen. Dann lauft er weg und schreit noch zurück: ›Du Rebell, ich will dich schon Mohren lernen!‹ ›Meinstweg'n‹, schrei' i ihm nach, ›i bin a Pester Bürger, i fürcht' mi vor kan Mohren nöt!‹ Dann denk' i aber nach, 's war halt gar so a schwere Zeit, und die Böhmaken hab'n uns g'schunden, wie s' g'wollt haben, und a Gerechtigkeit war nöt z' finden, und da ist mir angst und bang wor'n. ›Michel‹, sag' i, ›paß auf, mit dem sein wir noch nöt fertig! Michel! Da hast uns alle zwei in an schöne Patsch'n einibracht!‹ Und der Michel hat's a g'spürt, der is ganz dasig dag'sessen. Und richtig! Zwei Stunden d'rauf komm'n so zwei Naderer, zwei vafluchte Böhmaken, und packen mich z'samm' und 'n Michel a und schleppen uns alle zwei über d' Brücken nach Ofen in d' Polizeidirektion. Und dort führen s' uns uma wie narrisch, bis m'r endlich z' an Kommissär kommen sein, z' an Herrn von M. Ich hab' ihn eh kennt, er war a Pester, aber mit die Schwarzgelben hat er 's g'halten – der Schuft.« Der Schuster spuckte verächtlich aus. »No, und der hat uns ausg'fragt, wie mir heißen und wie alt mir sein, der Michel und i, und wie lang i den Vogel hab'. ›Seit 'n siebenundvierz'ger Jahr‹, sag' i. ›Und wann haben S' ihm solche Niederträchtigkeiten g'lernt?‹, fragt er. Aber das war m'r z'viel! ›Niederträchtigkeit?!‹ sag' i. ›Im achtundvierz'ger Jahr war das ka Niederträchtigkeit nöt, und heut ist es auch ka Schlechtigkeit, und wann's damals a Niederträchtigkeit war, so sein Sie, Herr von M., a schlecht und niederträchtig g'wesen!‹ Wissen S', ich bin halt gach! Und dös war a Unglück für mi und mei Michel. Denn der Herr von M. ist fuchsteufelswild wor'n und hat g'schrien: ›In den Arrest mit ihm!‹ Und da haben's mi fortg'schleppt und – mein Michel hab' i sideradem nimmer g'sehn!« Dem alten Menschen traten wirklich und wahrhaftig die Tränen in die Augen.
»Und wie war's nachher?« frug ich nach kurzer Pause.
»I sag' Ihna, dumm und schlecht sein die Schwarzgelben g'wesen, 's is' nöt zan erzählen.« Aber dann erzählte er doch: »Acht Tag bin i in 'n Arrest g'sessen, und alle Tag haben S' mi ausg'fragt, und alle Tage hab' i's nämliche g'sagt: ›Im achtundvierz'ger Jahr, da hab' i 's dem Michel vorg'sagt, und damals is dös ka Sünd g'wesen.‹ Aber alliweil haben s' von mir a Geständnis g'wollt. ›Waß ja nix mehr‹, hab' i g'sagt, aber g'nutzt hat's nix. Und dem Michel haben s' gar an narrischen Namen geben: ›horpus dixi‹ haben s' ihn all'weil g'nannt. Und nachher haben s' mi ins Kriminal g'steckt, und erst drei Wochen drauf haben s' mi wieder aussag'lassen. ›Wo ist mei Michel?‹ frag i den Kerkermeister. ›Der bleibt in Untersuchungshaft‹, sagt' er, ›sein S' froh, daß die Herren Ihna laufen lassen!‹ – ›Herr Kerkermeister‹, wispel' i, ›hier haben S' an Zwanziger, sagen S' ehrlich: Wo is mein Michel?‹ – ›No‹, sagt er, ›wann S' g'rad wissen wollen: tot is er. Die Herren haben a Sitzung g'halten, und weil er so hochverraterisch g'red't hat, so haben s' beschlossen: hin muß er wer'n. Und da hab' ich ihm Ratzenpulver ins Futter g'mengt . . . ‹ Segens – das war das End' von mein Michel!«
So erzählte der alte Mann, und ohne daß ich »die ganze Pester Stadt« zu fragen brauchte, konnte ich erkennen, daß er die buchstäbliche Wahrheit gesprochen. Es war eigentlich eine heitere Historie, die er mir erzählt, die Historie von dem Sturnus vulgaris, den im Jahre 1856 ein k. k. Gerichtssenat wegen hochverräterischer Reden zum Tod verurteilte. Aber ich weiß nicht – lachen konnte ich doch darüber nicht, als ich bei sinkender Sonne langsam wieder der Stadt zuschritt.
Es war am 7. Juli 1866 – das Schicksal hat dafür gesorgt, daß ich das Datum nie vergesse – morgens halb neun im Lehrsaal der Septima zu Czernowitz in der Bukowina; Unterprima würde man die Klasse in Deutschland nennen. Auf dem Katheder stand der Professor Wilhelm Lang, der ehrgeizige Mann, der mit uns den Horaz schon in Septima las, die schlanke, elegante Gestalt leicht vorgeneigt, sein Prüfungsbüchlein in der weißen, weichen, beringten Hand. »Kossowicz!« hatte er eben gerufen und dazu gelächelt, wie er immer zu lächeln pflegte, wenn er den großen, plumpen, dicken Menschen aufrief. Und der einfältige rumänische Popensohn hatte sich erhoben und die asklepiadische Strophe schlecht skandiert und stotterte nun bei der Übersetzung – alles wie immer. Wir Schüler aber grinsten fröhlich, nie machte Professor Lang bessere Witze, als wenn er den Kossowicz Eusebius prüfte, unsern armen, vielgehänselten »ultimus ultimorum«.
Diesmal sollte es nun vollends so lustig werden wie nie vorher. »Nil pictis timidus navita puppibus fidit«, hatte der Rumäne gelesen und sollte es nun übersetzen. »Der furchtsame Schiffer vertrauet nicht . . .«, begann er, »vertrauet nicht . . .«
»Seinem natürlichen Genie«, fiel der Professor ein, »sondern präpariert sich!«
Die Klasse wieherte.
»Kossowicz! Was heißt pingere?«
»Malen«, flüsterte ein barmherziger Nachbar dem Prüfling ein.
»Malen«, wiederholte Kossowicz.
»Und puppis?«
»Hinterteil des Schiffs«, flüsterte derselbe Nachbar wieder. Aber Kossowicz verstand nur das erste Wort. Über das stumpfe Gesicht flog es wie ein Leuchten.
»Ich weiß schon!« sagte er freudig in seinem seltsamen Deutsch. Und dann mit Donnerstimme, jede Silbe wuchtig betonend: »Der furchtsame Schiffer vertrauet nicht auf sein bemaltes Hinterteil!«
Wir brüllten los, daß die Wände widerhallten. Auch Lang lachte und lachte, daß die Tränen über die Backen liefen. Dann aber rief er:
»Kossowicz Eusebius, setzen Sie sich auf Ihre puppis. Schade, daß Sie schon zu alt sind, um sie Ihnen blau und rot zu streichen: Es würde nichts mehr nützen!«
Seltsam, darauf blieb es still. Wir waren übermütige Bengels zwischen fünfzehn und siebzehn, Kossowicz unser Prügelknabe, Lang unser Abgott, jeder Witz von ihm wurde belacht, diesmal schwiegen wir. Denn wir fühlten: Das geht zu weit! So darf man einen dreiundzwanzigjährigen Mann nicht behandeln. Der arme, tölpelhafte Mensch, der spät aufs Gymnasium gekommen und jede Klasse zweimal durchmachte, war vielleicht nur zwei Jahre jünger als unser eleganter Lehrer.
Auch Kossowicz empfand es so. Zuerst stand er regungslos, das dumpfe, stumpfe Antlitz vorgeneigt, offenbar verstand er den »Witz« noch nicht. Dann ging ein Zucken durch den wuchtigen Körper, er wurde totenbleich.
»Herr Professor!« lallte er fast drohend. »Ich –«
Weiter kam er nicht. In demselben Augenblick tat sich die Tür auf, der Direktor trat ein. Wir schnellten von den Sitzen empor, nicht bloß, weil es die Vorschrift gebot, auch aus Überraschung und Erwartung. Der Direktor kam während des Unterrichts – das war unerhört und mußte die gewichtigsten Gründe haben.
Keine angenehmen, das sah man dem würdigen Manne vom Antlitz ab. Stefan Wolf hieß er, wir nannten ihn Gorgias, weil er diesen Dialog des Plato in jeder Rede zitierte. Sein Antlitz war bleich, und der mächtige Schnurrbart zitterte.
Er trat aufs Katheder neben den Professor, der ihn nicht minder erstaunt anblickte als wir.
»Also«, begann er – nie hat ein sterbliches Ohr eine Rede des Wackeren vernommen, die mit einem anderen Wort begonnen hätte – »also, Sie können gehen. Also, der Unterricht für das Schuljahr ist zu Ende. Die Zeugnisse können Sie nach einer Woche bei mir abholen . . .«
Ein Laut der Überraschung aus fünfzig Kehlen, dann ein Summen und Surren. »Warum?« riefen einige.
»Unfug!« donnerte Gorgias. »Schweigen Sie! Also, der Herr Landeschef hat es eben verfügt. Also – der Krieg, der entsetzliche Krieg. Also« – der Schnurrbart zitterte konvulsivisch – »die Schlacht von Königgrätz . . . aber damit nicht genug. Also« – und bei diesen Worten hüpfte der Schnurrbart vollends wie ein selbständiges Wesen auf und nieder – »die Cholera . . .«
Wieder ein Rufen und Flüstern.
»Unfug! Schweigen Sie! In solchen Zeiten ärgert man seinen Direktor nicht. Auch Obst dürfen Sie nicht essen. Also, wer Gurken ißt – Unfug, der streng bestraft werden muß! Also, heute Nacht sind in der Wassergasse drei Menschen gestorben! Gehen Sie nach Hause!«
Wir begannen die Bücher zusammenzupacken.
»Ruhe! Unfug!« donnerte er wieder. »Im Gorgias sagt Plato . . .« Er hielt inne. »Nein, das sage ich Ihnen morgen – wollte sagen nächstens. Also – die Cholera, Galle – Gallenruhr. Jede andere Ableitung ist falsch.« Und er wiederholte mit furchtbarer Entschiedenheit: »Ganz falsch, hört Ihr!« Dann aber brach sich die Stimme des Mannes – ich bin im Leben selten einem warmherzigeren begegnet. »Adieu Jungens! Schwere Zeiten! Haltet Euch vernünftig und fürchtet Euch nicht. Wir stehen in Gottes Hand. Auf Wiedersehen – im Herbst. Alle, hoffentlich wir alle.«
Und er rannte hinaus, damit wir die Tränen in seinen Augen nicht sehen sollten, und wir alle hinterdrein, er, die nächste Klasse aufzulösen, wir über die Korridore auf die Gasse.
Sie lag im Glanz der Julisonne. Die Kinder spielten auf den Trottoirs, die Leute gingen ihren Geschäften nach. Nirgendwo eine erregte Miene, ein ängstliches Wort. Wir lachten, riefen, pufften uns. Hätten uns nicht die letzten Worte des guten Alten, den wir alle, trotz seiner eigentümlichen rednerischen Leistungen wie einen Vater liebten und ehrten, im Ohr nachgeklungen, unsere Freude über die unverhofft frühen Ferien wäre eine ungetrübte gewesen.
Erst auf dem Marktplatz klang uns wieder jener Name entgegen, dessen richtige Ableitung er uns so energisch eingeschärft, aber auch nicht eben in furchterregender Art. Zwei Polizisten gingen von einer Hökerfrau zur anderen und konfiszierten die unreifen Kirschen und Stachelbeeren. Die Weiber jammerten, die Umstehenden lachten, auch die Polizisten nahmen ihr Geschäft nicht ernst.
»Dumme Sache! Aber der Herr Bürgermeister hat's befohlen! Die Cholera! Platz, Ihr Leute!«
In der Siebenbürger Gasse holte ich meinen Coetanen Kossowicz ein. Er ging gesenkten Hauptes dahin und wich niemand aus, daß ihn die Leute zornig oder lachend aus dem Wege schoben. Ich holte ihn ein und sprach ihn an. »Nimm's dir nicht zu Herzen«, suchte ich ihn zu beruhigen. »Er hat's nicht so böse gemeint.«
Er schüttelte den großen, unförmigen Kopf. »Is mir bitter«, sagte er dumpf. »Is mir sehr bitter! Lang is Hund!« schrie er dann gellend auf.
»Das ist er nicht!« sagte ich. »Freilich hätte er den Witz nicht machen sollen!«
»Is Hund!« wiederholte er. »Bin ich schlecht? Nein! Bin ich faul? Nein! Bin ich Bub? Nein! Schlechten, faulen Bub droht man mit Prügel, aber mir? Ich bin ein alter Mensch mit Bart, unglücklicher Mensch! Warum? Kein Kopf zum Studieren! Muß doch studieren! Will Bauer werden, soll Pope werden. Guter Mensch hätte Mitleid mit mir – also Kossowicz kann nichts, bekommt dritte, aber man läßt ihn in Ruh! Schlechter Mensch tut mir das an! Aber ich werd' ich es ihm zeigen – ruf mich Hund, wenn ich's nicht tu'!«
Auf dem stumpfen Antlitz lag der Ausdruck eines ehernen Entschlusses. »Kossowicz«, sagte ich erschreckt und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du wirst dich an Lang nicht rächen! Du wirst dich nicht unglücklich machen!«
»Mir ist alles eins«, erwiderte er. »Unglücklich bin ich auch so! Aber er soll lernen besser sein und vor Gott Furcht haben!«
»Was willst du tun?« fragte ich und hielt ihn fest.
»Wirst hören«, erwiderte er, riß sich los und trat in das kleine ebenerdige Haus, wo er mit vielen anderen Schülern bei einer Pfarrerswitwe zur Miete wohnte.
Das nahm ich viel schwerer als die Cholera und setzte meinen Weg ernster fort als bisher. Erst daheim kam mir eine Ahnung von dem Entsetzlichen, das der Name in sich barg. Als ich mit der Kunde ins Zimmer trat, ward das Antlitz meiner Mutter bleich wie das Linnen, an dem sie nähte. »Das ist furchtbar . . .«, murmelte sie mit entfärbten Lippen. »Wenn es so kommt wie vor fünfunddreißig Jahren . . .« Und sie erzählte mir von der Choleraepidemie von 1831, die sie als junges Mädchen in Brody durchgemacht, wie jeder zehnte Mensch gestorben und es nicht mehr Hände genug gegeben, die Toten zu bestatten.
Ich hörte zu, und weil sie selbst erregt war, machte es auch mir Eindruck, aber tief war er nicht. Dann nahm ich wieder die Mütze vom Nagel und wollte gehen.
»Wohin?«
»Zum Kossowicz. Der arme Kerl soll keine Dummheiten machen!« Ich erzählte ihr, um was es sich handelte.
Sie nickte. »Aber bis zwölf bist du zurück. Wir gehen zu deinem Vormund, der heute seinen Geburtstag hat, um ihm zu gratulieren. Auch speisen wir dort.«
Der Rumäne war nicht zu Hause. Was sei ihm denn widerfahren? empfing mich seine Wirtin. Er sei lange brütend dagesessen und dann plötzlich fortgerannt. Und ob es wahr sei, daß die Leute in der Wassergasse dahinstürben wie die Fliegen?!
Ich beschloß, hinzugehen, obwohl die Zeit knapp war, wenn ich mittags wieder daheim sein wollte. Czernowitz liegt auf einem Hügel, die Wassergasse umgibt, dem Lauf des Pruth folgend, den Fuß des Hügels. Damals wohnten nur arme Leute dort, namentlich Juden und Ruthenen. Den Hochsommer abgerechnet, wo man die Pruthbäder aufsuchte, kamen die Städter nie in die armselige, entlegene Vorstadt.
Wieder kam ich über den Marktplatz, er war nun etwas belebter als vorher, namentlich standen die Leute in dichten Gruppen um große, gelbe Plakate, die eben angeschlagen wurden. Der Bürgermeister teilte mit, daß sich seit gestern in der Pruthvorstadt drei Fälle von Brechdurchfall mit tödlichem Ausgang ereignet. Ob es sich um asiatische Cholera handle, sei noch nicht festgestellt, doch habe er ungesäumt alles Nötige veranlaßt. Eine Cholerabaracke sei im Bau, die Pruthvorstadt abgesperrt. Die Bekanntmachung schloß mit einigen hygienischen Ratschlägen.
Die Umstehenden beurteilten dies Schriftstück sehr verschieden. Die einen lobten den Bürgermeister seiner Energie wegen, die anderen fanden den Eifer höchst überflüssig. »Weil in der Pruthvorstadt drei Arbeiter sterben, die sich den Magen mit unreifem Obst vollgestopft haben, bringt er die ganze Stadt in Aufruhr!« Am schärfsten verurteilte Herr Gregor Lupul diese »Dummheiten«. Es war dies der Besitzer des schönsten Hauses, des mächtigsten Bauchs, der rötesten Nase und des lautesten Organs in ganz Czernowitz. »Wer ist denn 1831 hier oben gestorben? Kein Mensch, der zu essen hatte. Hab' ich nicht recht, Mayer, Sie müssen's ja auch noch wissen!«
»Gewiß weiß ich es, Herr von Lupul«, erwiderte der kleine, schmächtige Salomon Mayer geschmeichelt. »Die Cholera ist eine Art Hungertyphus, für die armen Leut.« »Und deshalb soll ich keinen Salat essen?« rief Lupul entrüstet. »Justament eß' ich heut sogar einen Italienischen! Kommen Sie mit, Mayer, zum Anatowicz in die Weinstube!«
Mayer ging mit, ich aber der Wassergasse zu. Je tiefer ich den Berg hinabkam, desto mehr Leute standen da, desto lauter sprachen, desto heftiger gestikulierten sie. Überall dasselbe Thema und dieselben Urteile. Die einen priesen, die andern höhnten den Bürgermeister. Die einen mahnten zur Vorsicht, die anderen prahlten, was sie sich alles zu essen getrauten, die einen erzählten zitternd, alle Stunde stürben da unten einige Menschen, und alle Ärzte seien dort beschäftigt, die anderen schworen, die Leute in der Wasserstadt seien so vergnügt wie nur je. Sicheres wußte niemand.
Da kamen zwei Wagen die Straße herabgepoltert, große, unförmige Karren, mit schwarzem Tuch überdeckt. Auf dem Bock saßen zwei städtische Diener.
»Wohin? Wozu?« rief man sie an.
»Die Toten abholen!« erwiderte einer der Diener.
»Wieviel?«
»So ein Dutzend. Jetzt können's leicht mehr sein!«
Ein wildes Schreien und Lärmen, dazwischen ein gelles Lachen – und im nächsten Augenblick war die Straße wie reingefegt. Heulend, jammernd, fluchend stürzten die Leute den Berg empor, ihren Wohnungen zu, und gaben die Schreckenskunde verzehnfacht weiter.
Als ich den Eingang zur Pruthgasse erreichte, stand da ein großer Haufe Menschen und lachte und schrie: Lehrjungen, Strolche und Dirnen. Sie unterhielten sich damit, die städtischen Polizisten zu verhöhnen, die den Eingang zur Straße bewachten, damit niemand den verseuchten Stadtteil verlasse. Sonst war auch nichts zu sehen. Die wenigen Häuschen, die man überblicken konnte, boten denselben Anblick wie sonst. Vor den Türen spielten die schmutzigen Kinder in der Gosse, an den Fenstern flatterte zerlumpte Wäsche zum Trocknen, ein Schuster hockte auf seinem Dreibein vor der Werkstätte und flickte ein Paar Stiefel, ein Trunkener saß auf einer Bank und schlug mit einem Stecken um sich, eine Verlorene lehnte sich halbbekleidet aus ihrem Dachfenster weit vor und lachte uns frech an. Alles wie gewöhnlich an dieser Stätte des Elends und der Verworfenheit . . .
Schon wandte ich mich zum Gehen, da klang ein Laut in mein Ohr, der mich anhalten ließ – ich glaube, ich höre ihn noch, während ich das schreibe. »Boze!« (»Gott«) rief eine Stimme schrill, verzweiflungsvoll. Selbst das rohe Gesindel um mich her wurde plötzlich still. Noch einmal »Boze!« und »Ratujcie!« (»Rettet!«) Und aus dem Hause, vor dem der Schuster saß, kam ein Mensch hervorgestürzt, ein junger todblasser, fast nackter Mensch, der eben aus dem Bett gesprungen sein mußte, und warf sich wie ein Kreisel in der Luft herum und stürzte in Krämpfen hin. Das war der erste Cholerakranke, den ich damals gesehen habe.
Als ich heimkam, war es längst zwölf vorbei. Meine Mutter schalt heftig auf mich ein, als sie erfuhr, wo ich gewesen, besprengte mich mit einer Essenz, die sie inzwischen besorgt, und ließ mich die Kleider wechseln. Dann gingen wir zum Hause meines gestrengen Vormunds. Die anderen Glückwünschenden waren schon dagewesen, man hatte mit dem Speisen auf uns gewartet, der alte Herr war sehr ungnädig.
»Das blödsinnige Gerede von der Cholera verdirbt einem die Laune!« rief er. »Und nun kommt man auch nicht rechtzeitig zu Tisch.«
»Aber der Doktor Atlas und der Lupul sind auch noch nicht da«, suchte ihn seine Frau zu begütigen.
»Der Doktor steht in städtischen Diensten«, rief er, »und muß tun, was der Bürgermeister will. Wahrscheinlich muß er gerade die Betrunkenen in der Wassergasse nüchtern machen! Aber der Lupul – richtig, der Lupul ist ja auch noch nicht da! Wo steckt denn der Alte? Schick doch zu ihm hinüber!«
Es währte lange, bis der Bote wiederkam. Wir setzten uns inzwischen zu Tische. Mein Vormund war sichtlich noch immer unwirsch, und seine Laune besserte sich nicht, als der Bote endlich meldete, die Haushälterin wisse nicht, wo der Herr von Lupul geblieben, er sei seit dem Morgen fort. »Der Kerl wird doch nicht vergessen haben!« rief der alte Herr in hellem Zorn. Das war verzeihlich, denn Lupul war sein bester Freund, auch pflegte dieser Demosthenes von Czernowitz seit fünfundzwanzig Jahren bei dem Diner am 7. Juli den Toast auf das Geburtstagskind zu sprechen. Weil aber das Essen gut war, der Wein noch besser, so erheiterte sich allmählich die Laune des Gastgebers, besonders, da ein anderer Freund des Hauses das Hoch beinahe ebenso gut ausbrachte wie sonst Lupul. Und so saßen wir da und aßen und tranken, und weil die beiden leeren Stühle an der Tafel ungemütlich waren, so schoben wir sie weg. Bei meinem Vormund geschah alles gründlich und ausgiebig, nach eins waren wir zu Tische gegangen, kurz vor sechs wurde der Kaffee serviert. Da erst erinnerte er sich des ausgebliebenen Freundes und schickte nochmals hinüber. Diesmal kehrte der Diener sehr bald zurück.
»Nun?« rief ihn der alte Herr an. »Ist er zu Hause?«
»Ja, seit zwei Uhr!«
»Warum kommt er nicht?«
»Er kann nicht!«
»Ist er krank?«
»Tot ist er!« stieß der Diener hervor. »An der Cholera gestorben, der Doktor Atlas war bei ihm.«
Einige Minuten später war der Saal leer, die Gesellschaft zerstoben, als ob der Tote selbst in ihrer Mitte erschienen wäre. Auch meine Mutter und ich gingen heim.
Als wir an dem Häuschen jener Pfarrerswitwe vorübergingen, stand die alte Frau vor der Tür und spähte besorgt die Straße auf und nieder. »Ist der Kossowicz zu Hause?« fragte ich.
»Nein!« rief sie. »Ich sterbe vor Angst! Zum Essen nicht heimgekommen! In den neun Jahren, wo er bei mir wohnt, habe ich das nicht erlebt. Er und vom Essen wegbleiben! Es ist ihm etwas passiert. Die Cholera! Wenn ich nur wüßte, wo ich ihn suchen soll.«
Da wußte auch ich keinen Rat. Ich suchte sie zu beruhigen und bat, mich wissen zu lassen, wenn er wieder zurück sei.
Eine Stunde später kam das Kind der Witwe, Kossowicz sei eben heimgekommen und lasse mich bitten, ihn zu besuchen, er sei nicht ganz wohl.
Meine Mutter schärfte mir Vorsicht ein, ließ mich aber hingehen.
Ich traf ihn auf der Bank im Gärtchen vor dem Haus. Er war bleich und trug trotz der Schwüle seine »Bunda« (rumänischer Bauernmantel) umgeschlagen, als fröstelte es ihn. »Halt!« rief er mir entgegen, als ich das Gärtchen betrat. »Halt!« rief er noch einmal, als ich einige Schritte vorwärts tat. »Komm mir nicht zu nahe, ich war ich eben bei einem Cholerakranken!«
»Bei wem?«
»Bei Lang!«
Ich traute meinen Ohren nicht, er aber erzählte:
»Ich geh' ich um elf Uhr zu ihm! Wozu? Um ihn zu ohrfeigen. Dann soll man mich meinetwegen aufhängen, aber der schlechte Mensch soll seine Lehre haben. Komm ich hin. Sagt sein Mädchen: ›Herr Professor nicht zu Haus.‹ Frag ich: ›Wann kommt?‹ Sagt sie: ›Um zwei, nach dem Essen.‹ Ich lauf' ich bis halb zwei im Volksgarten herum, ganz wütend, und ich wiederhol' ich immer, was ich ihm sagen will. Dann stell' ich mich vor sein Haus. Umsonst. Kommt nicht. Endlich kommt, aber im Wagen. Ganz blaß, ganz elend. Denk ich: ›Schlecht! Kranken kann man nicht hauen!‹ Will gehen. Da seh' ich, er kann nicht mehr selbst vom Wagen. Tret' ich zu, helf' ich ihm. Sagt er: ›Vorsicht! Mir scheint – die Cholera.‹
Sag ich zornig: ›Oh, nein! Unkraut verdirbt nicht!‹ Und weil er nicht kann, ich helf ich ihm in sein Zimmer. Das Mädchen hat Furcht, traut sich nicht herein. Also was tun? Ich muß ich ihn ins Bett legen. Sagt er: ›Kossowicz, das hab' ich nicht um Sie verdient!‹ – Sag' ich: ›Nein, ganz was anderes, und das kommt auch noch, wenn Sie gesund sind!‹ – Sagt er: ›Was?‹ – Sag' ich: ›Das erfahren Sie früh genug.‹ Ihm wird aber immer übler, und ich seh': wirklich die Cholera. Was tun? Hund is er, aber jetzt is er doch krank, ich kann ich ihn doch nicht allein lassen. Also ich schick' ich das Mädchen um Krankenwagen ins Spital, und inzwischen pfleg' ich ihn! Eine Stunde und zwei und drei, und ihm wird immer schlechter. Und Wagen kommt nicht. Gott im Himmel, bet' ich, was soll ich da anfangen, der Kerl stirbt mir so unter den Händen, und er soll ja gesund werden, damit ich ihn hauen kann. Gott im Himmel, bet' ich, wenn du nicht willst, daß ich ihn hauen soll, so will ich es nicht tun, aber laß gesund werden. Dann bin ich schon mit der Rache zufrieden, daß er sieht: ›Dieser Kossowicz, immer bin ich auf ihm herumgeritten und hab ihn sekkiert und gemartert, und jetzt hält er bei mir aus und pflegt mich!‹ Nicht wahr«, unterbrach er sich, »du, sag, das ist doch auch schon gute Rache? Ganz gute?!«
Ich konnte nur stumm bejahen. »Aber wo ist Lang jetzt?« fragte ich dann.
»Im Spital. Um sechs is endlich Wagen gekommen. Is aber schon halb tot. Ich fürcht' ich, wird sterben! Und mir is auch so. Bleib weg, du, zehn Schritt vom Leib! Was machst für Gesicht, dummer Kerl? Also meinst: Rache hab' ich schon, auch wenn Lang stirbt?!«
Einige Minuten später mußte ich zum Spital, den Krankenwagen für meinen Kollegen zu holen. Am Morgen des 8. Juli ist er dort gestorben, er hat den Lehrer, der ihn gekränkt und bei dessen Pflege er sich die Krankheit geholt, nur um zwei Stunden überlebt.
Es ist eine wehmütige Erinnerung aus meiner Jugendzeit, die ich hier in schlichten, aber aus tiefstem Herzen quellenden Worten aufzeichnen will, die Erinnerung an einen edlen Tondichter, das schöne Mädchen, das er geliebt, und das herrliche Kunstwerk, in dem er seine Liebe ausgeströmt. Das Werk hieß: »Der Stern von Lopuschna«, das Mädchen ebenso und daneben Anastasia Bogdanowicz, der Künstler aber Frantisek Majir.
Der Name dürfte selbst den gründlichsten Kennern der neueren Musik nicht bekannt sein; Majir hat den Ruhm, den er verdient, nicht errungen. Aber das lag nicht an seinem Streben und Können, eine häßliche Intrige brach seine Kraft und raubte ihm den verdienten Lorbeer. Der Mann, der den teuflischen Anschlag ausgeheckt, war nur ein ganz gewöhnlicher Apotheker und steht für meinen Zorn zu tief, aber gelungen ist ihm sein Werk nur durch die Mithilfe eines auch heute noch vielgenannten, ja gefeierten Künstlers. Mit Unrecht gefeiert, wenn er etwa auch noch gegen andere die gleiche Schuld auf dem Gewissen hat wie gegen den armen Majir. Die Wahrscheinlichkeit spricht ja dafür, und dann wäre der ganze Ruhm dieses Mannes eitel Lüge. Doch will ich nichts behaupten, was ich nicht beweisen kann.
Den Frevel an Majir aber kann ich beweisen. Und darum werde ich den Namen des berühmten Komponisten am Schlusse dieser Aufzeichnung furchtlos nennen, es entstehe daraus, was da wolle. Wer eine sittliche Pflicht erfüllt, dem darf nicht bange werden – und habe ich nicht die Vergeltung ohnehin durch drei Jahrzehnte immer wieder aufgeschoben? Denn im Sommer 1865 ist Majirs Ruhm vor meinen Augen vernichtet, seine Künstlerkraft geknickt worden. Vorher hatte dieser Ruhm nur kurz geblüht, denn Majir war damals noch jung, etwa siebenundzwanzig Jahre, und alles an ihm war neu, der Hut, der Rock und die Stiefel, sogar der Name und die Nationalität waren neu. Sein Vater hatte noch Gottfried Mayer geheißen und sich sein Leben lang als Deutscher bekannt. Allerdings sprach es dagegen, daß er nicht bloß aus Chrudim stammte, sondern auch als Hausknecht nach Czernowitz eingewandert war. Denn dies war der Beruf, den die Tschechen fast ausschließlich ergriffen, um die Kultur aus Böhmen nach Wien und Pest sowie nach Galizien und der Bukowina zu tragen, wo es allerdings eigentlich immer schon genug eingeborene Hausknechte gegeben hat.
Aber wie dem auch sei, der Vater hieß wirklich Mayer und trug im Jahre 1848 mit vielem Stolz als Czernowitzer Nationalgardist das schwarz-rot-goldene Band um die Brust. In diesem glorreichen Jahr war er übrigens nicht mehr Hausknecht, sondern, dank seinem zähen Fleiß, Sensenhändler, und da er die rumänischen und ruthenischen Bauern, die zum Wochenmarkt in die Stadt kamen, etwas weniger betrog als seine Konkurrenten, auch sonst, mit dem landesüblichen Maß gemessen, ein ehrlicher Kaufmann war, so besaß er bald die ansehnlichste Eisenhandlung der Stadt, da, wo die Siebenbürger Gasse in den Ringplatz mündet, dem Rathaus gegenüber.
Noch sehe ich den dicken Mann mit dem blühenden Vollmondgesicht breit und stattlich in der Tür seines Ladens stehen, immer ein großes, kupferrotes Taschentuch in der Hand, das leider abfärbte, denn auch die Nase war kupferrot. Des Morgens, wo diese Nase noch grau war, lächelte er nur herablassend auf uns Jungen nieder, wenn wir an ihm vorbei nach dem Gymnasium zogen, mittags, wo sie sanft glühte, gönnte er uns zuweilen auch ein gütiges Wort, z. B.: »Ihr Raubersbub'n, was gaffts ihr mich an?«, des Nachmittags aber, wo die Nase bereits purpurn in die einbrechende Dämmerung schimmerte, glotzte er uns nur noch aus stieren Augen schweigend an.
Die Meinungen über ihn waren geteilt, die einen waren überzeugt, daß er sich täglich in Bier betrank, andere rieten auf Met, wieder andere auf Wein und Schnaps, an das abfärbende Taschentuch glaubten nur die edelsten Gemüter. Alle aber stimmten dahin überein, daß er deshalb doch ein tüchtiger Geschäftsmann sei und eigentlich nur täglich den aufsteigenden Gram über seinen Franz hinabschwemmen müsse. Das war sehr wahrscheinlich. Denn der Vater war nicht klüger als die anderen Leute von Czernowitz und hielt seinen Sprößling auch für einen Lumpen.
Franz war aber ein Genie. All die Merkzeichen, aus denen ein kundiger Blick erkennt, daß wieder ein neuer Stern am Horizont der Menschheit aufgeht, trafen auf ihn zu, nur daß eben niemand in der kleinen Stadt am Pruth einen solchen Blick hatte. Er war von schroffer Einseitigkeit wie jedes Genie und lehnte alles ab, was ihn innerlich nichts anging. Zunächst die Kenntnis der Lese- und Schriftzeichen, dann, nachdem ihm diese eingebleut worden, allen toten Wissenskram. Die moderne Gymnasialreform voraussehend und erwartend, blieb er drei Jahre in der untersten Klasse sitzen, bis man ihn hinauswarf. Träumerisch wie jedes Genie, schlief er nur täglich zwölf Stunden und lungerte die übrige Zeit müßig auf den Straßen und im väterlichen Laden umher, statt dort zu arbeiten und die Handelsschule zu besuchen. Auch sein Schönheitsdurst erwachte früh, keine Magd der Nachbarschaft war vor ihm sicher.
Anders jedoch äußerte sich seine künstlerische Anlage zunächst nicht, was ja auch ganz naturgemäß ist: aus einem Wunderkind wird höchstens ein Virtuose, der schaffende Genius reift langsam und organisch. Später aber, als sich seine Schwingen zu entfalten begannen – er pfiff, daß man es in der halben Stadt hörte, und half den Leierkastenmännern beim Einsammeln –, würdigte dies niemand, ja, er mußte deshalb sogar körperliche Züchtigung erdulden. Gottfried bestand darauf, daß er im Laden kräftig eingreife, und als Franz dies nun tat und namentlich in die Ladenkasse eingriff, und zwar mit aller Tatkraft, da war es dem Alten wieder nicht recht. Er prügelte ihn durch und verbannte ihn zu seiner Schwester nach Chrudim.
Immer das alte Lied! Es hat in Czernowitz Leute genug gegeben, die das billigten, wie es Leute in Wien gegeben hat, die Franz Schubert für einen verbummelten Schulmeister hielten.
Die Jahre vergingen, man hörte nichts von dem Knaben; die Taschentücher aber färbten immer mehr ab, und schließlich war Gottfried Mayers ganzes Gesicht schon in den Morgenstunden kupferrot. In noch hellerem Glanze jedoch begann das Gemüt des alten Mannes zu leuchten, immer leutseliger wandte er sich der Jugend zu, und schließlich mußte zuweilen die Polizei eingreifen, weil die Zwiegespräche zwischen dem ehrwürdigen Greis und den munteren Knaben immer geräuschvoller wurden, daß die halbe Stadt gerührt umherstand. Ich konnte dies deutlich verfolgen, denn er war unser Hausherr, meine Mutter wohnte im zweiten Stockwerk zur Miete.
Eines Tages aber – es war im Sommer 1863 – als ich aus der Schule heimkam, fehlte Herr Mayer in der Ladentür, und ich hörte die große Botschaft, daß der Franz heute morgen, nach siebenjähriger Abwesenheit, wieder eingetroffen. Und zwar, wie unsere Köchin erzählte, in Gestalt eines überaus schönen Jünglings, der mit einer für Czernowitz unerhörten Pracht gekleidet sei.
Schon am nächsten Tag konnte ich mich selbst überzeugen, daß diese Beschreibung zutraf. Herr Mayer junior machte bei den Mietern seinen Antrittsbesuch und teilte ihnen mit, daß er die Verwaltung des Hauses und Ladens übernommen.
Schon die äußere Hülle vermochte den Blick zu fesseln. Er trug einen Anzug aus weißem, mit dicken blauen Quadraten bedecktem Sommerstoff, eine rote Krawatte, rote Handschuhe und einen weißen Strohhut mit blaurotem Band. Die Gestalt war wuchtig und glich, da er etwas kurz war, einer auf zwei Pfeilern ruhenden Kugel. Das Haupt aber zeigte sofort das Genie. Denn so langes Haar gedieh bei keinem gewöhnlichen Menschen, als gelbe Mähne erhob es sich wohlgeölt über der niedrigen Stirn und fiel dann in mächtigen Locken auf den Nacken nieder. Um den allerdings etwas breiten Mund lag ein weiches, träumerisches Lächeln, und die kleinen, wasserblauen Augen blickten so verzückt nach oben, daß man von ihnen zunächst nur das Weiße sah. Konnten meine Mutter und ich all dies schon bei den ersten geschäftlichen Worten bewundern, so gestaltete sich sein Gebaren vollends, als er Platz nahm und von sich zu reden begann, wahrhaft beängstigend künstlerisch. In sanftem Lispeln, das nur zuweilen durch einen Seufzer, dann aber unvermutet durch ein Donnerwort unterbrochen wurde, erzählte er, daß er seinem greisen Vater durch die Heimkehr ein schweres Opfer gebracht, denn wohl habe er in Prag den Eisenhandel erlernt, aber sein Herz hänge an der heiligen Kunst, er sei Tondichter, habe schon einzelnes komponiert und: »Hier« – er schlug sich auf die Stirn, daß es dröhnte –, »hier wogt eine Oper.« Aber der alte Herr habe sich so sehr nach ihm gesehnt, und so habe er sich aus Kindesliebe darein gefunden, sein Leben in der Fremde zu verbringen.
In der Fremde? fragte meine Mutter. Er sei doch ein geborener Czernowitzer, und sie erinnerte sich noch seiner, wie er die ersten Höschen getragen.
Er schüttelte elegisch das Haupt. »Die ersten Höschen – ja!« sagte er schmerzlich lächelnd, »aber ist dies meine Heimat? Hat man hier Sinn für die Ideale? Hier sind Musikanten, aber keine Künstler«, fügte er dröhnend hinzu. »Und dann«, hauchte er wieder, »freilich hat mich mein teures Mütterchen hier zur Welt gebracht, aber ist hier Böhmen? Wer versteht hier meine Sprache?« Und dann donnernd: »Wir sind ja Tschechen!«
Das habe sie gar nicht gewußt, erwiderte meine Mutter, auch sei Mayer ein deutscher Name.
»Majir!« brüllte er und fügte dann hauchend hinzu: »Mein guter Vater war so schwach, hier seine Nationalität zu verbergen. Ich kann es nicht, die Majirs waren immer treue Söhne ihres Volkes.« Und wieder donnernd: »Treue Söhne!« Dann fragte er mich, ob ich musikalisch sei.
»Nur ein wenig«, erwiderte ich.
»Dann wird Ihr Leben öde sein«, flüsterte er mitleidig. Damit erhob er sich und kündigte meiner Mutter an, daß er den Zins um hundert Gulden steigern müsse; er sagte es mit weicher, zitternder Stimme, aber es gefiel ihr doch nicht. »Glauben Sie mir, es muß sein«, hauchte er, die Hand in schmerzlicher Bewegung aufs Herz pressend, und ging.
Verblüfft blickten wir ihm nach. »Man sieht gleich, daß er ein Künstler ist«, sagte ich schüchtern.
»Ach was!« rief meine Mutter, »ein eitler Narr ist er und dabei doch ganz schlau!« Ich würde dies Urteil, welches dem Scharfblick meiner guten Mutter kein günstiges Zeugnis ausstellt, nicht verzeichnen, wenn mich nicht die Wahrheitsliebe dazu zwänge, aber ich darf auch entschuldigend beifügen, daß viele Leute so dachten und leider gerade die erfahrensten. Für Majir schwärmten eigentlich nur die Köchinnen und einige Gymnasiasten, alle anderen waren gegen ihn.
Schon daß die Majirs immer gute Tschechen gewesen, stieß auf entschiedenen Unglauben. Das entlegene Städtchen im Osten war immer gut deutsch gesinnt; man nahm es dem Künstler übel, daß er über die »Tyrannei der Deutschen« klagte, und verspottete ihn, weil sich sein heißer nationaler Drang sogar in der Kleidung offenbarte. Denn jenes Sommerkostüm hatte den geheimen Sinn, daß es die slawischen Farben, blau-weiß-rot, präsentierte. Im Winter aber trug Majir einen verschnürten Rock, einen wallenden slawischen Mantel und eine Pelzmütze »à la Hus«.
Auch sein Genie wurde bezweifelt, am meisten – wieder das alte Lied! – von den Musikern.
Er war das Mitglied des Gesangvereins geworden und spielte im Musikverein die zweite Violine. Die Kapellmeister sagten ihm nach, daß er ein mittelmäßiger Dilettant sei, das einzige, was er leidlich leiste, sei Tanzmusik auf dem Klavier, aber das gehöre nicht zur Kunst. Und von seinen Kompositionen habe er bisher nur gesprochen, aber nichts gezeigt, so sehr man in ihn dringe. Mich, der ich zu seinen Bewunderern gehörte, kränkten diese Reden, und ich fragte ihn einmal um den Grund seiner Zurückhaltung.
»Lieber junger Freund«, lispelte er, »soll ich auch noch den Neid gegen mich entfachen? Ich warte, bis die Oper in Prag aufgeführt ist – dann muß es gewagt sein, dann fürchte ich auch keine Nadelstiche mehr. Ja, vorläufig heißt's auch von mir: Pegásus im Joche!«
Bei allem ehrfürchtigen Mitgefühl erlaubte ich mir doch die Bemerkung, es heiße »Pégasus«.
»Tschechisch heißt es Pegásus«, erwiderte er mit überlegenem Lächeln. Dann drückte er mir die Hand und sagte: »Auch mein Tag wird kommen. Eine kleine Gemeinde habe ich schon auch hier!«
In der Tat verlautete bald, daß Majir Auserwählte durch Proben seines Schaffens entzücke: einige Familien, in denen er verkehrte. Sie gehörten insgesamt dem wohlhabenden, mehr durch Besitz als durch Bildung ausgezeichneten Bürgerstand an. Was Majir bei ihnen Eingang verschafft, war nicht sein Genius, noch weniger die blau-weiß-rote Kleidung und Gesinnung, wohl aber der Reichtum des Vaters und die Art, wie der junge Künstler sein Geschäft betrieb. Daß er den Eisenhandel gründlich verstehe, gaben selbst seine schlimmsten Gegner zu. Im Gegenteil, die meinten, er verstehe ihn nur allzugut, die Waren habe er verschlechtert, den Preis erhöht und dennoch den Umsatz gesteigert. Auch fehlte es an Törichten nicht, die schon deshalb sein Talent bezweifelten – als ob nicht Goethe ein trefflicher Minister gewesen wäre und Meyerbeer ein genauer Kenner des Kurszettels!
Namentlich in jenen Familien, wo es heiratsfähige Töchter gab, wurde Majir gern gesehen, und hier ließ er sich zuweilen herbei, etwas aus seinen »Träumereien« zum besten zu geben. »Was verstehen die von Musik«, brummte der alte Kapellmeister Pauer, »ihnen kann er die Volkshymne als seine Komposition vorspielen, und sie erkennen's nicht.«
Diese und ähnliche hämische Reden konnten nicht hindern, daß man allmählich auch in weiteren Kreisen von Majirs Kompositionen zu reden begann. Namentlich seit seines Vaters Tode, im Frühling 1864, steigerte sich die Anerkennung. Wie das zusammenhing? Böse Zungen wiesen darauf hin, daß der alte Herr, der sich still und emsig in ein delirium tremens und schließlich in ein besseres Jenseits getrunken, dem Sohne ein weitaus größeres Vermögen hinterlassen, als man ihm zugetraut. Die Wahrheit lag natürlich anderswo: der Schmerz hatte das weiche Künstlergemüt tief aufgerührt und entlockte ihm nun immer edlere Perlen. Möglich auch, daß noch ein anderes Erlebnis mit dazu beitrug. Im Herbst gestand mir Majir, er würdigte mich seines Vertrauens, weil ich im ganzen Hause als einer der ersten Lyriker der Siebenbürger Gasse galt – da also gestand er mir, daß er liebe. »Nicht zum erstenmal, junger Freund, aber zum letzten! Oh, wie schön sie ist, eine wahre Hoboe!«
»Hebe?!«
»Tschechisch heißt es Hoboe! Oh, wenn sie mein würde!« Den Namen nannte er nicht, aber im Winter war es bereits ein offenes Geheimnis, daß Majir um Anastasia Bogdanowicz werbe. Auch darüber machten die Leute boshafte Bemerkungen, die ich nur deshalb wiedergebe, um sie widerlegen zu können.
Vor allem stieß man sich daran, daß ihr Vater, Herr Stefan Bogdanowicz, ein Armenier, der als Ochsenhirt begonnen, um als reicher Rentier zu enden, sein Vermögen auf nicht ganz reinliche Weise erworben. Einen triftigen Beweis dafür konnte man nicht erbringen, denn der Umstand, daß er zwei Jahre wegen schweren Wuchers und Betrugs gesessen, kann in einer Zeit, wo die Verurteilung Unschuldiger schließlich die Aufmerksamkeit aller Gesetzgeber auf sich gezogen hat, nicht als entscheidend gelten. Herr Stefan behauptete, er sei das Opfer beispielloser Undankbarkeit geworden. Gerade der Mensch, von dem er keinen Heller Zinsen genommen, habe ihn denunziert. Und das war richtig. Er hatte von dem Edelmann, dem er gegen die Verschreibung seiner Güter fünftausend Gulden geliehen, keine Zinsen, ja nicht einmal das Kapital gefordert, sondern sich großmütig mit dem Gut allein begnügt. Übrigens war dies schon vor zehn Jahren geschehen. Viele dachten nicht mehr an die Undankbarkeit des Edelmannes, andere wieder fanden keinen Grund, Champagner zu verschmähen, wenn er von einem Opfer kurzsichtiger Justiz gespendet wurde. So fehlte es seinem Hause nicht an Gästen und seiner Tochter nicht an Bewerbern.
Was aber Fräulein Anastasia betrifft, so mochte man allerdings zugeben, daß sie mehr einer Oboe als einer Hebe glich, denn mit dem Blasinstrument hatte sie die scharfe hohe Stimme gemein, während an die Göttin der Jugend nicht viel erinnerte. Aber auch sie hatte ihre Vorzüge. Vor allem war sie kein leichtfertiger Backfisch mehr, sondern ein gereiftes Mädchen, ein Vorzug, den sie selbst freilich bescheiden verleugnete. Ferner brauchte, wer sie nahm, nicht viel auf Kleiderstoffe auszugeben, denn sie war ein hageres, kleines, pechschwarzes Persönchen. Endlich aber vereinte sie mädchenhafte Schüchternheit mit dem tiefen Bewußtsein ihres inneren Wertes, der sich auf etwa eine Viertelmillion Gulden belief. Eben darum hatte sie noch keinen Bewerber erhört, auch Majir hatte sich den ganzen Winter vergeblich bemüht. Vielleicht geschah es deshalb, weil ihr zur selben Zeit ein anderer ernster Freier genaht war: Herr Xaver Korn, der neue Besitzer der Apotheke »Zum heiligen Salvator«. So schön wie Majir war er nicht, auch gar nicht genial, zudem ein kinderloser Witwer von etwa vierzig Jahren, aber er war sehr respektiert, und seine Sippe gehörte zu den ersten der Stadt. Das machte Anastasia schwanken. Einer Familie anzugehören, die geachtet war, hätte Reiz für sie gehabt – den Reiz der Neuheit.
So standen die Dinge noch im Juli 1865. Da aber sollten sich in rascher Folge die Ereignisse abspielen, deren ich bereits im Eingang dieser Aufzeichnung erwähnt. Man höre und staune, wie weit der Neid selbst einen berühmten Künstler führen kann. Etwa zehn Meilen von Czernowitz liegt im oberen Serethtal der Kurort Lopuschna. Dorthin pilgern im Sommer viele Czernowitzer, um Molke zu trinken und im Sereth zu baden. Besondere Heilerfolge hat das kleine Bad nur auf einem Gebiet aufzuweisen: einige Mädchen haben sich dort im letzten Stadium der Gereiftheit noch glücklich verlobt. Die Fälle sind beglaubigt. Vielleicht erklären sie sich durch die Langweiligkeit des Badelebens, vielleicht auch macht die einförmige, aber großartige Berglandschaft von wilder, ja grauenhafter Schönheit den Menschen gegen kleinere Schrecknisse stumpf. Genug, man verlobt sich in Lopuschna, und wenn das nicht glückt, verliebt man sich wenigstens. Ich meinerseits ging freilich in den Ferien von 1865 aus einem anderen Grunde hin: weil ich schon verliebt war.
Ich darf heute gestehen, daß sie Charlotte hieß, prächtige braune Augen und Haare und auf der Oberlippe ein allerliebstes kleines Mal hatte. Alles braun, wie eine kleine, nette, appetitliche Haselnuß. Sie war sechzehn und ich ein Jahr älter. An den Gedichten, die ich auf sie gemacht, könnte sich ein Verleger arm drucken, aber ihr zu sagen, daß ich sie liebte, habe ich nicht gewagt. Gewußt wird sie es freilich haben, das weiß jede, auch wenn sie erst sechzehn ist. Sie hat später einen Weinhändler geheiratet, ist sehr dick geworden und geht jetzt jährlich nach Marienbad. Ich bin ihr dort vor einigen Jahren begegnet . . . ach, hätte ich sie nie wieder gesehen! Im stattlichsten Häuschen des Orts, auf dem Wege zu den »drei Linden«, wohnte Anastasia mit ihrem Vater. All die Sommer vorher, wo sie bereits ein junges Mädchen war – denn reichlich fünfunddreißig Jahr mochte es schon her sein, seit an ihrer Wiege die Grazien ausgeblieben –, hatte sie mit dem greisen, ehrwürdigen Herrn längere Reisen gemacht, ans Meer, ins Hochgebirge, in die großen böhmischen Kurorte, natürlich jene beiden Jahre abgerechnet, die er in jener kühlen, aber dennoch unbehaglichen Sommerfrische auf Staatskosten verbracht. Daß sie diesmal das kleine Lopuschna gewählt, deutete Majir als einen Triumph seiner Werbung, denn daß er ihr nicht nach Ostende oder ins Berner Oberland würde folgen können, hatte er ihr gesagt, einerseits der Eisenhandlung und andererseits der Oper wegen, die damals eben nach seiner Versicherung geradezu ungestüm aus dem Hirn auf das Notenpapier zu wogen begann.
Aber dieser Traum zerrann ihm, als er zwei Tage, nachdem Vater und Tochter abgereist, im Posthof zu Czernowitz den Eilwagen nach Lopuschna bestieg, denn wer saß da schon im Wagen und fuhr bei seinem Anblick erschreckt zusammen?! Der »Pillendreher«, die »Philisterseele«, Herr Xaver Korn.
Anastasia begrüßte sie beide gleich herzlich und freute sich, daß sie Wort gehalten. Dann kreischte sie mit ihrer Oboen-Stimme in jenem anmutigen Deutsch, das sich ergibt, wenn eine Armenierin in der Bukowina gemütliches Österreichisch nachahmt: »Dos is jo a Saunest! Nix als Berg und sogar kane Toiletten nicht! Die Speisen nicht zum Fressen. I hob mich schon sehr g'langweilt!«
Nun, das änderte sich von derselben Stunde ab, denn wenn Anastasia mit der Kurzweil, die sich ihr nun bot, nicht zufrieden war, so mußte sie recht ungenügsam sein. Schon des Morgens, wenn sie auf der Promenade erschien, konnte sie darauf gespannt sein, welcher der beiden Verehrer zuerst auf sie zustürzen und ihr den größeren Strauß überreichen würde. Denn die Größe dieser Blumenspenden wuchs durch die Konkurrenz immer mehr, und schließlich waren es wahre Wagenräder aus Rosen und Vergißmeinnicht, unter deren Last die entflammten Freier dahergekeucht kamen.
Dann begann der Kampf um den Platz an ihrer Seite, denn da sie stets am Arm des Vaters erschien, so konnte nur einer das Glück genießen, das Moschusparfüm, das sie umwitterte, aus nächster Nähe einzuatmen, der andere mußte nur eben neben dem ehrwürdigen Stefan einherwandeln. War das entschieden, so begann der Kampf, wer heute die glänzendere Konversation zu machen wußte. Majir sprach von den göttlichen, slawischen Meistern, daneben auch von Wagner und Beethoven, »nur Deutsche, aber talentvolle Menschen«, vom hunderttürmigen Prag und von der Schönheit der Karpatenlandschaft, wie sie sich in seiner Künstlerseele abspiegelte. Herr Korn, der nicht viel über Lemberg, wo er den Pharmazeutenkurs absolviert, herausgekommen und eine Offenbachsche Melodie nicht von einer Bachschen Fuge unterscheiden konnte, suchte seinen Rivalen durch Czernowitzer Klatschgeschichten und zarte Anspielungen auf die Einträglichkeit der Salvatorapotheke zu schlagen. Das war aber auch alles, was dieser Herr leisten konnte; höchstens wußte er noch zu erzählen, was der Czernowitzer Gemeinderat, dem er angehörte, jüngst beschlossen. Kein Wunder, daß in der Konversation der so zart und tief empfindende Künstler den Philister besiegte. Hingegen verstand sich dieser, da er schon wiederholt in Lopuschna gewesen, auf das Arrangieren von Landpartien besser, und zuweilen gelang es ihm auch, für diese Ausflüge einige Honoratioren unter den Badegästen zu gewinnen. Das brachte das Zünglein der Waage wieder ins Gleichgewicht, weil es Menschen waren, die bisher nie von der verwerflichen Undankbarkeit jenes Edelmannes zu überzeugen gewesen und jede Berührung mit dem reichen Armenier ängstlich gemieden. Die meisten jedoch bewunderten auch jetzt noch das vierblättrige Kleeblatt nur aus der Ferne. Es war aber auch kein alltäglicher Anblick, denn während man sonst wie überall, so auch in Lopuschna, daran erinnert wurde, daß leider die Zeit der herrlichen Antike vorüber ist, lag auf dieser Gruppe ein Abglanz von Hellas schönheitstrunkenen Tagen.
Schon jeder einzelne stach in die Augen.
Wie Majir war, ist ja bereits gesagt. Hinzuzufügen wäre nur, daß er in diesen Sommertagen eine wahrhaft tizianische Farbenpracht entwickelte. Blaue Hosen mit roten Streifen, weiße Röcke mit blauen Streifen, rotblaue Krawatten, weiße Hüte mit blauroten, blaue Hüte mit weißroten Bändern, dazu das Lockenhaar, das nun fast schon den halben Rücken bedeckte – stumm vor Neid starrten ihm die Menschen nach, die Stiere aber gingen brüllend auf ihn los. Übrigens erwies sich auch bei dieser Gelegenheit, daß selbst der Hang zu hämischer Verketzerung ein gewisses natürliches Gerechtigkeitsgefühl in der Menschenbrust nicht ganz ertöten kann. Soviel man an dieser Tracht nörgelte, so wagte doch niemand zu leugnen, daß sich, solange die Erde stehe, noch kein Mensch so getragen. Hingegen behauptete man ziemlich einstimmig, daß das Haar nicht natürlich gekräuselt sei: selbstverständlich ein böswilliges Sophisma, denn weder an dem Friseur von Lopuschna noch an seinem Brenneisen war etwas Unnatürliches zu finden.
Was Herrn Bogdanowicz betrifft, so hatte ihn schon die Natur zu dem geschaffen, was er geworden, ich meine nicht Zuchthäusler, sondern Ochsenhirt. Der würdige Ehrengreis war sechs Fuß lang und zwei Fuß breit, seine Schuhe hätten daneben auch als Kähne verwendet werden können. Handschuhe trug er überhaupt nicht, vielleicht, weil jede Fabrik eine Bestellung für sein Maß als schlechten Witz betrachtet hätte. Auch er pflegte sein Haar immer lang zu tragen – natürlich jene beiden Jahre abgerechnet, wo man es ihm abgeschoren hatte. In straffen, einst schwarzen, nun grauen Strähnen umstarrte es sein breites Gesicht mit den hervorspringenden Backenknochen, der niedrigen Stirn, den buschigen Brauen, dem wulstigen und sehr weitgeschlitzten Mund. Aber daß er sich die Ohren fett machte, wenn er Butterbrot aß, war eine Übertreibung. Auf den ersten Blick erinnerte das Gesicht an jene Schützlinge, denen die Kraft seiner Jugend gegolten, namentlich an die wilden, bessarabischen Ochsen, aber wen sein schlauer, unsteter Blick traf, erkannte wohl, daß dieser Mann nicht durch Zufall reich geworden, und hielt in aufrichtiger Bewunderung seine Augen offen und die Taschen zu. Übrigens war der Biedere von schlichter Lebensführung und jedem Luxus feind. Ohne Grund gab er niemand einen Bissen Brot, geschweige denn Trüffelpastete und Champagner, es sei denn, daß die Tochter es befahl. Aber über seine Kleidung hatte auch sie keine Macht. Wer seine reinen Hemden trug, war ein ungelöstes Rätsel, hingegen behaupteten Kundige, daß sein dunkler Sommeranzug einst neu und von hellgrauer Farbe gewesen. Es waren sonst verläßliche Gewährsmänner, aber wer den Anzug sah, konnte schwer daran glauben.
Im Gegensatz zu ihm trug sich die schöne Anastasia stets nach der neuesten Mode, ohne sich doch sklavisch daran zu binden, mit sicherem Schönheitsgefühl wußte sie das neueste Modekupfer so zu modeln, wie es ihr am besten stand. Die Czernowitzer Damen meinten freilich, wenn man sich die jeweilige Mode verleiden lassen wolle, brauche man sich bloß die Armenierin anzusehen, denn sie mache alles zur Karikatur – aber das war nur eben der ohnmächtige, giftige Neid auf Anastasias Geschmack und Wagemut. Denn allerdings gehörte einige Entschlossenheit dazu, um eine Krinoline zu tragen, die im Durchmesser dem Heidelberger Faß nur wenig nachstand, aber eben dies gab einen frappierenden Gegensatz zu den knappen Taillen, die damals Mode waren. Hübsch war es namentlich, wenn sie zu einem feuerroten Unterkleid ein hellgrünes Oberkleid anlegte. Sie glich dann, da sie stets am Arm des Vaters dahinging, einer Tulpe mit abwärts gekehrtem Kelch und dünnem Stengel, die der riesige Mann neben sich herschleifte. Denn sie reichte ihm wenig über die Hüfte, so daß sie den Arm hochrecken mußte, um den seinen zu erreichen. Anastasia gehörte nicht zu den majestätischen, sondern zu den zierlichen, graziösen Erscheinungen. Wer sie von ferne sah, mochte sie für ein Kind halten, in der Nähe erkannte man schon aus den etwas scharfen Fältchen um Mund und Augen das völlig erwachsene Mädchen, das an Reife nichts zu wünschen übrigließ. Beinahe ebenso schneidend wie die Oboen-Stimme war der Blick der kleinen graugelben Augen; die Nase erinnerte durch ihre Länge an jene der Kleopatra, wogegen selbst diese berückende Ägypterin jenes pikanten Reizes entbehrt hatte, den Anastasias Oberlippe aufwies: eines kleinen, zierlichen, aber doch wohlgediehenen Schnurrbärtchens.
Der Teint war insofern merkwürdig, als er zu den verschiedenen Tageszeiten wechselte. Wenn Anastasia am frühen Morgen – sie wohnte in Lopuschna mir gegenüber – das Fenster öffnete, um nach dem Wetter auszuspähen, so war ihre Haut gelblich mit einem Stich ins Graue, auf der Promenade hingegen war sie milchweiß, und die Wangen blühten in gesunder Röte. Als sie jedoch einmal durch einen Gewitterregen durchnäßt vom Spaziergang heimkehrte, da wiesen diese Wangen ein Farbenspiel auf, das jeden Physiologen als einzige, kaum wieder zu beobachtende Erscheinung gefesselt hätte. Ebenso wäre einem Manne der Wissenschaft das Rabenhaar dieser Schönen gewiß von größtem Interesse gewesen; es hatte die seltsame Eigenschaft, sich des Nachts zusammenzuziehen und bei Tage aufzuschwellen. Des Morgens sah ich es als dünnes Rattenschwänzchen am Hinterhaupt wippen, bei Tage blühte es zu einem Lockenwald auf, oder sein Reichtum war durch ein großes Goldnetz nur mühsam gebändigt. Kurz, eine Fülle von seltenen, zum Teil einzigen Reizen haftete an diesem Mädchen, aber freilich kein Quentchen Fleisch. Tadle das, wer mag. Mir weckte ihr Anblick die traute Erinnerung an die heimatliche Heide, auf der nicht die geringste Erhöhung zu gewahren ist. Ich gebe zu, nicht jeder ist auf der Heide geboren, es ist möglich, daß auch die Viertelmillion dazu beitrug, dem Mädchen Freier zuzuführen, aber nur des Geldes wegen geschah es gewiß nicht.
Was endlich Herrn Xaver Korn betrifft, so bot zwar seine Kleidung nichts Besonderes, er war eben auch in dieser Beziehung ein Philister, aber anmutig anzuschauen war er deshalb doch. Die Natur selbst hatte ihn gewissermaßen zum Gatten Anastasias, zum Schwiegersohn des Armeniers bestimmt, denn mit diesem hatte er die Länge, mit dem Mädchen die Dünne gemein, so daß man ihn wohl mit einem Bleistift hätte vergleichen können, wenn es Bleistifte gäbe, die in drei Linien gebrochen sind. Die Beine stiegen ziemlich gerade aufwärts, der Oberkörper beugte sich sanft vor, wogegen er das Haupt in den Nacken zurückzuwerfen pflegte, vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht, weil er Gemeinderat von Czernowitz war. Das schmale, längliche Gesicht war von interessanter Blässe und wies immer den Ausdruck leisen Staunens auf, und der offene Mund schien stets zu fragen: »Gibt es noch so etwas wie die Apotheke zum heiligen Salvator?« Im rastlosen Nachdenken über diese Frage war ihm alles Haar ausgegangen, nur im Nacken stand noch ein bißchen fahles Gestrüpp. Ich hielt ihn damals für einen harmlosen Spießbürger. Ach, wie sollte ich mich in dem Manne täuschen!
Man sieht, die vier waren wirklich – schon jeder für sich – geeignet, eine Badegesellschaft, die sonst nicht viel zu tun hat, mit immer neuem Wohlgefallen zu erfüllen, aber nun traten sie ja zudem immer vereint auf. Daraus ergaben sich für ihre Bewunderer täglich neue Freuden. Es war hübsch zu sehen, wenn der mächtige Armenier die Tulpe neben sich herschleifte, während die Tonkunst in Kugelgestalt neben dem dreimal gebrochenen Bleistift hinterdrein wandelte. Auch der lange Dünne und der lange Dicke machten sich gut, während Majir und Anastasia, beide klein, beide farbenprächtig und doch so verschieden, vor ihnen einherschritten. Aber den anmutvollsten Anblick gewährten sie doch in jener Gruppierung, in der man sie nach einer Woche fast immer sah; am rechten Flügel Herr Korn, neben ihm Anastasia am Arm des Vaters, und Majir am linken Flügel, so daß die Linie zweimal hoch anstieg, um sich dann tief zu senken. Sehr tief, denn während Majir neben dem Vater einherging, lag sein Haupt so betrübt auf der Brust, daß er sich noch mehr als sonst der Kugelgestalt näherte.
In der Tat, alle äußeren Zeichen sprachen dafür, daß die schnöde, nüchterne Pharmazie, die zudem verwitwet war und eine Glatze hatte, über die blühende Tonkunst mit dem Riesenhaar den Sieg davongetragen. Auch bei dem ersten Tanzkränzchen, dem die vier beiwohnten – diese berauschenden Feste fanden jeden Sonnabend in dem kleinen, schlecht gedielten, erstickend heißen Saal des Gasthauses zu Lopuschna statt –, fiel es allgemein auf, daß Anastasia wohl ein dutzendmal mit dem Apotheker dahinschwebte, zum Glück hatte er so lange Arme, um sie unterhalb der Schultern fassen zu können, während Majir nur einen Walzer und dann mit schwerer Mühe nur eine Française eroberte. Ach, und bei der Damenwahl wählte sie nur Herrn Korn, und immer wieder Herrn Korn, und beim Kotillon gab sie Herrn Korn ihre drei Orden und Herrn Majir nicht einmal einen halben.
Wie aber nahm die Badegesellschaft dies auf? Äußerte jemand sein Mitgefühl mit dem edlen, in seinen heiligsten Empfindungen gekränkten Künstler?!
Ich wurde ganz melancholisch, als ich so nach rechts und links horchte – wie böse waren diese Menschen! »Haha«, kicherten die einen, »sogar diese gemalte alte Schachtel mit dem Zuchthausvater läßt den tschechischen Hausnarren abfallen.« – »Ja, das ist lustig«, erwiderten die anderen, »aber traurig ist, daß die Habgier einen bisher geachteten Menschen, den Apotheker, so weit führt, daß er sich um sie bewirbt!« Nirgendwo eine Spur von Wohlwollen, von Anerkennung für das Genie, mit dem die platten Alltagsmenschen dieselbe Luft teilen durften.
Als der letzte Geigenstrich verklungen war und ich neben der kleinen, braunen Charlotte und ihrer dicken Mutter dem Ausgang zuschritt, um die Damen nach Hause zu geleiten, trat Majir auf mich zu. Seine Lippen bebten. »Ich muß Sie sprechen!« flüsterte er mir erregt zu. Ich nickte und kehrte, nachdem ich meine Ritterpflicht erfüllt hatte, zum Wirtshaus zurück. Er erwartete mich vor der Tür. »Wollen wir noch ein bißchen spazierengehen?« fragte er. »Ich bin so nervios.«
»Nervös«, sagte ich.
»Tschechisch heißt es nervios«, erwiderte er heftig. Dann aber schob er seinen Arm unter den meinen.
»Na ja«, sagte er, »Sie haben vielleicht recht. Woher soll ich auch gut deutsch reden? Bin ich ein Deutscher? Im Tschechischen mach' ich keine Fehler! Aber das ist ja alles gleichgültig. Die Hauptsache ist: was bin ich? Ich bin ein junger Mann, die Damen in Prag haben für mich geschwärmt, ich komponiere eine Oper, ich spiele Klavier, ich habe ein gutes Geschäft. Ist das wahr oder nicht?!«
»Sehr wahr!« erwiderte ich.
»Gut! Und dennoch – haben Sie gesehen? Ich frage Sie – Sie sind ja gewissermaßen mein Bruder, Sie machen Gedichte –, welcher der sieben Musen man huldigt, ist ja gleichgültig.«
»Ganz gleichgültig«, erwiderte ich, »aber es gibt neun Musen.«
»Auch das ist gleichgültig! Wie oft soll ich sagen, im Deutschen mache ich Fehler – aber haben Sie gesehen?!«
»Ich habe gesehen!«
»Ihm die drei Orden, mir keinen, ihm alle Quadrillen, den Kotillon, sogar die Rundtänze – ich muß es mir zweimal ausbetteln! Und was ist er? Ich frage Sie, was ist er?«
»Ein Apotheker«, erwiderte ich und suchte in das Wort eine Welt von Mißachtung zu legen.
Es entging ihm nicht. »Sie verstehen mich!« rief er und faßte meinen Arm fester. »Aber wenn er noch wenigstens jung und schön wäre! Er hat ja kein Haar auf dem Kopf und ist dünn wie ein Zwirnsfaden. Das ist ja kein Mann, sondern ein Schemel!«
»So heißt es tschechisch«, sagte ich, »deutsch heißt es ›Schemen‹. Aber wie erklären Sie sich dennoch seinen Triumph?«
»Weil er mich verleumdet hat!« rief er. »Es kann gar nicht anders sein!«
»Aber was kann er gegen Sie gesagt haben?«
»Oh, vieles! Vor allem sagt er, ich mache nur Schwindel, ich komponiere nicht. Hahaha! Ich kann keine Note erfinden. So lachen Sie doch!«
Ich lachte.
»Und dann sagt er: mein Vater hat fast nichts hinterlassen! Und mein Geschäft geht schlecht! Dieser Intrigant, dieser Melo-Masto-Mepho-«
»Mephistopheles . . . Aber woher wissen Sie das?«
»Weil mir der Alte vorgestern plötzlich sagt: ›Herr Majir‹, sagt er, ›Ihr Vater muß doch ein sehr tüchtiger Mensch gewesen sein, weil er durch das kleine Geschäft ein so großes Vermögen erworben hat‹. – ›Ja‹, sag' ich, ›sehr tüchtig.‹ – ›Aber merkwürdig ist es doch!‹ sagt er . . . Und dann fragt er? ›Was trägt jährlich Ihr Geschäft Reingewinn?‹ – ›Sechstausend!‹ – ›Merkwürdig.‹ Verstehen Sie, alles merkwürdig! – er glaubt es nicht. Und dazu die Launen dieses Fräuleins! Am Mittwoch sagt sie mir: ›Herr Majir, auf dem Kränzchen am Samstag möchte ich nach einer Melodie von Ihnen tanzen. Sie haben ja auch Polkas und Walzer komponiert, geben Sie etwas der hiesigen Musik, die studiert es ja in ein paar Stunden ein!‹ – ›Fräulein‹, sag ich, ›für Sie alles, aber das geht nicht! Ich hab' ja hier nichts mit!‹ – ›So lassen Sie es aus Czernowitz kommen!‹ – ›Fräulein‹, sag' ich, ›meine Kompositionen sind ja mein Heiligstes! Ich habe sie in meine eiserne Kasse eingesperrt.‹ – ›Nun‹, sagt sie, ›so komponieren Sie hier was! Sie sagen ja immer, die Melodien fliegen Ihnen nur so im Kopf herum, alle Tage drei, so schreiben Sie doch eine auf!‹ – ›Fräulein‹, sag ich, ›das sind ja Opernmelodien! Arien – verstehen Sie? – und Leitmotive und so Sachen. Die Zeit‹, sag' ich, ›wo ich Tänze komponiert habe, ist längst vorbei!‹ – ›Und auch wenn ich Sie bitte‹, sagt sie pikiert, ›können Sie es nicht mehr tun?‹ – ›Fräulein‹, sag' ich, ›meine musikalische Entwicklung – als Künstler nämlich – Schritt für Schritt – immer vorwärts, nie zurück. Also zum Beispiel Richard Wagner!‹ – ›Es ist gut!‹ sagt sie, ›Sie wollen es nicht!‹ – ›Aber wenn ich es auch schreibe‹, sag' ich, ›wer soll es hier spielen?‹ – ›Die Badekapelle!‹ – ›Oh, Fräulein Stasia‹, sag' ich, ›wie können Sie das einem Künstler zumuten! Diese elenden Musikanten!‹ Und hab' ich da nicht recht gehabt?«
»Nun«, sagte ich, »Tänze spielen sie doch eigentlich ganz erträglich.«
»Für Ihre Ohren!« rief er heftig, »für meine nicht. Ich kann das nicht tun, und wenn sie eine Aphrodicke wäre! Nein, nein! Und sie ist keine Aphrodicke!«
»Das ist sie nicht«, gab ich zu. »Übrigens heißt es deutsch Aphrodite. Also deshalb ist sie böse?«
»Ja, seit der Stunde behandelt sie mich schlecht. ›Reden wir nicht mehr darüber‹, sagt sie und lächelt so gewiß, wissen Sie, und schaut den Apotheker an, und der lächelt auch! Niederträchtig – was?«
»Sehr niederträchtig«, sagte ich. »Aber was wollen Sie tun? Sie können doch den Verdacht nicht auf sich sitzen lassen.«
»Aber kann ich es tun? Auch Richard Wagner täte das nicht, ich sage Ihnen, er täte das nicht! Und dann, von dieser Kapelle spielen lassen! Das kann ein Künstler wie Majir nicht tun! Und vor diesem Publikum! Lauter boshaftes Gesindel!«
»Aber auch unmusikalische Menschen. Was liegt Ihnen daran, wie die Sie beurteilen?«
»Natürlich nichts!« erwiderte er, wurde dann aber nachdenklich, blieb stehen, blickte zum Himmel empor und zur Erde nieder. Schon glaubte ich, daß der Geist über ihn gekommen, aber als er endlich sprach, fragte er nur: »Glauben Sie wirklich, daß niemand hier ist, der sich so halb und halb auf Musik versteht?«
»Ich wüßte wenigstens niemand.«
Er atmete auf. »Das wäre ja gut«, murmelte er und versank wieder in Nachdenken. Bewundernd blickte ich zu ihm empor, oder eigentlich, da ich etwas größer war, auf ihn hinunter. Welches Feingefühl einer Künstlerseele, dachte ich. Vor Kennern will er sich durch diese Kapelle selbst in einer Tanzkomposition nicht produzieren. »Es geht doch nicht«, sagte er dann, »diese Musikanten!«
»Gar so schlecht sind sie doch nicht«, meinte ich, »und der Kapellmeister, der kleine Kupczanko, ist sogar ein ganz begabter Mensch. Er hat mir selbst erzählt, daß er das Lemberger Konservatorium besucht hat und nur seiner Armut wegen im Sommer in Bäder spielen geht. Auf den wäre Verlaß.«
»Nein, nein!« sprudelte er hervor. »Gerade seinetwegen kann ich es nicht tun.«
»Halten Sie ihn für solchen Stümper?«
»Nein. Das heißt ja, natürlich! Den größten Stümper.«
»So? Aber wenn nun Fräulein Anastasia darauf beharrt?«
»Natürlich tut sie das«, seufzte er. »Mein Gott, was soll ich tun? Cert a peklo – wenn ich denke, daß dieser Pillendreher . . .« Er verstummte. »Gute Nacht«, murmelte er dann mit erstickter Stimme und eilte davon.
Ehrfurchtsvoll blickte ich ihm nach. Da spricht man, dachte ich, so viel von der Selbstsucht, der Habgier der Menschen, und dieser Künstler setzt lieber den Besitz des geliebten Mädchens aufs Spiel, als daß er seine künstlerische Entwicklung unterbräche oder auch nur eine Polka von einer Kapelle spielen ließe, die ihm nicht genügt. Wahrlich, in diesem Busen lodert die heilige Flamme. Und wie sehr sie lodert!
Als ich am nächsten Morgen auf der Promenade erschien, erschrak ich sehr: Majir fehlte, die schöne Anastasia wandelte nur zwischen dem Vater und dem Apotheker auf und nieder. Zu vermissen schien sie ihn nicht, sie lachte so laut und unbefangen, daß man das Gold an ihrem Gebiß weithin schimmern sah.
Aber ich hatte ihr doch unrecht getan. Als ich ihr ein zweites Mal begegnete, hielt sie mich an, wie sie denn überhaupt zuweilen ein freundliches Wort an mich wendete; Majir hatte mir das Glück verschafft, ihr vorgestellt zu werden. Sie fragte huldvoll, ob ich mich gestern recht müde getanzt, und trat dann dicht an meine Seite, so daß ich nun wohl oder übel neben ihr hergehen mußte. Denn einerseits war es ja ein Vergnügen, aber andererseits eine drückende, weil unverdiente Ehre.
»Wo is denn Ihr Freund Majir?« fragte sie, nachdem wir außer Hörweite der beiden Herren waren.
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich bekümmert. »Er war heute nacht so erregt.«
»Na, aufg'hängt hot er sich doch nicht«, sagte sie lachend, aber die Stimme vibrierte doch etwas nervios, wie es im Tschechischen heißt.
»Um Himmels willen!« rief ich, »so ein Genie.«
»Woher wissen S' denn, daß er an Schenius is?«
»Sie zweifeln doch nicht? Man sieht es ihm ja an . . . Und er sagt es doch selbst.«
»No ja, ober mon hört nix davon.«
»Ich glaubte, er hätte in Ihrem Salon . . .«
»No ja! Ober wir verstehn ja nix davon. Hören S', Sie sind ja sein Freund?!«
»Sein Bewunderer«, erwiderte ich bescheiden, »seinen Freund kann ich mich eigentlich nicht nennen.«
»Olles ans! Olsa hören S'. Der Majir g'fallt mir. A fescher Kerl! Aber da sind zwei Sochen. Erstens: kein Mensch glaubt an sein Schenius! Is a nit notwendig, daß a Eisenhändler a Schenius is. Ober dann soll er nit darmit schwindeln. Olsa: entweder steckt er den Schenius auf, oder er loßt hier etwas von seine Sochen spielen! Verstanden?«
»Ja«, erwiderte ich, »es ist ja auch deutlich genug!« Oh, dachte ich, und einem Mädchen von so harter Gesinnung hat sich dies weiche Künstlerherz zu eigen gegeben!
Aber es sollte noch deutlicher kommen.
»Zweitens: wos hot der alte Säufer hinterlassen? Wieviel tragts G'schäft? Das soll er mein Vottern ausweisen. Sie sind sein Freund, sogen Sie's ihm.« Sie nickte huldvoll und entschwand.
»Ich werde es ihm sagen«, murmelte ich drohend hinter ihr her. »Aber ich hoffe, du sollst keine Freude davon haben.« Damit ging ich dem Häuschen zu, wo er wohnte, das heißt, fügte ich in Gedanken hinzu, wenn du ihn nicht etwa schon zur Verzweiflung gebracht hast. Dann wehe dir!
Aber er lebte. Eben trat er aus seiner Tür. »Ich habe mich matt gefühlt«, erwiderte er auf meine besorgte Frage, »und wollte eigentlich gar nicht ausgehen. Gott Morphium hat sich heute nacht vergeblich von mir bitten lassen.«
Durfte ich ihm in diesem Zustand alles sagen? Und doch, vielleicht war es so das beste. Aber die Wirkung war doch eine etwas andere, als ich erwartet, ich hatte eben die Heftigkeit seiner Leidenschaft unterschätzt. »Das hab' ich ja ohnehin vermutet«, sagte er. »Mit dem Geld hat sie auch recht. Sehen Sie, da habe ich eben an meinen Buchhalter und an meinen Advokaten geschrieben. Die letzte Bilanz und die Erbschaftsakten werden in einigen Tagen da sein. Aber mein Künstlertum gebe ich hier nicht preis. Sie soll sich gedulden, bis wir zur ersten Aufführung meiner Oper nach Prag reisen.«
»Bravo!« rief ich, »aber eigentlich ist sie Ihrer überhaupt nicht würdig.«
»Ich liebe sie aber«, sagte er. »Und dann, wissen Sie, dahinter steckt ja der Vater. Ein Plato ist wie der andere, wer sich mit den Platokraten einläßt, muß auf solche Sachen gefaßt sein. Sie haben Geld und verlangen Geld.«
»Aber jenes unwürdige Mißtrauen in Ihr Genie?«
»Das hat mir ja der Trüffel, der Korn, eingebrockt. Oh, der Duckmäuser!«
»Tartüffe?«
»Fangen Sie schon wieder an? Probieren Sie einmal tschechisch zu reden, ob das ohne Fehler geht. Aber Sie sind ja mein Freund. Also, sagen Sie ihr meine Antwort.«
Ich tat es, aber sie schüttelte den Kopf. »Dann is nix mit uns zwei«, sagte sie. »Geld hat der Korn noch mehr. Der Majir ist mir lieber, weil er jung und fesch is, aber so lang ihn jeder für a Schwindler hält, nehm ich lieber den Korn – Ehrenmann, Gemeinderat – verstanden?«
Wie ein Leutnant, dachte ich. Und den Schnurrbart dazu hat sie ja eigentlich auch. Aber das war nun Majirs Sache.
Er schäumte auf, als er die Botschaft vernahm. In stolzen, edlen Worten wies er die schnöde Zumutung für immer ab.
»Sagen Sie ihr das!« rief er.
Ich machte mich auf den Weg.
»Halt!« rief er mir nach. »Lassen Sie mich noch nachdenken! Vielleicht . . . bis nachmittag.«
Zur Mittagsstunde fehlte er im Wirtshaus. Korn saß triumphierend da und führte das große Wort. So also, dachte ich bitter, wird edles Streben gelohnt. Der Philister triumphiert, während sich der Künstler daheim im Kampf zwischen Leidenschaft und künstlerischem Gewissen verzehrt und der irdischen Nahrung vergißt. Dies war aber zum Glück ein Irrtum. Majir hatte inzwischen nicht bloß sich verzehrt, sondern auch sein Diner, nur daß er es sich auf sein Zimmer hatte holen lassen. So erzählte er mir, als ich ihm nach dem Speisen begegnete. Zu einem Entschluß war er noch nicht gekommen. »Ich weiß nicht«, murmelte er immer wieder. »Kennen Sie den Kupczanko? Was ist das für ein Mensch?«
»Gar nicht übel«, sagte ich, »ich glaube sogar talentvoll. Aber das müssen Sie besser wissen.«
»Glauben Sie, daß er Geld braucht?«
»Ja!« rief ich aus innerster Überzeugung, »aber warum fragen Sie?«
»Nichts . . . aber da kommt er ja.«
In der Tat, da kam der Kapellmeister daher, ein junger, hübscher Mensch, kaum über die Zwanzig. Er war ärmlich gekleidet, trug aber den Kopf hoch. Als er Majir erblickte, überflog ein spöttisches Lächeln seine Züge; denn auch er gehörte damals zu jenen, die an ihm zweifelten, ja er behauptete sogar, nach einem Gespräch, das er mit Majir gehabt, daß dieser nicht Dur von Moll zu unterscheiden wisse. Majir trat mit herablassendem Lächeln auf ihn zu. »Immer fleißig, Herr Kupczanko?« fragte er.
»Leider nicht so fleißig wie Sie«, war die Antwort. »Man sagt ja, Ihre Oper kommt schon im Winter? Wenn Sie uns doch was draus geben wollten.«
»Unmöglich!« rief Majir. »Auch studieren Sie ja nichts Neues ein.«
»Oh, von Ihnen!« erwiderte der Kapellmeister. »Sonst reicht ja unser gewöhnliches Repertoire aus.«
»Das finde ich eigentlich nicht«, meinte Majir. »Besonders in Tänzen! Zum Beispiel, wie viele Walzer von Strauß spielen Sie?«
»Von Johann Strauß? Vier!« Er nannte die Titel. »Das ist doch genug!«
»O nein! Warum spielen Sie nicht einige neue von ihm?«
»Weil ich sie nicht habe. Und Noten zu kaufen und ausschreiben zu lassen, kostet Geld. Nach dem Gehör kann ich sie doch nicht spielen! Und ich habe noch dazu kein sehr gutes musikalisches Gedächtnis.«
»So?!« fragte Majir. »Nun, deshalb können Sie doch ein guter Kapellmeister sein! Vielleicht . . . aber ich weiß noch nicht . . .«
Er nickte ihm gütig zu und ging weiter. Mir schien es, als hätte dies Gespräch den Gebeugten merkwürdig erheitert.
Und in der Tat richtete er sich nach einer Weile tapfer auf und sagte entschlossen: »Es soll geschehen, ich komponiere einen Walzer, widme ihn dem Fräulein und lasse ihn hier spielen.«
Auf der Nachmittagspromenade bot sich den Badegästen jenes Bild, welches sie in den ersten Tagen von Majirs Aufenthalt erfreut. Triumphierend ging er neben Anastasia einher, Korn folgte betrübt mit dem Vater. Und bald wußte auch alle Welt, welches große künstlerische Ereignis das Tanzkränzchen vom nächsten Sonnabend bringen würde.
Dem Begnadeten fällt es leicht.
Am Sonntag hatte sich Majir zur Komposition entschlossen und um Notenpapier nach Czernowitz geschrieben, am Dienstag war es eingetroffen. In der Nacht darauf waren ihm ohne Klavier, ohne jeden anderen Behelf, die Töne aus der Seele aufs Papier geflossen, am Mittwoch morgen zeigte er mir das fertige Opus. Auf dem Titelblatt stand:
WALZER,
KOMPONIERT UND DEM
HOCHWOHLGEBORENEN FRÄULEIN
ANASTASIA BOGDANOWICZ
EHRFURCHTSVOLL ZUGEEIGNET
VON
FRANTISEK MAJIR.
op. 327.
»Gefällt Ihnen der Titel?« fragte er.
»Er könnte nicht besser sein!« rief ich begeistert. »Und dreihundertsechsundzwanzig Werke haben Sie schon komponiert?«
»Dreihundertsechsundzwanzig«, erwiderte er, jede Silbe betonend. »Natürlich die große Oper nicht mitgezählt.«
Er übergab Kupczanko sein Werk, der sich sofort an das Ausschreiben und Einstudieren machte. Nie hatte der Kapellmeister so angestrengt gearbeitet, und dabei kam er doch aus der Fröhlichkeit gar nicht heraus. Offenbar hatte auch ihn die heitere Anmut der Komposition bezaubert. – »Nun«, fragte ich, als ich ihm begegnete, »ist der Walzer ein Stümperwerk?« – »Im Gegenteil«, rief er, »das reizendste Ding von der Welt!« Und dabei lachte er übers ganze Gesicht. – »Also haben Sie keinen Zweifel mehr an Majir?« – »Nicht den geringsten!« Und wieder das tolle Lachen. Das fiel mir nicht weiter auf. Offenbar steckte eben in dem Walzer ein geradezu drastischer Humor. Hingegen stimmte es mich bedenklich, daß plötzlich Korn, welcher einige Tage nur noch aus zwei Linien bestand, weil er auch das Haupt demütig vorgebeugt trug, wieder die alte Dreizahl aufwies. Fast ahnte mir für den Sonnabend Schlimmes, denn ich hatte damals bereits sehr viele Künstlerbiographien gelesen und wußte, welche Dornenwege der Genius, namentlich im Beginn, zu wandeln hat. Die Befürchtung war grundlos, im Gegenteil, es wurde einer der reinsten, schönsten, erhebendsten Siege des Göttlichen über das Irdische, welche ich je mitmachen durfte.
»Der Stern von Lopuschna« war als der erste Walzer des Abends angesetzt. Als Kupczanko den Taktstock hob, trat lautlose Stille ein. Auch trat niemand zum Tanz an, die Spannung war zu groß. Majir stand neben der Erkorenen, er war etwas bleich, auch er tanzte nicht.
Die Töne begannen durch den Saal zu fluten, eine liebliche, anmutige, dabei berauschend fröhliche Weise, die einem unwillkürlich das Herz heiter und die Füße beschwingt machte. Ich war der erste, welcher der Lockung nicht widerstand und mit Charlotte dahinflog, andere Paare folgten.
Als die Musik zu Ende war, geschah etwas, was ich diesen neidischen Seelen nie zugetraut hätte, man applaudierte, nicht viel, nicht anhaltend, aber doch so, daß Kupczanko den Walzer mit Ehren wiederholen konnte. Nun wagte es auch Majir, der bis dahin mit gesenkten Lidern dagestanden, den Arm um die Holde zu legen und mit ihr dahinzufliegen.
Und nachdem es zu Ende war, wurde abermals applaudiert, aber diesmal noch lauter, daß Kupczanko zum drittenmal begann. Nun schwang sich alles mit, was Beine hatte, nur Korn blieb in seiner Ecke. Und endlich wieder ein Händeklatschen, jetzt so laut, daß die Wände dröhnten.
Ja, es war ein schöner Moment, und als ich nun durch den Saal ging, hatte ich meine helle Freude. »Reizend, ganz reizend!« riefen die Unbefangenen und fügten höchstens bei: »Das hätte man dem Majir nie zugetraut!« Die Befangenen aber schwiegen oder murmelten höchstens: »Dahinter steckt etwas!« Fragte man sie aber ernstlich, was sie meinten, oder sagte ihnen: »Ein großes Talent – das steckt dahinter«, so zuckten sie die Achseln und verstummten.
Einen echten Künstler berauscht auch der Erfolg nicht. Majirs Antlitz wies keinen Triumph. Im Gegenteil, er spähte mit einer gewissen Ängstlichkeit um sich, und als ich auf ihn zutrat, um ihm zu gratulieren, schnitt er das Lob kurz ab und flüsterte ängstlich: »Der Korn lächelt immer so merkwürdig!« In der Tat – die drei Linien waren heute besonders scharf ausgeprägt, und um den Karpfenmund lag ein Zug, der wahrscheinlich Ironie bedeuten sollte. »Lassen Sie ihn!« sagte ich, »er wird bald genug weinen. Sie sind doch mit Stasia einig?«
»Morgen oder übermorgen«, erwiderte er, »wenn die Erbschaftspapiere da sind.«
Am Dienstag früh waren sie da, und am Nachmittag schon verbreitete sich das Gerücht von der Verlobung. Auf der Promenade harrte man gespannt dem Erscheinen des Brautpaares entgegen. Aber wohl gingen die beiden nebeneinander, während sich Korn mit dem Platz an des Vaters Seite begnügen mußte, aber noch nicht Arm in Arm. Noch nicht! Wer sah, mit welchem Ausdruck der Blick des schönen Mädchens auf ihrem Begleiter ruhte, konnte nicht daran zweifeln, daß die Papiere in Ordnung gewesen. Hingegen schien Majir seltsamerweise gedrückt. Das Lächeln, das seinen Mund umspielte, hatte etwas Krampfhaftes, und zuweilen wendete er den Kopf, als wollte er erlauschen, was sein Feind und Rivale mit dem Vater spreche.
Den Grund erfuhr ich am Abend. »Darf man gratulieren?« fragte ich. Da faßte er meine Hand, als wollte er sich daran klammern. »Geben Sie acht«, murmelte er, »morgen erlebe ich was von dem Pillendreher. Er hat eine Intrige gegen mich geschmiedet! Sie wissen doch, morgen ist Festkränzchen, Kaisers Geburtstag, da also will mir dieser Mensch was antun. Er ist schon heute hinter mir hergeschlichen wie diese – ich weiß nicht, wie sie deutsch heißen –, die Weiber, die einen immer verfolgen.« – »Deutsch heißen sie die Eumeniden!«
»Richtig, also wie die Miniden hinter dem Römer, der seine Mutter geheiratet hat.« – »Ödipus. Eigentlich war es ein Grieche. Aber das ist doch einerlei. Sie haben doch nicht Ihre Mutter geheiratet?«
»Nein!«
»Oder sonst etwas Böses begangen?«
Er seufzte tief auf. »Nein!« – »Warum fürchten Sie ihn also? Und woher vermuten Sie, daß er morgen beim Kränzchen einen Streich gegen Sie führen will?«
»Es kann ja nicht anders sein! Als ich heute auf das Postamt gehe, die Papiere zu beheben, steht er vor dem Amt auf der Straße und liest einen Brief. Wie er mich sieht, lacht er laut auf und sagt: ›Herr Majir, was da steht, wird Sie freuen!‹ – ›Möglich‹, sage ich, ›aber lassen Sie sehen!‹ Darauf blickt er mich einen Augenblick unschlüssig an und sagt dann: ›Herr Majir‹, sagt er, ›wir sind Nebenbuhler, aber ich habe sonst nichts gegen Sie. Glauben Sie, daß ich ein Ehrenmann bin?‹ – ›O gewiß!‹ sag' ich. – ›Nun, dann glauben Sie mir auch aufs Wort, wenn Fräulein Stasia diesen Brief liest, so wird sie nicht Ihre Frau!‹ – ›So, so!‹ sage ich lächelnd. ›Was steht denn so Schreckliches darin?‹ – ›Glauben Sie es mir aufs Wort, nichts Angenehmes für Sie! Versprechen Sie mir, daß Sie von der Werbung zurücktreten und noch heute abreisen, und ich gebe Ihnen nicht bloß den Brief, sondern auch mein Ehrenwort dazu, daß niemand etwas vom Inhalt erfährt!‹ – ›Mit Speck fängt man Mäuse‹, sage ich. – Darauf er: ›Der Brief ist von . . . ‹ Da hält er ein und besinnt sich. – ›Nun!?‹ frage ich. – ›Nein‹, sagt er, ›Sie sind sehr schlau, Sie würden die Sache so zu drehen wissen, als ob Sie unschuldig wären. Was Sie sich eingebrockt haben, sollen Sie essen! Adieu!‹ Und geht. Was sagen Sie dazu?«
»Empörend! Aber woher wissen Sie, daß er gerade beim Kränzchen . . .«
»Das weiß ich ja von meiner Braut – nämlich, unter uns gesagt, wir sind schon verlobt. Ich habe sie sogar schon geküßt!« Sein Antlitz überflog ein tiefer Schatten. »Nämlich, als ich meine Papiere habe, lege ich sie dem Alten vor, und er ruft die Stasia, und sie sinkt an meine Brust, und er segnet uns. Da klopft es – der Korn! Er sieht uns an und sagt dann: ›Auf ein Wort, Herr Bogdanowicz!‹ Und führt ihn ins Nebenzimmer. Nach einer Weile kommt der Alte zurück und sagt: ›Kinder, die Verlobung bleibt vorläufig, bis zum Kränzchen, unter uns. Erst in der Ruhepause, beim Souper, dürft ihr's sagen!‹ – ›Aber warum?‹ rufen wir. – ›Weil ich meine Gründe habe.‹ – Korn hat ihm nämlich gesagt, daß er bis dahin mit solchen Beweisen gegen mich vortreten wird, daß er mir seine Tochter nicht geben kann. Der Alte glaubt ihm zwar nicht ganz, aber er wartet doch. So hat mir die Stasia eben erzählt!«
»Aber, was kann es sein?« rief ich.
»Nichts! Aber wer ist gegen einen Filet sicher?«
Was sollte ich sagen? Er hatte recht, obwohl es ja deutsch Filou heißt.
Ach, er sollte auch recht behalten, weiß Gott, wie sehr! Noch krampft sich mir das Herz vor Mitleid und sittlicher Entrüstung zusammen, wenn ich daran denke. Und mit einem solchen zusammengekrampften Herzen schreibt es sich schwer.
Also kurz! Nur die Tatsachen und – die Anklage gegen einen sogenannten berühmten Komponisten, die ich bereits angekündigt habe.
Es war am 18. August 1865, abends neun Uhr, im Tanzsaal des Wirtshauses zu Lopuschna. Sämtliche Badegäste waren in ihren besten Kleidern und mit ihren schönsten patriotischen Gefühlen erschienen. Nur Anastasia fehlte. Sie sei nicht wohl, sagte ihr Vater dem entsetzten Bräutigam. War Majir schon bisher etwas blaß gewesen, so wurde er nun vollends grau.
Zur Eröffnung des Balles wurde die Volkshymne gespielt und gesungen. Dann eine Polonaise und nun – nun erklang wieder die liebliche Weise des »Sternes von Lopuschna«. Alle Welt tanzte, nur Majir nicht. Ein dröhnendes Beifallsklatschen und stürmische Dacapo-Rufe. Den lautesten Beifall spendete Herr Korn. Ich muß sagen, das gefiel mir nicht. Der Mensch soll nicht heucheln, was er nicht empfindet. Der Beifall dauerte fort. Aber statt zum Taktstock zu greifen, zieht Kupczanko ein Papier aus der Brusttasche und entfaltet es . . .
»Hört, hört!« ruft Herr Korn. »Hört, hört!« rufen andere. Endlich wird es still, und Kupczanko beginnt: »Meine Damen und Herren, ich habe Sie für eine Täuschung um Entschuldigung zu bitten, an der ich, freilich unschuldig, mitgewirkt habe. Heute vor einer Woche übergab mir ein Herr dieser Gesellschaft einen angeblich von ihm komponierten Walzer –«
»Angeblich?« rufen zehn Stimmen zugleich.
»Angeblich, meine Herrschaften. Natürlich studierte ich ihn sofort ein. Aber dabei war es mir immer, als hätte ich ihn, hm! – schon einmal gehört, als wäre es ein Walzer eines sehr bekannten Wiener Walzerkomponisten. Ein Herr schrieb an den Verleger dieses Komponisten und legte die Komposition bei. Hier die Antwort.«
Er entfaltete das Papier. Bis dahin hatte die rohe Menge gelacht, geschrien und auf ihr Opfer mit Fingern gewiesen. Da stand Majir und suchte sich verzweiflungsvoll einen Weg durch die Umstehenden zu bahnen, aber man ließ ihn nicht durch. »Bleiben Sie nur«, riefen die Barbaren, »der Brief wird Sie interessieren!« »Er ist auch ganz kurz!« fuhr Kupczanko fort und las: »Sehr geehrter Herr! Ihre Vermutung ist richtig. Das mir eingesendete Manuskript, ›Der Stern von Lopuschna‹ überschrieben und angeblich von Frantisek Majir komponiert, ist eine Abschrift des in meinem Verlag erschienenen Walzers ›Aus dem Sophiensaal‹ von Johann Strauß. Die Abschrift unterscheidet sich von dem Original nur durch einige Schreibfehler, welche darauf schließen lassen, daß der Plagiator ganz unmusikalisch ist. Ich lege Ihnen Ihrem Wunsche gemäß sowohl das Manuskript als auch einen Abdruck des Straußschen Walzers bei, wofür Sie mir gefälligst einen Gulden und achtzig Kreuzer vergüten wollen. Hochachtungsvoll.«
»So, meine Damen und Herren«, schloß er, »nun wissen Sie die Wahrheit! Und nun wollen wir den Walzer nochmals spielen!«
Ein Beifallsorkan. Die Musik fällt ein, die Paare drehen sich im Tanze. Da erst gelingt es dem unglücklichen Tondichter zu entfliehen.
Niemand folgte ihm, niemand zweifelte an seiner Schuld. Auch ich – es soll meine harte, aber wohlverdiente Buße sein, daß ich dies ausspreche – war von dem Unverstand der Menge mitgerissen und widersprach nicht, als sie im Saal die giftigsten Reden gegen ihn führten. Erst im Morgengrauen, als ich heimging, ergriff mich der Gedanke: »Kann ein Mensch so viel lügen?! Und wenn dies vielleicht möglich ist, kann ein solches Künstlerhaar lügen?! Der Brief war vielleicht nicht echt. Vielleicht auch hatte da ein Zufall gewaltet! Wie oft begegnen sich zwei kongeniale Naturen in demselben Gedanken! Wie, wenn Majir unschuldig litt! Und wenn er diese unschuldig erlittene Schmach nicht ertrüge, wenn er –«
Ich stürmte nach dem Hause, wo er wohnte. Gottlob, er lebte noch und dachte an keinen unheimlichen Entschluß. Denn in seinem Zimmer schimmerte Licht, und vor dem Haus stand ein Fuhrwerk, auf welches der Hausknecht eben Majirs Koffer festschnürte. Einen neuen Koffer mit einer goldenen Lyra darauf. Ach . . .
Seine Stubentür stand halb offen. Als ich eintrat, packte er eben noch die Waschsachen in die Handtasche. Mir schien es, als erröte er bei meinem Anblick, vielleicht täuschte ich mich.
Einen Augenblick stand ich verlegen da und wußte nicht, wie ich beginnen sollte. Endlich fiel mir etwas ein, was gewiß keine Taktlosigkeit war. »Guten Morgen«, sagte ich.
»Guten Morgen«, erwiderte er.
»Sie reisen ab?«
»Wie Sie sehen!«
»Warum?!« Es war mir so entfahren, das war schon nicht mehr taktvoll, aber nun war's geschehen.
»Warum!« rief er. »Sie fragen! Und Sie wollen ein Dichter sein! Ich, Frantisek Majir, soll an einem Ort bleiben, wo man mich so behandelt?! Ist Lopuschna meiner noch würdig? Ja oder nein?!«
»Nein!«
»Nun also! Darum reise ich. Mich ekelt vor dieser ganzen Gesellschaft. Und wenn sie mich auf den Knien darum bitten würden, ich komme nie mehr her! Mich ekelt vor diesem Pillendreher und noch mehr vor diesem elenden Kupczanko. Denn er will selbst ein Künstler sein und ist an einem anderen Künstler zum Judas geworden. Verstehen Sie das?«
»Ich verstehe!«
»Und wissen Sie, vor wem mir geradezu graut? Vor dieser kleinen, dürren, häßlichen, bemalten, alten Person! Und wenn sie jetzt hereinkommt in dieses Zimmer da und sagt: ›Wenn Sie mich nicht nehmen, so gehe ich in den Sereth‹, ich antworte ihr: ›Bitte, Fräulein, nur zu!‹ Sie hat ja kein Herz! Und glauben Sie, daß sie eine Viertelmillion hat?! Schwindel! Es fehlen 20 000 Gulden daran. Aber geht das mich noch etwas an?!«
»Nein!«
»Aber wissen Sie, vor wem mich am meisten ekelt? Vor diesem Johann Strauß! So ein elender, heimtückischer Ligator!«
»Ligator?!«
»Ja, ja! Ein frecher Ligator! Er hat mir ja meinen Walzer gestohlen!«
»Plagiator. Sie glauben, daß Strauß ein Plagiat begangen hat?!«
»Natürlich.«
»Er an Ihnen?«
»An wem sonst?! Was machen Sie für ein verdutztes Gesicht?! Glauben Sie vielleicht – ich an ihm?!«
»Behüte! Es kam mir nur so – so überraschend.«
»Oh, es wird auch der Welt überraschend kommen! Glauben Sie, ich werde schweigen?! Alles werde ich enthüllen, zugrunde werde ich ihn richten, und meine Nation wird mir dabei helfen!«
»So also erklärt sich die Sache!« rief ich. »So einfach! Aber muß deshalb Strauß ein Plagiator sein? Vielleicht ist er es ebensowenig wie Sie! Wie oft begegnen sich zwei Künstler in demselben musikalischen Gedanken.«
»Bis auf die letzte Note gleich?!« rief er. »Das ist noch nie vorgekommen, das kann niemand glauben!«
»Aber wie wäre er denn in den Besitz des Manuskripts gekommen?«
»Sie haben es ja gehört! Die Lumpen haben mein Werk nach Wien geschickt an den Verleger. Der liest es. ›Ha, ein Genie! Und ein Tscheche! Wenn der bekannt wird, ist mein Strauß totgeschlagen!‹ Nimmt sich einen Fiaker, fährt zum Strauß. ›Lesen Sie!‹ Der wird gelb und grün vor Neid. ›Da muß was geschehen!‹ – ›Aber was?‹ sagt der Verleger. Und darauf der Strauß: ›Es ist ja noch nicht gedruckt, der Majir ist noch unbekannt, drucken wir es noch heute als mein Werk, und er ist tot!‹ Und so haben sie es gemacht!«
»Schändlich!« rief ich. »Und wie wollen Sie es beweisen?«
»Mit Hilfe meiner Nation!« Er reichte mir die Hand, bestieg den Wagen und, verließ das undankbare Lopuschna.
Seither sind an dreißig Jahre vergangen. Johann Strauß ist immer berühmter geworden, nun auch als Opernkomponist. Von Majir hat die Welt nichts mehr gehört. Meine Lage bei dieser Enthüllung und Anklage ist also die denkbar ungünstigste. Aber ich sagte schon, es muß sein.
Warum Majir schwieg, ist eine traurige, aber kurze Geschichte: weil seine Kraft gebrochen war.
Der tapfere Entschluß jener Nacht war gewissermaßen das letzte Aufflammen seiner Künstlerseele. Er wagte den Kampf nicht aufzunehmen, weil er um sich nur Hohn und Neid sah. Mich ausgenommen, glaubte kein Mensch in Czernowitz mehr, daß er ein Tondichter sei. Und vollends hielt, mich ausgenommen, niemand den gefeierten Strauß für einen Plagiator an Majir. Man lachte ihm ins Gesicht, wenn er davon sprach. Auch ich wurde deshalb viel verhöhnt. Man sagte mir, »Aus dem Sophiensaal« sei schon im Fasching 1865 erschienen und – »Frantisek Majir contra Johann Strauß«, das gab den Ausschlag, der Unberühmte war und blieb das Opfer.
Auch seine Nation half Majir nicht, wahrscheinlich aus denselben Gründen. Da erkannte er, daß sie seiner nicht würdig sei, und sagte sich von ihr los. Er legte die blau-weiß-roten Sommerröcke ab, und, im Winter verschwand mit dem Schnürrock auch die Pelzmütze à la Hus. Er schaffte sich ganz gewöhnliche Kleider an. Noch mehr, nach einem Jahr ließ er sich das Haar kurz scheren, und nach zwei Jahren stand auf seinen Visitenkarten nicht mehr »Frantisek Majir«, sondern »Franz Mayer«. Fragte man ihn nun, welcher Nationalität er sei, so erwiderte er: »Ich bin ein Geschäftsmann!« Und wer die Rede auf seine Kompositionen brachte, dem lief er davon. Kurz, er wurde ein Alltagsmensch, der höchstens im Eisenhandel und namentlich in der Kunst, den Bauern um teures Geld schlechte Sensen zu verkaufen, Hervorragendes leistete. Diese Kunst trieb er lange. Jetzt, wo er es nicht mehr nötig hat, hält er einen Geschäftsführer. In seinen Mußestunden spielt er Tarock und erzieht seine Kinder. Er hat vier Jahre nach jenen Sommertagen geheiratet, wo der »Stern von Lopuschna« aufgeflammt und zerstoben. Seine Erwählte war schön wie Anastasia, sogar noch ein wenig gereifter, aber bei ihr fehlte nichts zur Viertelmillion, und ihr Vater konnte nicht stören, denn er war kein entlassener Zuchthäusler, sondern in der Strafanstalt gestorben.
Anastasia aber lebt noch, unvermählt und einsam. Die Sache mit Herrn Korn zerschlug sich, und zwar, wie es heißt, der fehlenden Zwanzigtausend wegen. Und darnach fand sich kein anderer mehr. So ist das herzlose Geschöpf von einer gerechten Strafe heimgesucht worden.
Johann Strauß aber ist bisher straflos ausgegangen.
Ich jedoch meine, daß es nicht so bleiben kann, und habe darum jene böse Tat seiner Jugend enthüllt. Nur aus Rechtsgefühl; Majir-Mayer weiß nicht davon. Ich wußte ja, hätte ich ihm von meiner Absicht geschrieben, er wäre dagegen gewesen. Entschieden dagegen. Der gebrochene Mann hat entsagt, vielleicht sogar vergeben und verziehen. Er hätte mich sogar angefleht, zu schweigen. Und da ich das nicht kann, so habe ich ihn nicht erst gefragt.
Wird man mir meine Anklage glauben? Ich hoffe es. Die Stimme der innersten Überzeugung hat einen Klang, dem man sich schwer entziehen kann. Man wird mir glauben, ganz ebenso wie ich Majir vor dreißig Jahren geglaubt habe.
Als ich das letzte Mal mit meinem Freunde Matthias in seinem bescheidenen, aber sehr behaglichen Arbeitszimmer bei einer ganz erträglichen Zigarre beisammensaß, gestand er mir, daß er seit seinen Schülerjahren nur noch die Zeitung und seine philologischen Handbücher gelesen habe. Da bin ich denn leidlich sicher, daß ihm auch diese Erzählung seiner eignen Schicksale unbekannt bleiben wird, und ich mag nicht leugnen: das ist mir ganz recht. Keineswegs aus dem Grunde, weil ich etwas daran entstellen oder auch nur ausschmücken möchte, sondern im Gegenteil, eben weil ich alles der Wirklichkeit nachschreiben will. Matthias jedoch würde sagen: »Nur am Anfang und am Ende ist alles wahr, aber in der Mitte vieles ganz und gar erfunden«, und er würde dies nicht bloß seiner guten, rundlichen Frau sagen, sondern auch sich selber. Kurz, er würde aussprechen, was er nun selbst seltsamerweise für richtig hält, und weil er eine grundehrliche Seele ist, so ist mir diese Selbsttäuschung eigentlich das Merkwürdigste an seiner Geschichte.
Eine grundehrliche Seele – wer wüßte das besser als ich?! Denn der Zeit, wo ich meinen Matthias noch nicht gekannt habe, kann ich mich nicht leicht mehr entsinnen. Wir haben auf derselben Schulbank lesen und schreiben gelernt, und zwar bei seinem Vater, Herrn Wenzel Purscht. Das war ein kleiner, sanfter Mann mit einem großen, scharfen Lineal, von dem ich bis in meine Jünglingsjahre hinein bisweilen geträumt habe, weil es so unheimlich war. Nämlich kein totes, viereckiges Stück Holz, an den Rändern mit Messing beschlagen, sondern ein lebendiges, sehr boshaftes Wesen, das sich von selber gegen uns schwang und den dürftigen Arm, der daran hing, regierte.
So sah es wirklich aus, wenn Herr Purscht es handhabte, denn er war ein schwächliches Männchen mit einem gefurchten, betrübten Kindergesicht, das uns immer gleich zaghaft, sanft und traurig ansah; und auch die Stimme klang weich und mild, was immer er sagen mochte. Am sonderbarsten aber sah es aus, wenn das erbarmungslose Lineal auf den kleinen Matthias losschlug. Da standen sich die beiden Menschen gegenüber, die sich durch nichts unterschieden, als daß der eine um einige Zoll größer war als der andre. Dasselbe struppige, fahlblonde Haar, dieselben kleinen, grauen Augen, dieselbe Stumpfnase, dieselben dünnen Lippen mit den trübselig nach unten gesenkten Winkeln, die langen Arme schlaff herabhängend, daß sie an den kurzen Beinchen fast bis an die Knie reichten. Es konnte einem ordentlich bange dabei werden. Nicht Vater und Sohn standen da Aug in Aug, sondern derselbe alte, sorgenvolle Mensch in zwei Exemplaren. Nun trugen sie obendrein ganz gleich geschnittene Anzüge von verschossenem, ursprünglich schwarzem, nun grau schimmerndem Tuch, was sich daraus erklärte, daß Mutter Purscht die feierlichen Amtskleider des Gatten, wenn sie aus Altersschwäche den Dienst versagten, durch rätselhafte Mittel für den einzigen Sohn verjüngte und zurechtschnitt. Aber mindestens die Mienen der beiden, sollte man denken, müßten in solchen Schicksalsmomenten verschieden gewesen sein, und sie glichen sich aufs Haar! Es war kaum zu entscheiden, ob Vater oder Sohn betrübter und zerknirschter aussah, und wenn Matthias schluchzend hervorstieß: »Verzeih mir, morgen werd' ich's können!«, flehte die sanfte Knabenstimme des Vaters: »Oh, du Lump! Dir will ich die Faulheit austreiben!« Noch ein kurzer Kampf mit dem Lineal, und dann hatte das bösartige Ding gesiegt und begann sein Werk.
Indes, solche Freuden erlebte das unheimliche Lineal an jedem von uns öfter als an Matthias, und zwar nach Recht und Gebühr, denn er war der Fleißigste in der Klasse, eine kleine, brave, gehetzte Lernmaschine, die rastlos hinter der etwas größeren Lehrmaschine einherkeuchte und ihr alles nachtat, sogar das trübselige Knarren. Matthias sprach wie der Vater und dachte und benahm sich wie dieser, und da Herr Wenzel in der ganzen Stadt »Vater Purscht« hieß, so tauften wir unseren Mitschüler »Großvater Purscht«, und er ist den Spitznamen lange nicht losgeworden. Jedoch böse gemeint war das nicht, denn wir hatten ihn lieb trotz seiner Tugendhaftigkeit. Er war eben ein so harmloser, gutherziger, treuer Junge, daß wir ihm alles verziehen: seinen Fleiß, sein musterhaftes Stillsitzen, seine seltsamen Schulröcke und seine altklugen Reden. Nur ganz im Anfang bekam er zuweilen einen Puff, dann aber entwaffnete uns, so grausam wir nach Knabenart waren, seine Schwächlichkeit, und daß er keinen beim Vater verklagte. Wenn wir Indianer spielten und einen bestimmen mußten, der »tabu«, das heißt unverletzlich sein sollte, so gab es darüber niemals Streit, natürlich war »Großvater« »tabu«. Und da stand nun der blasse, schüchterne Junge inmitten der beiden Heerhaufen und sah blinzelnd zu, wie wir die hölzernen Tomahawks gegeneinander schwangen.
Aber für das Schicksal ist niemand »tabu«, das sollte auch unser armer Matthias erfahren. An einem Sonntag im Juli hatte Vater Purscht die Zeugnisse verteilt, die uns die Pforten des Gymnasiums erschlossen, und mit nassen Augen Abschied von uns genommen. Einige Wochen darauf mußte er der ganzen Welt ade sagen. Das aber tat er mit lächelnder Miene, so wunderbar hatte ihn ein Gespräch, das er vorher mit zweien seiner einstigen Schüler, einem Anwalt und einem Arzt, gehabt hatte, getröstet. Ihnen gestand das demütige Männchen die heimliche Sünde seines Lebens: seine, wie er's nannte, wahnwitzige Hoffart. Er war nämlich immer der Meinung gewesen, daß er es bei seinen Fähigkeiten mit etwas mehr Glück sogar zum Gymnasiallehrer hätte bringen können. Und als sie dies milde aufnahmen, offenbarte er ihnen seinen letzten Wunsch: daß es seinem Matthias gelingen möge, die Höhe zu erklimmen, nach der er sich vergeblich abgehärmt hatte. Die beiden sicherten ihm zu, daß der Junge studieren werde, und weil Vater Purscht sie kannte, sahen wir Schüler sein Antlitz zum erstenmal heiter und verklärt, als er vor uns im Sarge lag. Wenn ich in das Dämmer meiner Kindheit zurückblicke und die Punkte zähle, von denen Licht ausgeht, gehört das Antlitz des armen toten Schulmeisters zu den hellsten, die mir entgegenschimmern. Und es mag immerhin sein, daß für mich all die Jahre auch etwas von dem Licht auf den Sohn gefallen ist.
Einige Wochen nach dem Begräbnis trat Matthias mit uns andern in die lateinische Schule, und wie es ihm da erging, ist bald gesagt. Er blieb all die Jahre, was er unter seines Vaters Lineal gewesen: eine rastlose Lernmaschine, der man das leise Knarren anhörte, auch wenn sie schwieg. Auf dem blassen, gespannten Gesicht stand deutlich zu lesen, daß er eigentlich immer still und beharrlich die für die kaiserlich-königlichen österreichischen Gymnasien vorgeschriebene Wissenschaft in sich hineinstopfte, und bald auch in andre, denn er begann schon sehr früh mit Stundengeben. Das war ja alles notwendig, wenn sich der ehrgeizige Wunsch des Vaters erfüllen sollte, auch die Lektionen, denn die Gesellschaft, die sich gebildet hatte, um Matthias Purscht zu einem Gymnasiallehrer zu machen, wurde mit den Jahren durch Tod und Wegzug immer kleiner. Das bißchen Gotteslohn als Dividende konnte neue Zeichner nicht locken. Aber wenn auch notwendig, achtungswert war dieser eiserne Fleiß doch, nur daß unsere Lehrer mehr Sinn dafür hatten als wir Jungen in den Flegeljahren. »Großvater« wurde auf dem Gymnasium viel gehänselt, auch ein neuer, minder harmloser Spitzname: »Ruminans«, zu deutsch »der Wiederkäuer«, tauchte auf. Aber das hätte schon ein böser Bube sein müssen, um dies arme, beladene Menschenkind ernstlich zu kränken. Und versuchte es einer, so leuchteten wir andern ihm gründlich heim.
Kurz, »Großvater« blieb auch auf dem Gymnasium »tabu«. Soll ich mein Verhältnis zu ihm und das stärkste Band, das uns neben der Erinnerung an das unheimliche Lineal verband, bezeichnen, so muß ich sagen: es war unser aufrichtiges Mitleid füreinander. Ich fand es immer ein Jammer, daß er nicht rauchte, und er ein dunkles Verhängnis, das mich zwang, mir im Tabakladen immer wieder Üblichkeiten für mich oder doch bösen Dunst für mein Stübchen einzuhandeln. Mir schien ein Jüngling, der nicht tanzte, ein Unding, ein Widerspruch in sich, und er sah mich schaudernd eine Stätte betreten, wo man sich im Kreise drehen mußte, bis einem der Atem ausging. »Und dann«, murmelte er entsetzt, und die kleinen, grauen Augen wurden starr, »dann sind ja auch Mädchen auf Bällen! . . . Und wenn – wenn du dich in eine verliebst?!« Als nun dies Furchtbare wirklich eintrat, kannte sein Mitleid keine Grenzen. Unglücklich aber, denn wir hatten uns wirklich gern, geradezu unglücklich machte ihn die Entdeckung, daß ich Verse machte. Er blieb eine Weile stumm und rief dann schmerzvoll: »Um Gottes willen, ein Mensch wie du, der im griechischen Pensum ›befriedigend‹ hat . . .«
Das war kurz vor dem Abiturientenexamen. Dann bezogen wir verschiedene Universitäten, und als wir sechs Jahre später in Wien zusammentrafen, war alles schlimmer gekommen, als er selbst in seinen bösesten Ahnungen befürchtet hatte: ich war nun wirklich Schriftsteller geworden. So durfte ich mich mit Fug und Recht nennen, weil ich Sachen schrieb, die für den Druck bestimmt waren. Daß sich niemand fand, der sie dieser Bestimmung zuführte, war doch eigentlich ein unwesentlicher Umstand. Anders Matthias. Das einzige, was er verfaßt hatte, eine Abhandlung über ein vierzeiliges Hymnenfragment, das einige dem Stesichoros aus Himera zuschrieben, während er es mit der Mehrzahl der Beurteiler für den Ibykos aus Rhegion in Anspruch nahm, wurde eben als Programm des Leopoldstädter Gymnasiums gedruckt, an dem er nun als Supplent wirkte. Der Traum des Wenzel Purscht hatte sich voll erfüllt. Pünktlich und brav hatte Matthias alle Prüfungen bestanden, zuletzt auch das Lehrerexamen, im Herbst durfte er auf eine feste Anstellung in der Provinz rechnen. »Aber du?!« fügte er zögernd bei und sah mich mitleidvoll an.
»Großvater«, sagte ich, »mach dir keine Sorgen um mich, ich tu's auch nicht.« Und da log ich nicht einmal, denn einige Stunden vorher hatte mir ein bekanntes Stuttgarter Blatt ein Manuskript mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückgeschickt, es wegen Raummangels nicht verwenden zu können, und dies Bedauern eines großen Blattes war doch immerhin ein Erfolg. Die Annahme wäre mir ja lieber gewesen, aber ein Erfolg war's doch. Und wenn auch nicht, meinen guten Matthias wollte ich nicht beneiden. Im Gegenteil, ein Jahr darüber brüten, welcher von den beiden alten Herren vor dritthalbtausend Jahren die vier Zeilen geschrieben hatte, und zur Belohnung in Horn oder Leitomischl den Buben das »mensa, mensae« beibringen – mich überflog ein Schauder. Freilich, für Matthias paßte es, und daß er sein Ziel pünktlich erreicht hatte, wunderte mich nicht; er war eben in allem derselbe geblieben, sogar im Äußern. Zwar so klein wie in der Linealzeit war er nun nicht, aber das Haar war nicht dunkler noch weicher, die Stumpfnase nicht spitzer geworden, und auch das trübselige Karpfenmündchen hatte sich nicht viel gerundet. Ein braver Mensch, mein guter Matthias, aber nicht schön, und was man so kurzweilig nennt, auch nicht. Und während wir in meinem Stammcafé, in das ich ihn gezogen hatte, als ich ihm zufällig auf der Straße begegnet war, einander gegenübersaßen und unsre Ansichten austauschten, da ergab es sich, daß es in dieser Riesenstadt schwerlich zwei Menschen gab, die sich in allen großen und kleinen Dingen so wenig verstanden. Und nachdem wir dies erkannt hatten, beschlossen wir, mindestens zweimal wöchentlich zusammenzukommen, am Mittwoch und Sonnabend nachmittags, wo er frei war. Denn Jugendfreundschaft hält wie Eisen, und alles andre ist Werg dagegen.
An diesen Nachmittagen also saßen wir im Frühling 1873 in jenem Café – »Café Troidl« hieß es und lag in der Wollzeile, dicht an der alten Universität – zusammen, und wenn er redete, so schüttelte ich den Kopf, und redete ich, so tat er das gleiche. Zu dieser Bewegung hatte er aber noch weit öfter Anlaß als ich, weil auch meine Freunde regelmäßig kamen: der kleine Albin mit dem guten, hageren Gesicht, der ein Dramatiker werden wollte, es auch wirklich unter tausend Kämpfen geworden ist, aber nun seit langen, langen Jahren auf einem Berliner Friedhof von allen Mühen seines Lebens ausruht, und der hübsche, feine Max mit dem Mädchengesicht. Da er aber noch lebt und noch immer ein Mädchengesicht hat, so kann ich hier nicht mehr über ihn sagen. Damals aber waren die beiden zunächst Schriftsteller von derselben Geltung wie ich, und so fand denn der gute Matthias gleich drei Menschen beisammen, die er bemitleiden und über deren Ansichten er sich entsetzen konnte. Einen Bundesgenossen aber hatte er nicht, denn der fünfte Mann der Runde begnügte sich in der Regel, zu allem »Hm, hm!« zu sagen.
Es war dies ein Herr in mittleren Jahren mit einem breiten, biederen, klugen Gesicht und einem stattlichen Bäuchlein, mit dem wir zufällig – er bot sich Purscht zu einer Schachpartie an – bekannt geworden waren. Wir wußten von ihm nur, was auf seiner Karte stand: »Karl Roithner, Privatier«, aber das genügte uns, da er anständig gekleidet war, sehr vertrauenerweckend aussah und immer nur »Hm, hm!« sagte. Den lieben langen Tag im »Café Troidl« zu sitzen und diese Laute von sich zu geben, schien uns lange seine einzige Beschäftigung, aber dies stimmte uns weiter nicht bedenklich, denn ein Privatier kann sich dies erlauben. Dann aber wurden wir gewahr, daß er sich mit den andern Stammgästen des Lokals, jungen Ärzten und Anwälten, doch minder lakonisch zu unterhalten pflegte. Er schien lange, ernsthafte Konferenzen mit ihnen zu haben, bei denen er fast immer das Wort führte, während der andere andächtig lauschte. Denn es waren in der Regel Unterredungen unter vier Augen, in einem Winkel des Cafés, wohin kein Lauscherohr reichte. Unser Freund Max war der erste, dem dies auffiel, was freilich kein Wunder war, da er fast ebensolang im Café zu verweilen pflegte wie Roithner, nämlich acht bis zehn Stunden täglich. »Der Mensch ist unheimlich«, sagte er, »am Ende gar ein Geldverleiher.«
Mein andrer Kollege, Albin, horchte hoch auf, ihm waren solche Menschen nicht unheimlich. Der Privatier begann ihn zu interessieren. »He, Anton!« Er winkte den Zahlmarqueur herbei und fragte nach Roithners Beruf.
Der stattliche Mann strich sich lächelnd die Bartkoteletten. »Ein sehr ein feiner Herr«, versicherte er in seinem schönsten Hochdeutsch. »Sehr solid, sehr vorsichtig!«
»Aha!« rief Albin freudig und machte die Gebärde des Halsabschneidens.
»Bedaure, Sie enttäuschen zu müssen, Herr Doktor«, erwiderte Anton. »Der Herr von Roithner hat ein ganz andres Geschäft! Er macht die Leut' glücklich, nicht unglücklich . . .«
»Das könnte er aber auch bei uns versuchen«, meinte Max. »Wir könnten's brauchen. Und uns sagt er immer nur ›Hm! hm!‹ und sonst nichts . . .«
»Da müssen sich der Herr Doktor gefälligst gedulden«, erwiderte der Marqueur. »An dem Tag, wo in dem Blatt da« – er schwenkte eine große Zeitung, die er in der Hand hielt – »ein Feuilleton über Ihr neuestes Werk steht, spricht der Herr von Roithner auch mit Ihnen unter vier Augen . . .«
Sprach's und verschwand. Unsre Vermutungen auszutauschen, war zunächst nicht möglich, denn Roithner setzte sich eben zu uns, höflich, liebenswürdig, schweigsam wie immer. Einige Minuten darauf – es war Sonnabend – erschien auch Purscht, diesmal sehr feierlich angetan, in Bratenrock und Zylinder. Er komme von einer Kindtaufe, erklärte er, bei seinem Kollegen, Doktor Müller.
»Das freut mich!« rief Roithner lebhaft. »Wieder ein Kinderl! Das dritte in vier Jahren! Ein glückliches Paar, der Herr Professor Müller und seine Frau. Eine geborene Schwingenschlögl, der Vater ist Hausbesitzer auf der Wieden. Eine liebe, hübsche, scharmante Frau!«
Erstaunt blickten wir ihn an; er glühte ordentlich vor freudiger Begeisterung. »Großvater« aber sagte bedächtig wie immer: »Gewiß, mein geehrter Herr Roithner, man hört allseitig das Beste über die Ehe meines Herrn Kollegen. Aber hübsch ist die Frau Doktor Müller vielleicht doch nicht so ganz, mindestens nicht im üblichen Sinn des Wortes –«
»Verzeihung, Herr Professor«, sagte der Privatier bescheiden, aber fest. »Mir gefällt sie. Und ihrem Manne auch. Und wenn sie nicht hübsch wäre, was kommt's darauf an?! Für das Glück der Ehe entscheiden andre Eigenschaften der Frau: Gemüt, Bildung, Gesundheit, gute Familie, Geld.« Diese fünf guten Dinge zählte der Privatier an den fünf dicken, ringgeschmückten Fingern seiner Rechten ab und ließ sie dann geballt auf den Tisch fallen. »So ist's, meine Herren!«
»Haben Sie keinen sechsten Finger?« fragte Albin. »Ich meine: die Liebe. Denn wie der Dichter sagt: ›Die Liebe ist der Inbegriff, und auf das andre pfeif' ich!‹«
»Sehr richtig!« rief Roithner und hob die geballte Faust. »Das ist die Liebe! Die Liebe ist einbegriffen. Denn wo die fünf Dinge vorhanden sind, da kommt die Liebe.«
»Immer?!« fragte Albin spöttisch.
»Fast immer! Wo sie trotzdem nicht kommt, kann freilich von Heirat keine Rede sein. Ehe ohne Liebe –« er schüttelte sich ordentlich. »Aber das sind Ausnahmen, in der Regel kommt sie!«
Da zog Albin die Brauen hoch und trat mir unter dem Tisch auf den Fuß, daß ich fast aufgeschrieen hätte. Der Tritt war sehr fühlbar, aber was er bedeuten sollte, wußte ich noch nicht. Das wurde mir erst klar, als sich Purscht Schlag fünf, wie immer, erhob und Roithner gleichzeitig nach seinem Hut griff. »Gestatten Herr Professor, daß ich Sie begleite«, sagte er sehr höflich. »Ich will auch in die Leopoldstadt.«
»Es ist empörend«, rief Albin, nachdem die beiden gegangen waren. »Der pure Menschenhandel!«
»Nun«, meinte Max, »das eine muß man ihm lassen, daß er ein Menschenkenner ist. Uns dreien wagt er mit solchen Dingen nicht zu kommen.«
»Auch ›Großvater‹ wird ihn abfallen lassen«, sagte ich. »›Großvater‹ ist in seiner Art auch ein Idealist. Er verdankt alles sich selber, da wird er doch wahrlich seine Frau nicht dem Vermittler danken wollen!«
Am nächsten, dem Sonntagmorgen, brachte mir schon die erste Post einen Brief in Purschts seltsam verschnörkelten und doch knabenhaften Zügen, Er bat mich, ihn nachmittags fünf Uhr zu erwarten und auch für den Abend keine andre Verabredung einzugehen. »Der Freund meiner Kindheit und Jugend«, fuhr er fort, »wird mir diese Bitte nicht weigern«, und schloß mit dem Wort des Ennius: »Amicus certus in re incerta cernitur.« (Den sicheren Freund erkennt man in unsicherer Sache.)
›O Freund meiner Kindheit und Jugend‹, dachte ich in der ersten Aufwallung, ›dich hab' ich überschätzt! Statt den Menschenhändler sofort selbst zum Teufel zu schicken, willst du erst mit mir beraten, ob du es tun sollst. Indes, mein Rat soll dir werden.‹
Ich ging ins Café Troidl und frühstückte. Noch keine Viertelstunde war ich dort, da trat der Privatier auf mich zu und ließ sich trotz meiner abweisenden Miene an demselben Tisch nieder. »Sie erlauben«, sagte er unbefangen. »An Ihrem Gesicht seh' ich, daß Ihnen Herr Purscht schon geschrieben hat. Vielleicht stimmt es Sie aber freundlicher, wenn ich Ihnen versichere, daß der Herr Professor Sie auf meine Bitte beizieht.«
»Er hätte es auch sonst getan!«
»Ganz meine Meinung!« Er nickte mit liebenswürdigem Lächeln. »Eben darum hielt ich es für richtig, ihn selbst darum zu bitten . . . Und nun hören Sie mich gefälligst ruhig an. Ich kann mir denken, wie ihr jungen Schriftsteller über mein Geschäft urteilt. Aber das ist nicht gerecht. Es ist ein nützliches Geschäft, und nur ein ehrlicher Mann bringt's da zu etwas. Schon in der Auswahl der Herren, die man in Auftrag nimmt, kann man nicht ängstlich genug sein. Die Schlechten – nicht in die Hand! Niemals! Denn erstens –«
»Bringt man sie schwer an!«
»Sehr wahr! Und bringt man sie an, so wird doch die arme Frau unglücklich, das bedrückt einem das Gewissen.«
»Und schadet dem Ruf der Firma.«
»Ganz richtig! Und auf den Ruf kommt alles an. Darum bin ich heute gottlob in meiner Spezialbranche, den akademisch gebildeten Herren, der erste Mann am Wiener Platze . . .«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«
»Durch persönliche Beziehungen. Adel, Militär, Kaufmannsstand sind ja allerdings lukrativer, weil die Mitgift höher ist. Aber leben kann unsereins auch.«
»Das tut mir herzlich leid«, sagte ich. »Nun, hoffentlich gibt es doch Eltern genug, die sagen: ›Lieber mag unser Kind einsam bleiben, ehe wir es auf diesem Wege verheiraten‹, und noch öfter finden sich wohl Herren, die sich schämen, Sie zu beauftragen, oder Sie kurz abweisen, wenn Sie an sie herantreten.«
»Kommt vor. Gottlob seltener, als Sie glauben, aber es kommt vor. Und dagegen ist nichts zu tun. Selbst Rothschild kann nicht jedes Geschäft machen, das er beabsichtigt.«
»Also die Besten schließen sich selbst aus?«
»Die Besten?! Nun ja, mit Menschen, die an Geist, Gemüt, Schönheit und Besitz gleich erlesen sind, habe ich es kaum zu tun, die brauchen mich nicht. Aber diese wenigen abgerechnet – ist jemand deshalb edel, weil er selber sucht, und deshalb gemein, weil er sich an mich wendet?! Es ist keine Frage des Charakters, sondern der Vernunft!«
»Nicht des Charakters?!«
»Bewahre! Und eigentlich ist sogar ›Vernunft‹ da nicht das rechte Wort. Es ist eine Frage des Bedarfs! Wer's braucht, soll's tun, wer's nicht braucht, soll's lassen. Fehlt es Ihrer Tochter an Freiern nicht, oder können Sie als junger Mann junge Damen genug kennenlernen, so werden Sie den Roithner nicht rufen. Aber können Sie dies nicht, so tun sie klüger, ihn zu betrauen, als auf Bälle zu laufen. Niemand kann Ihnen Ihr künftiges Glück verbürgen, aber eine größere Gewähr bietet Ihnen meine Arbeit als der Zufall einer Ballbekanntschaft.«
»Und doch«, wendete ich ein, »hat einer der klügsten Menschen gesagt, daß nichts auf Erden unvernünftiger ist als eine Vernunftheirat.«
»Ganz richtig, wenn man darunter eine Heirat versteht, wo nur Geld oder Rang stimmt und alles andre nicht. Bei einer richtigen Vernunftheirat aber muß alles Wesentliche so stimmen, daß sich die beiden Leute ineinander verlieben können . . .«
»Das überrascht mich nicht«, sagte ich. »Schon im Meidinger steht die Geschichte von dem Vermittler, der einem Herrn auf den abweisenden Bescheid, er heirate nur aus Neigung, erwiderte: ›Neigung? – solche Partien habe ich auch!‹«
»Ganz richtig! Alle guten Geschichten stehen schon im Meidinger. Aber es ist mehr als ein Witz: jeder richtige Vermittler muß im Ernst so antworten können.«
»Schön«, sagte ich, »das ist so die Theorie Ihres Geschäfts, Herr Roithner. Aber wie gestaltet sich die Praxis? Gehen wir vom Nächstliegenden aus. Sie tragen da einen Ehering am Finger, haben Sie durch den Vermittler geheiratet?«
»Ich?!« erwiderte er langgedehnt, und das behäbige Antlitz wurde verlegen. »Nein. Aber wer sagt Ihnen, daß ich glücklich bin?! Gerade meine eigne Geschichte . . .« Er seufzte tief auf.
» . . . hat Sie zum Ehevermittler gemacht?« ergänzte ich. »Bitte, erzählen Sie! Ich mache Sie aber aufmerksam: Geschichten erfinden ist mein Geschäft.«
Er lachte fröhlich. »Dann fang' ich lieber gar nicht an. Aber wir wollen ja nicht von mir sprechen, sondern von Ihrem Freunde. Ist Großvater Purscht der Elitemensch, der mich nicht braucht? Hat er anderwärts Gelegenheit, sich unter den Töchtern des Landes umzusehen? Hätte er, selbst wenn die Gelegenheiten nur so auf ihn niederregnen würden, auch nur die Courage, sich eine recht anzusehen? Hindert ihn sein Feingefühl, sich unter meine Fittiche zu begeben? Können Sie dies alles bejahen, so dürfen Sie ihm abraten. Sonst nicht!«
»Mir genügt's, daß ich die letzte Frage bejahen kann!«
»Oh, welcher Irrtum! Ihm war mein Vorschlag dreimal recht! Wie auch nicht? Ein braver, nüchterner Philister, der sich endlich bis ans Ziel durchgequält hat, nur noch eben eine Frau braucht, aber beim bloßen Gedanken an ein Mädchen in Todesangst ist. Und nun sagt ihm einer: ›Ich schaffe dir die Gattin, die für dich paßt, ein braves, gutes, gebildetes Fräulein mit stattlicher Mitgift.‹ Er war vergnügt, sag' ich Ihnen, sehr vergnügt, und will auch gar nicht Ihren Rat, sondern Ihren Rockschoß, um sich daran zu halten, wenn sie naht . . .«
»Vederemo. Schön ist die Dame wohl nicht?«
»Nein! Sonst –« er blinzelte mich schelmisch an. »Aber seit den Masern ist das Mädchen nie krank gewesen – auf Ehre!«
Ich erhob mich. »Ich bedaure dennoch, Ihnen nicht dienen zu können, Herr Roithner. Will Purscht meine Ansicht wissen, so werde ich sie ihm ehrlich mitteilen.«
Er zuckte die Achseln und machte mir lächelnd eine sehr tiefe Verbeugung.
Nachmittags fünf Uhr trat Purscht in mein Zimmer, festlich angetan wie gestern, nur daß ein Veilchensträußchen im Knopfloch des Bratenrocks das Feierliche der Erscheinung lieblich milderte. Schon dieser Strauß erschreckte mich, noch mehr der Rosenduft, der ihn umwitterte.
»Großvater«, sagte ich schnuppernd, »wie kann ein humaner Mensch nur so duften . . .?! Du hast doch um Himmels willen nicht schon heute dein erstes Rendezvous?!«
Er errötete und strich sich verlegen über den Scheitel. Und wie ich mit den Augen seiner Bewegung folgte, sah ich ein neues Anzeichen, das auf das Äußerste schließen ließ. Ich sah nämlich, was weder ich noch sonst ein Sterblicher je vorher gesehen, was auch niemand für möglich gehalten hätte: die fahlblonden Borsten waren mit Pomade an den Kopf glatt geklebt, daß er nun im Sonnenschein fettig glänzte. Nur am Schopf stand ein Büschel aufrecht, da war alle Mühe des Frisörs vergeblich gewesen. So glich sein Haupt einem der lebensmüden Igel, wie man sie zuweilen in Menagerien findet: nur am Rücken können sie die Stacheln noch sträuben.
Das Gleichnis paßte immer mehr, denn er senkte unter meinen prüfenden Blicken den Kopf tiefer und tiefer. »Also wirklich!« rief ich. »Wirklich ein Rendezvous?!«
»Nein . . .«, erwiderte er endlich unsicher und suchte den Blick zu heben, mußte ihn aber in seinem Schuldbewußtsein sofort wieder senken. »Wir . . . wir gehen heute abend ins Burgtheater . . . ich habe die Sitze gleich mitgebracht . . . Parkett, achte Reihe rechts . . . Dagegen läßt sich doch nichts sagen!«
»Nein! Aber vor uns oder hinter uns oder neben uns oder in einer Loge wird sie sitzen, mit Vater und Mutter, mit Brüdern und Schwestern, das heißt, wenn diese Schwestern ihr gleichen. Sind sie hübscher, so bleiben sie heute zu Hause.«
»Sie – sie hat gar keine Schwestern!«
»Du gestehst also! Aber damit ist's noch nicht genug. Nach dem Theater gehen wir soupieren in irgendein feines Restaurant, zum ›Alten Stroblkopf‹ oder gar zum Sacher. Und sie sind auch da. Und Roithner stellt uns vor. Und wir setzen uns an ihren Tisch. Und beim Abschied laden sie uns ein, sie zu besuchen . . .«
Er hatte sich wieder gefaßt. »Das hat dir wohl Roithner gesagt? Zum ›Alten Stroblkopf‹ gehen wir.«
»Nein, nichts hat er mir gesagt, sonst hättest du mich nicht zu Hause getroffen. Ich weiß es, weil diese Menschenhändler ihre jämmerliche Komödie immer nach demselben Programm in Szene setzen. Nur hätte ich nun und nimmer gedacht, daß du dich wirst verhandeln lassen! Noch gestern sagte ich's meinen Freunden: mein Matthias tut's nicht. Und nun!«
»Aber wenn wir ins Burgtheater gehen.«
»Wir nicht! Du und der Makler deiner Reize, aber ich nicht. Nein, nein, nein!« Ich wollte es in feierlicher Entrüstung rufen, aber da mußte ich niesen. Trotz des offenen Fensters wurde der Rosenduft immer stärker. »Mensch, tue wenigstens das Parfüm von dir!«
»Aber wie?!« fragte er weinerlich. »Der Frisör hat mich damit besprengt und den Rest des Flakons in die Taschentücher gegossen. Schon in der Pferdebahn habe ich bemerkt, daß es wohl zuviel ist. Die Leute rückten alle von mir ab, aber was nun?«
»Dann tu wenigstens die Taschentücher weg!« Ich klingelte dem Dienstmädchen, und er langte, als sie eintrat, die Tücher gehorsam hervor; er hatte ihrer nicht weniger als drei zu sich gesteckt. »Du hast dich wohl schon heute zu einer großen Rührszene gerüstet«, sagte ich grimmig, und zu dem Mädchen: »Hängen Sie die Tücher an einen Ort, wo sie niemand stören. Dem Herrn geben Sie drei von mir.«
Ich stopfte mir mittlerweile meine Pfeife und setzte sie in Brand. »So«, sagte ich und begann mich in schützende Wolken zu hüllen, »Und nun höre!«
Es war eine kräftige Rede. »Also«, schloß ich, »ich gehe keinesfalls hin, aber du auch nicht! Denn du bist auch ein Idealist, eine Individualität, und darum kannst du dich nicht um schnöden Mammon verkaufen wie ein Herdenmensch!«
Er räusperte sich. »Ein Idealist bin ich«, erwiderte er dann bescheiden, aber fest. »Ich will immer meine Pflicht tun, bald den Titel Professor verdienen und in fünfzehn oder zwanzig Jahren Direktor werden. Auch will ich nur ein braves, gebildetes Mädchen heiraten. Ideale also habe ich auch . . . Aber eine Individualität, ich verstehe nicht recht . . . Ich glaube, ich bin keine Individualität . . .«
Ich sah ihn an, wie er so dasaß, die dürftige Gestalt vom Bratenrock umwallt, das hagere Gesichtchen ängstlich und selbstbewußt zugleich . . . ›Hm‹, dachte ich, ›da hat mein Matthias doch eigentlich nicht unrecht‹.
»Dann genügt's, daß du ein Idealist bist«, sagte ich. »Ich will gar nicht davon sprechen, daß dein Vorhaben geradezu gegen die Religion geht. Ehen werden im Himmel geschlossen und nicht im Café Troidl. Aber es geht gegen die Ehre. Aus eines solchen Menschen Hand gegen drei Prozent der Mitgift sein Lebensglück empfangen?!«
»Da übertreibst du«, erwiderte er sanft. »Er verlangt nur zwei Prozent. Aber auch sonst übertreibst du. Das haben sehr ehrenhafte Männer getan. Mein Kollege Müller, mein Kollege Waisnix, ich glaube auch Schuppner, obwohl seine Frau hübsch ist. Und ich wüßte auch gar nicht, wie ich's sonst anfangen sollte . . .«
»Wie?!« rief ich entrüstet. »Die Augen auftun! Eine wählen! Sich rasend verlieben! Ihre Gegenliebe im Sturm erringen . . .«
Er sah betrübt vor sich nieder. »Das ist leicht gesagt . . . Eine wählen, sich verlieben, so weit hab' ich's auch gebracht. Sogar rasend«, fuhr er seufzend fort und strich seinen Zylinder glatt, »denn vor zwei Jahren habe ich ein Gedicht zu ihrem Geburtstag gemacht. Sie war die Schwester eines meiner Schüler. Ein bescheidenes, geziemendes Gedicht – und was war die Folge? Sie hat mir ins Gesicht gelacht, und mein Schüler hat den Respekt vor mir verloren. Im Sturm also, wie damals, versuche ich es nie wieder. Und überhaupt nicht, auch ohne Sturm nicht. Ich kann mit jungen Damen nicht reden, ich bin zu ernst dazu. Auch zu . . .«
»Furchtsam«, ergänzte ich. »So fahre denn hin, du Idealist! Aber was soll ich bei der Geschichte? Du schriebst von einer ›res incerta‹, aber nun bist du ganz entschlossen.«
»Im Prinzip allerdings«, erwiderte er fest. »Ich habe wenig Verkehr in Familien, bin nicht sehr gewandt und muß im September aufs Land. Als Junggeselle in einer Kleinstadt hausen, ist bitter; man nimmt dann in der Verzweiflung die erste beste, auch wenn sie häßlich ist und kein Geld hat. Da ist es doch viel klüger, ich benutze hier die Gelegenheit. Roithner sagt, sie passe für mich. Da sehe ich sie mir eben an. Aber es ist halb sieben. In einer halben Stunde beginnt die Vorstellung!«
»So geh. Gute Verrichtung!«
»Du kommst mit!« rief er flehend und faßte meine Hand. »Bei der alten Freundschaft beschwör' ich dich! Was fang' ich ohne dich an! Es ist ja im Grunde doch noch eine ›res incerta‹ – und von welcher Wichtigkeit für mich! Über das Äußere traue ich mir ja auch ein Urteil zu, aber nicht über die Toilette, das Benehmen, die Familie. Und dann – im Restaurant, was fang' ich unter den wildfremden Menschen an?!«
»Gut«, sagt' ich. »Aber du versprichst mir: Sieht sie nicht menschenähnlich aus, so ersparen wir uns die angenehme Bekanntschaft und gehen nicht zum ›Stroblkopf‹, sondern in unser Stammbeisl.«
Das versprach er, strich sich vor dem Spiegel noch einmal das Haar glatt, und wir gingen.
Auf dem Wege erzählte er mir alles Nähere. »Eine gute, solide Beamtenfamilie, der Vater ist Polizeikommissär in Pension, stammt aus Prag.«
»Und heißt Kratochwil«, ergänzte ich.
»Du kennst ihn?!«
»Nein! Aber solche Menschen heißen Kratochwil. Hab' ich's getroffen?«
»Ja. Das Mädchen soll recht gebildet sein und sehr, sehr häuslich. Die Mutter stammt aus einer wohlhabenden Wiener Bürgerfamilie. Sie haben außer der Tochter, Pauline – der Name ist doch hübsch, nicht wahr? –, nur einen Sohn. Darum wollen sie ihr auch zwanzigtausend Gulden mitgeben.«
»Das ist auch hübsch«, sagte ich. ›Zu hübsch!‹ fügte ich in Gedanken bei, ›die Geschichte hat einen Haken.‹ Laut aber fragte ich: »Was wird denn heute im Burgtheater gegeben?«
»Ich habe gar nicht nachgesehen. Roithner sagte: ein passendes Stück.«
Es war »Romeo und Julia«.
Aus der Bank, in der wir unsere Plätze aufsuchten, grüßte uns bereits Roithners behagliches Gesicht. »Liebenswürdig, daß Sie Wort halten!« rief er mir herzlich entgegen und schüttelte mir die Hand. Und zu Matthias: »Famos! Aber . . .« Er schnupperte. Es war ja nun allerdings eine merkwürdige Mischung: Rosenduft und Knaster. Dann ließ er ihn in der Mitte Platz nehmen. »Bitte, zu meiner Rechten. Sonst gibt's Verwechslungen!«
Die andern waren also schon im Theater, und wir wurden beobachtet. Auf Purscht übte dies zunächst die Wirkung, daß er sich durchaus auf seinen Zylinder setzen wollte und dann, als Roithner dies mit sanfter Gewalt verhütet hatte, mit geschlossenen Augen dasaß.
Ich ließ meinen Blick über die Logen schweifen. Da mußten sie sitzen, und ich dachte: ›Kratochwils wirst du doch erkennen.‹ Richtig, da waren sie in der Loge rechts, wenige Schritte von unsern Sitzen.
Ein Kunststück war's nicht, sie herauszufinden. Der tschechische Polizeibeamte ist ein Typus: das stumpfe Amtsgesicht mit den breiten Backenknochen, den runden, von buschigen Brauen umschatteten Augen, dem kurzen, borstigen Schnurr- und Backenbart, der nach aufwärts gereckten Knollennase, dem plumpen Kinn, das in der hohen schwarzen Binde zwischen den Vatermördern verschwindet – man trifft's zwischen Elbe und Adria wirklich nicht bloß in den Witzblättern, sondern auf allen Wegen. Der eine ist dick, der andre dünn, der eine blond, der andre schwarz, der eine lustig, der andre trüb, aber sie gleichen sich doch wie Brüder, was vielleicht der Gesichtsausdruck bewirkt, der allen gemein ist, der Ausdruck einer gewissen feierlichen Borniertheit. So würdevoll freilich wie Herr Kratochwil nun auf seinem Logenplatz dasaß, in schwarzem Rock und weißer Weste, unter der sich ein Spitzbäuchlein mächtig wölbte, sehen selbst unter seinen Amtsgenossen nicht viele aus. Und auch diese nur in dem Augenblicke, wo ihnen ein recht armer Sünder vorgeführt wird. Möglich, daß er diese Empfindung hatte, als er nun meinen armen Matthias anstarrte.
Das tat auch die dicke Frau an seiner Seite, sie hielt sogar die Lorgnette vors Auge, aber sie gefiel mir doch weit besser, trotz des überbreiten Gesichts mit der niedrigen Stirn und dem in drei Etagen abfallenden Unterkinn, trotz des Juwelenladens auf dem Seidenkleid und den ringbedeckten, fetten Fingern. Es war etwas Gutes, Gemütliches in dem Gesicht – so sehen die Wiener Fleischerfrauen aus. ›Auch du bist‹, dacht' ich, ›sicherlich zwischen Würstchen und Karbonaden erblüht.‹
Aber im nächsten Augenblick wandelten sich meine Empfindungen für die Dicke. Enttäuscht, ja zornig ließ sie die Lorgnette fallen, fächelte sich dann mit dem Fächer heftig Kühlung zu, und der Blick, den sie Roithner zuwarf, war ein Dolchstoß: Was? So an schiechen Traumichnöt für meine Paulin?
›Gemach‹, dachte ich, ›wie sieht denn dein Fräulein Tochter aus?‹ Im Sitzen konnte ich zwischen den beiden nur eine blaue Schleife im schwarzen Haar erkennen, so erhob ich mich von meinem Eckplatz und sah hin.
Eine Sekunde genügte – oh! oh! Und dann wandte ich mich zu Roithner und warf ihm einen Blick zu, der ihn hinschmettern mußte, wenn er nicht von Eisen war. Er schien aber von Eisen, denn er lächelte nur. »Ein netter, kleiner Käfer, was? Gefällt Ihnen wohl selber?«
»Herr«, schnarrte ich, aber da hob sich der Vorhang. Das Gesinde der Montecchi und Capuletti hänselte und raufte sich. Romeo klagte dem Benvolio seine Liebesnot, die alte Gräfin bereitete Julia auf die Werbung des Paris vor, mir aber war schon beim ersten Akt der Tragödie zumute wie sonst erst beim fünften. Mitleid und Entsetzen erfüllten mein Herz. Mein ahnungsloser Freund aber kam im Halbdunkel langsam wieder zu sich, öffnete die Augen und blickte auf die Bühne, dann jedoch verstohlen auf die Logen hin und fragte endlich flüsternd: »Wo sind sie?«
»Matthias«, erwiderte ich ebenso leise, »begehre nimmer und nimmer zu schauen.«
»Ist sie . . . schlecht gewachsen?«
»Wenn's nur das wäre! Aber sie ist überhaupt nicht gewachsen!«
Er fuhr zusammen. »Nicht ge-«
Aber da brachten uns die Nachbarn durch ein energisches »Pst!« zum Schweigen. Romeo tauschte eben mit Julia seinen ersten Kuß.
Als der Vorhang gefallen war und das Haus sich erhellte, machte mein Matthias flugs die Augen wieder zu. Da aber faßte ich seine Hand. »Blick hin, Matthias!« Ich bezeichnete ihm die Loge. »Und das soll deine Strafe sein.« Er blieb aber sitzen und blinzelte nur scheu nach rechts.
Herr Roithner musterte uns lächelnden Blickes. »Ihr Freund hat recht«, sagte er wohlwollend. »Dazu sind Sie ja hier. Auch kann sich die junge Dame wirklich sehen lassen.«
›Allerdings‹, dachte ich, ›sogar gegen Eintrittsgeld.‹ Laut aber wiederholte ich nur: »Auf, Matthias!« Es blieb vergeblich, er wurde nur immer röter und röter, wie wir so von rechts und links auf ihn einsprachen, bis der zweite Akt begann.
Erst das Dunkel machte ihn wieder mutiger. Während Romeo mit Julia im Garten koste, reckte er den Hals und spähte nach der Loge. Plötzlich seufzte er tief auf, wandte sich ab und folgte nun der Vorstellung.
Nachdem der gute Frater Lorenzo die Liebenden zusammengegeben hatte und der Vorhang gefallen war, drängte alles in die Korridore hinaus; nach dem zweiten Akt war die große Pause. Auch Kratochwils waren aus ihrer Loge verschwunden. Mein Matthias hingegen schien kein Bedürfnis nach frischer Luft zu haben. Aber da faßte ich seine Hand und zog ihn sachte hinaus; wehren konnte er sich nicht, da Roithner von hinten nachdrängte. Diese Bundesgenossenschaft kam mir unerwartet. Mir lag daran, daß Matthias die junge Dame schon jetzt aus der Nähe sehe, aber warum half mir Roithner?
Gleichviel, er half. Denn draußen übernahm er die Führung und lenkte uns so, daß wir dicht an Kratochwils vorbei mußten. Beide Häuflein kamen im Gänsemarsch gezogen: Roithner, »Großvater« und ich, und uns entgegen Frau Kratochwil, Fräulein Pauline und endlich der Polizeikommissär. Es sah aus, als hätten ein mächtiger Dampfer und ein dräuendes Kriegsschiff eine winzige Schaluppe in die Mitte genommen. Während der breite Dampfer schnaubend vorbeizog, litt ich, daß Matthias die Lider geschlossen hielt, dann aber kniff ich ihn in den Arm, daß er sie weit aufriß und die Schaluppe sehen mußte, die mit gesenkten Wimpeln vorbeiglitt.
»Nun?« fragte Roithner triumphierend. »Aber – später, Herr Professor, Sie sollen mir Ihr Entzücken später sagen.« Und er eilte Kratochwils nach.
»Nun?« fragte auch ich, als wir wieder allein waren, und zog Matthias in eine Ecke. Er trocknete sich mit einem meiner drei Taschentücher den Schweiß von der Stirn. »Ich . . . ich glaube, sie ist nicht groß.«
»Nur zu wahr!« erwiderte ich. »Du erinnerst dich wohl noch an Amanda, die schöne Zwergin, die wir am letzten Sonntag im Wurstelprater gesehen haben?«
»Oh, die war viel kleiner!«
»Schön«, sagte ich, »ein paar Millimeter sollen alte Freunde nicht trennen. Amanda war wirklich noch kleiner, aber dafür im Vergleich zu deiner Zukünftigen von einer wahrhaft berauschenden Üppigkeit der Formen.«
Er seufzte tief auf. »Auch recht brünett ist sie.«
»Wieder nur zu richtig. Ich habe in meinem ganzen Leben nichts Schwärzlicheres gesehen.«
Die Klingel ertönte, wir kehrten auf unsere Plätze zurück. Roithner aber kam während des ganzen Akts nicht wieder, er blieb bei Kratochwils in der Loge. Freilich ward er nicht sichtbar, weil er im Hintergrunde oder im Korridor abwechselnd mit dem Kommissär oder dessen Frau verhandelte.
Eine ganze Weile saß sogar Paulinchen allein da. Sie starrte nach der Bühne, aber viel hörte sie wohl von dem unsterblichen Streit nicht, ob es die Nachtigall oder die Lerche gewesen. Und folgte sie der Handlung, wie mochte dies Hohelied der Liebe in diesem Augenblick auf sie wirken?! Sie wußte, was vorging, man sah es ihrer gedrückten Miene, der befangenen Haltung an. Und vielleicht war's nicht das erste, vielleicht das zehnte Mal in ihrem Leben, daß sie so in der Loge saß, während die Eltern und Roithner über ihr Schicksal verhandelten. Mich faßte plötzlich ein Mitleid mit dem armen Geschöpf, das ja schließlich nichts für sein Äußeres konnte. Freilich, eine Augenweide war sie nicht. Zug um Zug glich sie dem Vater, nur daß sich bei ihr Brauen und Mundwinkel ebenso auffallend nach oben bogen wie bei ihm nach unten. Das gab dem kleinen, hageren Gesicht den Ausdruck ewigen lächelnden Staunens, der sich doppelt seltsam ausnahm, wenn sie, wie offenbar jetzt, recht betrübt war. Auch meinem Matthias war nicht wohl zumute. Es geschah schwerlich aus Mitgefühl mit Juliens Los, wenn er während der Strafrede des alten Capulet gegen die Tochter immer wieder tief aufseufzte. »So stöhne doch nicht so!« flüsterte ich ihm endlich zu. »Natürlich gehen wir nicht zum ›Alten Stroblkopf‹.«
»Nein!« erwiderte er. »Aber es ist schade. Alles andere hätte so gut gepaßt!«
Knapp ehe der Vorhang fiel, kehrte Frau Kratochwil wieder auf ihren Platz zurück, hochrot im Gesicht und sichtlich nicht in angenehmster Stimmung. Dann flüsterte sie der Tochter etwas zu, worüber auch diese nicht eben glücklich schien. Endlich nahm auch der Herr Kommissär seinen Platz wieder ein, beantwortete einen vorwurfsvollen Blick seiner Gattin mit einem Achselzucken und sah dann starr vor sich nieder.
Was da vorging, war nicht allzuschwer zu erraten. Dieselbe Empfindung, die den guten Purscht beim Anblick des Mädchens ergriffen hatte, erfüllte offenbar auch Frau und Fräulein Kratochwil.
»Zwei Seelen und ein Gedanke.
Zwei Herzen und ein Schlag!«
– das Dichterwort hatte sich erfüllt. Sie wollten auch nicht zum ›Alten Stroblkopf‹. Aber da hatte Roithner mit Kratochwils Hilfe gesiegt – sie mußten hin.
Als Roithner sichtbar wurde, stand ihm der Ärger noch deutlich auf dem Gesicht zu lesen. Freilich verzog er es flugs ins Strahlende, als er wieder neben uns Platz nahm. »Ich gratuliere«, sagte er herzlich und faßte Matthias' Hand. »Ich sage Ihnen offen, ich habe mir von Ihrer Unterhaltung, Ihrem Charakter Eindruck versprochen, aber von Ihrem Äußeren eigentlich« – er räusperte sich – »eigentlich auch, aber weniger! Und nun schwärmen die Damen von Ihnen, wirklich – sie schwärmen. ›Man sieht ihm gleich den geistvollen Gelehrten an‹, sagte Fräulein Pauline, und Frau Kratochwil meinte, sie sähen so solid, so vertrauenerweckend aus. Nun, ich konnte den Damen ja zum Glück ähnliches von Ihrem Enthusiasmus –«
»Das konnten Sie freilich«, fiel ich ihm ins Wort. »Warum auch nicht? Es war ebenso wahr wie alles, was Sie uns von drüben erzählen.«
Herr Roithner lächelte. »Pardon! Doch nicht! Hier kann ich die volle Wahrheit sagen, drüben mußte ich ein wenig aufschneiden. Nur ein wenig! Denn die junge Dame gefällt Ihnen ja wirklich.«
»Hm!« Matthias räusperte sich verlegen.
»Bitte, sprechen Sie nicht! Wozu auch! Ich weiß ohnehin alles!«
»Alles?« fragte ich. »Auch daß mein Freund nicht zum ›Alten Stroblkopf‹ kommt?«
Herrn Roithners Lächeln ward zum Lachen, zum herzlichen, harmlosen Lachen. »Gut! Sehr gut! Was die Herren von der Feder für Einfälle haben! Eine solche Mitgift, eine solche Familie, ein so gebildetes, häusliches Fräulein – da müßte der Herr Professor ja rein ver . . . Pardon! Hahaha! So lachen Sie doch auch, Herr Professor!«
Aber Matthias lachte nicht. »Herr Roithner«, begann er. »Nämlich – allerdings – bei näherer Überlegung –«
»Ah so?!« rief Roithner lachend. »Sie wünschen mich noch unter vier Augen zu sprechen? Bitte!« Der Vorhang zum vierten Akt hob sich eben. »Aus der Komödie machen wir uns ja beide nichts!« Und flugs hatte er Matthias zur Bank hinausgedrängt und war mit ihm im Korridor verschwunden.
Erst kurz vor Beginn des letzten Aktes traten die beiden wieder ein. Ein Blick auf ihre Miene, und ich sah, daß Roithner gesiegt hatte, denn Matthias schlug die Augen nieder, und der Privatier nickte mir mit seinem liebenswürdigsten Lächeln zu. ›Lächle nur‹, dachte ich. ›Wenn die dicke Frau da meinem Matthias den Standpunkt klarmacht, nützen dir all deine Lügen nichts mehr.‹ In der Tat, wie sie nun mit purpurrotem Gesicht dasaß und hinter dem Fächer auf den Gatten einsprach, sah sie ganz danach aus, als ob sie das gründlich könnte. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht, und sie winkte mit dem Fächer Roithner herbei. Sie hatte gesiegt!
Auch dem Privatier war dies anzusehen. Er wurde blaß und biß sich auf die Lippen. Schon während der Schlußworte des Prinzen erhob er sich. »Auf Wiedersehen! Ich komme nach!« Und er stürzte in die Loge.
Als ich mit Matthias auf dem Michaelerplatz vor dem Theater stand, begann ich: »Nun, Großvater?«
»Zum . . . zum ›Alten Stroblkopf‹«, sagte er stotternd.
»Dann brichst du aber dein Wort!«
»Doch nicht!« verteidigte er sich zaghaft und betrübt. »Du sagtest – hm! ›menschenähnlich‹, sagtest du. Und das wirst du doch – hm! – gelten lassen.«
Ich mußte laut auflachen. Dann aber redete ich ihm ernst ab, wenn auch jetzt nur noch deshalb, um ihm die Demütigung des vergeblichen Harrens zu ersparen. Es nützte nichts. Er wurde nur ungehalten. »Wenn du wüßtest«, sagte er, »wer sich um sie bewirbt. Zwei Advokaten, ein Privatdozent der Medizin.«
»Wenn er Anatom ist, so mag's wahr sein. Aber im Ernst: glaubst du Roithner alles?«
»Dann müßte er ja lügen wie ein . . .« Er suchte nach dem passendsten Vergleich.
»Wie ein Vermittler«, sagte ich.
»Aber es ist doch nicht alles Lüge. Die gute Familie – Kratochwil hat den Franz-Josephs-Orden – und die Bildung und so weiter. Auch hat Roithner recht, sie hat auch äußere Vorzüge, hübsche Augen, sehr reiches Haar –«
»Das ist wahr«, sagte ich. »Um ihr Schnurrbärtchen hätte ich sie noch als Fuchs sehr beneidet.« Und den Ton hielt ich fest, obwohl er ihn verdroß. ›Er wird's mir danken‹, dachte ich, ›wenn's erst Mitternacht ist und wir noch immer allein dasitzen.‹
Es schien so zu kommen. Wir hatten im Restaurant auf Purschts Wunsch an einem großen Tisch im letzten Zimmer Platz genommen, wo es wenig Gäste gab. Unser Abendessen war verzehrt, es ging auf elf, und niemand kam. Immer unruhiger rückte Matthias hin und her. »Es wird doch kein Mißverständnis sein!« murmelte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Wärst du denn wirklich unglücklich«, fragte ich, »wenn sie nicht kämen?«
»Nein«, gestand er. »Eigentlich im Gegenteil – im Gegenteil. Von allem andern abgesehen – mir ist so bang davor. Aber der Aufschub nützt ja nichts. Dann muß es eben nächsten Sonntag . . .« Da zuckte er zusammen, und die kleinen Augen wurden starr.
Ich wandte mich um. Roithner hatte den Kopf ins Zimmer gesteckt und blieb wie vor Staunen gebannt stehen, als er uns erblickte. »Was, Teufel!« rief er. »Da sitzen Sie? Und wir im Extrazimmer! Seit einer Stunde! Aber ich sagte Ihnen doch, lieber Herr Professor: Ex-tra-zim-mer!« Er betonte jede Silbe.
»Pardon«, erwiderte Matthias fest. »Im letzten Zimmer geradeaus, sagten Sie!«
»Sie irren!«
Da zog mein ehrlicher Matthias sein Notizbuch hervor. »Wichtige Dinge pflege ich mir immer aufzuschreiben. Sehen Sie her: das habe ich mir gestern nach Ihrem Diktat notiert!«
»Wirklich?!« rief Roithner und schlug sich dann auf die Stirn. »Aber bitte, meine Herren, kommen Sie nun, kommen Sie, die Herrschaften sind schon ganz mißvergnügt vor Ungeduld.«
Das schien allerdings der Fall. Als wir in das Extrazimmer traten, erwiderte nur Kratochwil unsern Gruß, würdevoll und gemessen, jeder Zoll ein kaiserlich-königlicher Polizeikommissär, aber es war doch ein sichtbares Neigen des Hauptes. Für die Dicke zu seiner Rechten, das Töchterchen zu seiner Linken waren wir Luft. Purscht bemerkte es freilich nicht. Er war als der letzte in das kleine Zimmer gestolpert, in dem die drei als einzige Gäste saßen, und stand nun dunkelrot und schwer atmend da, das mitgebrachte halbgeleerte Bierglas fest an die Brust gepreßt.
»Die Herrschaften gestatten«, rief Roithner und stellte uns vor. »Wie der Zufall spielt! Da treffe ich meine jungen Freunde hier wieder, die Herren waren nämlich auch im Burgtheater! Und da habe ich sie gleich mitgebracht. Bitte, nehmen Sie Platz!«
Ich setzte mich auf seinen Wink neben die Dicke, er selbst nahm seinen Platz Kratochwil gegenüber ein, so blieb für »Großvater« nur der Stuhl neben dem Fräulein. »Bitte, Herr Professor!« Aber es währte lange, bis Matthias endlich dasaß. Dem armen Kerl schwamm es offenbar vor den Augen, denn er setzte sein Bierglas auf ein Salzfaß, daß es überschlug und die braune Flut auf sein Beinkleid floß. »Tut nix!« rief Roithner fröhlich. »Das bedeutet Kindstauf' – Hochzeit!« verbesserte er sich hastig. Und er reichte dem Ärmsten seine Serviette.
Frau Kratochwil war bisher schweigsam, wenn auch nicht geräuschlos dagesessen, denn sie atmete recht hörbar. Nun aber tat sie den Mund auf:
»Meinen S', Herr von Roithner? Manchmal bedeutet's auch nur Ungeschicklichkeit!«
»Allerdings«, stimmte der Privatier liebenswürdig zu. »Aber – was wollt' ich nur sagen? Richtig, wir sprachen vorhin über das Stück. Wie hat's denn Ihnen gefallen, Herr Professor?«
Matthias hatte noch mit seinem Beinkleid zu tun, war aber wohl auch sonst nicht in der Verfassung, seine Ansichten über »Romeo und Julia« eingehend darzulegen. Er fuhr bei Roithners Frage zusammen, schnappte nach Luft und sagte dann stockend: »Es ist . . . eine Tragödie . . . von Shakespeare . . .«
»Was Sie nöt sagen?!« rief die Dicke. »Und wir haben gedacht, es ist eine Posse von Nestroy.«
Da fühlte ich mich verpflichtet, einzugreifen. »Das war dann ein Irrtum, meine Gnädige«, erwiderte ich. »Es ist wirklich eine Tragödie von Shakespeare. Und kein gebildeter Mensch wird auf Herrn Roithners Frage eine andere Antwort geben als die ironische meines Freundes. Denn Gebildete unterhalten sich nicht darüber, ob ›Romeo und Julia‹ ein gutes Stück ist . . . Meinen Sie nicht auch, mein Fräulein?«
Pauline wurde rot. »Ja . . . Ein großer Dichter!« Sie hatte ein Quiekstimmchen, dessen Dünne zu allem andern an ihr paßte.
»Die kennt sich aus!« sagte Frau Kratochwil voll mütterlichen Stolzes. »Sie kann ja aber auch diesen Schöcksbier auf französisch lesen.«
»Englisch, Mama!«
»Aber doch auf französisch auch? Warst ja fünf Jahre bei die Sakrekör (Filles du Sacré-Cœur, ein klösterliches Erziehungsinstitut in Wien). Und mit 'n Schöcksbier hat sie's besonders. Vor zwei Monat' hab'n mir die schreckliche G'schicht von ihm anhören müssen – wie heißt's nur – wo der Baumeister als Bauer so rabiat wird?«
»Der Richter von Zalamea«, half ich höflich ein. Jetzt gefiel mir die Frau ganz gut.
»Na also, und jetzt hat sie wieder gepenzt und gepenzt: ›Romeo und Julia‹ – sie muß, sie muß! Der Krastel soll so gut sein und die Bognar – und überhaupt so a Stuck hat selbst der Schöcksbier nöt mehr g'schrieben, sagt sie, er hat's als junger Mensch g'schrieben, sagt sie, es is voller – was hast du gesagt, daß es voller is?«
»Voll Lyrik, Mama«, sagte Pauline.
»Richtig! Und jetzt grad hast ja noch was g'sagt. Wirklich was Hübsches. Sag's doch, Mädel, genier dich nöt.«
»Aber Mama!«
»Ich schaff' dir's aber!« rief Frau Kratochwil energisch. »Geh, Mann«, wandte sie sich an den Gatten, »schaff du's ihr. Na, wird's?!«
»Ich meinte«, quiekte Fräulein Pauline mit niedergeschlagenen Augen, »– aber ich traue mich wirklich nicht, es ist mir ja nur so durch den Kopf gegangen, ich meinte: ›Romeo und Julia‹ ist das glühendste, süßeste und leidenschaftlichste von Shakespeares Werken.«
»Na, was sagt man dazu?« rief Frau Kratochwil und legte mir die Hand auf den Arm. »Wie kommt sie nur auf so was? Woher hat sie das? Können S' mir sagen, woher?«
Wie gesagt, die dicke Frau gefiel mir nun sehr, und weil ich ihre Frage zufällig wirklich beantworten konnte, so hielt ich mich verpflichtet, dies zu tun. »Das hat Ihr Fräulein Tochter«, erwiderte ich also, »aus Meyers Konversationslexikon.«
Undank ist der Welt Lohn. Frau Kratochwil wandte sich zornig ab, und Fräulein Pauline war gleichfalls ungehalten.
»Na, jetzt haben wir aber genug vom ›Hecheren‹ (Höheren) geredet!« rief Herr Roithner in dies Schweigen hinein. »Darf ich Ihnen was Lustig's erzählen? Mein Barbier hat jetzt den persischen Sonnen- und Löwenorden gekriegt! Und wissen S', warum?!«
Herr Kratochwil war bisher schweigend und würdevoll dagesessen, nun aber nahm er eine geradezu imponierende Haltung an. »Ich muß ich serr bitten«, sagte er in seinem harten Tschechisch-Deutsch. »Solche Geschichten passen für Damakraten, nicht hirr. Hirr sitzen zwei gaiseliche Staatsbiamte, ich und der Herr Professor. Über Orden macht man kaine Witz', isse zu hailige Gegenstand . . .«
»Ganz richtig. Aber ein persischer.«
»Isse sich gleich! Orden isse Orden, Majestät hat gegeben. Und ich hab' ich selbst Sonnen- und Lebenorden, sehrr scheene Orden. So isse heutige Zeit! Über Orden macht man Witz', über Staat, sogar über Pulizei! Und was isse Welt ohne Pulizei! Ich bitt' ich Ihne, was? Das hamme hait auf Theater gesehen! Was war in Verona ganze Unglück?! Keine Pulizei!«
»Oh, wie wahr!« rief ich begeistert. Auch mein Matthias benutzte die Gelegenheit, endlich einen Laut von sich zu geben. »So ist es!« sagte er etwas unsicher, aber doch ganz vernehmlich.
»Natürlich!« fuhr Herr Kratochwil geschmeichelt fort. »Muß ja Kind einsehen. Da raufens sich die Bediente von die Grafen immerzu – wu is Pulizei?! Da laufens Romeo und Freunde vermaskiert auf Gassen herum, schleichens sich in fremde Haus – wu is Pulizei? Da klettert Romeo über Mauer – Pulizei sieht nix, hört nix! Romeo hat Schwert, Tybalt hat Schwert, Julia hat Dolich – isse das eine Ordnung?«
»Und von einem Waffenpaß«, fügte ich bei, »ist sogar nirgendwo auch nur die Rede! Kein Mensch denkt daran, und geschieht dann ein Totschlag, so wird der Schuldige verbannt, statt daß ihn die Polizei einsperrt.«
»Sie scheinen S' vernünftige Mann«, sagte der Polizeikommissär außer Dienst wohlwollend. »Aber was war in Verona allergrößte Malhör?! Ungenügende Überwachung des Medikamentenhandels! ›Meine Herren‹, hat mein seliger Chef, der Hofrat Pawlitschek, immer g'sagt, ›ich bitt' ich Sie, schaun S' den Drogisten auf die Finger und den Aputhekern.‹ Dasse hamme auch getan. Aber dort? Lorenzo gibt Schlaftrunk, Aputheker verkauft Gift! Isse Skandal!«
»Wie wahr!« jauchzte ich wieder. »Und wie neu! Das hat ja noch kein Mensch vor Ihnen herausgefunden!«
Herrn Kratochwils dramaturgische Lorbeeren ließen seine Gattin nicht ruhen. »Daran is ja was!« sagte sie. »Aber ich hab' mir immer gedacht: Das größte Unglück is doch der schlechte Dienstbot' im Haus! Nein, diese Amme! Wie die red't, und was die tut! Statt zu der Gräfin zu gehen und ihr zu sagen: ›Geben S' acht auf das Fräulein!‹ lauft sie hin und kuppelt. So a nixnutzige alte Gredl! – No ja, mit schlechte Dienstboten kann man was erleben, das sag' ich immer. Und –«
Fräulein Pauline war schon seit einigen Minuten unruhig hin und her gerückt. »Mama!« sagte sie nun sehr bestimmt, »es geht auf zwölf!«
Die Familie erhob sich und rief nach dem Zahlkellner. Während der Herr Kommissär die Zeche berichtigte, trat Roithner auf die Dicke zu. Aber sie wies ihn kurz ab. »Sie gehn ja mit«, erwiderte sie, »da können wir uns aussprechen.«
›Gottlob‹, dachte ich, ›eingeladen werden wir also nicht!‹ Und so war es auch. Noch mehr, nur der Herr Kommissär versicherte uns, es sei ihm »ein Vergnügen« gewesen. Stumm blieben Matthias und ich noch eine Weile sitzen, tranken unsre Gläser leer und wandelten dann ebenso schweigsam ins Café Troidl. Auch da wollte sich lange kein Gespräch finden. Endlich fragte er: »Wie – hm! wie erklärst du dir das?«
»Daß sie uns nicht eingeladen haben?« Ich dachte nach. Nein, ich wollte es ihm nicht sagen, er war ja ohnehin verschüchtert genug. »Das ist ja ganz gleichgültig!« sagte ich dann: »Die Hauptsache ist doch, wie du denkst! Würdest du sie nehmen – ja oder nein?«
Er blickte lange schweigend vor sich nieder. »Nein!« sagte er dann. »Ich weiß, ich bin auch kein Adonis . . . Aber die . . . Nein! Und wenn sie eine Million hätte, nein!« Und mit einer Entschiedenheit, die ich wahrlich nicht an ihm gewohnt war, hieb er auf das Marmortischchen, daß Tassen und Gläser aneinanderklirrten.
Als ich am nächsten Morgen an demselben Tischchen frühstückte, war der fleißige Privatier bereits im Lokal. Er erledigte einige ausgiebige Unterredungen mit jungen Advokaturskandidaten, ehe sie ihre Kanzleien aufsuchten, und setzte sich dann zu mir. »Nach der Arbeit das Vergnügen«, sagte er sehr liebenswürdig. »Hoffentlich sind auch Sie nun mit meinem Versuch ausgesöhnt. Denn erstens danken Sie ihm viel Spaß, und zweitens ist er ja gescheitert, was Sie auch nicht kränkt!«
»Nein!« erwiderte ich. »Also Sie geben's auf? Es ist ja auch nichts zu machen. Beide wollen eben nicht. Und eine Ehe ohne Neigung ist ja gegen Ihr Prinzip!«
»Ganz richtig! Aber es ist schade. Ein großer Verlust!«
»Vierhundert Gulden von Purscht. Und was hätte Ihnen der Kommissär gegeben?«
»Ebensoviel. Achthundert Gulden – viel Geld! Gewiß, auch darum tut's mir leid. Mein Gott, man ist Familienvater . . .« Er seufzte tief auf. »Auch hätten ja beide vortrefflich zueinander gepaßt.«
»Na, na«, sagte ich, »nach beiden Richtungen werden Sie Ersatz wissen!«
»Hm!« Er schüttelte den Kopf. »Mit ihr versuch' ich's noch – aber mit Purscht ist nichts zu machen! Ja, wenn er wenig Geld wollte, aber er will viel Geld! Offen gesagt, ich habe ihn nur für Kratochwils herangezogen, und da dies nicht ging – Schwamm drüber!«
Er seufzte nochmals tief auf und empfahl sich.
Als ich meinen Freunden Max und Albin am Nachmittag meine Sonntagsfreuden schilderte, wäre fast ein Buch daraus entstanden. Wir beschlossen, eine Dramaturgie vom Standpunkt der Polizei zu schreiben, aber dann lockte uns wieder die Dienstbotenfrage in der tragischen Dichtung. Und so wurde doch nichts daraus, weil für jeden der beiden Pläne der Stoff zu reichlich floß.
Mit einiger Spannung sahen wir Purschts Erscheinen am nächsten Mittwoch entgegen. Aber er blieb aus und ließ sich auch in nächster Zeit nicht blicken. Und als nun vierzehn Tage seit jenem Theaterabend verstrichen waren, da dachte ich: ›Der arme Kerl würgt an seiner Blamage und vermeidet dich darum. Das darf nicht sein!‹ Ich beschloß, ihn am nächsten Sonntagmorgen in seiner Wohnung aufzusuchen.
Da brachte am selben Morgen die erste Post einen Brief von ihm. Ohne sonderliche Neugierde entfaltete ich das Blatt und – prallte zurück. Denn der Brief lautete kurz und bündig:
»Lieber Freund! Ich habe mich gestern abend mit Fräulein Pauline Kratochwil verlobt. Sie und ihre Eltern bitten Dich, heute nachmittag drei Uhr bei ihnen zu speisen. Rasumowskijgasse 5, I. Stock links. Sonst nur Familie, aber Du bist ja mein ältester Freund.
Dein Matthias.
Ich bin sehr zufrieden. Wenn das meine Eltern erlebt hätten!«
Ich las zum zweiten, zum dritten Male, aber von den steifen, verschnörkelten Buchstaben rückte keiner von seinem Platze. Es war wirklich so, »Großvater« hatte sich mit Fräulein Kratochwil verlobt, und »Großvater« war sehr zufrieden. Er war's, sonst hätte er's nicht geschrieben.
In einem seltsamen Zwiespalt der Empfindungen ging ich ins Café. Auf dem Wege dorthin kam mir's erst zum Bewußtsein, wie geflissentlich mich Roithner in den beiden letzten Wochen vermieden hatte. Jetzt aber trat er, kaum daß ich Platz genommen hatte, freudestrahlend auf mich zu.
»Ich gratuliere«, sagte ich. »Achthundert Gulden . . . Ist aber auch dem armen Matthias zu gratulieren?!«
»Und ob! Die beiden sind ja wie füreinander geschaffen!«
»Aber wie in aller Welt ist es Ihnen schließlich doch gelungen? Sie hatten's ja schon aufgegeben!«
»Bewahre! Etwas aufgeben, was so vernünftig, so in jeder Beziehung passend war?! Da kennen Sie den Roithner schlecht! Ich sagte das Ihnen, weil ich –« Er lachte. »Nun ja! Unbequem ist ja in derlei Sachen jeder Unbeteiligte, und nun gar einer, der – verzeihen Sie – die Dinge nicht so sieht, wie sie sind . . . Was stand denn zwischen den beiden? Sie fanden ihr Äußeres gegenseitig nicht bezaubernd, und weil sie darin beide nicht unrecht hatten, so sprach eben dies für die Sache!«
»So?! Aber die ›Neigung‹?!«
»Eben darum! Wäre Aussicht auf Neigung vorhanden, wenn ich Fräulein Kratochwil einen Adonis zugeführt hätte und Herrn Purscht eine Venus?! So ist sie vorhanden! Noch mehr, schon jetzt gefallen sie einander recht gut. Sie werden ja sehen!«
Natürlich fuhr ich sofort zu Matthias, um ihm Glück zu wünschen. Er war noch zu Hause und vollendete eben seine Toilette, indem er eine weiße Krawatte von unerhörten Dimensionen umlegte. Bei meinem Anblick wurde er ein wenig verlegen, schüttelte mir dann aber freudestrahlend die Hand. »Du – du warst wohl etwas erstaunt?« fragte er dann. »Denn vor heut vierzehn Tagen war ich ja zuletzt noch unentschieden . . .«
»Ja – a!« sagte ich langgedehnt und nicht wenig verblüfft. Mein Matthias sagte sonst immer die Wahrheit.
Aber er log auch diesmal nicht bewußt. »Das heißt«, sagte er, »im Innern« war ich unentschieden. Dir sagte ich wohl in meinem Ärger noch ganz andres. Denn ich ärgerte mich wirklich, als sie gingen, ohne uns zu einem Besuch aufzufordern. Das sah ja wie eine Ablehnung aus, war's aber wahrhaftig nicht. Roithner klärte mich schon am nächsten Tage auf. Der Grund – aber das darfst du nicht übelnehmen –«
»War ich!« ergänzte ich. »Aber darf ich dann heute.«
»Wie du nur so reden kannst! Meine liebe Paulitschka – mein Schwiegervater, der Herr Kommissär, nennt sie so, und ich will mir's auch angewöhnen, weil ich den Namen so herzig finde –, meine Braut also sagte mir gestern: ›Dein Freund ist unser Freund! Und‹, sagte sie, ›jemand muß doch den Toast auf meine Eltern sprechen.‹ Du siehst, du bist herzlich willkommen . . . Du wirst doch sprechen?«
»Unter einer Bedingung«, sagte ich. »Du erzählst mir haarklein, wie sich eure Herzen gefunden haben!«
»Gern, aber du wirst enttäuscht sein, denn es ist alles so verständig und ordentlich zugegangen. Am Montag also lud mich Roithner ein, des Abends mit ihm ins dritte Kaffeehaus im Prater zu gehen. Kratochwils waren da, ich unterhielt mich fast nur mit dem Herrn Kommissär. Er war sehr liebenswürdig und fragte mich nach meinen verstorbenen Eltern, meinem Beruf, meinen Aussichten für die Zukunft. Meine Braut tat, als interessiere sie dies nicht, und Frau Kratochwil meinte sogar, sie sei nur auf Befehl ihres Mannes in den Prater gegangen, auch lud mich der Herr Kommissär diesmal noch nicht ein, aber Roithner klärte mich dann auf. Die Damen wollten mir eben nicht zeigen, daß ich Eindruck gemacht hatte. Auch mußt du bedenken, daß Frau Kratochwil eine geborene Weißkappel ist. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, was das bedeutet.«
»Gewiß! Erste Wiener Fleischhackeraristokratie!«
»Ja. Die Einladung aber hatte er vergessen.«
»Und deine Braut gefiel dir nun?«
»Nein, damals noch nicht. Erst so allmählich. Es ist ein Gesicht, das sehr gewinnt, wenn man es öfter sieht. Paulitschka meint, ich hätte auch ein solches Gesicht. Nun, am Dienstag waren Roithner und ich im Zirkus Renz und Kratochwils auch. Da wurde ich eingeladen, machte auch schon am nächsten Tage meinen Antrittsbesuch, und von da ab sahen wir uns fast täglich.«
»Und nun sprachst du natürlich auch mit den Damen?!«
»Ja, das heißt mit Frau Kratochwil, Paulitschka war sehr schweigsam, und du weißt, ich bin leider nicht sehr gewandt. Aber schon am vorigen Sonntag wagte ich eine Anspielung – und mit Erfolg. Ja wirklich! Wir sprachen über Familiennamen, und der Herr Kommissär meinte: ›Kratochwil ist häufig, aber Kratochwil ist schön.‹ Und darauf ich zu ihr gewendet: ›Purscht ist selten, aber leider nicht schön!‹ – Weiß Gott, woher ich den Mut dazu nahm, aber ich sagte es. – Und darauf sie: ›Ja!‹ und wurde rot und ging aus dem Zimmer.«
»Das war alles?« fragte ich.
»Aber, mein Gott, was noch?! Bin ich ein Romeo und sie eine Julia?! Nun, und so sprachen wir auch in den nächsten Tagen über verschiedenes, und gestern ging ich auf Roithners Rat hin und hielt um sie an.«
»Wie nahm sie dein Geständnis auf?«
Er räusperte sich. »Offen gesagt, ich habe ihr eigentlich nichts gestanden. Ich kam um zwölf hin, und da war sie zufällig allein im Salon. Als ich eintrat, wurde sie, soviel ich sehen konnte, sehr verlegen und fragte dann: ›Warum im Frack, Herr Professor?‹ Darauf wollte ich etwas sagen, konnte aber nicht, und wie wir so dastanden, traten ihre Eltern ein und segneten uns.«
»Und du bist zufrieden?«
»Ja!« sagte er. »Denn es ist eine für mich durchaus passende Partie. In fast allen Beziehungen sind meine Wünsche erfüllt, in einer sogar übertroffen.«
Damit schieden wir. Er ging in die Rasumowskijgasse und ich heim, mich umzukleiden. Allzugern tat ich's nicht, in der Komödie mitzuspielen, machte mir geringes Vergnügen. Denn es schien mir auch jetzt eine recht, recht traurige Komödie . . . Ich mußte immer – kaum wußte ich selbst warum – an meinen alten Lehrer Wenzel Purscht denken, und wie ich zuletzt sein Antlitz verklärt im Sarge gesehen. ›Was deine Züge leuchtend gemacht, armer alter Schulmeister‹, dachte ich, ›war der Gedanke an das Glück deines Sohnes, aber du hast dabei an ein andres Glück gedacht, als ihm nun wird, das stille, echte Glück, das uns nur dann zufällt, wenn wir allzeit redlich tun, was unser Herz uns gebietet. Wer weiß, ob es gar so zu bedauern ist, daß du die Verlobung deines Matthias nicht erlebt hast. In fast allen Beziehungen sind seine Wünsche erfüllt und in einer sogar übertroffen, aber du, armer alter Schulmeister, wärest darüber vielleicht doch nicht entzückt gewesen.‹
Als ich um drei Uhr vor dem Hause der Rasumowskijgasse aus dem Wagen stieg, empfingen mich freundliche Zurufe einer ebenso stattlichen als erlesenen Gesellschaft, die sich vor dem Haustor versammelt hatte. »Der is noch nöt recht ausg'füttert!« riefen die einen. »San S' auch a Fleischhacker?« fragten die andern. »Aber na, er hat ja Glasaugen (Brille), der is nur a Lehrer!« riefen die dritten. Es war die liebenswürdige Jugend der Gasse, die ihrer Teilnahme an dem Kratochwilschen Feste Ausdruck gab. »Nur a Lehrer« schien auch der Lohndiener im Vorzimmer zu denken, denn er musterte mich fast mitleidigen Blicks. Dieser Blick und die Zurufe des freiwilligen Empfangskomitees wurden mir verständlich, als ich den Salon betrat. Verblüfft, verschüchtert blieb ich stehen. Alle Wetter, eine so wohlgenährte Festgesellschaft hatte ich noch nie beisammen gesehen. Etwa zwanzig ältere Damen und Herren, von denen keiner unter drei Zentner wog, daneben einige junge Herrschaften beiderlei Geschlechts, die eine mindestens ebenso gedeihliche Entwicklung für die Zukunft verbürgten. Kein Wunder, daß der Raum eng war und ich nicht hätte vorwärts kommen können, selbst wenn ich nicht durch die Ehrfurcht vor solchen Massen von Frauenschönheit und Manneswürde an der Tür festgebannt geblieben wäre.
Da gewahrte mich ein etwa sechzehnjähriger Jüngling, der gleichfalls wie ein überfütterter junger Bacchus aussah, und drängte sich zu mir durch. »San Sö der Herr«, fragte er, »der die Red' halten soll? Der Freund von mein' Schwagern?« Also der Sohn des Hauses. »Schieben S' nur mir nach!« Und er geleitete mich zu Herrn und Frau Kratochwil. »Muatta, der Schurnalist!«
Sie empfingen mich herablassend, aber nicht ohne Wohlwollen. »Ja, ja!« erwiderte der Herr Kommissär mit liebenswürdigem Humor auf meinen Glückwunsch. »Das hätte mir bei ›Alte Stroblkopf‹ nicht gedacht. Aber solche Malhör is bald g'schehn. Denn warum? Wo Zucker is, seins auch gleich Fliegen da. Kummte da fremde Mensch, nimmte mir meine Paulitschka weg!« Frau Kratochwil aber sagte: »Zu gratulieren is eigentlich mehr Ihrem Freund als wie uns! Aber wann sich a Madel verliebt, was will man machen?! Was lachst, du Mistbub?« fuhr sie den Sohn an.
»Verliebt?!« grinste der Jüngling. »Was hab'n der Vater und der Roithner in sie hineing'redt, bis sie –«
»Halt's Maul!« rief sie heftig, »sonst –« Sie erhob die beringte Hand. »So a freche Lug'! Wissen S', die andern kennen unsern Schurschl schon, aber Ihnen muß ich's sagen: halt a kecker Schnabel!«
»Natürlich! Der junge Herr ist noch Gymnasiast?«
»Nein! An Kopf fehlt's nöt, aber er hat halt nöt g'wollt. Jetzt ist er bei mein'n Bruder Weißkappel in der Lehr'.«
»Oh«, sagte ich, »das ist ein sehr nahrhafter Beruf. Aber wo ist das Brautpaar?«
Sie blickte sich um. »Richtig! Da sind s' wieder ausg'rückt und schmatzen sich irgendwo ab. Wahrscheinlich da.«
Sie deutete auf das Nebenzimmer und schob mich, als ich zögernd stehenblieb, mit kräftigem Ruck in die Richtung. »Stören Sie sie nur! Und essen gehn mir noch lang nöt! Wir erwarten noch die Herren Kollegen von meinem Mann, den Herrn Hofrat Nawratil und den Herrn Oberkommissär Pritschkowski.«
»Oh!« murmelte ich ehrfürchtig und trat dann in das nächste Zimmer. Es war aber nicht ganz so, wie sie vermutet hatte, das junge Paar hielt nur Blick in Blick versenkt, saß aber auf fünf Schritte Distanz voneinander. Gleichwohl schnellten beide bei meinem Eintritt errötend auf. Er blieb auch verlegen, während sie mich unbefangen begrüßte. So glückte es denn, ein gleichgültiges Gespräch in Gang zu bringen.
Da riß Frau Kratochwil die Tür auf. »Kinder!« rief sie befehlend. Die beiden Würdenträger waren eingetroffen, und das junge Paar wurde ihnen vorgestellt. Herr Nawratil war klein und grau, Herr Pritschkowski war groß und blond, trotzdem sahen beide Herren Kratochwil ähnlich. Unmittelbar darauf ergriff die Hausfrau den Arm des Hofrats, auch die andern Paare formierten sich.
Auf mich trat eine schlanke, nicht mehr ganz junge Dame mit klugem, angenehmem Gesicht zu. »Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle«, sagte sie lächelnd. »Marie Kratochwil, städtische Lehrerin. Ich bin eine Cousine der Braut, ich weiß zufällig, daß Sie mein Tischherr sind.«
Die Tafel war überreich mit schwerem Silbergerät geschmückt. »Der Hausschatz der Weißkappels«, sagte meine Nachbarin. In derselben Tonart nannte sie mir auf meine Bitte – ich war ja niemand vorgestellt worden – die Gäste: »Fünf Weißkappel mit Gemahlinnen, neun junge Weißkappel, ferner vier geborene Weißkappel mit ihren Gatten. Aber Schriftsteller sind immer auf Studien aus – wünschen Sie auch Vornamen und Adressen?«
Ich dankte. »Von Ihrer Familie?« sagte ich dann zögernd.
»Bin nur ich geladen«, erwiderte sie lächelnd. »Meine Eltern nicht. Mein Vater, der Bruder des Hausherrn, ist Schustermeister in der Alservorstadt, meine Mutter war Köchin. So etwas darf man einer Runde von Weißkappels nicht bieten!«
»Aber sie haben ja sonst gleichfalls mit Fellen zu tun«, wandte ich ein, »und mit –«
»Mit Köchinnen auch«, ergänzte sie lachend. »Aber eben darum.« Dann wurde sie ernst. »Sie wundern sich wohl, warum dann ich gekommen bin? Es fiel mir nicht leicht, aber Pauline bat mich darum, und ich bin nicht bloß ihre Cousine, sondern auch ihre beste Freundin. Derlei muß man eben tun, wenn es gewünscht wird. Sie sind ja in gleicher Lage.«
»Ich?!« rief ich verlegen und wollte abwehren. Aber diesen klugen, klaren Augen war nicht standzuhalten. »Sie haben recht«, sagte ich ernst.
Sie nickte. »Das ist ja auch so natürlich. Herr Purscht ist Ihr Jugendfreund, und darum freut es Sie nicht, daß er nach einigem Zögern einzig um der Mitgift willen ein unhübsches Mädchen nimmt. Und mich freut's nicht, daß sich meine brave, kluge Pauline schließlich doch zu der ›Versorgung‹ hat überreden lassen. Nun, unser Trost ist nur: das Unsre haben wir getan, es zu hindern . . .«
Ich mußte lächeln. »Wir führen da ein seltsames Gespräch für ein Brautdiner.«
»Lieber seltsam als unehrlich«, erwiderte sie. »Und wollen Sie mir nun ebenso ehrlich sagen, was Sie von Herrn Purscht wissen?«
Ich tat es und bat dann um das gleiche bezüglich der Braut.
»Wie gesagt«, war die Antwort, »ein braves, kluges Mädchen. Auch ist es in keiner Weise ihre Schuld, daß es nun so gekommen ist. Ich bin neunundzwanzig, sie zwei Jahre jünger. Als ich vor zehn Jahren beschloß, Lehrerin zu werden, bestürmte sie ihre Eltern, mir darin folgen zu dürfen, und aus den gleichen Gründen. Ich wählte einen Lebensberuf, um des entsetzlichen Wartens auf einen Mann überhoben zu sein, und weil ich mir sagte, daß ich vermutlich umsonst warten würde. Ein gebildeter Mann nimmt eine arme Schusterstochter nur aus aufrichtiger Liebe, und wie sollte ich in meinen Kreisen einen solchen Mann kennenlernen?! Für einen Handwerker taugte aber leider ich nicht mehr, dazu hatte ich schon zu viel gelernt. Pauline aber sagte sich: ›Auch ich will selbst was sein. Ich bin zu unhübsch, um eine Neigung einzuflößen, und um meines Geldes willen mag ich nicht genommen werden.‹ Es war umsonst. Der Vater war dagegen, und nun gar die Mutter! Sie sehen, sie kann nichts dafür. Übrigens, wir wollen das Beste hoffen. Es kann ja auch gut ausgehen. Aber gegen die Verwerflichkeit solcher Vernunftehen spräche dies wahrlich nicht! Warum sollte ein Mädchen wie Pauline nicht einen Mann finden, dem sie sympathisch ist und er ihr? Warum Ihr Freund nicht ein solches Mädchen?! Hier aber ist die Grundlage des Glücks die Zungenfertigkeit eines Agenten. Eine schwankende Grundlage!«
Ich füllte unsre Gläser. »Da stimmen Sie gewiß einem kleinen Privattoast zu: Pereat die Roithnerei!«
»Pereat!« stimmte sie lachend ein.
Gleich darauf erhob sich Herr Hofrat Nawratil zu seinem Toast auf das Brautpaar. Er würdigte zuerst die Verdienste, die sich sein alter Freund Kratochwil in vierzigjähriger Dienstzeit namentlich auf dem Gebiet der Fleischbeschau und des Markthallenverkehrs um Österreich erworben. Schon dieser historische Teil der Rede fand vielen Beifall, noch mehr die Würdigung des Brautpaares. »Wie ich höre«, schloß er, »hat ein Zufall, die Begegnung bei dem Stück eines Dichters, den berufene Literaten einen unsterblichen Briten genannt haben, den Bund geknüpft. Liebe und Poesie haben seine Wiege gekrönt, dies ist leider heutzutage eine Seltenheit, um so lauter wollen wir rufen: Hoch das Brautpaar!«
Stürmisch fiel das Geschlecht der Weißkappel ein, nach seiner Auffassung war also eine Liebesheirat äußerst selten. Doch vernahm ich auch einen scharfen Tadel gegen die Rede. »A alter Hofrat«, sagte die dicke Frau zu meiner Linken, »sollt' besser wissen, was sich g'hört. Bei einer Hochzeit darf man von einer Wiegen reden, aber bei einer Verlobung noch lang nöt.«
Diese Kritik, noch mehr das ernste Gespräch mit meiner Nachbarin lähmten meine Schwingen. Ich hatte vorgehabt, die Geschlechter der Kratochwil und Weißkappel mit Enthusiasmus zu feiern, aber das durfte ich nun der armen Braut nicht antun. Ich begnügte mich mit einigen kurzen Sätzen und machte geringen Effekt. »A Schurnalist«, sagte die Kritikerin von vorhin, »sollt' schon schöner reden. Dem kann's ja auf a Lug' mehr oder weniger nöt ankommen!«
Im übrigen verlief das Mittagessen glänzend. Die Fleischberge verschwanden im Nu, der Vöslauer, dann der Champagner flossen in Strömen. Die Unterhaltung wurde immer geräuschvoller und schließlich sehr laut. Das einzige Paar, das schweigend dasaß, waren die Brautleute. Es dunkelte schon, als man sich erhob. Ich drückte mich, so bald ich konnte.
In der nächsten Zeit ließ Matthias nichts von sich hören. Bei dem Dankbesuch, den ich am Sonntag darauf bei Kratochwils machte, waren weder er noch die Braut sichtbar. Wohl aber erfuhr ich bei der Gelegenheit des genaueren, wie sich die Verlobung eigentlich gefügt hatte. Gleichzeitig mit mir war auch eine Dame aus der Nachbarschaft mit ihrer Tochter zur Gratulation erschienen. Auf ihre Frage erzählte meine dicke Gönnerin mit liebenswürdiger Offenheit:
»Das kann ich Ihnen sagen, das darf a jeder wissen! Wir sitzen im Burgtheater bei ›Romeo und Julia‹, Sie wissen, Frau von Kreutinger, das traurige Stuck, wo die Bognar so gut is, und da fallt uns ein junger Mann im Parkett auf, der meine Paulin' immer anschaut, als wollt er sie fressen. Wie wir aus'n Theater gehn zum ›Alten Stroblkopf‹, merken wir, er geht mit noch einem Herrn hinter uns her. Mir war das unangenehm, obwohl's ja nöt das erste Mal war, aber was laßt sich dagegen machen?! Wir setzen uns beim ›Stroblkopf‹ hin, und richtig – in fünf Minuten sind die zwei da, setzen sich zu uns, stellen sich vor. Ein Wort gibt's andere, drei Tag darauf läßt er sich bei uns einführen, acht Tag drauf hält er um die Paulin an. Ordentlich romantisch – daß so was heutzutag noch passiert!«
Frau Kreutinger lächelte süß-säuerlich. »Das muß ich aber gleich der Frau von Hinterpfoitner erzählen – wissen S', was die sagt?!«
»Da bin ich neugierig! Bitte – was?!«
»Aber Sie werden sich ärgern, Frau von Kratochwil!«
»Ich ärger' mich nöt so leicht – also bitte!«
»Sie sagt – aber das is wirklich nicht recht von der Frau von Hinterpfoitner, sonst keine üble Frau, aber das ist nicht recht. Na, sie wird's halt g'hört haben!«
»Na, also – bitte!«
»Sie sagt – aber wie gesagt, 's is gewiß nöt bös gemeint: das hätt' der Roithner gemacht!«
Frau Kratochwil saß starr vor Staunen. »Der Roithner – wer und was is das? Wir kennen kein Roithner!«
»Der Vermittler.«
»Ein Vermittler!« rief Frau Kratochwil. »Ein Mädchen wie meine Paulin und ein Vermittler! Das is unerhört von der Hinterpfoitner! Nein, was die Welt bös is! Aber gottlob, da hab' ich einen Zeugen! Das is von unserm Matthi der Freund, der damals mit war. Bitte, bestätigen Sie's mir. Waren Sie an jenem Abend mit ihm im Burgtheater?«
»Ja!«
»Und dann beim ›Alten Stroblkopf‹?«
»Ja!«
»Na, also! Nein, was die Leut' schlecht sind!«
Die einzigen Nachrichten, die mir seither vom Bräutigam zukamen, erhielt ich durch Roithner. An unseren Tisch setzte er sich nun nicht mehr – es hatte ja nun keinen Zweck – doch flüsterte er mir zuweilen zu: »Es geht alles famos!« Und einmal sagte er mir geradezu: »Sie lieben sich schon! Wenn Sie diese Zärtlichkeit sehen könnten!«
»Danke«, sagte ich. »Ich muß nicht von allem haben. Wann ist die Hochzeit?«
»Sobald er zum Gymnasiallehrer ernannt ist, also hoffentlich Ende Juli. Das arme junge Paar – sie zählen schon die Tage.«
Endlich stand die Ernennung in den Zeitungen, Purscht kam an ein mährisches Gymnasium. Aus diesem freudigen Anlaß gaben Kratochwils ein Abendfest und luden auch mich ein. Ich lehnte unter einem Vorwand ab, machte ihnen aber wieder einen Dankbesuch.
Ganz wie bei dem Verlobungsfest wies mich Frau Kratochwil auch nun ins Nebenzimmer: »Sie tun mir nur einen Gefallen, wenn Sie die ewige Schmatzerei unterbrechen!« Aber diesmal lag Julia wirklich in Romeos Armen, und als sie sich ihnen entwand, geschah es ohne allzu große Hast. Auch »Großvater« war gefaßter, als ich dies in solcher Situation bei ihm je für möglich gehalten hätte.
Kein Zweifel, sie waren das Gestörtwerden gewohnt. Ich glaube, ich war verlegener als die beiden und empfahl mich rasch wieder. Nur soviel bemerkte ich in den wenigen Augenblicken: eine verschönernde Wirkung übte die Liebe nicht auf sie, nein, wahrhaftig nicht!
Einige Wochen darauf war die Hochzeit. Ich war nicht in Wien und erfuhr nur durch Roithner, wie schön das Fest gewesen. Aber auch er wußte es nur von den alten Kratochwils. »Ich war nicht geladen«, sagte er mit elegischem Lächeln. »Nicht einmal in die Kirche durfte ich kommen und mich an dem Glück erfreuen. Wie der alte Ovid sagt: ›Sic vos, non vobis.‹«
»Es ist Vergil«, berichtigte ich. »Aber woher haben Sie den Brocken?«
»Erlauben Sie«, sagte er liebenswürdig wie immer, »ich bin ja ein verdorbener Jurist! Nach einigen Semestern habe ich mich verbummelt. Lange hat's mich gereut, jetzt bin ich froh darüber. Was ist ein schönerer Beruf: als Richter Ehen zu scheiden oder sie als Vermittler zu stiften?! Notabene: so glückliche Ehen, wie ich sie zu stiften pflege! Fragen Sie, wenn Sie mir nicht glauben wollen, Kratochwils, wie glücklich die beiden sind. Nur jetzt noch etwas zu zärtlich, zu stürmisch, aber das wird sich ja geben . . . Nun, mein Herr«, er steckte die Hand in den Westenausschnitt und sah mich triumphierend an, »wie denken Sie heute über mein Geschäft?«
»Nicht anders als früher«, erwiderte ich. »Was gegen die Menschenwürde geht, kann nicht gut sein und ist es auch nicht. Sie stiften mehr Unheil als Heil, das sagt die Vernunft. Und wenn auch der Handel einmal glücklich ausgeht, schön ist es doch nicht . . . Mit welchen Empfindungen mag Purscht Ihre Quittung über die vierhundert Gulden österreichischer Währung betrachten?!«
Er lachte. »Da können Sie ruhig sein! Er hat keine solche Quittung! Er gab mir das Geld und ich ihm seinen Provisionsbrief. Den hat er natürlich zerrissen, und damit ist die Geschichte aus. Ganz aus! Wenn Sie wüßten, wie rasch die Menschen mich vergessen!«
Kurz darauf ging ich nach Italien und habe Roithner nie wieder gesehen. Nur einmal noch las ich seinen Namen in den Zeitungen, anläßlich eines argen Prozesses. Er hatte einen Aristokraten, der den Provisionsbrief nicht eingelöst hatte, auf Zahlung verklagt. Der antwortete mit einer Betrugsanzeige, und die Untersuchung brachte unschöne Dinge an den Tag. Der Mann, der nach seiner Versicherung so viele glücklich gemacht hatte, endete recht schlimm.
Was aber Purscht betrifft, so kam er mir ganz aus den Augen, freilich nicht ganz aus dem Sinn. Wie wäre dies auch möglich gewesen?! Der eignen Jugend gedenkt man ja immer wieder. Aber irgendeine Kunde kam mir nicht zu.
Da erhielt ich im vorigen Jahr neben anderen Einladungen zu Vorlesungen in Österreich auch eine aus einer Mittelstadt, der ich sonst – der Ort lag etwas abseits vom Wege – schwerlich entsprochen hätte. Aber unter dem Brief stand im Namen der »Ressource«: »Matthias Purscht, Kaiserlich Königlicher Gymnasial-Direktor.« Und auf eine Visitenkarte hatte er in den wohlbekannten Zügen, die in dem Vierteljahrhundert noch knabenhafter und noch verschnörkelter geworden waren, geschrieben: »Hoffentlich kannst Du mir und meiner Gattin die Freude des Wiedersehens bereiten. Oft erinnern wir uns des alten Freundes, der einst meinen Liebesklagen ein geduldiges Ohr geliehen und dann den endlich Vereinigten den ersten Gruß dargebracht hat.« Ich las es staunend, aber so stand es auf der Karte geschrieben.
Ich sagte zu, und da Purscht nun darum bat, richtete ich es so ein, daß ich schon mit dem Mittagszug eintraf. Auf dem Perron stand ein kleiner, sehr runder Herr mit langem, graublondem Haar, und um ihn, wie der Sterne Chor um die Sonne sich stellt, drei Buben mit Stumpfnasen und Karpfenmündchen und langen Armen. Den Herrn hätte ich kaum erkannt – aber die Buben! Mir wurde ordentlich traumhaft zumute, als wären die vierzig Jahre ein Tag gewesen und ich säße wieder auf der Schulbank und sähe das unheimliche Lineal die Hand Wenzel Purschts regieren, wie ihm beliebte.
Dann fuhren wir ins Hotel und von da ins Gymnasium, wo mein glücklicher Freund seine Amtswohnung innehatte. Auf dem Wege grüßte alt und jung, und Matthias erwiderte gemessen, aber huldvoll. »Ja«, sagte er auf eine Bemerkung, die ich darüber machte, »ich habe mir allerdings das Vertrauen meiner Mitbürger erworben, aber auch das meiner Vorgesetzten. Auch haben mir Seine Majestät den Franz-Josephs-Orden verliehen. Aber das beste Glück meines Lebens ist doch das häusliche.« Dann streckte er sanft und traurig, wie es seines Vaters Art gewesen, die Hand aus und gab dem jüngsten seiner Buben eine ungeheure Maulschelle. »Du hast dem Schusterjungen die Zunge entgegengestreckt, und dies schickt sich nicht. Meine Paulitschka nun, du wirst ja sehen.«
Im Wohnzimmer begrüßte mich eine andere alte Bekannte, deren ich mich freilich erst entsann, als sie mir ihren Namen nannte: »Marie Kratochwil«. Sie war Direktorin der höheren Töchterschule des Orts. »Noch immer Fräulein!« sagte die muntere Dame lachend, als ich in der Anrede stockte. »Selbst Paulinens Beispiel«, fügte sie bei, als sich Matthias empfahl, um noch vor Tische einige Amtsgeschäfte zu erledigen, »hat mich nicht verlockt, mich unter Roithners Schutz zu stellen.«
»Also die Ehe ist gut geworden?«
»Vortrefflich! Freilich war hier die Frau sehr klug und der Mann sehr gutmütig. Auch haben sie äußerlich erreicht, was sie anstrebten, haben Kinder, die ihnen Freude machen, das wiegt sehr schwer.«
Da trat Frau Pauline ein. Auch an ihr war nichts dünn geblieben, etwa die Stimme ausgenommen, und der Ausdruck heiteren Staunens paßte nun zu den runden Wangen.
Wir gingen zu Tische, und welche Gespräche wir dabei führten, soll hier nicht verzeichnet sein, da ja ohnehin niemand daran zweifeln wird, daß mein Matthias ein guter Pädagoge und ein begeisterter Patriot ist. Aber was er dann beim schwarzen Kaffee sagte, wo die Kinder nicht mehr dabei waren, muß ich hierher setzen: »Du hast eben ›Großvater‹ zu mir gesagt – du darfst es sagen! Denn du warst es auch, der mir damals, am Abend nach der Vorstellung von ›Romeo und Julia‹, wo ich meine Paulitschka zuerst gesehen hatte, den Rat gab, daß wir ihr eben nachgehen sollten: ›Warum sollten wir nicht im selben Wirtshaus zu Abend essen!‹ Haha! Und du warst es, der sich zuerst an ihren Tisch setzte, und du warst es, der mir dann im Café Troidl Mut einsprach. Du weißt doch noch, was ich damals sagte?!«
Ich traute meinen Ohren nicht. »Ja«, sagte ich dann doppelt eifrig.
»Nun, dann wiederhole es! Meine Paulitschka soll es auch einmal von dir selbst hören.«
Ich war arg verlegen. »Du sagtest«, begann ich unsicher, »daß dir das Fräulein einen guten Eindruck –«
»Was nicht noch!« rief mein Matthias mit behaglichem Lachen. »So zahm habe ich mich damals nicht ausgedrückt. ›Die oder keine!‹, sagte ich. Du mußt dich ja noch erinnern.«
»Ja, allerdings!«
Frau Pauline lächelte liebenswürdig, gutmütig, aber es war doch ein eigentümliches Lächeln. Dann zog sie sich einen Augenblick zurück, um das Abdecken der Tafel zu überwachen, auch mein Matthias stahl sich ins nächste Zimmer zum Mittagsschläfchen. So blieb ich mit meiner Tischdame von einst allein. Wir sprachen über allerlei Gleichgültiges, bis sie scheinbar ohne jede Beziehung sagte: »Glücklich ist, wer Unangenehmes vergessen kann. Glücklich, wer eine Notlüge, nachdem er sie hundertmal gebraucht hat, schließlich felsenfest selber glaubt. Ich kenne sehr ehrliche Menschen, denen dies Glück gegönnt ist.«
»Sie haben recht, aber –«
»Kein aber!« fiel mir die liebenswürdige alte Dame ins Wort. »Ich habe immer recht, und nun muß ich obendrein zu meinen Mädeln! Meine Zeit reicht nur noch knapp zu einem kleinen Toast. Natürlich etwas Unlogisches – wär' ich sonst ein Frauenzimmer? Also, bitte, ergreifen Sie Ihr Glas« – sie schwenkte ihre Kaffeetasse und hielt sie mir entgegen –, »und stimmen Sie mit mir ein in den Ruf: Vivat das Glück unsrer Freunde!«
»Vivat!«
»Und pereat die Roithnerei!«
»Pereat!« rief ich lachend und ließ meine Kaffeetasse an der ihrigen anklingen.
Der Innsbrucker Privatdozent Fritz Stockmar hatte eben Schlag zwölf auf seiner Stube das bescheidene Mittagessen aus der Wirtschaft »Zum Bierwastl« verzehrt, als er das Telegramm seiner Mutter erhielt: »Georg wird Deiner bedürfen. Bitte sofort nach Wien reisen, ihn abzuhalten, der Unwürdigen wegen sein Leben aufs Spiel zu setzen.«
Er war einen Augenblick wie betäubt, dann sehr erregt. Was war seinem Bruder, dem Advokaten, widerfahren?! Sie hatten zuletzt die üblichen Neujahrsgrüße getauscht, und nun war's Ende Mai – du lieber Gott, sie waren nie recht brüderlich zueinander gestanden, hatten sich in den letzten Jahren vollends nichts mehr zu sagen gehabt. Was konnte es nur sein?! Seine Schwägerin Gertrud?! Unmöglich! Die edle keusche Dulderin! Aber das Telegramm ließ ja kaum eine andere Deutung zu.
Eben griff er zu Hut und Stock, aufs Telegrafenamt zu gehen, als sein Freund Adolf Nürnberger eintrat, die Krawatte schief, auf dem Hemde einen großen Fleck, derangiert wie immer, nur diesmal noch etwas erhitzter als sonst. Ein größerer Gegensatz war kaum denkbar, als zwischen diesem schwarzen, dicken, redseligen Männchen und dem blonden, hageren, wortkargen Fritz, dem er kaum an die Achsel reichte, aber Freunde waren sie doch; Kastor und Jonathan, wie sie der Witzkopf der Innsbrucker Universität, der Physiker, mit feiner Anspielung auf Nürnbergers Konfession genannt hatte. Sie waren unzertrennlich, als Schulfreunde vom Nikolsburger Gymnasium her, und weil beide ganz unmoderne Menschen waren. Darum klebten sie auch nun schon zwölf Semester als Privatdozenten in Innsbruck und konnten dies voraussichtlich ihr Leben lang bleiben. Stockmar, weil er von entschieden deutscher Gesinnung und zudem Protestant war, was keinem österreichischen Privatdozenten gut ansteht, am wenigsten einem für neuere Geschichte, und Nürnberger, der Physiolog, weil er die närrische Ansicht hatte, das Taufen um der Karriere willen sei unanständig.
»Guten Tag, Fritz! Verdammt heiß heute!« Er war in sichtlicher Verlegenheit. »Wollte nur sehen . . .« Und da gewahrte er die Verstörung in den Zügen des Freundes und änderte flugs den Ton. »Du weißt es schon?! Nun, dann also ohne Brimborien. Tapfer! Ist noch lange kein Unglück! Kommt in den besten Familien vor, in solchen erst recht!«
»Nichts weiß ich«, stieß Stockmar hervor, »nichts als dies.« Und er reichte ihm das Telegramm.
»Nun«, sagte Nürnberger, nachdem er gelesen, »eben eine alte Dame, die in Nikolsburg lebt. In Nikolsburg ist man noch sentimental, romantisch. Und dort ist auch so was noch ein Gegenstand. Aber nicht in Wien! Dort –«
»Was ist geschehen?!« rief Stockmar und faßte ihn am Arm. »Meine Schwägerin Gertrud? Unmöglich!«
»Doch! Da lies!« Er zog einen Brief aus der Tasche. »Von meiner Schwester Helene. Eben gekommen, darum bin ich hier. Die Nachschrift!« Er reichte ihm das Blatt hin, und Stockmar las:
»Gerade war Clotilde hier, Du weißt doch, Clotilde von Reyher, der Du einmal bei uns die Hummernsoße aufs Kleid geschüttet hast – wie Du das zustande gebracht hast, ist mir noch immer ein Rätsel, aber Deiner gaucherie, caro mio, ist nun einmal nichts unmöglich –, also besagte Clotilde erzählte mir eben mit züchtigem Erröten, dann aber doch recht verständlich – wie es ihr ansteht, denn einerseits ist sie noch vierge oder demi-vierge oder quart-vierge oder jedenfalls unverheiratet, und andererseits doch schon eine etwas späte Jungfrau – also eine Geschichte, die ich Dir sofort erzählen muß, erstens, weil sie hochmoralisch ist, und zweitens, weil sie einen Nikolsburger betrifft, home, sweet home! – Georg Stockmar, den Bruder Deines Fritz. (Apropos, habt Ihr schon herausgebracht, wer von Euch beiden der größte Schlemihl unter Österreichs Privatdozenten ist?) Also kurz! Als der Advokat gestern nachmittags in der Dämmerung unvermutet in das Zimmer seiner Frau tritt, findet er, daß es sich in das bekannte italienische Dörfchen Flagranti verwandelt hat, in dem er sie mit einem jungen Laffen – aber das ›L‹ ist eigentlich ganz überflüssig –, der sich Dichter schimpfen läßt, einem Herrn Häufle aus Heilbronn, ertappt. Tableau! – aber diesmal ein kurzes. Der Mann schreit in rasendem Schmerz auf, faßt sich dann aber sofort, wirft zuerst den Liebhaber hinaus und dann die Frau, und reicht heute die Scheidungsklage ein.
Großartig, was? Der Mensch ist ja vor einigen Jahren urplötzlich Katholik und Halbtscheche geworden, sitzt jetzt unter den Klerikalen im Reichsrat und hat auch mehr Liebschaften gehabt, als sein prächtiger, blonder Bart Haare hat – aber großartig ist es doch. Und Meyer, der eben heimkommt, sagt, die ganze Börse ist derselben Meinung, und Clotilde, die heute mit ihrer Neuigkeit auf der ganzen Ringstraße, soweit sie christlich ist, herumkutschiert zu sein scheint (nämlich zu mir kommt sie, weil ihr Vater, der Baurat, unser Haus in der Nibelungengasse gebaut hat und jetzt die Villa in Hietzing, aber sonst hält sie sich in neuester Zeit streng unkatholisch, als wollte sie die Tugendrose haben) – also Clotilderl erzählt auch: es ist nur eine Stimme der Bewunderung für Stockmar und der Verachtung für sie. Natürlich, die spröde, magere Preußin – oder wo liegt das glückliche Wismar, das sie geboren hat? Meyer sagt gar: in Mecklenburg, aber der übertreibt immer! Die Schulmeisterin a. D. – kein Mensch hat sie gemocht. Höchstens daß sie sich nie dekolletiert hat, war ein schöner Zug von ihr, ein Zug des Mitleids und Erbarmens. Und so was findet einen Anbeter, freilich nur einen, der entsetzliche fünfaktige Trauerspiele in Versen schreibt, also an alle horreurs gewöhnt ist. Übrigens, einen sauberen Schwager hast Du: ›Meyer‹, sag' ich, ›was tätest du in einem solchen Falle?‹ – und er darauf: ›Liebe Helene, wenn man in seiner einzigen Frau hundert Kilo Liebreiz beisammen hat, kann man ruhig schlafen!‹ Unverschämt – es sind nicht einmal fünfundneunzig, mit den Kleidern!
Aber nun die Moral! Adolf, mein Bruder, danke Gott täglich auf den Knien (am liebsten in der Kirche, da würdest Du endlich auch Professor!), daß er Dir eine solche Schwester beschert hat. Als Du vor sechs Jahren die Klavierlehrerin, oder was sie war, heiraten wolltest, wer hat Dich davon abgehalten? Moi, je!, ›Adolf‹ sag' ich, ›so was heiratet man nicht! Im besten Fall wird das Ding doch den Armeleutegeruch aus den Kleidern nie los, und der Vater Schuster und der Vetter Kutscher sind eine unangenehme Zuwaage. Und im schlimmeren Fall behält es noch dazu seine eignen Moralbegriffe – von da unten.‹ Darauf Du: ›Ihr Protzen, mit Eurem Vorurteil etc.‹ – ›Trotz aller Versuchung tugendhaft etc.‹ – ›Tausendmal achtungswerter als Ihr etc.‹ – ›Selbst Georg Stockmar, der Streber, hat die Erzieherin von Bessels geheiratet, weil er sie geliebt hat.‹ Und darauf ich: ›Und wann scheiden sie sich wieder?!‹ Prophetisch! – was? Daß es mit Dir nicht soweit gekommen ist, hast Du übrigens auch nur mir zu danken – ich habe ja die Klavierstunden ohne Klavier entdeckt, die Deine Holde zuweilen auf der Wieden gegeben hat. Also Respekt! Und in dieser Gesinnung bitte ich Dich das Glas zu ergreifen und mit mir einzustimmen in den Ruf: Hoch lebe Deine Lebensretterin und treue Schwester
Helene.«
Fritz starrte wie betäubt auf das Blatt nieder und wollte es nun nochmals zu lesen beginnen. Aber Nürnberger entwand es ihm. »Nein, alter Junge, zwischen den Zeilen steht da wahrhaftig nichts. Schreibt einen sehr deutlichen Stil, meine Schwester Lene, kein Wunder, wenn man zehn Jahre mit Meyer verheiratet ist, so was färbt ab. Also – du siehst: All right! Bewunderung der Welt, Scheidungsklage, auch keine Spur von einem Duell. Natürlich bleibst du hier!«
Fritz ging erregt im Zimmer auf und nieder. Endlich blieb er vor dem Freunde stehen. »Nein, ich reise, wann geht der nächste Zug?«
»Erst in einer Stunde. Also Extrazug. Unsinn, Fritz, wenn er dich brauchen würde, so hätt' er dich gerufen. Und was willst du in Wien? Ihn bewundern helfen?!«
»Es scheint mir Pflicht. Und dann: Es ist ja unmöglich! Es muß ein Mißverständnis sein! Gertrud ist unschuldig!«
»Ah so!« sagte Nürnberger lächelnd und langgedehnt. Und als Fritz auffahren wollte: »Friß mich auf – aber dann wär's doppelt Unsinn, wenn du hingingest! Kennst du deinen Bruder nicht?! Den willst du beeinflussen – der harte, rücksichtslose Fritz Stockmar seinen weichen, verträumten Bruder Georg?! Übrigens«, er wurde sehr ernst, »du irrst, derlei ist ihm nicht zuzutrauen. Sei gerecht, Fritz. Ein Streber – ja, aber kein Schurke!«
Stockmar wurde sehr bleich; seine Lippen bebten. »Es ist mir bitter, darüber zu reden«, stieß er fast unverständlich hervor. »Selbst mit dir. Aber – aber die plötzliche Erleuchtung, die ihn vor drei Jahren zum Katholiken machte?!«
»Nun«, entgegnete Nürnberger, »wie ich darüber denke, weißt du. Natürlich vermag derlei aus äußeren Gründen nur ein erzfrivoler Bursche über sich. Aber selbst einem solchen Herrn ist eine Tat, wie du sie ihm nun ansinnst, nicht zuzutrauen. Zudem, bedenke doch, was kann sie ihm nützen?! Eben weil er nun Katholik ist, kann er ja doch keine andere heiraten!«
Fritz blickte ihn betreten an; der Grund schien auf ihn zu wirken. »Aber«, sagte er unsicher, »vielleicht ein Mißverständnis.«
»Bah! Glaubst du ja selber nicht! Georg Stockmar ist ein klarer Kopf, ein verdammt klarer. Nein, nein! Wozu erst grübeln, wo alles ohnehin so klar ist! Scheint's dir denn wirklich ein so großes Wunder, daß diese Ehe schließlich auch ihr ebenso heilig wurde, wie es ihm längst war?!«
Unschlüssig ging Fritz auf und nieder. Dann trat er dicht an den Freund heran. »Du kennst sie nicht!« sagte er hastig. »Übrigens – ich weiß ja nichts. Nur eins weiß ich: Ich muß nach Wien!« Er zog die Uhr. »In einer Stunde, sagst du? Dann verzeih!«
»Bitte, tu, als ob du zu Hause wärest!« Und Nürnberger half den Koffer herbeischaffen und packen, obwohl er dem Freunde in seiner Ungeschicklichkeit mehr eine Last als eine Hilfe war. Auch ließ er es sich nicht nehmen, ihn zum Bahnhof zu bringen.
Über den Zweck der Reise fiel kein Wort mehr. Nur ehe Fritz ins Coupé stieg, sagte der andere fast flehend: »Bleib vernünftig, Fritz! Vergiß nicht, etwas Neid deinerseits war doch immer dabei. Und namentlich in den letzten Jahren. Ich weiß, du hast es Gertrud nie gestanden, dir selber nicht – aber wahr ist's doch. Und Georg ist dein Bruder, und eure alte Mutter lebt noch« – dem dicken Manne wurden in seiner Herzensangst die Augen feucht – »in Nikolsburg, wo man noch sentimental ist . . . Leb wohl, Fritz!«
Pfeilschnell jagte der Zug nach Nordosten, das Inntal entlang. Den Dozenten litt es nicht auf seinem Platze; er trat in den Korridor, öffnete ein Fenster und ließ die Frühlingsluft um seine heiße Stirn wehen. »Sei gerecht, Fritz!« Das Wort hallte in ihm nach.
Aber war er's nicht?! Und wenn er noch so tief in das Dämmer seiner Kindheit zurückblickte, von Georg war jenen, die ihn liebten, nie Gutes geworden. Das dürftige und doch so heimelige Elternhaus im kleinen, schmutzigen mährischen Städtchen – Kostl hieß das Nest –, wo der Vater Bezirksrichter war, es kannte keine anderen Stürme, als wenn wieder einmal ein Brief vom Nikolsburger Onkel, dem Armenarzt, kam: Georg sei so roh und träge und zeige mit seinen fünfzehn Jahren schon recht bedenkliche Sitten. Dann weinte die Mutter, und der Vater, der weiche, stille Mann, seufzte bekümmert auf: »Wie kommen wir zu solchem Sohn!« Freilich, kehrte er dann zu den Ferien heim, so waren die beiden wieder selig: wie hübsch und kräftig der Junge war, wie liebenswürdig und gewandt, und wie wußte er, ohne daß sie es ahnten, ihre kleinen Schwächen auszunützen! Und mit ihnen war ganz Kostl entzückt. Nur einer nicht, der stille, scheue Fritz, der doch damals ein kaum zehnjähriger Knirps war . . .
»Was hat mir so früh den Blick geschärft?« dachte er nun. »Der Instinkt oder – der Neid?!«
Nein, nein, damals beneidete er den Bruder noch nicht. Aber später, nach des Vaters Tode, als er mit der Mutter in Nikolsburg saß und sich mühselig durchs Gymnasium darbte und schulmeisterte, während Georg in Wien, in Heidelberg, in Graz, wo's eben jeweilig am schönsten war, den flotten Korpsstudenten spielte, da hätte er ja kein Mensch sein müssen, um nicht manchmal zu denken: »Die alte Frau entbehrt, und ich muß schon als Schüler andere unterrichten, was weder ihnen noch mir frommt, nur damit Georg prassen kann – warum?!« Und was er im stillen dachte, wetterte der Onkel Doktor laut hinaus. Aber auch der knurrte nur noch leise, wenn sich Georg herbeiließ, des Sommers auf Wochen oder doch auf Tage nach Nikolsburg zu kommen. Im tiefsten Herzen war auch er stolz auf den schönen, eleganten, fröhlichen Menschen mit dem kühnen, von Terzen und Quarten durchfurchten Gesicht, so stolz, daß er sich zuweilen selbst das Nötigste versagte, um Schulden für ihn zu bezahlen. Ins Gesicht hinein warf er ihm dann freilich harte Worte: »Was hast du, deines Vaters Sohn, im Korps zu suchen, in der klerikalen, adeligen Sippe?! Dein Vater war stolz darauf, der Sohn eines braven protestantischen Bäckergesellen aus Hessen zu sein, der sich in Brünn aus eigener Kraft zum geachteten Bürger emporgearbeitet hatte! Und dein Vater war immer gut deutsch und hat lieber seine Karriere geopfert als seine Überzeugung. Wolltest du dir schon durchaus deine Visage zerhauen lassen, so war in der Burschenschaft dein Platz, unter den Deutschen, den Bürgerlichen!« Worauf Georg fröhlich: »Unter den Hochverrätern, den Bismarckknechten? Lieber Onkel, da hätt' ich dir noch weniger Freude gemacht! Ich will ja in den Staatsdienst treten, vorwärtskommen, da nützt mir vielleicht eine Beziehung aus dem Korps mehr als die beste Staatsprüfung!« – »Nun, so sei zum mindesten im Dreiteufelsnamen etwas sparsamer!« donnerte der Alte. »Schäme dich doch!« Aber hinter Georgs Rücken meinte er nur: »Eben ein anderer Mensch! Schlau, kalt, genußsüchtig, aber das liegt jetzt in der Luft. Im übrigen ein schöner, patenter Kerl, der es gewiß weit bringt. Und in seiner Art gutmütig ist er auch.« Gewiß, in seiner Art – er ließ die eckigsten Dinge rund sein, wenn sie ihn nichts angingen, aber was ihn zu stören drohte, trat er nieder. Darum war er aufs äußerste dagegen, daß Fritz Geschichte studierte, die akademische Laufbahn erstrebte, denn das ging wohl ohne Zuschüsse vom Hause nicht, und die brauchte er auch als Rechtspraktikant noch für sich. Erst als Fritz auf alles verzichtete und sich aus eigener Kraft durchbrachte, gab er sich drein.
Kein Wunder, daß die beiden auch in Wien einander nicht näherkamen. Das armselige Stübchen des Studenten in Währing und die hübsche Junggesellenwohnung des jungen Richters in der Praterstraße lagen eine Viertelmeile auseinander. Georg legte den Weg nie, Fritz kaum alle Monate einmal zurück, weil es die Mutter so wünschte. Fand er die Türe verschlossen, so kehrte er leichten Herzens heim. Verschiedene Menschen, die in verschiedenen Welten lebten – was hatten sie einander zu sagen?! Das änderte sich auch nicht, als Georg die Beamtenlaufbahn aufgab und Advokat wurde – weil er die Abhängigkeit nicht ertrage, wie er versicherte, weil er so mehr verdiente, wie sich Fritz sagte. Erstaunter war er schon, als ihm Georg als Dank für sein erstes Buch, eine Studie über Metternichs deutsche Politik, einen begeisterten Brief schrieb. Er sei stolz auf seinen ebenso gelehrten als charaktervollen Bruder, der in Zeiten, wie sie nun über Österreich gekommen, den einzig wahren und berechtigten Standpunkt, den nationalen, zu vertreten wisse. Was bedeutet dies Wort in Georgs Munde? Eine ehrliche, nach hartem Selbstkampf vollzogene Wandlung, wie dieser ihm bei der nächsten Begegnung versicherte. Fritz schwieg und dachte im stillen: ›Für einen Wiener Advokaten, der seine Klienten in bürgerlichen Kreisen sucht, ist es allerdings so besser!‹ Da aber trat ein drittes Ereignis ein, das seine Ansicht über den Charakter des Bruders über den Haufen warf: Georgs Verlobung mit Gertrud Scheibe . . .
Der Zug hatte brausend und sausend die Täler Tirols, dann die Tauern durchstürmt und hielt nun in einem großen Bahnhof, wo viele Menschen hastig durcheinanderdrängten. »Salzburg!« Da entdeckte Stockmar auch einen Bekannten, es war ein Fachkollege von der Münchener Hochschule, gleichfalls noch Dozent. Sie waren bei einer Historikerversammlung einen Abend nebeneinander gesessen, immerhin lange genug, um zu erkennen, daß sie in allem gründlich verschiedener Überzeugung waren. Darum rief er ihn nun auch nicht an, doch stieg der beleibte Mann zufällig in denselben Waggon. Sein rotes Gesicht wurde jählings blaß, als er Stockmar erkannte. Zaudernd blieb er stehen, eilte dann aber mit erhobenen Armen auf ihn zu, als wollte er ihn umarmen. »Sie – Kollege! Und auch nach Wien? Hoffentlich angenehme Veranlassung?«
»Ich will meinen Bruder besuchen.«
Der andere blickte ihn mißtrauisch an. »So mitten im Semester?!« Er räusperte sich. »Pardon, belege mir nur einen Platz.« Noch ein lauernder Blick, und er war verschwunden.
Fritz dachte nicht weiter an ihn. Vor seinen Augen stand die Stunde, da er Gertrud zuerst gesehen. Ein grauer Herbsttag. Am Morgen hatte er das Billett Georgs erhalten: »Bin seit gestern abend verlobt. Komm, daß ich Dich meiner Braut vorstellen kann.« Ohne sonderliche Erregung bürstete er seinen Bratenrock und Zylinder und fuhr zu Georg. »Irgendein Goldfisch von der Ringstraße«, dachte er. »Nun, ich gönn's ihm.« Um so verblüffter war er, als ihm der Bruder sagte: »Ein armes Mädchen, eine Norddeutsche, der Vater war Schreiber in Wismar, sie ist Erzieherin – ich lade mir schwere Sorgen auf –, und doch, wie glücklich bin ich zu preisen!«
Noch während sie im Wagen saßen, wirbelte Fritz das Hirn. »Was steckt dahinter?« dachte er. »Hat der Schlaue seine Meisterin gefunden? Muß er's tun?« Aber wie schämte er sich dieses Gedankens, als sie ihm im Wohnzimmer der Familie, deren Töchter sie erzog, entgegentrat: ein schlankes, stilles Mädchen, die Züge nicht eigentlich schön, und doch soviel Seele und Anmut im Blick, im Lächeln, im schüchternen, herzlichen Wort, mit dem sie ihn begrüßte – er glaubte nie Holderes gesehen zu haben. Und wie gut, wie tüchtig sie sein mußte, um sich soviel Liebe erworben zu haben! Der Herr des Hauses, der echte alte Wiener guten Schlages, seine derbe, kluge Frau, die Kinder, alle hingen an ihr und strahlten vor Glück, sie glücklich zu sehen. »Natürlich bleiben Sie zum Essen da!« sagte ihm Herr Bessel. Und wie er so dasaß unter den bisher fremden Menschen, wurde es ihm wohl und leicht und immer wärmer ums Herz. Es kam ihm aus tiefster Seele, als er Georg zum Abschied sagte: »Ja, du bist glücklich! Und ich habe dir viel abzubitten!« Aber dieser: »Nein, ich dir, Fritz. Nun, jetzt wirst du besser mit mir zufrieden sein. Ich muß ja sie verdienen.«
Die Worte klangen ihm noch im Ohr, er hörte sie durch das Gedröhne der Räder. War das nur Komödie gewesen?! Nein, nein! So wenig wie das ganze erste Glück dieser jungen Ehe. Wenn er so an die Sonntage dachte, wo er ihr Tischgast war, die Fahrten nach Weidlingau oder auf die Hohe Warte . . . »Etwas Neid war doch immer dabei«, hatte Nürnberger gemeint. Aber da tat er ihm unrecht, von jener Zeit galt dies nicht. Da hatte er nur eine Empfindung gehabt: die Freude an ihrem Glück, die Freude, nun auch seinen Bruder liebhaben zu dürfen, so wie er sie selbst liebte, eben wie ein Bruder . . . Immer tiefer wühlte er sich in die Erinnerung an jene Tage hinein und umklammerte dann die Stäbe des Fensters und stöhnte leise auf. Nein, es tat zu weh, daran zu denken. Nun, wo alles dahin war und im Schlamm der Straße lag, im Schlamm, wo er am tiefsten ist.
»Attnang!« Reisende stiegen ein und aus. Er mühte sich ordentlich, es zu sehen. Interesse daran zu haben, nur um seine Gedanken von dem loszureißen, was so unfaßbar und seinem Empfinden qualvoll war. Darum kaufte er sich auch einen Haufen Wiener Blätter und ging in sein Coupé zurück. Auf dem Sitz ihm gegenüber hatte der Münchener Platz genommen. Bei seinem Eintritt zuckte er zusammen. »Ah, da sind Sie ja! Also, hm! Sie reisen zu Ihrem Bruder?« Seine Züge spannten sich. »Ich wußte gar nicht, daß Sie einen Bruder in Wien haben? Was ist er denn?«
»Advokat.«
»Ein Stockmar sitzt im Reichsrat.«
»Eben mein Bruder.« Aber nun fiel ihm das kuriose Mienenspiel des Mannes doch auf. »Sie zweifeln doch nicht daran?!«
»Bewahre!« Das rote Gesicht wurde noch röter als sonst. »Darf ich vielleicht eine Ihrer Zeitungen . . .«
»Bitte!« Auch Fritz entfaltete ein Blatt. »Die Affäre Dreyfus.« Er zwang sich, den Artikel zu lesen, Zeile für Zeile. Aber dann lasen nur noch seine Augen, seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück, die kampf- und schmerzvollsten Tage seines Lebens.
Ruhigen Herzens war er vor sechs Jahren nach Innsbruck gegangen. Die beiden schienen beglückt und zufrieden. Selbstlos und rücksichtsvoll freilich war Georg nicht – aber wann hätte je ein Mensch im Handumdrehen seine innerste Natur gewandelt? Er klagte zuweilen über Geldsorgen, erzählte scheinbar spaßhaft kleine, lustige Geschichten von Millionärstöchtern, die sich ihm an den Hals geworfen, aber das war nicht schwer zu nehmen, um so weniger, als ihm der alte Christoph Bessel die glänzende Stelle eines Rechtskonsulenten an einer Bank, in deren Aufsichtsrat er saß, verschafft hatte. Und Gertrud wußte ihn so gut zu nehmen, und in der Wiege lag ein rosiger Friedensbürger. Aber schon im nächsten Jahr, als er mit den beiden einige Wochen in Gmunden verbrachte, kamen ihm schwere Sorgen. Jene kleinen Geschichten wurden immer länger und klangen gar nicht mehr spaßhaft. Dazu die ewige Mahnung, sich zu benehmen wie andere Menschen, die »Hungerleiderei« zu vergessen: »Liebes Trudchen, es gibt nun mal Frauen, deren Vater Hofrat oder Großindustrieller war und nicht Adressenschreiber!« Sie erwiderte selten und dann immer begütigend, aber die blauen Augen glänzten wie von verhaltenen Tränen, und um den weichen Mund lagen herbe Falten; wie viele schlaflose Stunden voll Qual mochten sie dem jungen Antlitz so tief eingekerbt haben!
Damals in jenen schmerzvollen Stunden, da er sie leiden sah, ohne helfen zu können, war in ihm wach geworden, was Nürnberger seinen »Neid« genannt hatte: das leidenschaftliche Mitleid mit der Guten, Edlen, der Gedanke: »Warum ist sie nicht an einen gekommen, der ihrer wert ist?!« An sich dachte er kaum und rang den Gedanken nieder, wenn er ihn übermannen wollte. Und darum war es Brutalität und Unrecht zugleich, als ihm Georg einmal, da er ihm Vorstellungen zu machen wagte, höhnisch sagte: »Nun ja, du liebst sie. Und für dich hätte sie auch besser gepaßt. Aber was tun? Sie dir abtreten?!« Noch selben Tags war er abgereist mit dem festen Vorsatz, nie wiederzukommen.
Aber anderthalb Jahre später, auf dem Rückweg aus Nikolsburg, wo er bei der Mutter die Weihnachtstage verlebt, betrat er doch wieder die Wohnung in der Weihburggasse. Die alte Frau hatte es ihm auf die Seele gebunden: »Helene Meyer schreibt ihren Eltern so sonderbare Dinge. Georg soll sich – denke nur! – mit einer anderen eingelassen haben, und Trude, meint sie, ist so unbeliebt und hindert ihn gesellschaftlich sehr.« Nun, es gehörte kein besonderer Scharfsinn dazu, um klarzustellen, daß Helene nicht gelogen hatte. Nur welche »andere« sie gemeint haben mochte, blieb im dunklen. Man hatte zwischen einem halben Dutzend die Wahl, Damen und Dirnen, und das richtigste war's wohl, es von ihnen allen zugleich gelten zu lassen. Auch war Gertrud wirklich nicht beliebt, eben eine »langweilige« Frau, die weder witzig noch boshaft war und nicht lachte, selbst wenn man ihr die saftigste Zote erzählte. Kurz, es war alles so schlimm geworden, wie Fritz nur je befürchtet, eigentlich noch schlimmer, weil Bessel, um dessentwillen Georg immer noch gewisse Rücksichten geübt, inzwischen falliert hatte. Weder die Bank noch seine eigne Stellung waren dadurch erschüttert, gleichwohl gebärdete er sich, als wäre ihm durch Gertruds Verschulden der größte Schimpf widerfahren. Fritz hatte damals Szenen mitangesehen – auch heute schlug ihm Zornröte ins Gesicht, da er daran dachte, und er zerknitterte das Blatt in seiner Hand. »Ich hätt's nicht dulden sollen!« dachte er. Aber freilich, was konnte, was durfte er tun?! Und sie selbst hatte ihn fortgeschickt.
Ein Abend im Januar. In Innsbruck hatten die Kollegien bereits begonnen, er zögerte noch immer, kam jeden Abend, obwohl es Qual war, zuzuhören, wenn Georg zu Hause war, doppelte Qual, wenn er sie allein traf und gleichgültige Gespräche mit ihr führen mußte. An diesem Abend aber fand er sie fassungslos, das Antlitz von Tränen überströmt, und da hielt er sich nicht mehr. »Das muß ein Ende nehmen!« rief er. »Du erträgst es nicht länger.« – »Welches Ende?« fragte sie. »Es gibt keins als den Tod. Und ich werd' es tragen, schon um Gretchens willen. Du aber geh, Fritz!« – »Gertrud!« rief er, »wenn du wüßtest.« Und darauf sie, so leise, daß er es kaum vernehmen konnte, und doch festen Tons: »Ich weiß alles – aber eben darum, geh! Du machst es mir nicht leichter.« Und das war das letzte Mal gewesen, wo er sie gesehen hatte.
Wieder hielt der Zug. »Ist das schon St. Valentin?« rief der Münchener erregt und stürzte in den Korridor, ans offene Fenster. Und dort wiederholte er mit bebender Stimme die Frage an den Kondukteur.
»Nein!« war die Antwort. »Erst Enns! Aber in zehn Minuten san mer in St. Valentin. Da sag' ich's Ihnen schon!«
»Nicht nötig!« murmelte der dicke Mann und kehrte hochrot vor Erregung auf seinen Platz zurück.
Stockmar sah ihn erstaunt an. »Ich dachte, Sie fahren auch nach Wien?!«
»Allerdings! Aber St. Valentin ist ja trotzdem von großer Wichtigkeit für uns. Das müssen Sie ja auch wissen, wenn Sie, wie ich wohl voraussetzen darf, gut orientiert sind.« Und als ihn Stockmar immer befremdeter anblickte: »Aber, lieber Kollege, in St. Valentin muß es sich ja entscheiden, ob Bergler morgen früh auch in Wien ist.«
»Bergler?! Wer ist das?«
Der Münchener lachte etwas gezwungen. »Oh, Sie Schlauer! Aber ich will Ihnen den Gefallen tun! Dr. Cölestin Bergler, der Privatdozent für neuere Geschichte in Graz. Er ist ja für dies Semester beurlaubt und arbeitet im Admonter Stift an seiner Geschichte der Gegenreformation in Innerösterreich. In Admont, sag' ich. Da muß er also« – er hielt das Kursbuch empor – »in St. Valentin in unseren Zug steigen, wenn er rechtzeitig da sein soll.«
Stockmar schwieg. ›Ist der Mann betrunken?‹ dachte er. ›Erhitzt genug sieht er aus.‹ Aber die Erregung seines Gegenübers wuchs zudem immer mehr, und als der Zug in St. Valentin einfuhr, stürzte er wieder in den Korridor hinaus. »Kommen Sie, Kollege«, rief er mit zitternder Stimme.
So dringlich war der Ton, daß ihm Stockmar unwillkürlich folgte. Aber kaum hatte der andere einen Blick auf den Perron geworfen, als er totenblaß zurückfuhr. »Bergler!« rief er fast jammernd und deutete auf einen kleinen, bebrillten Herrn, der eben mit seinem Köfferchen in den nächsten Waggon kletterte. »Bergler!« wiederholte er verstört.
»Möglich«, sagte Stockmar verblüfft, »ich kenne ihn nicht persönlich. Aber wie kann er Sie so erschrecken?«
»Keine Komödie mehr, Kollege!« rief der Münchener verzweiflungsvoll. »Wir haben es gegenseitig nicht mehr nötig. Mit Ihnen konnte ich es aufnehmen. Sie dozieren sechs Semester länger als ich, haben mehr geschrieben, sind ein geborener Österreicher, aber Sie sind Protestant und deutschnational. Bergler aber ist katholisch wie ich, zudem Österreicher, und darum kommt er nach Prag und nicht Sie, nicht ich!«
»Nach Prag?«
»Nochmals, wozu die Verstellung? Wir sind alle drei für morgen telegrafisch zum Minister beordert – wegen des Extraordinariats in Prag. Und es war wieder einmal nichts!«
»Ich weiß von nichts«, erwiderte Stockmar. »Ich komme derzeit für eine österreichische Universität ganz gewiß nicht in Betracht. Und für eine andere auch schwerlich!« Er hatte sich längst darein gefunden, aber nun, in dieser Stimmung, übermannte ihn die Erbitterung. ›Nichts bin ich‹, dachte er, ›nichts als ein gelehrter Proletarier, und das bleib' ich mein Leben lang. Mich selbst kann ich noch so mühselig durchbringen, aber ich kann nie daran denken, jemand anderem zu helfen.‹ Dann aber riß er seine Gedanken gewaltsam davon los. ›Wahnsinn‹, dachte er, ›Nürnberger hat recht!‹ Und er mühte sich, den Worten des Müncheners zu folgen, der ihm weitläufig sein Leid vorklagte.
Es währte lange, bis der Mann das Thema erschöpft hatte. Endlich griffen beide zu den Zeitungen und lasen ohne rechte Aufmerksamkeit, jeder mit seinen trüben Gedanken beschäftigt. Da plötzlich schien der Münchener etwas gefunden zu haben, was ihn lebhaft interessierte. Er zog die Brauen hoch, schielte zu Stockmar hinüber, las nochmals und rückte dann unruhig hin und her. Aber da war auch Stockmars Auge auf die Notiz gefallen, die gleichlautend in fast allen Blättern stand. Sie berichtete in saftigem Reporterstil von der häuslichen Katastrophe, die »einen unserer bekanntesten Advokaten und Parlamentarier, der wegen seines lauteren Charakters auch von seinen politischen Gegnern aufs höchste geachtet wird«, betroffen habe. Gertruds niedere Abkunft, Georgs selbstlose Liebe, die Szene der Entdeckung wurde kräftig ausgemalt. Häufle figurierte darin als »läppischer Dilettant, dem es gelungen ist, sich binnen wenigen Monaten in unseren literarischen Kreisen unmöglich zu machen.« Die Notiz schloß mit der Nachricht, daß der Anwalt sofort die Scheidungsklage eingereicht habe. »Selten war das Urteil unserer Gesellschaft ein so einstimmiges: Möge der gekränkte Ehrenmann in der Teilnahme und Verehrung der weitesten Kreise, im segensreichen Wirken für die Gesamtheit bald seinen Trost finden.«
Noch einmal und zum dritten- und viertenmale las Fritz diese Zeilen. Und als er dem spähenden Blick des anderen begegnete, verstand er ihn sofort. »Nur nicht darüber sprechen«, dachte er, erhob sich hastig und ging in den nächsten Waggon. Dort fand er ein leeres Coupé und ließ sich nieder. Stunde um Stunde saß er allein und starrte vor sich hin, ohne Laut, ohne Bewegung. Es waren wirre, wüste, streitende Stimmen, die in ihm riefen.
Die Nacht war längst hereingebrochen, und durch die Fenster schimmerten bereits die Lichter der Villenorte des Wiener Waldes, als er sich erhob. »Ich werde ja sehen«, sagte er laut, »mich wird er nicht täuschen!«
Endlich war der Wiener Westbahnhof erreicht. Er nahm ein Zimmer im kleinen Hotel gegenüber, trat wieder auf die Straße und winkte einen Einspänner herbei. Es war kaum elf, er wollte zum mindesten versuchen, den Bruder noch heute zu sprechen.
Im ersten Stockwerk des Hauses in der Weihburggasse, vor dem der Wagen hielt, schimmerte noch Licht. Auch öffnete sich auf sein Klingeln das Tor sofort. »G'wiß zum Herrn Doktor?« fragte der Hausmeister. »Kommt der andere Herr nit nach?«
Fritz zuckte die Achseln und stieg rasch die Treppe empor. ›Ich weiß, wie er mich empfangen wird‹, dachte er, ›er wird sie schmähen, sich selbst beweihräuchern.‹
Auch oben ward ihm sofort aufgetan. Die alte Christine, die ihn empfing, war schon in jenem Gmundener Sommer im Hause gewesen. »Grüß Gott, Tini!« Auch sie erkannte ihn, und das gutmütige, gefurchte Gesicht verzog sich zum Weinen. »Der junge Herr Doktor . . . ach!«
Aber da erschien schon Georg in der geöffneten Tür seines Arbeitszimmers. Er war sehr bleich, wirr hingen Haar und Bart um das verwüstete Antlitz.
»Fritz!« Es klang wie ein Wehruf. Im nächsten Augenblick hatte er den Bruder ins Zimmer gezogen, die Türe hinter ihm geschlossen und umklammerte ihn nun wie der Ertrinkende den Retter. Der Jüngere fühlte, wie der starke Mann bebte und schluchzte. »Fritz!« Die zitternden Lippen fanden keinen anderen Laut . . .
Endlich gab er den Bruder frei, nur seine Hand hielt er fest. »Du bist also doch gekommen?« Er hielt die Augen gesenkt, die Worte rangen sich mühsam aus der gepreßten Kehle. »Vermutlich hat dich die Mutter –? Sie weiß es seit heut morgen, nicht durch mich. Ich wagte es nicht, dich zu rufen. Erst morgen früh sollte, wenn es sein mußte, das Telegramm an dich abgehen.«
»Morgen früh?« murmelte Fritz.
»Im Notfall! Dann wärest du am Abend hier gewesen. Wer anders soll sich des Kindes annehmen, die alte Frau trösten? Häufle hat voraussichtlich den ersten Schuß.«
»Hast du daran gezweifelt? Wie könnt' ich anders? Den Leuten hab ich's freilich nicht erzählt – mein Gott, soll ich die Polizei aufmerksam machen? Morgen früh fünf Uhr, vermutlich in den Donauauen, ich weiß noch nicht, die Sekundanten beraten eben noch. Die Verhandlungen haben sich verzögert, durch Häufle, wohl auch durch mich. Ich war wie betäubt. Bin's auch jetzt.«
Ja, so sah er aus, wie ein Mann, der einen Schlag aufs Haupt erhalten und davon zu Boden getaumelt war. Der Dozent preßte die Hand auf die Stirn, als müßte er sich auf sich selbst besinnen. Wie anders war dieser Empfang, als er sich ihn ausgemalt hatte. Aber er fand kein Wort, und Georg schien es auch nicht zu erwarten.
»Unfaßlich!« stöhnte er. »Wie ein wüster Traum. War's dir nicht auch so, Fritz?! Aber Ruhe, Ruhe!« Er biß die Zähne zusammen. »Ich hab' mich zu keinem darüber ausgesprochen, zu keinem, und nun sollt' es doch sein – morgen ist's vielleicht zu spät.«
»Sieh, Fritz«, fuhr er dann fester fort, »ich will nicht heucheln, in einer Stunde wie dieser tut man derlei nicht. Ich bin mitschuldig, wenn unsere Ehe unglücklich wurde, bin viel schuldiger als sie. Schon daß ich um sie warb, war ein Unheil für uns beide. Freilich, dafür kann ich mich nicht anklagen. Es war im Grunde tragisch: ein schwacher, makelvoller Mensch sehnt sich danach, stark und rein zu werden, und kämpft gegen seine Natur und unterliegt ihr doch, weil er ihr unterliegen muß, weil sie die Stärkere ist. Warum warb ich um Gertrud? Gewiß, ihre Anmut entzückte, ihre stille, sichere Art fesselte mich, eben weil sie mir neu war. Aber der Hauptgrund war doch jenes Sehnen nach Läuterung. Gerade weil sie arm und fremd und eine Schreiberstochter war – ich war bis dahin eitel, hochfahrend, berechnend, selbstsüchtig gewesen, das sollte nun alles mit einem Schlage anders sein. Auch nur eine Art Eitelkeit, denkst du? Möglich, aber eine verzeihliche. Und daß ich dann doch urplötzlich kein anderer Mensch wurde, ist das Schuld im gemeinen Sinne?! Richte, Fritz, ja oder nein?«
»Nein. Aber ob du ernstlich genug mit dir rangst.«
Georg nickte düster vor sich hin. »Da hast du recht, das tat ich nicht! Und darum nehme ich für jene Zeit die Hauptschuld auf mich. Aber eins darfst du nicht länger glauben: daß es nur an mir lag. Was uns auseinandertrieb, war der Widerstreit unserer Naturen, wir konnten gegenseitig unsere Fehler nicht ertragen. Sie war gegen die meinen unendlich geduldiger als ich gegen die ihren, das ist wahr, aber Fehler hatte sie auch. Sie war kleinlich, prüde, vorurteilsvoll, unfähig, sich in andere zu schicken, mit einem Wort: keine Dame. Das klingt wie eine federleichte Phrase und wiegt doch für einen Menschen meiner Art und Stellung zentnerschwer. Aber trotz alledem hätte sich vielleicht alles noch leidlich gestaltet, wenn sie nicht eine Fremde gewesen und geblieben wäre, anders als ich und jeder um sie her, in Dialekt, Gesinnung, Empfindung, Formen, ja in tiefster Seele anders. Wismar und Wien, das kann sich nicht verstehen, weit weniger als Wien und Paris oder Wien und Budapest. Ja, Fritz, so ist es! Aber wir sind ja auch Deutsche, sagt man. Ja, scheinbar, in Wahrheit sind wir's nicht oder – jene nicht! Aber das ist doch nicht Gertruds Schuld, meinst du? Nein, aber auch die meine nicht. So ward's von Jahr zu Jahr schlimmer und trostloser zwischen uns, und vollends seit ich Katholik wurde. In ihren Augen war das ein Verbrechen, ich hoffe, du urteilst verständiger. Um des Erwerbs willen tat ich's nicht, meine Kanzlei war schon damals eine der größten in Wien, und kenntest du meine adeligen Klienten, so würdest du mir glauben: die scheren sich den Teufel was um die Konfession ihres Advokaten. Oder aus politischem Ehrgeiz?! Glaubst du, ich hätte nicht auch deutsch-nationaler Abgeordneter werden können? Gehört zu dem Programm: ›Wir warten, bis uns die Preußen holen!‹ wirklich mehr Geist, als ich habe?! Aber gegen meine Überzeugung wäre es gegangen! Ich liebe dies alte Österreich, will es erhalten wissen, halte es darum für eine Pflicht unser aller, uns miteinander zu vertragen, und bin von der Wichtigkeit der Religion für unser Volk tief überzeugt. Ich halte es für keinen Zufall, daß wir päpstlich blieben, während der Norden lutherisch wurde. Wir sind weicher, mystischer, sinnlicher; der Katholizismus paßt für uns und wir für ihn. Und weil ich durch meine Geburt, meine Art, meine Überzeugungen ein Österreicher bin, so wollte ich nach keiner Hinsicht anders sein als meine Volksgenossen, am wenigsten in der wichtigsten! Eine andere Frau hätte sich gemüht, dies zu begreifen, ihrem Manne auch auf diesem Wege zu folgen, oder sie wäre doch zum mindesten ebenso duldsam gewesen wie er. Sie blieb Protestantin, noch mehr, auch das Kind blieb's, als sie widerstrebte. Konnte ich mehr tun?! Aber als der Riß trotzdem tiefer und tiefer wurde, da sah ich ein: es gab nur noch eine Rettung für uns beide, die Scheidung. Jedoch davon wollte sie nichts wissen . . .«
»Des Kindes wegen?«
»So sagte sie, aber ich glaubte ihr schon damals nicht. Ich wollte ihr ja das Kind lassen, beider Zukunft sichern, wie sie es nur immer wünschen konnte. Und daß es für die Seele des Kindes besser war, wenn es bei ihr aufwuchs als in der Luft dieser Ehe, mußte sie ja einsehen. Und so sagte ich mir schon damals: Rache ist's. Sie glaubt, daß du wieder heiraten willst, und will dich daran hindern. Freilich ist das eine unsinnige Furcht: ein Katholik darf ja bei Lebzeiten seiner geschiedenen Frau nicht wieder heiraten . . . Nun, das war's auch nicht. Etwas anderes war's, etwas Schlimmeres, aber das ahnt' ich damals noch nicht!«
Sein Gesicht wurde jählings dunkelrot. »Und wenn mir's jemand gesagt hätte, ich hätte ihn niedergeschlagen wie einen tollen Hund: ›Du lügst, Schurke!‹ Aber meinen eigenen Augen –«
Die Stimme brach sich, er schlug die Hände vors Gesicht.
»Oh, wie schmählich das war«, knirschte er, »wie gemein! Ein blutjunger Laffe. Die Mädchen und das Kind hatte sie fortgeschickt. Ich war bei einer Sitzung, kam zufällig früher heim. Wenn statt meiner die alte Tini eingetreten wäre oder – mein Gretchen!« Und er begann herzzerreißend zu schluchzen.
Fritz aber lehnte lautlos an der Wand, sein Gesicht war weiß wie das Thorwaldsen-Medaillon, an dem sein Kopf ruhte. Nun wußte er die Wahrheit, und Gertrud war tot. Was immer einst zwischen ihr und Georg vorgegangen, sie war nun tot.
In die Stille klang der kurze, schrille Schlag der Wanduhr. Ein Viertel nach zwölf. Und gleich darauf klingelte es am Telefon.
Georg fuhr empor. »Endlich! Sie sind in der Wohnung meines Sekundanten Baron Balkenhayn – du weißt, mein Fraktionsgenosse. Darum hab' ich mich für die Nacht telefonisch mit ihm verbinden lassen. Hier Stockmar. Guten Abend, Baron. Seid ihr nun fertig?!«
»Ja!« klang von drüben eine sonore Stimme, »aber vor fünf Minuten haben's erst das Protokoll unterschrieben. So a Glumpert! Nach drei Stunden Rederei!«
»Was wollten sie denn noch?!«
»Kneifen wollten sie halt! Wie die beiden Jünglinge um neun angerückt kamen, waren sie glücklich wieder im ersten Stadium, wie gestern mittags. Herr Balthasar Häufle hat der Dame nur aus seinem neuesten Trauerspiel vorgelesen, Sie haben ihn hinausgeworfen, er also ist der Beleidigte, nicht Sie. Auch ist er gegen das Duell, gegen den Krieg, kurz gegen alles Gesundheitsschädliche, eben ein Ethiker, dieser Balthasar.«
»Unglaublich! Nun und?«
»Und darauf selbstverständlich der Rittmeister von Pochwalski und ich sehr höflich: Dann müßten auch wir unsere Antwort von gestern abend wiederholen, nur etwas deutlicher. Sie würden also diesen Ethiker mit den guten Augen, die im Dunkeln lesen können, mit der Reitpeitsche begrüßen, wo immer Sie ihn träfen. Da gaben sie nach, weil Balthasar nämlich Reserveoffizier ist, wenn auch nur beim württembergischen Train, und einen Vater hat, der seine Ausstoßung aus der Armee nicht überleben würde. Aber eine Erklärung über die ganze Sachlage müßte ins Protokoll. Schönes Schriftstück, sie hatten es gleich mitgebracht, etwas lang, aber schwungvoll. ›Bon‹, sagt das Trauerspiel, ›ist uns ganz gleichgültig!‹ – Da hatt' ich doch recht?!«
»Natürlich! Aber die Bedingungen?«
»Ja, darüber ging nun das Handeln los wie unter Pferdejuden. Endlich konzedierten sie die fünfzehn Schritte Distanz, und wir ließen das Avancieren fallen – 's ging eben nicht anders. Auch das à tempo-Schießen war nicht durchzudrücken. Der Geforderte hätte den ersten Schuß, und zudem wär' er zugleich der Beleidigte – Trauerspiel etc. Was tun? Wir konnten uns doch unmöglich mit den beiden Jünglingen in nähere Details über die Situation von vorgestern abend einlassen, gaben also nach. Und es liegt ja auch nichts dran! Aber schon rein nix, Doktor! Der zitternde Ethiker schießt zuerst ein Loch in die Luft, und dann knallen Sie ihn con amore nieder.«
»Hoffentlich! Am guten Willen fehlt's nicht. – Aber wo?«
»Rendezvous Schlag fünf im Meierhof in der Krieau. Pochwalski weiß eine Wiese in der Richtung gegen die Donau, wo sich derlei ungeniert abmachen läßt. Als Unparteiischen haben wir den alten Obersten Haberl gebeten, den Pferde-Haberl, Sie kennen ihn doch? Er kommt ganz gern, so was macht ihm immer Jux, und sonst hat er ja nix mehr zu tun. Natürlich stellt er auch seine Pistolen.«
»Und ein Arzt?!«
»Menschenfreund! Sie brauchen ja morgen keinen! Aber weil Sie um den Häufle so besorgt sind – haha! –, der Pochwalski bringt seinen Regimentsarzt mit. Soll ich Sie in meinem Coupé abholen, so gegen vier?«
»Schönsten Dank! Aber, bitte, einen Augenblick.« Er wandte sich an Fritz. »Willst du dabeisein?«
»Selbstverständlich!«
Georg nickte ihm zu und sprach dann wieder in den Apparat: »Besten Dank, aber mein Bruder kommt mit.«
»Schön! Dann fahre ich mit Pochwalski und den anderen und schicke Ihnen mein Coupé. Vor vier! Servus, Doktor! Auf Wiedersehen!«
Georg trat auf den Bruder zu. »Nur noch drei Stunden, Fritz, und ich werde Mühe haben, fertig zu werden.« Er wies auf den Schreibtisch. »Die Vormundschaft mußt du dir schon gefallen lassen . . . Du bist müde, die Alte dürfte noch auf sein« – er drückte auf die Klingel – »sie soll dich ins Fremdenzimmer bringen.«
»Laß mich hier«, bat Fritz. »Schlafen werd' ich ohnehin nicht.«
»Vielleicht doch, nach der langen Reise. Und dann, du verzeihst, aber wenn ein Mensch darangeht, die Summe seines Lebens nachzuzählen. Gute Nacht, Fritz!«
So folgte der Dozent der Dienerin, die ihn den Korridor entlangführte. »Ach, Herr Doktor«, begann sie wie beim Empfang, kaum daß sie allein waren, aber sein abwehrendes Gesicht ließ sie wieder verstummen. Nur ehe sie an einer der Türen vorbeischritten, mahnte sie: »Still, junger Herr! Da schlaft unser armes Greterl! Mit Müh und Not hab' ich sie in Schlaf gebracht. Jesses nein, Herr Doktor, was das arme Hascherl jetzt weint! Immerzu weint's und ruft: ›Mama!‹ ruft's, ›ich will zur Mama!‹ ruft's, ›wo bleibt die Mama?!‹ Und unsere arme Gnädige, Herr Doktor.«
Da waren sie am Fremdenzimmer. »Gute Nacht, Tini«, sagte er kurz und nahm ihr den Leuchter aus der Hand. Mit den Dienstleuten das Unglück seines Bruders zu bereden, war er nicht gewillt.
Er trat ans Fenster und starrte lange in den Hofraum hinab und begann dann auf und nieder zu gehen. Ihm war weh, sehr weh zumut und doch, als müßte er dem Schicksal danken, das ihn hergeführt. ›Sonst hätte ich wohl noch den Toten mit solchem Verdacht beladen‹, dachte er. ›Und was immer er gefehlt hat, Stunden, wie er sie jetzt da drüben durchmacht, sühnen vieles.‹
Langsam verrann die Nacht. Einmal, als er auf dem Sofa sitzend eingenickt war, weckte ihn das Weinen eines Kindes. ›Das arme Gretchen‹, dachte er. ›Natürlich muß nun die Mutter hierher übersiedeln, nach dem Rechten sehen. Aber es wird der alten Frau sauer werden – und ob das Kind dabei recht gedeiht.‹ Und die Sorge darüber verscheuchte trotz aller Müdigkeit den Schlaf von seinen Lidern, auch nachdem das leise Weinen längst wieder verstummt war.
So fand das graue Licht des kühlen, regnerischen Frühlingsmorgens, als es die Fenster seines Zimmers erreichte, den jungen Gelehrten noch immer wach. Georg hatte nicht lange zu warten, als er kurz nach drei, auf dem Weg aus dem Badezimmer, an seine Türe pochte. Das Frühstück stand bereit, hastig schlürften sie den heißen Trank.
Als Fritz im Vorzimmer seinen Überrock anzog, trat die alte Dienerin auf ihn zu. »Herr Doktor, ein Duell?« flüsterte sie angstvoll. »Der Hausmeister hat's eh' g'sagt, aber ich hätt's nimmer geglaubt! Denn – warum denn, Jesus, Maria und Josef, warum denn?!«
Er tat, als hätte er es nicht gehört, und folgte dem Bruder die Treppe hinab in den Wagen. Ein feiner Regen strömte auf die Straßen nieder, wie ausgestorben lag die Stadt im kalten, fahlen Licht. Die wenigen Nachtschwärmer, die ihnen begegneten, eilten fröstelnd ihrem Ziele zu, Arbeiter waren noch nicht zu sehen. Erst als sie die ewig lange Landstraßer Hauptstraße hinabfuhren, begegnete ihnen ein Wagen der Pferdebahn, der einen Haufen Maurer zur Stadt brachte. Dann die ärmlichen Häuser von Erdberg, die Kaiser-Josef-Brücke, unter welcher der Strom die grauen, mächtigen Wogen langsam dahinwälzte, bis sie die Donauauen erreichten, den »unteren Prater«: triefende Bäume, geschlossene Biergärten, endlich der Wald, in dem sich nichts regte als das stöhnende Laub, das der Wind peitschte. Nur einmal tauchten einige Strolche aus dem Gebüsch auf, riefen ihnen freche Worte zu und verschwanden dann wieder im Dickicht. Das waren auf lange hinaus die letzten Menschen, die sie sahen. Ein häßlicher Morgen, als wär's Spätherbst, und eine traurige, stumme Fahrt.
Zu einigen Worten unter den Brüdern kam es nur einmal, als sie, kurz vor der Brücke, die häßliche, von armen Leuten bewohnte Dietrichgasse durchfuhren. In der offenen Türe eines der Häuschen stand ein kleines, blondes, schwarz gekleidetes Mädchen und schaute sie mit stillen, traurigen Augen an. Da mochten sie beide dasselbe denken, denn ihre Blicke fanden sich und dann ihre Hände. »Unsere Mutter und du«, sagte Georg gepreßt, »ihr müßt mir das Kind fröhlich machen.«
Fritz drückte seine Hand. »Sprich nicht so!« bat er. Aber der Anwalt: »Chi lo sa! Und Häufle hat den ersten Schuß.«
Vor der hübschen »Meierei« in der Krieau, die in Wahrheit ein vielbesuchtes Restaurant ist, in dem nicht eben viel Milch getrunken wird, trafen sie als die ersten ein. Im Gastzimmer sah's noch wüst aus, ein verschlafener Kellnerjunge fegte es eben aus.
So mußten sie trotz der Nässe und Kälte auf der Veranda auf und nieder gehen, bis der Landauer heranrollte, der Georgs Sekundanten, den Unparteiischen und den Arzt brachte.
»Piccolo, Kognak! Kellner, Kognak! Wirtschaft, Kognak!« rief Baron Balkenhayn, ein Riese mit lachendem Vollmondsgesicht, so lange mit Löwenstimme, bis der Wirt herbeieilte, die Fenster des Gastzimmers schloß und das Gewünschte schaffte. Über den frühen Besuch schien er gar nicht erstaunt, musterte vielmehr den Verbandkasten des Arztes mit verständnisvollem Lächeln. »Entschuldigen Herr Baron«, sagte er, »aber wir haben halt gestern Konzert gehabt, bis gegen eins. Auch die Wachleute aus dem Prater waren dabei. Na, die können ja heut' bis Mittag ausschlafen. Aber wir –«
Die Minuten verrannen, die Uhr zeigte ein Viertel nach fünf, von der Gegenpartei war noch nichts zu sehen.
»Geben S' acht, Doktor«, sagte Balkenhayn lachend, »mit dem Ethiker erleben wir noch was!« Und nach weiteren zehn Minuten: »Ihre Reitpeitsche is doch in gutem Stand, Doktor?!«
Endlich – die Uhr der Gaststube schlug eben halb sechs – kam ein Fiaker langsam herangetrabt, Gäule und Wagen waren schlammbedeckt.
»Sixt es! Also doch!« sagte Balkenhayn und trat neben Fritz ans Fenster. »Und nicht etwa ein Komfortabel, sondern ein Fiaker mit zwei Pferden! Hätt's nimmer gedacht!«
Die Türe öffnete sich, ein junger Mensch in verschossenem Überzieher und weichem Zylinder, mit glatt rasiertem, etwas verlebtem Gesicht, kletterte zuerst hinaus.
»Hier Theodorich Steinmann«, sagte der Baron, »der große Rezitator – leert den großen Musikvereinssaal binnen zwei Minuten. Und hier« – er deutete auf einen starken, sehr spießbürgerlich aussehenden Mann in mittleren Jahren, der als zweiter ausstieg – »Herr Franz Xaver Scholz, hiesiger Vertreter der Bijouteriewarenfabrik Christian Häufle & Co. in Heilbronn, übrigens Landwehrhauptmann und soweit ein anständiger Mensch. Nun aber – aufgepaßt, Herr Doktor. Ja, das ist der Dichter Balthasar!«
Der Dozent traute seinen Augen nicht. Der da mühsam und ungeschickt aus dem Wagen tapste, war ein kleiner, dünner, fast knabenhaft aussehender Mensch mit einer Stulpnase im plattgedrückten Gesicht, um das ein Urwald von struppigen, fahlblonden Locken starrte. Die Kleidung genial: Radmantel, Kalabreser, eine rote Krawatte, deren Riesenflügel über das Sammetjackett gebreitet waren, das unter dem Mantel sichtbar wurde. Wie die »Fliegenden Blätter« den »Dichter« zeichnen. Und um dieses Menschen willen hatte sich eine Frau, wie Gertrud einst gewesen, selbst getötet. Viel hatte er um ihretwillen gelitten, der herbste Schmerz traf ihn erst jetzt.
Die drei traten ein, Häufle auch hier zuletzt. Fast wäre er über die Schwelle gestolpert, er war offenbar sehr kurzsichtig. Der Rezitator trat auf den Baron zu und entschuldigte sich weitläufig, sie hätten erst am Nordbahnhof einen Fiaker gefunden, auch seien die Pferde einmal gestürzt. Daß er dabei die Haltung und den dröhnenden Ton des anderen nachzuahmen versuchte, machte seine Rede nicht imponierender.
Man trat ins Freie und schlug den Weg zur Wiese ein, voran Pochwalski mit dem Unparteiischen, dann der Baron mit Stockmar, hierauf die Herren der Gegenpartei mit Häufle in der Mitte, der sich auf Scholz' Arm stützte, endlich Fritz mit dem Arzte. Balkenhayns Kutscher mit den Waffen und dem Verbandkasten schloß den Zug. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind wühlte im nassen Laub und warf die Tropfen nieder.
»Abscheuliches Wetter«, knurrte der Arzt und wickelte sich fester in den Mantel, »Aber was schneiden Sie für eine Miene, Herr Doktor?! Sie fürchten doch nicht ernstlich für Ihren Herrn Bruder?«
»Nein«, erwiderte Fritz gequält. »Allerdings hat Herr Häufle den ersten Schuß.«
Der Arzt lachte. »Und wenn schon! Nein, nein, Herr Doktor, mit Ihrem Bruder ist Gott!« Und als ihn Fritz befremdet anblickte, setzte er mit seltsamem Lächeln hinzu: »Gott ist immer mit den Stärkeren.«
Die Wiese war erreicht. Pochwalski und Scholz luden die Pistolen, der Unparteiische maß die Distanz ab. Inzwischen flüsterten Steinmann und Häufle hastig miteinander, bis der Rezitator vortrat: »Herr Häufle macht zur Bedingung, daß vorher seine Erklärung verlesen wird.«
Und er griff in die Brusttasche. Da aber rief Baron Balkenhayn donnernd: »Hier wird nichts mehr bedungen und nichts mehr rezitiert, hier wird geschossen!« Und auch der Unparteiische, ein kleiner, weißhaariger, beweglicher Mann mit freundlicher Miene, zwang sich zum Ernst und erklärte mit erhobener Stimme, das gehe gegen allen Komment.
Da aber trat Häufle vor. Er war totenbleich, die erhobenen Hände zitterten. »Dann will ich's sage!« schrie er stammelnd. »Die Dame ischt unschuldig – und ich auch – 's ischt ein Komplott!«
Einen Augenblick war es still, dann aber rief der Baron: »Bitt' schön, meine Herrschaften, auch Rezitationen im Dialekt gehen gegen den Komment!« Und darüber mußte selbst der Unparteiische lachen.
»Auf die Mensur!« befahl er dann. Häufle und Georg nahmen die angewiesenen Plätze ein. »Ich zähle«, fuhr er fort, »in Zwischenräumen von fünf zu fünf Sekunden von eins bis zehn. Bis spätestens fünf hat Herr Häufle zu schießen, bis zehn steht Herrn Doktor Stockmar die Abgabe seines Schusses frei.« Und er begann: »Eins . . .«
Fritz heftete seinen Blick auf den Bruder, der seitlings, erhobenen Hauptes, wie in Erz gegossen dastand, dann auf den Schwaben, der wankend, mit zitternder Hand die Pistole vors Gesicht hielt. Das Blut drängte ihm zu Kopfe, vor Mitleid, vor Widerwillen.
Wie entsetzlich lang waren diese Pausen! Und das sollten fünf Sekunden sein?!
Da – ein Blitz, ein Knall. Häufle hatte geschossen. Georg blieb stehen, ein Lächeln fuhr über sein Gesicht, drei Schritte von ihm entfernt war die Kugel ins Gebüsch gegangen. Und nun erhob er die Pistole und zielte.
»Drei . . . vier . . . fünf . . .«
»Entsetzlich!« stöhnte Fritz. Und in der Tat, es war ein kaum ertragbarer Anblick, wie der knabenhafte Mensch in wachsender Todesangst immer fahler wurde, immer sichtlicher wankte.
»Sechs . . . sieben . . .«
Der Rezitator trat auf Herrn Scholz zu. »Um Gottes willen«, rief er und deutete auf den Arzt. Aber der dicke Mann schüttelte betrübt den Kopf . . . Dem Dozenten drängte das Blut so wild gegen das Hirn, daß ihn ein Schwindel überkam, er mußte die Hand um den nächsten Baumstamm legen.
»Acht . . . neun!«
Ein gurgelnder Schrei, wie aus der Kehle eines Ertrinkenden . . . wild griffen die Hände des Schwaben in der Luft umher, dann brach er ohnmächtig zusammen.
Georgs Augen blitzten, sein Antlitz färbte sich dunkelrot vor Wut, er stampfte auf, und den bebenden Lippen entfuhr ein böses Schimpfwort. Doch hatte es wohl nur Fritz gehört, Scholz und Steinmann waren zu dem Ohnmächtigen geeilt, der Arzt folgte ihnen, Balkenhayn und Pochwalski sprachen mit dem Unparteiischen laut und erregt über den kaum erhörten Fall. Es währte eine Minute, bis sich der Oberst soweit gefaßt hatte, um, wie üblich, das Ergebnis des Duells auszusprechen. Natürlich war Häufle der Besiegte.
»Und nun geben Sie mir meine Pistole wieder«, wandte sich der alte Herr dann lächelnd an Stockmar, der noch immer fassungslos vor Zorn dastand, nahm ihm sanft die Waffe aus der Hand und entlud sie in die Luft. »Warum so deprimiert?« fragte er. »Haben Sie wirklich so sehr nach dem Blut dieses – Herrn gedürstet?!«
»Nein«, erwiderte Georg. »Aber solche Erbärmlichkeit . . .«
»Eben darum können Sie zufrieden sein«, sagte der Oberst behaglich. »Der Mensch hat sich selber moralisch umgebracht, das ist auch für Sie viel angenehmer, als wenn Sie ihn totgeschossen hätten. Einige Wochen Festung hätt's Ihnen doch eingetragen, sagen wir, in Josefstadt, und das ist wirklich keine nette Sommerfrische . . . Kommen Sie, meine Herren!«
Sie gingen. »Halt – unser Doktor!« sagte Pochwalski, wandte sich nach dem Arzte um, der noch immer um Häufle beschäftigt war, und rief ihn an. Er kam denn auch herbei, aber nur um sich zu verabschieden. Die Ohnmacht werde bald behoben sein, aber er wolle doch noch bei dem »armen Teufel« bleiben.
»Und die Wunden verbinden?« fragte Pochwalski lachend.
»Pflicht, Herr Rittmeister«, sagte der Arzt leichthin. Und dann immer ernster, bis er schließlich jede Silbe wuchtig betonte: »Vierzig Sekunden auf einen Menschen zielen, dazu gehören starke Nerven, und um es zu ertragen, ebenso starke. Alles Nervensache, meine Herren. Derlei hat eigentlich verdammt wenig mit der sogenannten Ehrenhaftigkeit zu tun.« Er griff grüßend an seine Kappe und ging.
»Herr Doktor!« rief ihm Stockmar erregt nach. Da legte ihm Balkenhayn begütigend die Hand auf die Schulter.
»Ein Arzt!« sagte er verächtlich. »Eben auch so ein Ethiker!« Und sie gingen lachend dem Restaurant zu, wo sie sich abermals eine kleine Herzstärkung gönnten. Nur Georg schwieg finster, und auch Fritz fand kein Wort; wieder einmal fühlte sich der sonst so klare Mann zu seiner Pein von den widerstreitendsten Empfindungen erfüllt.
Er atmete erst auf, als nun Balkenhayn, um rascher zu Hause zu sein, selbst mit Georg sein Coupé bestieg, während er mit den beiden anderen Herren im Landauer Platz nahm, und hätte doch kaum zu sagen gewußt, warum ihm nun das Alleinsein mit dem Bruder so peinlich gewesen wäre.
»Natürlich fährst du zu mir«, sagte Georg beim Abschied. »Deine Sachen sind inzwischen aus dem Hotel geholt worden.« Und als Fritz eine abwehrende Bewegung machte: »Aber das war ja selbstverständlich.«
Sie traten die Heimfahrt an, zunächst hielten sich noch beide Wagen dicht hintereinander. Der Regen hatte nun aufgehört, aber schwere graue Wolken jagten am Himmel, gepeitscht vom kalten, scharfen Wind. So lag die Allee von der Krieau zum Lusthaus, die sonst zu dieser Stunde viele Reiter sieht, ganz verödet. Nur als sie, am Lusthaus vorbei, in die große Praterallee einbogen, trabte eine Dame, von einem Reitknecht gefolgt, an ihnen vorbei. Als sie das Coupé passierte, neigte sie freundlich das Haupt, die Herren, die darin saßen, hatten offenbar gegrüßt. Das gleiche tat Pochwalski, als sie am Landauer vorüberkam. Eine prächtig gewachsene Brünette mit kühn geschnittenen, nur etwas zu fleischigen Zügen, die ihren Rappen mit lässiger Eleganz regierte.
»Wer war das nur?« fragte der Oberst. »Das Gesicht muß ich kennen.«
»Natürlich, von den Rennen her«, erwiderte der Rittmeister. »Reyher heißt sie, Clotilde von Reyher. Der Vater ist Baurat, hat bei der Stadterweiterung Millionen verdient.«
»Richtig! Ein Prachtmädel, obwohl nicht mehr ganz jung. Übrigens eine komische Passion, bei dem Hundewetter auszureiten. Und nun gar bis in die Krieau!«
»Oh, das hat seine guten Gründe!« erwiderte der Rittmeister mit listigem Lächeln und suchte mit Fritz einen Blick des Einverständnisses zu tauschen. Als ihn dieser jedoch befremdet anblickte, wurde er etwas verlegen und verwickelte dann den »Pferde-Haberl« rasch in ein Sportgespräch.
Der Dozent nahm keinen Teil daran. Also diese Dame, dachte er, hat, obwohl alles erst nach Mitternacht vereinbart war, doch schon heute im Morgengrauen gewußt, wann und wo das Duell stattfinden würde, dieselbe Clotilde, die auch rechtzeitig »der ganzen Ringstraße, soweit sie christlich ist«, Georgs herrliches Betragen rühmen konnte. Und da hörte er plötzlich die heiseren, stammelnden Worte wieder: »'s ischt ein Komplott.«
»Unsinn«, dachte er dann und fuhr sich über die Stirne. »Unsinn!« Und er zwang sich, dem Gespräch der anderen zu folgen, so gleichgültig es ihm war.
Aber da nahm dieses plötzlich eine Wendung, die ihn nur allzu sehr interessierte.
»Also der kleine Stojkovics ist nun auch ruiniert?« fragte der Oberst. »Apropos, hat man sich nicht vor einigen Jahren erzählt, daß seine Frau unsern Teufelskerl, den Doktor, gern gesehen hat?! Freilich, von wie vielen erzählt man das! Wenn er nun die alle heiraten müßte! Es ist vielleicht ein Glück für ihn, daß er überhaupt nicht heiraten kann, auch wenn seine Ehe geschieden ist – als Katholik.«
»Pardon, Herr Oberst«, sagte der Rittmeister eifrig, »das ist ein Irrtum. Darüber bin ich ganz genau orientiert. Eine geschiedene Ehe mit einer Protestantin, die nur protestantisch eingesegnet war – da bekäme wohl auch ein anderer den Dispens nicht allzu schwer. Und nun gar erst Stockmar mit seinen Verbindungen!«
Er wandte sich an Fritz. »Nicht wahr, Herr Doktor?!«
Der Dozent war sehr bleich geworden. »Ich, ich weiß nicht . . .« murmelte er.
Der Offizier blickte ihn erstaunt an. »Sind Sie nicht wohl?«
»Doch! Danke!«
Eine halbe Stunde später stieg er mit mühsam gewonnener Fassung die Treppe des Hauses in der Weihburggasse empor.
Der Anwalt war bereits in voller Tätigkeit. Auf dem Tische lag ein Haufen geöffneter Briefe, er selbst stand am Telefon und in ein so lebhaftes Gespräch vertieft, daß er das Eintreten des Bruders überhörte.
»Ich dachte sofort, daß Sie die Sache führen«, sprach er in den Apparat. »Natürlich, als Freund von Christian Bessel! Was ist der Alte nun? So, Buchhalter? Und hat sie bei sich aufgenommen? Nein, Kollege, ich hab's gar nicht anders erwartet! Nun, wie gesagt, ich möchte die Sache mit Ihnen besprechen. Vielleicht läßt sich der schlimmste Skandal doch noch verhüten. Der könnte ohnehin nicht schlimmer werden? O doch, verlassen Sie sich darauf. Kein Mandat zum Ausgleich? So schaffen Sie sich's oder hören Sie mich zunächst ohne Mandat an! Es fällt mir wahrhaftig nicht leicht, aber was tut man nicht als Vater – das arme Hascherl weint sich ja tot. In einer Viertelstunde schon? Mir auch recht. Auf Wiedersehen, Kollege.«
Als er sich umwandte und den Bruder gewahrte, schien er einen Augenblick verlegen. »Nun, endlich da?« fragte er dann und streckte ihm die Hand entgegen. »Der Baron hat mich schon vor einer halben Stunde heimgebracht. Und das war gut. Sieh her« – und er wies auf den Haufen Briefe –, »das will beantwortet sein! Beteuerungen der Freundschaft, der Teilnahme, sogar richtige Gratulationen! Und auf zwölf hat sich eine Abordnung meines Klubs angemeldet, die Herren wollen mich in ihren Vorstand wählen. Und es ist der angesehenste Klub der Stadt! Kurz, ich werde behandelt, als ob mir ein Glück, eine Ehre widerfahren wäre, und ich weiß doch: es ist Schmach und Unglück, freilich unverdiente Schmach, schuldloses Unglück. Aber mir ist deshalb doch bitter zumut, und ich weiß mir kaum mehr zu helfen.« Er legte die Hand auf die Stirne. »Rate du mir«, sagte er dann fast flehend und ergriff wieder die Hand des Bruders. »Denke du für mich! Da bestürmt mich eben der Vertreter meiner – der Gegenpartei um einen Ausgleich. Was soll ich tun?»
Der Dozent zog unwillkürlich seine Hand zurück. Die Wahrheit darüber hatte er ja eben selbst gehört. Dann zwang er sich zur Ruhe. »Ein Ausgleich? Zu welchen Bedingungen?«
»Natürlich baldigste Scheidung ohne Prozeß, aus gegenseitiger Abneigung, wie ich es schon im vorigen Jahre vorschlug. Zur Bedingung würde ich nur machen, daß sie meinen Namen ablegt. Kannst du mir dazu raten?« Und als der andere nicht sogleich eine Antwort fand, fuhr er fort: »Es spricht ja vieles dagegen. Nicht etwa meine Rachsucht, das liegt nicht in mir, aber auf die Genugtuung, die Ehebrecherin durch das Urteil nach Gebühr gezüchtigt zu sehen, würde ich schwer verzichten. Indes – um des Kindes willen würde ich mich darein finden. Wie beurteilt die Welt ein Mädchen? Nach der Mutter! Und Gretchen ist in zehn, zwölf Jahren heiratsfähig. Wer weiß, welcher entsetzliche Skandal da noch aufgerührt wird, wenn das Gericht erst die Dienstboten eidlich vernimmt. Ich war ja im eignen Hause verraten und verkauft.«
Fritz zuckte die Achseln. »Nun«, erwiderte er scheinbar ruhig, doch zitterte die Stimme unmerklich, »noch Schlimmeres als gestern in den Zeitungen stand, kann unmöglich herauskommen. Und Gretchen ist ja erst sechs Jahre alt. Aber weiterer Skandal wäre allerdings lieber zu vermeiden. Und ich meine: auch du hast es mit dem sechsten Gebot nicht allzu schwer genommen.«
»Da irrst du!« wehrte der Anwalt scharf ab. »Das heißt«, fügte er fast im selben Atemzuge lächelnd hinzu, »ich spreche mit meinem Bruder, und ein Heuchler bin ich ja überhaupt nicht – ich meine: nachweisen werden sie mir nichts können, nicht das geringste. Aber davon abgesehen: auch du rätst mir also zu einem Ausgleich?«
Der Dozent nickte. »Aber das Kind?« fragte er dann. »Ich denke, es bleibt nichts anderes übrig, als daß die Mutter zu dir zieht. Es wird ja der alten Frau schwerfallen, aber fremden Händen wirst du es doch nicht ganz anvertrauen wollen.«
Georg seufzte tief auf. »Da bin ich vollends ratlos!« rief er. »Die Mutter, eine fast siebzigjährige Frau, wo denkst du hin?! Die Großstadt, eine neue Zeit. Selbst wenn sie mir das Opfer bringen wollte, ich dürfte es um Gretchens willen nicht tun. Und eine Fremde« – er rang die Hände –, »mein einziges Kind in fremden Händen!«
»Aber zu einem von beiden wirst du dich doch entschließen müssen.«
»Es ist beides unmöglich!« rief Georg verzweiflungsvoll. »Wenn du das arme Kind gesehen hättest – aber du mußt es sehen –, es hat sich ja in den wenigen Tagen zum Schatten abgehärmt. Es ißt nicht mehr, schläft nicht mehr, weint nur immer und antwortet auf jede Frage: ›Wo bleibt die Mama! Ich will zur Mama!‹ Es ist herzzerreißend, Fritz, und ich gestehe dir offen, auch dieser Jammer macht mich einem Ausgleich geneigt. Ein schlechtes Weib, der Fluch meines Lebens, aber als Mutter war sie immer tadellos und wird es hoffentlich bleiben.«
»Georg!« Bleich, mit entsetzten Augen starrte der Dozent den Bruder an. »Du willst dein Kind, ein Mädchen, der Frau überlassen, von der du mir gestern erzähltest.« Die Stimme brach sich, dann aber stieß er fast schreiend hervor: »Da stimmt etwas nicht! Entweder ist dies Weib nicht schlecht, oder du selbst bist gewissenlos!«
Auch der Anwalt wechselte die Farbe, die Brauen zogen sich drohend zusammen. »Unsinn!« rief er rauh, aber dann wandelte sich jählings wieder Stimme und Ausdruck. »Nein, Fritz, nicht gewissenlos, nur ein hilfloser Mann, ein Vater. Du hast ja recht, es geht nicht. Aber was.«
Da trat der Bürodiener ein und meldete den Advokaten Dr. Sterzinger.
»Die Sache will reiflich erwogen sein«, sagte Georg zum Bruder. »Ich hoffe, du ruhst dich jetzt einige Stunden auf deinem Zimmer aus. Jedenfalls tue ich nichts ohne deinen Rat! Guten Morgen, Kollege!« Ein kleiner, schwarzbärtiger Herr mit klugen, scharfgeschnittenen Zügen trat eben ein.
Fritz ging auf sein Zimmer. Seine Pulse hämmerten schmerzhaft. »Ruhe! Schlafen!« murmelte er. Er streckte sich auf das Sofa hin und schloß die Augen, aber der Schlaf wollte lange nicht kommen, und dann breitete er sich auch nur wie ein Spinngewebe über das fiebernde Hirn. Als er aus dem quälenden Halbschlaf auffuhr, war's kaum halb zehn. Einmal, zweimal durchmaß er das Zimmer, dann war ihm die Ruhe eines Entschlusses wiedergekommen. Hastig kleidete er sich um, brachte seinen Koffer in Ordnung und ging die Treppe hinab. Im nächsten Café sah er das Adreßbuch ein und nahm dann einen Wagen. »Uhlandgasse 3.« Der Fiaker sah ihn mit einem verlegenen Lächeln an. »Wo is denn dös?« Aber auch der Dozent wußte es nicht, und so mußte der nächste Wachmann aus seinem Büchlein Bescheid geben. Es war ein Gäßchen im Stadtbezirk Favoriten, nahe dem Güterbahnhof der Staatsbahn. »Uhlandgasse«, murmelte der Fiaker, indem er seine Rosse in Trab brachte. »Da is g'wiß noch kein Mensch im Fiaker hing'fahren!«
Als der Wagen im Rollen war, schienen dem Dozenten wieder Bedenken zu kommen; er hob die Hand nach der Gummipfeife. Dann ließ er sie wieder sinken. »Nein«, murmelte er, »ich muß volle Gewißheit haben.«
Im schärfsten Trabe jagte der Fiaker dahin. Es war eine Fahrt von kaum zwanzig Minuten. Ihm dünkte sie unerträglich lang. Endlich hielt der Wagen in der armseligen Straße. Das Haus war zweistöckig, offenbar eine Mietskaserne. Im Torweg hing eine Reihe von Zetteln, die möblierte Zimmer, auch Schlafstellen ankündigten. Offenbar ein Haus, dessen Bewohner tatsächlich nicht viele Besuche im Zweispänner empfingen, aber daß der Fiaker unrecht gehabt, war sofort ersichtlich, denn vor dem Hause hielt bereits ein anderes solches Gefährt. Der Hausmeister, ein Schuster, stand im Torweg und sah den neuen Ankömmling mit forschendem Lächeln an. »Auch zum Herrn Bessel?« nahm er die Frage vorweg. Und als der Dozent erstaunt bejahte: »Zweiter Stock links, Tür II.« Und hinter sich her hörte Fritz den Mann brummen: »Was da wieder los is?!«
Langsam stieg er die halbdunkle Treppe empor, das Herz pochte ihm ungestüm. Auf dem Treppenabsatz des zweiten Stockwerkes kam ihm der kleine bärtige Mann entgegen, den er vorhin bei seinem Bruder gesehen hatte, stutzte sichtlich bei seinem Anblick und ging dann zögernd weiter. Der Anwalt hatte also nicht versäumt, seiner Klientin zu berichten. Vielleicht war die Sache bereits geordnet.
Oben stand der Dozent vor der Wohnungstür still und holte tief Atem, noch immer wollte sich sein Herzschlag nicht beruhigen. Ein breites Schild aus schwarzem Marmor wies in prunkenden Goldbuchstaben den Namen des Mieters: »Christoph Bessel«. Das Schild erinnerte ihn an jene Stunde, wo er Gertrud kennengelernt. Es hatte schon an der geschnitzten Eichentüre in der Kantgasse geprangt. Dort war es an seiner Stelle gewesen, zu dieser armseligen Umgebung, dem Eisenstab, der als Glockenzug diente, paßte es schlecht.
Eben wollte er die Glocke ziehen, als sich die Tür auftat, und ein weißhaariger Mann heraustrat. Es war Christoph Bessel. An anderer Stelle hätte ihn Fritz vielleicht nicht erkannt, obwohl er ihn vor kaum vier Jahren zuletzt gesehen hatte, so sehr war er inzwischen gealtert. Bessel aber erkannte ihn sofort, fuhr zusammen und sah ihn finster, ja feindselig an. »Sie wünschen?«
»Ich wollte«, begann Fritz und stockte wieder, es kam ihm nun erst, wo er es aussprechen sollte, ganz klar zum Bewußtsein, wie seltsam sein Vorhaben war, eine Frau zu befragen, ob sie sich selbst entehrt habe.
»Meine Schwägerin«, fuhr er fast stammelnd fort. »Ich höre, sie ist in Ihrem Hause.«
Der alte Mann nickte, »Sie kommen im Auftrag Ihres Bruders?«
»Nein«, sagte Fritz. »Im Gegenteil.« Und als ihn Bessel fragend ansah, fuhr er nun fest fort: »Ich wünsche meine Schwägerin eben deshalb zu sprechen, weil ich immer die höchste Achtung für sie empfunden habe.«
Noch stand Bessel unschlüssig, dann öffnete er die Tür mit dem Drücker und ließ Fritz in den kleinen, dunklen Korridor treten. »Einen Augenblick.« Er verschwand, es währte einige Minuten, bis er in einer geöffneten Zimmertür wieder auftauchte. »Bitte, Herr Doktor!«
Fritz trat in die peinlich saubere, aber dürftig eingerichtete Stube, offenbar das Speise- und Wohnzimmer der verarmten Familie. »Entschuldigen Sie, wenn nur ich Sie empfange«, sagte Bessel, rückte einen der Stühle vom Speisetisch ab, blieb aber selbst stehen. »Gertrud ist sehr erschüttert. Es ist meine Pflicht, ihr jede weitere Aufregung, soweit möglich, fernzuhalten. Und darum bitte ich, mir kurz zu sagen, was Sie von ihr wünschen. Verzeihen Sie, wenn ich auch um Kürze bitte. Aber ich stehe nun in fremden Diensten und sollte längst im Kontor sein.«
Der Dozent wurde wieder verlegen. »In wenigen Worten läßt sich's kaum sagen. Ich war wie betäubt, als ich es gestern zufällig erfuhr, und eilte hierher, weil ich ein Mißverständnis vermute. Und das kann es ja auch nur sein!«
»Natürlich!« sagte der alte Mann bitter. »Mißverständnis – gut, sehr gut!« Er lachte auf. Dann fuhr er ruhiger fort: »Nein, Herr Doktor, es war kein Mißverständnis. Ihr Bruder hatte eine Ehe aus Spekulation geschlossen und wollte nun wieder frei sein, um durch eine zweite Ehe ein noch besseres Geschäft zu machen. Wenigstens glaubt er das. Und da Gertrud nichts von einer Scheidung wissen wollte, so half er sich eben auf andere Weise. Es war nicht sein Wille, daß er dabei nur blieb, was er immer war: ein Schurke, und nicht auch zum Mörder wurde. Nicht sein Wille, Herr Doktor.«
Fritz war sehr bleich geworden. Ähnliches hatte er ja zu hören befürchtet, nun traf es ihn doch mit zermalmender Wucht.
»Ist das nicht zu hart?« fragte er murmelnd.
»Nein«, sagte der alte Mann. »Wort für Wort ist es wahr und gerecht. Warum warb er um Gertrud? Gewiß gefiel sie ihm auch, kein Wunder! Ein solches Mädchen. Aber er hielt doch erst um sie an, als ich ihm sagte: ›Dann mache ich Sie zum Rechtskonsulenten der Wienerbank.‹ Sechstausend Gulden jährlich Fixum, Gelegenheit zu größerer Klientel, eine schöne, gute, bescheidene Frau, dazu der Ruhm der Selbstlosigkeit; sagen Sie selbst, war das für einen jungen Advokaten in einer Stadt, wo es fünfhundert Advokaten gibt und davon ein Drittel ohne Brot, nicht ein gutes Geschäft?! Aber Sie fragen vielleicht, warum ich es getan habe? Weil er ein Blender ist, und weil Gertrud ihn liebte. Dann, als ich sah, was hinter der Pose steckte, war es eben zu spät. Übrigens habe auch ich seine volle Niedertracht erst dann erkannt, als ich durch den Zusammenbruch meines Cousins Hinterstoißner – ›Hinterstoißner & Mayr‹, Sie werden davon gehört haben, Herr Doktor – selbst ein ruinierter Mann wurde. Wie er sich damals gegen mich und die Meinen benahm – aber wozu auch noch darüber reden?! Und was Gertrud litt, haben Sie ja selbst mitangesehen. Dennoch ließ sie nicht von ihm. Und da Fräulein von Reyher nicht länger warten wollte – oder konnte, was weiß ich?! –, so setzte er eben das Mißverständnis in Szene.«
Dem alten Manne versagte die Stimme, seine Fäuste ballten sich. Und als er fortfuhr, rangen sich die Worte mühsam von seinen Lippen. »Geschickt gemacht war's, das muß man ihm lassen. Der Häufle – natürlich hatte er ihn selbst ins Haus gezogen –, allerdings ist er ja als Verführer etwas unwahrscheinlich, aber dafür ein lächerlicher, verschüchterter Mensch. Dabei Reserveoffizier, der sich stellen muß, und doch ohne jede Gefahr niederzuknallen. Und Tote können vor Gericht nicht zeugen. Ein Mord, ein Meineid, und man kann endlich Hochzeit halten.«
Totenfahl, schwer atmend stand Fritz da. »Aber Häufle lebt ja . . .«, stieß er endlich hervor.
»Freilich, das ist eben das bißchen Unglück in dem vielen Glück. Kostet aber doch nur Geld. Die Hauptsache ist trotzdem erreicht. Dann schlägt man eben einen Ausgleich vor und tut es als geschickter Mensch sofort, ehe die dummen Proleten, die Bessels und die unglückliche Frau, vom Ausgange des ›Ehrenhandels‹ etwas wissen können. Freilich ahnte unser Doktor, der Sterzinger, als er ihm jede Auskunft über das Duell verweigerte, sofort die Wahrheit, erklärte, nur unter sehr günstigen Bedingungen vermitteln zu können, und fuhr darauf zuerst zu Häufle, dann hierher. Aber das sind ja bloß Geldfragen!«
»Der Ausgleich ist angenommen?«
»Ja. Gertrud hat es so gewollt, auch unser Doktor war nicht dagegen. Bessere materielle Bedingungen kann sie allerdings auch im Prozeß nicht ersiegen. Stockmar begibt sich jeden Rechtes auf das Kind, sichert ihm ein anständiges Vermögen, Gertrud eine standesgemäße Rente. Was er sich ausbedingt: daß sie seinen Namen ablege, ihren Wohnort außerhalb Wiens nehme, ist ja selbstverständlich. Natürlich geht sie nach Deutschland. Das täte sie schon um ihretwillen auf alle Fälle!«
»Und Sie, Herr Bessel?« rief Fritz. »Sie dulden das? Mein Gott, dann bleibt ja die Schmach auf ihr haften! Es darf nicht sein!«
Der alte Mann blickte ihn durchdringend an.
»Und das sagen Sie, Herr Doktor?!«
»Ja, ich!« rief der Dozent. »Soll ich mich in dieser Sache als Georgs Bruder fühlen?! Dann wäre ich seiner wert! Ich wiederhole: Es darf nicht sein!«
Bessel war sehr erregt. »Darf nit sein!« rief er, plötzlich in den Dialekt fallend, als hätte er das Hochdeutsche nur wie eine Fessel getragen. »Sie hab'n gut reden! Die Weiber woll'n ja nix hören! Die Kehl' hab' ich mir heiser g'redt!« Unschlüssig durchmaß er das Zimmer.
»Es wird doch gut sein«, sagte er endlich ruhiger, indem er stehenblieb, »wenn Sie mit Gertrud sprechen. Ich weiß, sie hat immer viel von Ihnen gehalten. Bitte, einen Augenblick.«
Er ging. Wieder währte es lange, bis er zurückkam. Hinter ihm trat Gertrud ein. Dem Gelehrten krampfte sich das Herz zusammen, als er in die hageren, verhärmten Züge blickte. Was mußte sie in diesem Jahre, was in den letzten Tagen gelitten haben!
Sie trat auf ihn zu und bot ihm die Hand. Eine feine Röte breitete sich über ihr Antlitz. »Ich danke dir, Fritz, daß du gekommen bist«, sagte sie, wies auf einen Stuhl und ließ sich ihm gegenüber nieder. »Ich weiß es nach seinem vollen Wert zu schätzen. Freilich, deinen und Herrn Bessels Rat kann ich nicht befolgen.«
Sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. War ihm je unklar gewesen, was ihm diese Frau war, jetzt wußte er es. Alle Kraft seines Willens mußte er aufbieten, um äußerlich gelassen zu bleiben. »Warum?« fragte er. »Für wen willst du das furchtbare Opfer bringen?«
»Für mein Kind«, erwiderte sie. »Auch Dr. Sterzinger meint: der Prozeß kann lange Monate, im schlimmsten Falle Jahre dauern. Und während dieser Zeit verkommt mir mein Kind. So aber habe ich es binnen einer Stunde hier. Frau Bessel macht sich eben bereit, es zu holen.«
»Die alte Tini ist ja bei ihm«, sagte Bessel, »und die gibt er schon aus Bequemlichkeit nicht fort. Eine treue Seele, sie tut, was sie kann.«
»Das ist's eben«, fiel sie ein, »was sie kann; die Mutter wird sie Gretchen nicht ersetzen. Übrigens, dieser Grund wäre ja genügend, aber es ist nicht mein einziger. Ich bin müde, so sehr müde und muß gesund bleiben. Unter den Aufregungen dieses Prozesses würde ich wohl zusammenbrechen. Ich kenne ihn, er ist furchtbar, wenn ihm jemand im Wege steht.«
»Liebes Kind«, sagte Bessel, »das weißt du längst, und es hat dich nicht gehindert, seinem Vorschlag im vorigen Jahr dein Nein entgegenzusetzen. Gegen meinen Rat, aber du bliebst immer dabei: ›Das geht vorbei, an mir liegt nichts, ich will dem Kinde den Vater, das Vermögen erhalten.‹ Nun wohl, wie stehen die Dinge heute? Diesen Vater kannst du ihm gottlob nicht mehr erhalten, aber den unbefleckten Namen seiner Mutter!«
»So denke auch ich«, fiel Fritz ein. »Was soll deine Tochter einst denken.«
Wieder schlugen ihr die Flammen ins verhärmte Antlitz. »Auch dies ist erwogen«, erwiderte sie dann fest. »Meine Tochter wird nie schlecht von mir denken. Dafür werde ich sorgen, nicht durch Reden über diese Dinge, sondern durch mein Leben. Auch irrst du, wenn du dem Prozeß gar so viel Einfluß auf das Urteil der Welt beimißt. Dies Urteil steht fest, und nichts kann es ändern. Er und jene Dame haben die Gesellschaft für sich, die Zeitungen, alles. Und Volkes Stimme ist ja Gottes Stimme, sagt man, die beiden haben gesiegt, kein Wunder – sie sind die Stärkeren.«
Da hörte Fritz heute zum zweiten Male denselben Gedanken, und wieder rüttelte er ihm das Innerste auf, obwohl er ihm, dem Historiker, wahrlich nicht neu war. Aber wie dem Arzte, wußte er auch ihr nichts darauf zu entgegnen. Denn was er sich als Trost dafür errungen hatte, gehörte zu jenen innersten Überzeugungen der Seele, von denen eine keusche Natur anderen nicht sprechen kann.
»Und nun genug von mir«, sagte sie. »Wie ist es dir in all den Jahren ergangen? Hoffentlich gut, denn du hast viel gearbeitet. Nur eine Freude hast du mir noch nicht gemacht.« Ein leises Lächeln stahl sich um ihre Mundwinkel und verschönte wundersam das blasse Antlitz. »Und ich habe dich vor sechs Jahren schon so darum gebeten!«
Er errötete bis ans Stirnhaar und schüttelte dann leise den Kopf.
»Warum nicht?« fragte sie. »Wer so liebevoll ist wie du, Fritz, ist auch liebebedürftig. Und wie würde sich deine alte Mutter darüber freuen.«
Dann erhob sie sich und bot ihm die Hand. »Leb wohl, und tausend Dank, ich vergesse es dir niemals. Jetzt aber, verzeih, ich habe heute noch soviel zu ordnen, morgen reisen wir, Gretchen und ich. Wann willst du nach Innsbruck zurück?«
»Mit dem nächsten Zug, halb eins. Wo willst du dich niederlassen?«
»In einer kleinen Stadt«, erwiderte sie, »wo mich nichts von der einzigen Aufgabe meines Lebens ablenkt, der Erziehung meines Kindes.«
Voll und klar blickte sie ihm ins Auge, und er verstand diese Antwort. So standen sie einen Atemzug lang Hand in Hand und Aug in Auge einander gegenüber und wußten beide: es war ein Abschied fürs Leben.
»Leb wohl, Fritz.« Und sie ging.
Als der Dozent eine halbe Stunde später wieder den Torweg in der Weihburggasse betrat, blieb er einen Augenblick nachsinnend stehen. »Nein«, murmelte er dann vor sich hin, »kein Wort mehr an den Menschen – kein Wort.«
Im Vorzimmer traf er drei sehr elegant gekleidete Herren, die eben ihre Überzieher ablegten. Offenbar die Abordnung des Klubs, von der Georg gesprochen hatte. Rasch ging er an ihnen vorbei, den Korridor entlang, seinen Koffer zu holen.
Als er eine Minute später wieder das Vorzimmer passierte, hatte der Sprecher der Deputation drinnen bereits seine Rede begonnen. Ein Herr mit kräftiger Stimme. Trotz der verschlossenen Türe vernahm Fritz Stockmar einzelne Worte:
»Ehrenmann . . . gerade in diesem Augenblicke . . . allgemeine Hochachtung . . .«
Also dir geht's gut?!« sagte der Oberlandesgerichtsrat nach einer Pause. »Natürlich, ein solcher Name, solche Aufträge! Gibt's eine europäische Majestät, die du noch nicht gemalt hast?! Und deine Frau?!«
Der Maler zog einen Augenblick die feinen Brauen zusammen. »Der . . . geht's hoffentlich auch gut«, erwiderte er leichthin, doch klang die Stimme etwas heiser. »Wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie lebt auf ihrem Gut, oben bei Danzig, mit den beiden Kleinen . . .«
»Oh . . . Pardon!« Der Beamte war verlegen, wirklich verlegen, er verbrauchte einige Wachshölzchen, bis die Frühstückszigarre in Brand war. »Wenn man in Celle lebt.« Er blickte wie suchend um sich, offenbar nach einem Gesprächsstoff. Sie saßen im Café Gotthard in Luzern; die Augustsonne brannte auf den Quai nieder, daß ein Dunsthauch über den Bäumen und Häusern lag. »Kaum acht – und schon so heiß! Das wäre ein Tag für den Rigi.« Und er deutete auf den Dampfer an der Landungsbrücke, kaum zwanzig Schritte von ihnen. Aus dem Schornstein stieg eben der erste Rauch.
Der Maler konnte wieder lächeln. »Dann komm mit. Ich fahre um neun hinauf. Übrigens, das vorhin, du brauchtest nicht so verlegen zu werden. Mein Gott; wenn man in Celle lebt. Auch sind's schon drei Jahre her! Und wenn du etwa neugierig bist . . .«
»Nein, Heinrich!« Das steife, magere, etwas mißfarbene Amtsgesicht belebte sich. »Neugierig? Da tust du mir unrecht! Wenn man sich so lange kennt – fast so lang, als wir leben –, und dann: ich kenne sie ja auch. Vor sieben Jahren, du hast's vielleicht vergessen.«
Der Künstler schüttelte den Kopf. »Ich seh' dich noch an unserem Tische sitzen«, sagte er halblaut, den Blick auf die Tasse vor ihm geheftet. »Unser erster Gast! Es muß Ende März gewesen sein: am 16. war unsere Trauung. Du warst von ihr entzückt, natürlich, wer auch nicht?! Und was du mir dann im Rauchzimmer sagtest, weiß ich noch ganz genau.«
»Ich werde dir wohl gute Lehren . . .«
»Nein, Karl, es war mehr.« Und wie er nun den Kopf in den Nacken warf und den Jugendfreund bewegt anblickte, mußte dieser wieder einmal denken, wie in all den Jahren so oft: »Welche Prachtleistung der Natur! Welch ein schöner Mensch!« Er sah kaum jünger aus, als er war. Das braune dichte Haar an den Schläfen war leicht ergraut. Aber unvertilgbar lagen Kraft und Anmut über den scharf geschnittenen Zügen, und die Augen leuchteten unter den langen Brauen wie dunkle Sterne. Die Gestalt mittelgroß, elastisch, von jener männlichen Grazie, der man an den Bildwerken der Alten so oft, aber heut im Leben kaum je begegnet.
»Du sagtest mir damals: ›Du bist der glücklichste Mensch, den ich kenne, und ich gönn' es dir, obwohl es mir schwerfällt. Denn du weißt, ich halt' es mit dem Recht, nicht bloß von Berufs wegen, sondern aus innerster Überzeugung. Ich glaube sogar, daß den meisten Menschen in letzter Linie so geschieht, wie sie verdienen, und das wirfst du mir um, denn dir geschieht tausendfach besser. Nicht in deiner Kunst, du stehst genau da, wohin dich deine Begabung, dein Fleiß gestellt haben. Aber dies herrliche Geschöpf – wie verdienst du, vierzigjähriger Schwerenöter, eine solche Frau! Verdien sie mindestens hinterdrein! Sag nicht, wie sonst, die Weiber liefen dir nach, und wir armseligen Kamele mit angeborenem Höcker könnten dem Tiger seinen Wuchs, seine Kraft und seine Krallen nie verzeihen. Etwas ist dran, sogar nicht wenig, genau so viel, als im Menschen vom Tier steckt. Aber eine Bestie ist der Mensch nicht – Seele, Gewissen, auch das ist nicht eitel Dunst. Und dies Gewissen muß dir sagen: Verdien sie dir nun! Nicht etwa bloß durch Treue, das ist selbstverständlich, nein! Durch eine Liebe ohne Grenzen!‹ So etwa hast du damals gesprochen, Karl, kein Wunder, daß ich's noch weiß.«
Der Beamte schwieg; nur seine Augen fragten.
»Nun . . . und ich habe sie eben nicht verdient. Aber noch schlimmer. Sag nichts«, fuhr er hastig fort, als der Freund zum Sprechen ansetzte, »kräftigere Reden, als ich mir selber zuweilen halte, bringst du auch nicht fertig!«
Darauf war es eine Weile still. Am Nebentisch nahmen neue Gäste Platz. Der Rat blickte auf und zog grüßend den Hut. Ein Herr und eine Dame, er unförmlich, mit dunklem Gesicht und weißem Haar, sie eine schöne, brünette Person mit schwarzen Glutaugen und beweglichen Nüstern. Nur die Formen etwas zu voll, und die Toilette etwas zu grell.
»Tischgenossen vom ›Luzerner Hof‹«, flüsterte der Rat dem Maler zu, der flüchtig hinübersah. »Ein ehemaliger rumänischer Justizminister und seine Tochter.«
Heinrich nickte. »Aus dem wilden Winkel. Man merkt's auch an der Toilette. Rot-gelb-blau.« Dann starrte er wieder dem Rauch seiner Zigarette nach.
Der Rat räusperte sich. »Also –«, begann er und verstummte wieder. »Also vor drei Jahren schon?« fragte er endlich.
»Ja. Kurz hat das Glück gedauert, kaum vier Jahre. Wirklich ein Glück, Karl, ein volles Glück, für sie und mich. Ich hatte keinen anderen Wunsch als sie, kein Wunder! Daß sie jung, schön, anmutig war, weißt du ja – aber wie gut war sie auch, wie klug, welcher prächtige Kamerad! Dazu unsere beiden süßen Mädels. Wer mir damals gesagt hätte: ›In einigen Wochen verdienst du das alles nicht mehr‹ – erwürgt hätt' ich den Menschen. Und doch.«
Der andere rückte näher. »Die Versuchung war wohl sehr stark?«
»Das schon. Ein schönes Weib, schlank, blond, Mitte der Zwanzig, anscheinend kalt. Champagne frappé – die Gattung war mir immer die gefährlichste. Wenn das so zu tauen, zu schäumen beginnt. Schon bei der zweiten Sitzung wurde mir's schwül.«
»Ein Modell?«
»Bewahre! Das tut selbst ein junger Maler nur, wenn er ein gemeiner Kerl ist. Blaues Blut, sehr raffiniert, so halb und halb Pariserin. Auch waren wir auf ihrem Schloß allein, während der Mann, ein plumper häßlicher Pferdemensch, mit seiner Kokotte in Monte Carlo saß. Zudem machte sie's mir leicht, sie hat mich, glaub' ich, in ihrer Art wirklich geliebt. Du siehst, es kam etwas viel zusammen, aber ich will mich nicht entschuldigen. Genug, es geschah, wurde ruchbar, ein richtiger Skandal – wie, ist ja gleichgültig. Natürlich erfuhr's auch meine Frau.«
»Und was sagte sie dazu?«
»Zunächst nichts. Sie war betäubt, ihr Himmel war eingestürzt und hatte sie unter seinen Trümmern begraben. Dann schien sie entschlossen, für immer mit mir fertig, reiste mit den Kindern auf ihr Gut. Ich wehrte ihr nicht, hielt auch die Freunde ab, zu vermitteln, bat nur selber und – hoffte. Sie war ja so gut und klug, liebte mich so sehr, dazu die Rücksicht auf die Kinder. In der Tat schrieb sie mir nach einigen Wochen, ich möge kommen, mich mit ihr auszusprechen.«
»Und trotzdem versöhntet ihr euch nicht?« fragte der Rat und rückte noch näher. Sein Blick streifte dabei den Nachbartisch, und die kleinen Augen wurden groß. Da saß die üppige Bojarin und starrte den Künstler wie behext an, mit feuchten Augen, geblähten Nüstern, den Mund halb geöffnet, daß man die spitzen weißen Zähne sah. Den Beamten überlief's. »Und er ist so alt wie ich!« dachte er neidvoll. »Bald achtundvierzig!«
Aber der Maler bemerkte sie nicht. Er starrte wieder vor sich hin. »Trotzdem nicht«, antwortete er. »Überhaupt – es kam alles anders, als ich gedacht hatte. Sie weinte nicht, zürnte nicht, blieb ruhig und freundlich. Ich hatte ja schon früher geahnt, welche Kraft in ihr war, in jener Stunde sah ich's. ›Ich komme zurück, wenn du mir dein Wort gibst, daß du dich und mich nie wieder entehrst. Den Schwur am Altar hast du gebrochen – band er dich nicht genügend, täuschtest du dich über deine Kraft, gleichviel! Nun kennst du dich besser, und dein Wort wirst du halten, soweit kenn' ich dich. Prüf dich, ob du es geben kannst, und sag mir morgen Bescheid!‹ Damit schickte sie mich auf mein Zimmer, das Gastzimmer, ich kannt' es von meinen Bräutigamstagen her. Wie oft hatte ich die blauen Gentianen auf der gelben Tapete gezählt, wenn mich mein wildes, ungeduldiges Blut nicht einschlafen ließ. Es war Dämmerung und im Dezember, als ich es nun wieder betrat, und als ich mich fortschlich, schimmerte draußen das Morgenrot durch die beschneiten Bäume – zwölf Stunden oder länger bin ich in der Stube auf und nieder getaumelt und habe mit mir gekämpft, gekämpft – o diese Nacht! Und alle Qual umsonst und alles Grübeln, fortgestohlen hab' ich mich, aus dem Haus und zur Station, zurück nach Berlin!«
Der Rat sah ihn verblüfft an. »Ohne sie gesprochen zu haben? Unbegreiflich! Sprechen ist in derlei Fällen . . .«
» . . . klüger als schreiben, das einzig richtige usw. Oh, gewiß! Aber wenn man sich, zu sehr schämt, seiner Schwäche wegen, und weil es gar zu brutal wäre, derlei auch noch ins Gesicht hinein zu sagen?! Denn was hätt' ich ihr damals antworten können?! ›Versprechen kann ich dir jetzt nur, daß ich mit der Bestie in mir ringen will, auf Tod und Leben, aber ob ich Sieger bleibe, weiß ich noch nicht. Ich hoffe, die Stunde kommt, wo ich auch dies weiß, wo ich mein Wort geben kann. Ich hoffe darauf, wie ein Verdammter auf seine Erlösung, aber noch ist sie nicht da! – Gib mir längere Bedenkzeit.‹ Derlei schreibt man, wenn man muß, und das tat ich, aber man sagt es nicht seiner Frau.«
Der Richter räusperte sich. »Das freilich nicht. Aber schon die Bedenkzeit war unklug. In derselben Sekunde, wo sie ausgesprochen hatte, mußtest du auch zu ihren Füßen liegen: ›Ich gelobe.‹ Und dann hättest du auch deinen Schwur gehalten, weil er dich gehalten hätte. Hoffentlich wenigstens!«
»Hoffentlich!« rief der Maler und dämpfte seine Stimme dann wieder zu zitterndem, leidenschaftlichem Flüstern. »Da eben liegt's. Wenn du sie damals gesehen hättest, die blauen Kinderaugen so groß, so durchdringend, als wären sie durch die vielen Tränen hellsehend geworden, das liebe, braune, abgehärmte Gesichtchen so rührend ehrlich – nein! da durfte man nicht aufwallen, man mußte ehrlich sein wie sie und sich prüfen und . . .«
» . . . das Tier in sich siegen lassen«, ergänzte der Rat. Er bemühte sich ehrlich, entrüstet zu scheinen, aber das Behagen, das er dabei empfand, so schelten zu können, klang doch durch. »Aber natürlich wird's dir auch an Sophismen nicht gefehlt haben: ›Die Natur hat dem Weibe allein die Folgen aufgebürdet; das Weib braucht den Mann als Ernährer und Beschützer seines Kindes; die Natur also hat das Weib monogamisch, den Mann polygamisch geschaffen!‹ Nicht wahr, mein Guter, auch daran hast du damals gedacht in dem Zimmer mit der Gentianen-Tapete?!«
»Nein! Damals nicht! Aber vorher und nachher, gewiß! Und es ist ja auch so!«
»Ist nicht so!« rief der Richter und sammelte sich sichtlich zu einer längeren Rede. Aber da fing er wieder einen der Blicke auf, die vom Nachbartisch zu dem Manne an seiner Seite herüberflogen, und der verdarb ihm das Konzept. Er rückte seinen Stuhl, so daß nun weder er die Rumänin, noch diese den Maler sehen konnte. »Ist nicht so!« wiederholte er dann etwas minder fest. »Angenommen aber, daß man's für wahr hält, so darf man als ehrlicher Mann eben nicht heiraten oder muß doch vorher seine Braut fragen, ob ihr mit einem untreuen Gatten gedient ist. Beides hast du nicht getan!«
»Weil ich damals nichts wußte und nichts wollte als sie. Du weißt, ich bin nie ein frommer Katholik gewesen, und daß ich dann meiner Braut oder richtiger ihren Eltern zulieb Protestant wurde, stimmte mich auch nicht eben frömmer. Und dennoch kann nie ein Mann sein Ja am Altar feierlicher und fester gemeint haben als ich!«.
»Dann hättest du's auch halten müssen!« Die Entrüstung ward immer polternder, aber eben darum jenes Behagen immer sichtlicher. »Gar so schwer war's doch nicht für dich. Nimm an, die Natur hätte dich wirklich zum Polygamen bestimmt. Nun, dann durftest du dir sagen: ›Ich habe diese Bestimmung bis in mein fünfundvierzigstes Jahr so voll erfüllt, daß ich es nun getrost mit der Monogamie versuchen kann. Besonders an der Seite dieser Frau, die so schön und zwanzig Jahre jünger ist als ich!‹ Ja, ja, mein Lieber!«
Der Künstler wollte heftig erwidern, dann bezwang er sich. »Nicht übel – so aus deiner Natur heraus gesprochen. Und für andere haben tugendsame Menschen noch peinlichere Grundsätze als für sich selber. Aber im Ernst, Karl, du hättest deinen Beruf verfehlt und wärest ein jämmerliches Stück Gerechtigkeit auf Erden, wenn du noch immer nicht erkannt hättest, daß jeder aus seiner Natur heraus denkt und handelt, und darum jeder nicht wie er will, sondern wie er muß. Du mißachtest mich um meiner Schwäche willen, das heißt, soweit du mich nicht um die angenehmen Folgen in aller Stille beneidest. Ich aber verdiene nicht das eine noch das andere. Neid gebührt dem Vorzug, Mißachtung dem Laster. Was mir auferlegt ist, ist keines von beiden, sondern ein Schicksal. Und dem gebührt Verständnis. Freilich, bei dieser Verschiedenheit der Naturen.«
»Kamel und Tiger!«
»Hab' ich vor dreißig Jahren gesagt, und es hat dich seither gewurmt, sooft du daran dachtest, weil es – so wahr ist. Oder doch annähernd wahr. Denn dem Kamel ist auferlegt, niemals mordgierig zu sein, und dem Tiger, es immer zu sein, und auf die Gier oder, sagen wir, das Begehren kommt's ja bei dem Gegensatz zwischen Menschen meines und deines Schlages so wenig an! Ich weiß ja, Karl, du bist immer ein sehr vernünftiger Herr gewesen. Auf der Universität und dann als Referendar ab und zu ein heimlicher Trunk aus der Pfütze, dann die Heirat, aus Neigung selbstverständlich, aber auch höchst vorteilhaft. Und kleine, wirklich nicht nennenswerte Seitensprünge auf Reisen usw. abgerechnet.«
Der Rat hob feierlich abwehrend die Hand.
»Schwör nicht, Karl, sonst muß ich lachen, und danach ist mir jetzt wahrhaftig nicht zumut. Also ein Mustermensch warst du, und dennoch sage ich es dir auf den Kopf zu: Du hast viel mehr Frauen im Leben begehrt als ich, hast in Gedanken unendlich mehr Unheil angestiftet als ich in Wahrheit, und daß es bei den Gedanken geblieben ist, ist nicht dein Verdienst. Tu nicht so entrüstet, wahr ist's doch, zudem meine ich gar nicht dich und mich, sondern die Gattungen, denen wir zugehören. Ihr genießt weniger, und darum begehrt ihr mehr. Also darauf kommt's wenig an, wenig auf die Wirkung, welche die Frauen auf uns üben, sondern das Begehrtwerden entscheidet unser Schicksal, die Wirkung, die wir auf die Frauen üben. Begehren und sich bezwingen – leicht ist es auch nicht, aber es ist ein Kinderspiel gegen dies andere: verzichten, wenn man von einer begehrt wird, die uns das Blut sieden macht. Und darum: Gerechtigkeit, du weiser Daniel! Es ist nicht dein Verdienst, wenn du ein Mustermensch bist, und nicht meine Schuld, wenn ich keiner bin!«
»Nun, so ganz kann ich das doch nicht zugeben«, sagte der Rat. »Überhaupt, die Unfreiheit des Willens – eine Theorie wie ein Komet: kuriose Bahn, dünner Kern, viel Phrasendunst, freilich auch viel Flimmerglanz. Aber als dein Richter fühle ich mich ja überhaupt nicht, nur als dein Freund! Sieh, ich habe mir ja selbst in meiner Jugend niemals gewünscht, ein Tiger zu sein, aber wenn ich nun sehe, wohin es führt . . . hm!« Er räusperte sich und streckte dann dem Künstler mit sehr teilnahmsvoller Miene die Hand entgegen.
Dieser schlug ein, aber leicht, und ein seltsames Lächeln um die Lippen. »Sei's! Obwohl viel Heuchelei dabei ist.«
»Aber Heinrich!«
»Doch, mein alter Junge. Nicht einmal, tausendmal und dein ganzes Leben hindurch hast du dir gewünscht, ein Tiger zu sein, und während du jetzt hier sitzest, denkst du an nichts anderes. Denn das will jeder Mann sein, und das ist so natürlich! Es ist ja hübsch, so aus vollen Krügen zu trinken – nein, es ist berauschend, mit das Höchste, was dies arme Leben bieten kann, und es gibt Stunden, wo ich nur eine Empfindung habe: ›Natur, ich danke dir, daß du mich schufst, wie ich bin – trotzdem und alledem –, ich danke dir!‹ Aber andre Stunden gibt's, wo ich alles drum gäbe, ein Kamel zu sein, ich meine ein Mensch, der glücklich ist, sich ein braves Weib errungen zu haben und die anderen Weiber in Ruhe läßt, weil sie sich nicht um ihn scheren, Stunden, wo ich meinen Namen drum gäbe, Jahre meines Lebens, was weiß ich. Nur mein bißchen Können als Künstler nicht, aber sonst wirklich alles. Du lächelst?! Oh, es ist doch so! Und ich glaube sogar, es geht vielen Leuten meines Schlages ganz ebenso. Nicht allen, nicht jenen, die so vom Menschen nur das Gesicht haben, aber uns andern. Wie du ja damals selbst sagtest: ›Seele, Gewissen, auch das ist nicht eitel Dunst!‹ Ich hab's gespürt! In jener Dezembernacht, aber auch vorher, nachher und jetzt eben. Du verstehst mich nicht, aber so dunkel fühlst du, wie es in mir aussieht, und weil du sie gekannt hast, so empfindest du jetzt neben sehr viel Schadenfreude wirklich auch ein bißchen Mitleid für mich!«
»Nun ja, viel verdienst du ja nicht«, erwiderte der Rat. Er gab sich nun sichtlich Mühe, die Tonart des anderen nachzuahmen.
»Und selbst dies wenige wende ich dir nur zu, weil ich sie gekannt habe. Ich hab' sie ja damals nur einige Stunden gesehen und gesprochen, dennoch ist mir klar: dieses Weib verloren zu haben, ist wirklich ein Unglück. Aber freilich, eben darum fasse ich es auch nicht, wie du damals zögern konntest. Einer Marotte wegen sein Glück vernichten!«
»Das nennst du eine Marotte?! Nur ein Lump gibt sein Wort, obwohl er zweifelt, daß er's wird halten können. Und welche Gemeinheit wär's vollends gewesen, zu denken: ›Mein Wort? Bitte, sehr gern! Aber nun sehen wir zu, wie weit wir damit kommen; wenn nur ein paar Schritte, so wird derlei doch nicht immer sofort ruchbar!‹ Bleibt also nur die Frage: ›Warum konnt' ich mein Wort nicht geben?‹ und darauf nur die Antwort: ›Weil ich, so wie ich nun einmal bin, eben nicht konnte!‹ Ein Schicksalsgenosse, sofern er daneben auch ein Gewissen hat, kann mich vielleicht verstehen, du nicht!«
Der Rat lächelte, etwas krampfhaft freilich, so, als ob er mit eisernem Striegel gekitzelt würde. »Versuchen wir's dennoch! Interessiert mich wirklich. Du sagtest, begehren und trotzdem verzichten, das ginge leicht?«
»Nein, schwer, aber es geht. Auch wenn man sich sagen muß: ›Nur noch eine Stunde, und auch drüben schlägt die Flamme empor!‹ – man beißt die Zähne zusammen und überwindet's. Und nun gar, wenn man selber kalt geblieben ist – da kostet's ja keinen Kampf, das tut man einfach als anständiger Mensch nicht.«
»Auch wenn das Weib jung und schön ist?«
»Auch dann. Man darf sich auch durch Jugend und Schönheit nicht – kaufen lassen.«
»Nun, nun!« Aber trotz des spöttischen Tons wußte der Rat ganz genau: Der Mann heuchelt nicht. So hat er's immer gehalten. ›Und trotzdem‹, dachte er neidvoll, ›wieviel hat er trotzdem genießen können!‹ Laut aber sagte er: »Also nur wenn man begehrt und begehrt wird – ›zwei Seelen und ein Gedanke‹ usw. –, wäre Widerstand unmöglich? Oder doch fraglich? Aber hast du dabei nicht an deine Jahre gedacht, und wie das Blut immer kälter wird?!«
»O du Glücklicher, wenn du das ehrlich und aus eigener Erfahrung sagst!« rief der Künstler, nicht spöttisch, nein, leidenschaftlich, ja schmerzvoll. »Ich habe Grund zu glauben, daß man erst im Schwabenalter recht erkennt, was Begehren und Beglücktsein heißt! Seltener kommt die Glut als zwanzig Jahre zuvor, aber dann ist's auch Fieberglut. Unsinn, Karl, ein junger Mensch kann vielleicht auch lechzend verzichten – du lieber Gott, auf was alles kann er noch hoffen! –, aber wer sich so im September seines Lebens fühlt?! Der Winter steht ja vor der Türe, die entsetzliche Zeit, wo alles zu Ende ist: die eigene Glut und die Fähigkeit, andere erglühen zu machen. Sich abwenden, wenn man sich sagen muß: ›Es ist vielleicht dein letzter Sieg, und dann wird's kalt um dich!‹ – wer bürgt mir, daß ich das gekonnt hätte?!«
»Und um nicht den letzten Sieg zu versäumen, hast du dein letztes Glück zertrümmert?!«
»Nein! Sondern weil ich vor solchem Pyrrhussieg zitterte, meine Frau nicht nochmals betrügen mochte. Aber wozu erst wiederholen? Für dich sind's Phrasen, und für mich war's der Zwang meiner Natur und darum mein Schicksal!«
Er zog seine Uhr und blickte zum Dampfer hin.
»Oh, du hast noch Zeit«, sagte der Rat. »Noch eine halbe . . .« Das letzte Wort blieb ihm in der Kehle stecken, so sehr interessierte ihn das Schauspiel, das sich ihm nun bot. Der Blick des Malers war endlich dem der Rumänin begegnet und blieb in ihm haften. Seine Züge spannten sich und wurden einen Schatten bleicher, er atmete rascher. ›Wie ein Jäger‹, dachte der Rat, ›dem unvermutet ein Reh aufstößt!‹ Aber der Vergleich paßte schlecht. Die junge Bojarin wurde glührot, den üppigen Körper überflog ein Zittern, aber die runden schwarzen Augen lachten dreist. Noch einen Augenblick, und der Maler wandte sich ab. Um den weichen Mund zuckte es wie Widerwillen. »Gehen wir!« Und er erhob sich.
Der Rat folgte ihm. »Du entfliehst der Versuchung?« fragte er lächelnd. »Aber es wäre auch nutzlos! Ein Fräulein, die Tochter einer Exzellenz.«
»Es wäre nicht nutzlos«, sagte der Maler kühl, ohne Betonung. »Aber sie gefällt mir nicht. Und es ist unangenehm, so mit Blicken betastet zu werden, wenn man selbst kalt bleibt.«
»Zuerst schien's nicht so.«
»Ich mußte sie mir doch erst ansehen. Eben nicht mein Geschmack. Aber nun mußt du mir auch von dir erzählen!«
»Oh, was wäre da viel zu sagen! Ein Philister, ein glücklicher Gatte und Vater! Aber du – du bist mir ja noch den Schluß deiner Geschichte schuldig. Was erwiderte deine Frau auf jenen Brief? Nichts? Natürlich! Und ließ sich sofort scheiden?«
»Nein. Gerichtlich geschieden sind wir auch heute noch nicht. Zunächst wartete sie auf meine Antwort, fast ein Jahr.«
»Alle Wetter!« rief der Rat. Wie muß sie dich geliebt haben!«
»Ja. Aber es war noch etwas anderes dabei: Verständnis. Eine richtige Frau, die gut ist, versteht alles. Sie ahnte wohl: Das ist nicht Frivolität, sondern der Kampf eines Menschen mit seinem Schicksal. Im Grunde ein tragischer Kampf, sie mochte nicht eingreifen, hoffte auf einen Sieg des Gewissens. Auch mögen ihr unsere Freunde geschrieben haben, wie es um mich stand. Ich arbeitete wie ein Rasender, lebte wie ein Mönch; ich habe mir für jene Zeit nichts, gar nichts vorzuwerfen. Und dennoch, sooft ich zur Feder griff, ihr zu schreiben, ich wagte es doch nicht. ›In einigen Tagen‹, dachte ich, ›nein, morgen schon hast du dich soweit.‹ So tat denn endlich sie, was ihr ihre Menschenwürde gebot. Auch in diesem Brief stand kein zorniges Wort. Milden Tons, fast mitleidsvoll schrieb sie, daß nun zwischen ihr und mir alles aus sei. Wünschte ich die gerichtliche Scheidung, so sei sie dazu bereit, aber auch nur dann. Die Mädchen müßten ja unter allen Umständen ihr verbleiben, sie verspreche, ihnen das Bild des Vaters ungetrübt zu erhalten, soweit dies möglich sei.«
»Und damit war's aus?! Ich an deiner Stelle wäre sofort hingereist. Ich bin überzeugt . . .«
»Da irrst du. Das war das Ende. Sie hätte mir nun ihre Arme nicht mehr geöffnet, und wenn sie gewußt hätte, daß ich mich sonst sofort vor ihren Augen erschießen würde. Ein Herz von Gold, ein Wille von Stahl.«
»Aber warum hat sie sich dann ihre Freiheit nicht von dir zurückgeben lassen?!«
»Weil sie nach mir keinen anderen lieben kann. Oder weil sie an der einen Erfahrung genug hat. Wie du willst! Übrigens ist das eine so richtig wie das andere.«
»Aber die Kinder siehst du zuweilen?«
»Nein. So sehr ich mich nach ihnen sehne. Sie kennen mich ja nicht mehr – was sollen sie bei einer flüchtigen Begegnung mit dem fremden Menschen denken, was empfinden?! Nein, für sie ist's besser so. Für mich freilich eine Strafe mehr, aber –« Er biß die Zähne zusammen und atmete tief auf. »Indes, wie's heute ist, man trägt's. Aber welch ein Leben soll das in zehn, in zwanzig Jahren werden! Weiß ich's denn, ob ich nicht dazu verdammt bin, so lange zu leben? Welch ein Alter!« Es klang wie ein Angstruf aus tiefster Brust. »Welch ein Alter!«
»Nun«, sagte der Rat, »ich hoffe noch immer.« Sie gingen während dieses Gesprächs am Quai auf und nieder und blieben stehen, als von drüben die Schiffsglocke das erste Signal gab.
»Ich kann leider nicht mit, Heinrich. Heut ist ja Dienstag! Drüben im Hotel erwarten mich die Briefe von Weib und Kindern. Sie schreibt mir täglich, die Kinder jeden Sonntag. Und derlei will sofort genossen und erwidert sein.«
»Wieviel Kinder hast du?«
»Zwei, einen Sohn, eine Tochter. Der Junge studiert schon, in Bonn, Jura natürlich. Schneidiger Kerl, Korpsstudent. Kostet viel Geld, aber was tut man nicht für die Zukunft seiner Kinder? Solche Verbindungen aus dem Korps, weißt du, nützen dann mehr als das beste Examen. Auch können wir's ja gottlob tun; du weißt, mein Schwiegervater ist so'n Schlotbaron drüben bei Dortmund. Die Fabrik wächst noch immer. Na, und das Mädel ist natürlich noch bei Muttern, gerät prächtig. Ja, Heinrich, ich darf mich nicht beklagen! Was die Karriere betrifft, die nächste Vakanz als Präsident ist mir sicher – und so weiter. Weil's dir Spaß machen wird, mein Alter: Ich bin überzeugt, daß du mir noch zur Exzellenz wirst gratulieren können. Aber was wäre dies alles, wenn ich das beste nicht hätte: das häusliche Glück.«
Sie waren nun auf der Landebrücke, mitten im Gewühl. »Ja«, fuhr der Rat trotzdem fort, es war ihm offenbar ein Herzensbedürfnis, auch dies noch zu sagen, »mein trautes Heim! Mein liebes Weib! Du kennst sie ja, nun, die Schönste war sie ja nicht eben, aber welch ein Gemüt! Übrigens jetzt, wo sie stark geworden ist, eine sehr stattliche Erscheinung. Und ich bin noch heut in sie verliebt wie als Bräutigam. Wahrhaftig ja. Siehst du, Heinrich, es wäre ja fast des Glücks zuviel, aber ich bin mir bewußt, es zu verdienen. Das darf ich sagen! Ich . . .«
Da stockte er, wurde dunkelrot und stand fassungslos da. Wie immer hatten sich auch einige Damen am Dampfersteg eingefunden, die nicht mitfahren, im Gegenteil den und jenen Ausflügler zum Dableiben veranlassen wollten. Und eine von ihnen, ein robustes Frauenzimmer mit bemalten Wangen, hatte ihn mit einem Blick freudigen Wiedererkennens begrüßt und tat nun den Mund auf, als wollte sie ihn auch noch ansprechen.
Der Künstler sah es, es zuckte um seine Lippen. Dann aber sagte er nur: »Ja, du verdienst dein Glück. Es wird jedem, wie er verdient. Auf Wiedersehen, Karl!«
Und er bestieg den Dampfer, der gleich darauf vom Ufer abstieß.
Wir saßen im Klub, unser fünf, lauter reife, zwei von uns alte Männer, und sprachen doch, was sonst nur die ganz Grünen tun, über die Frauen im allgemeinen. Weiß der Himmel, wie wir in diese Geschmacklosigkeit geraten waren, aber nun hatten wir uns darein verrannt. Die Scherze, gut und schlecht, meist schlecht, die Aphorismen, eigene und fremde, meist fremde, flogen nur so durch die dicke Luft des Rauchzimmers.
Nur einer schwieg, gerade der berufenste Mann; freilich sah man ihm den Fachmann in solchen Fragen eigentlich nicht an. Mit seinem ernsten, scharf geschnittenen Gesichte, dem klaren, raschen Blick der dunklen Augen, der schlanken, beweglichen Gestalt freilich ein schöner, aber dabei doch, wie seine Freunde von der Börse sagten, ein sehr gediegener Mann. So nennt man dort nur die Zielbewußten und Erfolgreichen; wirklich hatte auch er immer dem Einen nachgestrebt, auf reinlichen Wegen reich und berühmt zu werden, bis es ihm gelungen war. Er war nun Direktor und Alleinherrscher der größten Bank im Staat, Abgeordneter, Volkswirt und in allem ein Erster.
Wie er trotzdem die Zeit fand, immer und auch heute noch seine Studien über die Frauen zu machen, war eigentlich ein Rätsel, aber es glückte ihm. Jeden Winter hörte man von ihm mindestens eine große Geschichte; auch in dieser Saison hatte er bereits durch seine Tatkraft nicht bloß die Stadt mit billiger Kohle, sondern auch die Klatschmäuler mit einem Leckerbissen versorgt: eine junge, schöne Frau ließ sich seinetwegen scheiden; zu welchem Zweck, verstanden die Leute nicht, denn der Gatte schien duldsam, und der Direktor heiratete sie gewiß nicht. Sie nicht und keine andere; er war auch nun zu alt dazu, Ende der vierzig.
Wer ihn so sah, tüchtig und rastlos, gütig und gewissenhaft, hätte an diesen Teil seiner Lebensarbeit gar nicht glauben mögen. Auch sah er für seine Jahre frisch genug aus; selbst das braune Haar war noch voll. Nur der weiche Mund und ein jähes Licht, das in seinen braunen Augen aufblitzte und erlosch wie Wetterleuchten, verriet dem Kundigen, daß er auch hier wie in allem Ernste nur tat, was ihm der Zwang seiner Natur gebot. Gewissenlos war er trotzdem auch darin eigentlich nicht; er nickte nur eben ja, wenn ihn Frauenaugen um Antwort fragten. Schlimmeres wurde ihm nur von Leuten nachgesagt, die nie eine solche Frage in schönen Augen lesen durften.
Dieser Mann also war's, der unserem Disput als einziger schweigend mit einem leisen Lächeln um die Lippen folgte. Ob einer den Frauen Schlimmes oder Gutes nachsagte, ob er klug oder minder klug redete – und namentlich einer, ein schönbärtiger Anwalt, dozierte wirklich minder klug –, unser Fachmann hörte nur immer zu.
Aber gerade dieser Demosthenes sollte ihm endlich ein Wort entlocken, sogar eines der Zustimmung. Mit einer Wichtigkeit, als hätte er eben das erlösende Wort gefunden, zitierte der Anwalt den Gemeinplatz: »So schlecht wie ein schlechtes Weib kann kein Mann sein, aber so gut wie ein gutes auch keiner! Hab' ich nicht recht, meine Herren?« Und er sah sich triumphierend um. »Das ist noch die Frage«, erwiderte ihm der alte, sarkastische Sanitätsrat, »obwohl man's seit einigen Jahrhunderten sagt.« Und da war's, wo der Direktor einfiel: »Nein! Neu ist's nicht, aber wahr. Das ethische Empfinden geht bei den Frauen ins Extrem. Und dies gehört zugleich zu dem wenigen, was von allen gilt und sich in Worten ausdrücken läßt!«
»Nun«, meinte der Arzt, »wir – nicht alle, aber zum Beispiel Sie – wissen doch recht viel von den Frauen, und was homo sapiens weiß, kann er doch auch sagen.«
Der Direktor schüttelte den Kopf.
»Die Sache liegt, glaub' ich, nicht so einfach«, meinte er. »Seit es Menschen auf Erden gibt, treiben sie, Männer und Frauen, Psychologie des anderen Geschlechts, in der Jugend Einzel-, mit kühlerem Blut Massenpsychologie. Das muß ja so sein! Mann und Frau fühlen: ›Das ist ein Mensch wie ich und doch anders als ich, auch seelisch anders.‹ Aber wo steckt nun diese seelische Verschiedenheit? In allem. Aber fassen können wir sie nicht, eben weil sie so ungeheuer ist, und – weil wir nicht aus unserer Haut heraus können. Nur was man ganz versteht, kann man gerecht beurteilen. Wir sind ja eben – ich ein Mann und die da ein Weib, und weil wir's sind, sind wir so verschieden, im Tiefsten, im Geheimsten dem anderen rätselhaft. Und eben weil es sich um Tiefstes, um Geheimstes handelt, läßt uns nur selten, nur auf Augenblicke der Instinkt hellsehend werden; wo gibt's dafür Worte?! So helfen sich Männer und Frauen in ihrer Massenpsychologie mit der Zusammenfassung von Beobachtungen über das, was sich eben beobachten läßt! Und das gibt nur ein ganz grobes, äußerliches Bild, das in wenigem wahr ist. Nur eben im Allergröbsten. Das starke, das schwache Geschlecht, beides vom Körper gemeint, das ist wahr. Aber das schöne Geschlecht? Schon das ist nur vom Standpunkt des Mannes richtig und gilt nur deshalb seit Jahrtausenden, weil die Frauen aus Eitelkeit zustimmen; in Wahrheit sind wir in ihren Augen das schönere Geschlecht; die Natur gebietet's ihnen so. Eitel, erbarmend, kleinlich, geduldig, schlau, schwatzhaft?! Das sind die Männer auch, nur zum Teil in anderen Formen. Kurz, was wir von den Frauen wissen, können wir nicht sagen, und was wir sagen können, ist zumeist so schief, daß es nicht der Mühe wert ist, gesagt zu werden. Da ist Ihr Zitat« – er wandte sich an den Anwalt – »noch ein weißer Rabe. Das Wort schöpft das Tiefste nicht aus, aber es rührt doch ans Tiefste . . .«
»Aber ob es wahr ist?« meinte der Arzt.
»Ja, das ist wahr«, erwiderte er sehr ernst. »Weiß der Himmel, ja! Machen Sie doch nur die Augen auf, und Sie müssen es sehen, natürlich nicht immer grell, im großen, aber wahrlich deutlich genug – alles im Übermaß, das Gute, das Schlechte. Welches mehr?! Ich weiß es nicht, ich hab' beides erfahren. Schon als junger Mann beides.«
Und seine Stimme klang fast bewegt, als er fortfuhr: »Leider auch das Schlechte . . . weniges, was mir widerfahren ist, beklage ich so, als daß mir eben das Schlechteste so früh ins Leben eingriff. Freilich danke ich meinem Schicksal, daß dann auch in einigen Jahren das Beste folgte! Das eine wurde mir zum Fluch und das andere zum mindesten so weit zum Segen, als mir überhaupt noch etwas Rettung sein konnte. Ganz bin ich nicht mehr zu retten gewesen.«
Das klang so ernst, daß niemand etwas sagte. Und vollends fiel keinem bei, zu drängen: »Erzählen Sie!« Wir wußten alle, das tat er nicht. Niemals hatte jemand auch nur das harmloseste Abenteuer von ihm selbst gehört. Und nun gar heute – so bewegt hatten wir ihn kaum je gesehen.
Aber eben daran lag es wohl, daß er jetzt plötzlich in die Stille hinein sagte: »Nun, ich will's Ihnen erzählen, es spricht eigentlich nichts dagegen. Zu rühmen habe ich mich beider Geschichten nicht – das wäre ein Hinderungsgrund. Aber zu schämen eigentlich auch nicht, denn das wäre auch einer. Ich bin in beiden nur eben das Objekt gewesen. In der ersten nun gar, da wollte und handelte ich wirklich nicht viel.
An Geschichten, wie diese erste, denkt man nicht gern zurück; ich will's so kurz machen wie möglich.
Ich bin der Sohn eines Weimarer Anwalts; ich habe keine Erinnerung an ihn; er starb, als ich zwei Jahre alt war. Um so deutlicher steht mir das Bild meiner Mutter vor Augen; eine tüchtige Frau, brav und tapfer, freilich nicht eben mild; Not macht hart. Sie hatte sich und ihre drei Kinder – ich hatte zwei ältere Schwestern – in Ehren durchzubringen, durch Musikunterricht, Kostschüler, Häkelarbeit, und faßte mich weichen, verträumten Jungen etwas rauh an.
Gleichviel – ihr danke ich's, daß ich glatt, sogar als Musterschüler durchs Gymnasium kam; mein Brot hab' ich mir durch Stundengeben früh selbst verdient. Kein Wunder, daß ich in dem düsteren Licht, in der dünnen, scharfen Luft einer solchen Jugend ein reiner Knabe blieb, noch als Achtzehnjähriger, als ich zur Universität abging, von keinem unkeuschen Gedanken berührt.
Ich sollte nach Jena. Da erklärte sich – meine Mutter hatte ihm geschrieben – ein Jugendfreund meines Vaters bereit, mich als Lehrer für seinen Knaben ins Haus zu nehmen; er war Anwalt in einer anderen, bedeutenderen Universitätsstadt. Ein großes Glück; meine Mutter ließ mich freudig ziehen.
Ein Glück schien's mir auch, als ich dort war. Ein reiches, behagliches Haus, treffliche Menschen. Den Herrn des Hauses sah ich, wenn überhaupt, nur bei den Mahlzeiten, er war sehr überlastet, zudem oft in Geschäften verreist. Ein stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, wortkarg, aber freundlich, die verkörperte Ehrbarkeit. Nach dem Tode seiner ersten Frau hatte er vor vier Jahren ein Mädchen geheiratet, das dem Alter nach seine Tochter hätte sein können. Das wunderte niemand; sie war jung und schön, aber auch sehr ernst und gefestet, keine Frömmlerin, aber gleich ihrem Vater, einem Superintendenten, sehr fromm.
Auch durfte nun alle Welt mit Grund überzeugt sein, daß die Ehe glücklich war; Frau – sagen wir – Klara lebte nur für ihren Gatten, ihr Haus; der Anwalt kannte nur ein Glück, sie zufrieden zu sehen; gleich innig liebte er wohl nur das Kind, das sie ihm geschenkt hatte, ein holdes dreijähriges Mädchen. Aber auch seinen beiden Söhnen erster Ehe – der eine, Martin, mein Alters- und Studiengenosse, der jüngere, der elfjährige Fritz, mein Schüler – war der Justizrat ein Vater, wie er sein soll. Und Frau Klara war ihnen vollends die beste Stiefmutter der Welt. Aber wie vergalten sie ihr das auch!
Kurz, ein ideales Familienleben. Gleich reine Luft hatte auch bei mir daheim geweht; nur so weiche Güte war dort nicht zu finden gewesen. Täglich von neuem pries ich mich glücklich, hergekommen zu sein, denn auch mir begegneten alle freundlich, Frau Klara wahrhaft mütterlich, trotz ihrer neunundzwanzig Jahre. Sie machte zwischen Martin und mir keinen Unterschied, duzte mich sogar von Anbeginn – und ich war ja doch nur der Hauslehrer. Erwägen Sie, wie diese tausend Beweise von Zartgefühl und Wohlwollen auf mich wirken mußten. Zudem war sie schön; herrliches aschblondes Haar, ein feines, belebtes Antlitz, die Gestalt schlank und doch weich.
Ich blickte zu ihr auf wie etwa ein junger schwärmerischer Sizilianer zur Madonna; sie ist ihm eine Heilige, der Inbegriff aller Reinheit und doch zugleich die Verkörperung holdester Weiblichkeit. Für sie wär' ich mit Freuden durchs Feuer gegangen, dazu bot sich keine Gelegenheit, wohl aber konnt' ich ihr bald – im Mai schon, zu Ostern war ich ins Haus gekommen – zum mindesten einen kleinen Dienst erweisen.
Er betraf ihren Sohn Martin. Ein nervöser, linkischer, unbegabter, aber guter Junge; er hatte sich seit dem ersten Tage innig an mich geschlossen; mir allein zeigte er seine Gedichte, in denen er Bismarck, Luther und drei junge Damen – mehr kannte er nicht – in schauerlichen Reimen besang. Dann besang er auch mich, zumeist als Apoll, denn Verse machte auch ich, und ihm wenigstens gefiel ich.
Das heißt – es gehört ja zu meiner Geschichte, daß ich's sage – nicht ihm allein. Damals zuerst, in der großen Stadt, merkte ich, daß ich auf die Frauen wirkte; es war mir nicht unangenehm und machte mir doch bange; das war alles. Mein Blut schlummerte noch.
Mit Martin schien's anders. So wenigstens deutete ich's, als ich ihn eines Abends in furchtbarer Verstörung traf: ›Geh!‹ schrie er auf, als ich in sein Zimmer trat, ›ich muß allein sein!‹ Auch in den nächsten Tagen erschien er nur zu den Mahlzeiten, ein scheuer, jählings verdüsterter Mensch. Am schlimmsten war's, wenn ihn die Stiefmutter ansprach; er zuckte zusammen, wurde noch fahler, als er ohnehin war, und gab mühsam Antwort.
Sie zog, ihr Gatte war auf Wochen verreist, mich ins Vertrauen. Was Martin fehlte? Es bedrückte ihr Gemüt. Purpurrot wagte ich meine Vermutung zu stammeln, er sei wohl sehr verliebt. Sie lächelte mild und ruhig: das sei es nicht, ich möge die Wahrheit herausbringen. Aber er wies mich finster ab oder sagte weich: ›Laß mich, Heinz, das sagt man niemand!‹
Dabei verfiel er zusehends; des Nachts sah ich Licht in seiner Stube brennen und hörte ihn auf und nieder gehen, die Kollegien besuchte er nicht mehr. Da fand ich eines Tages, als ich in seiner Abwesenheit sein Zimmer betrat, die Lösung des Rätsels auf seinem Tische liegen: ein Manuskript, mit zitternder, kaum lesbarer Hand geschrieben, ein Drama. Rasch überflog ich die wenigen Blätter. Ein junger Florentiner des Cinquecento entdeckt, daß seine Mutter den angebeteten Vater schmählich hintergeht; das Ganze war eigentlich nur ein Monolog, in dem der Held verzweiflungsvoll erwägt, ob und wie er dem Vater das Furchtbare offenbaren solle.
Ich atmete auf, also nur furor poeticus war's, und beeilte mich, es Frau Klara mitzuteilen. Sie wandte sich ab; ich sah, wie ihr die dunkle Röte ins Gesicht schlug und dann fahler Blässe wich; es schmerzte sie offenbar, daß der geliebte Sohn seine Phantasie mit derlei wüstem Zeug beschmutze. Dann jedoch lächelte sie mild und ruhig wie immer: ›Gottlob, daß es nichts weiter ist! Aber sprechen will ich doch morgen mit ihm darüber. Dichten mag er in Gottes Namen – ich glaube, er hat Talent – aber doch nicht des Nachts!‹
Am nächsten Tage rief sie ihn wirklich auf ihr Zimmer und mußte ihm wohl ernstlich ins Gewissen geredet haben, nicht so auf seine Gesundheit einzustürmen, denn die Unterredung dauerte über eine Stunde, aber welchen Erfolg hatte sie auch! Mit leuchtenden Augen, von freudiger Erregung bebend, stürzte er in mein Zimmer und warf sich an meine Brust: ›Heinz, welch ein Tor war ich, welch ein Verbrecher! Und welchen Dienst hast du mir geleistet, indem du das Manuskript lasest und es der Mutter verrietest! Sie ist die herrlichste der Frauen!‹ Der Jubel schien mir zwar ein wenig überschwenglich wie früher das poetische Fieber, aber seinen letzten Worten wenigstens konnte ich beistimmen. Die herrlichste der Frauen war sie ja wirklich.
Und das war sie auch noch vier Wochen später in meinen Augen, aber nun galt ich mir bereits selber als ein Verruchter. Da stand ich eben schon in Flammen, daß ich glaubte vergehen zu müssen vor körperlicher, vor seelischer Qual.
Wie es gekommen war?! Natürlich ohne ihr Verschulden, kein Engel war je reiner. Ich hatte auf dem Gymnasium nicht allzuviel gelesen; der Kampf ums Brot behinderte mich. Nun faßte mich die Lesewut, ich saß allabendlich im Bibliothekszimmer und verschlang einen Band nach dem anderen. Sie hatte es mir gütig gestattet und nur lächelnd gemeint: ›Nicht zu viel, Heinz, hörst du – und nur gute Bücher!‹ Nun, sittlich schlechte, oder was wenigstens der Philister so nennt, gab's da überhaupt nicht – aber bis weit über Mitternacht saß ich immer da, und oft genug trieb mich erst das frühe Licht des Junimorgens ins Bett. Und wie ich eines Abends so sitze, in den Don Quichotte versunken, und vor den Fenstern lauert die schwüle, dunkle Frühlingsnacht, fühle ich plötzlich, wie sich eine weiche, warme Gestalt an meine Schulter lehnt, daß es mich glühheiß überläuft, während mir der leise Duft des gelösten Haares den Atem benimmt, und sie ist's; mit ihrem milden, mütterlichen Lächeln greift sie nach meinem Buch, entwendet es mir und drückt mir mit ihrer weichen, heißen Hand, an der die Pulse jagen, scherzhaft die Augen zu: ›Nun aber ins Bett, Heinz, es geht auf eins.‹ Und dann, mit der Hand meine Stirn streifend: ›Du fieberst ja, Heinz!‹
Ja, ich fieberte, der Funke war mir ins Blut gefallen.
Sie ging, ruhig wie immer, mit der weichen wiegenden Bewegung, die ihren Schritt fast unhörbar machte . . . Ich aber saß noch eine Stunde da, bis ich auf mein Zimmer taumelte.
Die erste schlaflose Nacht meines Lebens und eine meiner qualvollsten. Was mir alles durchs Gehirn tobte: das Entsetzen über den Trieb, der urplötzlich, übermächtig in mir wach geworden war, die Zerknirschung, diese Heilige, diese Mutter mit solchen Gedanken zu beflecken, und dabei trotzdem das Begehren, das sinnlose, sinnlose Begehren . . . Nein, nein, Worte sagen's nicht . . . Denken Sie, wie jedem von Ihnen in ähnlichen Augenblicken zumut war, und denken Sie: ich war nun achtzehn, ein junger Riese und – ich rühre sonst nie daran, weil es mich ja nicht entschuldigen kann, aber hier muß es gesagt sein – eben mit meinem Blut in den Adern . . .
Wie's nun kam – ach, was brauche ich es erst zu erzählen! Mein Fieber wurde immer toller, ich sah sie ja täglich . . . Aber ich war doch daneben auch meiner Mutter Sohn, und so peinigte mich gleichzeitig die Sünde meiner Gedanken, die Qual meines Gewissens, daß sich mir zuweilen die Sinne verwirrten. Richtete sie das Wort an mich, so fuhr ich zusammen, und wich ihr aus, wo ich konnte.
Meine Veränderung fiel ihr auf, sie benahm sich nun zu mir wie in gleicher Lage zu Martin: doppelt gütig und mütterlich, nahm bei kleinen Ausflügen meinen Arm, fuhr oft mit der Hand über meine Stirn. ›Die Reine‹, knirschte ich heimlich, ›sie ahnt nicht, welch ein Elender ich bin, und gießt nur Öl ins Feuer!‹
So auch, als ich eines Abends allein auf dem Balkon nach dem Garten zu saß. Da stand sie plötzlich neben mir, sie ging unhörbar, sagte ich schon, und auch ihre weichen Gewänder rauschten nie – wie ein Engel naht, dachte ich damals, aber auch Katzen gehen unhörbar.
›Heinz‹, sagte sie mit ihrer dunklen, etwas umflorten Stimme und faßte meine Hand, ›was ist's mit dir?! Bist du nicht wohl, oder was bedrückt dich?! Sieh mir in die Augen, Heinz‹ – sie legte mir die Hand auf die Stirn und drückte mein Haupt zurück, zu sich empor – ›und beichte!‹
Ich saß wie gelähmt, dann hoben sich meine Arme, als müßt' ich sie an mich reißen, einige Atemzüge lang flimmerte es mir vor den Augen. Schon hatte meine Hand den weichen, vollen Arm berührt, da sprang ich auf und taumelte zurück bis an die Wand.
›Nun, Heinz!‹ fragte sie nochmals und trat abermals nahe an mich heran, daß ich den Duft ihres Leibes einsaugen mußte, und ihr Atem ging über mein Gesicht. ›Bedenke‹ – ihre Stimme zitterte – ›du bist uns anvertraut!‹
Da trug ich's nicht länger und stürzte zu ihren Füßen nieder und umklammerte ihre Knie, aus schamvoller Zerknirschung, aus wahnwitzigem Begehren.
Sie ließ mich gewähren, dann aber beugte sie sich zu mir nieder.
›Mein armer Junge‹, sagte sie, ›du dauerst mich sehr. Wir sprechen darüber, wenn du ruhiger bist.‹
Sie küßte mich auf die Stirne, mir war's, als hätte mich Feuer berührt, so brennend war ihr Mund. Dann machte sie sich sanft frei und war verschwunden.
Seit dieser Szene habe ich in den nächsten Wochen nur noch auf Stunden Schlaf gefunden, und selbst dann spann sich der Schlaf nur wie ein Spinnennetz über mein zermartertes Hirn und zerriß immer wieder, und die Qual brannte und stach weiter in diesem armen Hirn und meinen Gliedern. Der Anwalt war abermals seit Wochen in Geschäften abwesend – ich mußte trotzdem immer an ihn denken, wie dankte ich ihm sein väterliches Wohlwollen! Mich rüttelte ein tiefes Grauen vor mir selbst, eine Todesangst, ich wußte nicht mehr, wo aus noch ein. Ich dachte nur immer: ›Fort, hier gehe ich zugrunde‹ – und zugleich im selben Atemzuge: ›Lieber sterben, lieber wahnsinnig werden, als sie nicht mehr sehen!‹
Und zudem: wie kurze Zeit konnte ich sie noch sehen! Sie sollte schon am sechsten Juli, zu Beginn der Schulferien, mit Fritz und ihrem kleinen Mädchen nach Kösen, dann mit ihrem Mann in die Schweiz, während für Martin und mich eine Fußreise an den Rhein geplant war; ich sah sie dann wohl erst im Herbste wieder.
Dieser sechste Juli – es gab ja auch Sekunden, wo ich mir sagte: ›Das ist der Tag, der dich errettet!‹ Aber dann kamen wieder die langen, entsetzlich langen Stunden, wo ich mit kochendem Blut, mit wirren Gedanken in meiner Stube auf und nieder taumelte und stöhnte: ›Ich ertrag's ja nicht, ich muß sie sehen, ich brauche sie, wie ich die Luft brauche, ich ersticke sonst.‹
So hatte ich die Nacht vom vierten auf den fünften Juli zugebracht. Als ich des Morgens zufällig in den Spiegel blickte, erschrak ich – da sah mir das Gesicht eines Verschmachtenden entgegen, aus dessen Augen die sinnlose Gier nach der Quelle sprüht und die Verzweiflung, sie nie erreichen zu können. Ich raffte meine Kollegienhefte zusammen und ging zur Universität – vor dem Portal kehrte ich um, ich verstand ja ohnehin seit Wochen kaum mehr, was ich nachschrieb, mir war's, als müßten mich die Mauern erdrücken.
In die Anlagen rannte ich hinaus und sank auf eine Bank und saß da in wüsten Gedanken, bis die Mittagsglocken klangen. Ich raffte mich auf: ›Nun mußt du heim!‹ – und zögerte wieder. ›Wenn du sie jetzt siehst‹, dachte ich, ›so reißest du sie in deine Arme und bist verloren!‹
Dann bezwang ich mich doch und eilte heim. Die Jungfer, die mir öffnete – Agnes hieß sie und war eine kleine, blonde Person mit einem scheuen, unhübschen Gesicht, die immer mit niedergeschlagenen Augen sprach – wich zurück, als sie mich sah. ›Die Herrschaft ist schon beim Speisen‹, erwiderte sie auf meine Frage und sah mich dann seltsam an, wie mitleidsvoll. ›Wenn Sie unwohl sind‹, fügte sie leise bei, ›so können Sie ja auf Ihrem Zimmer speisen.‹
Ich schüttelte den Kopf und trat ein, auf die Hausfrau zu, mich zu entschuldigen. Sie sah mir lächelnd entgegen, und eine Sekunde, nein einen unmeßbar kurzen Moment lang schien es mir, als stünde in ihren Augen dasselbe unheimliche Licht, das mich heute Morgen in den meinen erschreckt hatte. Nur wie ein Blitz war's und ging wieder, oder vielleicht auch war's nur eine Täuschung meiner Sinne. Denn nun sagte sie, etwas strenger als sonst, aber doch noch freundlich: ›Du hast dich verspätet, Heinz. Nun – einmal ist keinmal.‹
Ich setzte mich auf meinen Platz zwischen Fritz und Martin und vermied es, sie anzusehen. Auch sie richtete gegen ihre Gewohnheit kein Wort an mich.
Ich ging auf mein Zimmer und saß da in dumpfem Brüten. ›Morgen ist sie fort‹, das war alles, was ich denken konnte, wie ja auch einer, der zum Tode verurteilt ist, nur denkt: ›Morgen wirst du hingerichtet!‹ Als Martin kam, mir seine neuesten Verse vorzulesen, schickte ich ihn fort.
Da klopfte es nach einigen Stunden wieder – es war die Jungfer; die Frau Justizrat wünsche mich auf ihrem Zimmer zu sprechen. Und als ich mich mühsam aufrichtete, murmelte sie: ›Sie scheinen krank, Sie könnten sich ja entschuldigen!‹
Ich aber ging zu ihr.
Sie empfing mich in ihrem Boudoir, neben dem großen, gemeinsamen Schlafzimmer; ich hatte den kleinen, mit weichen Teppichen, Vorhängen und Sitzen ausgestatteten Raum noch nie betreten. Auch dämmerte es schon. Das Herz klopfte mir zum Zerspringen.
›Setz dich, Heinz‹, begann sie und wies auf den Fauteuil heben dem Sofa, auf dem sie saß.
Ich gehorchte. ›Mein Herr und Gott‹, dachte ich, ›erhalte mir meinen Verstand, laß mich nichts Wahnwitziges tun!‹
›Du weißt, ich reise morgen‹, fuhr sie halblaut fort, stockend, als fiele auch ihr das Reden schwer. ›Und da ist's meine Pflicht zu wissen, wie's um dich steht. Schlimm, fürcht' ich. Was ist's?‹
Da stürzte ich wieder zu ihren Füßen nieder, wie eine Woche zuvor auf dem Balkon, und begann zu weinen, zu weinen, ich glaube, ich habe nie vorher noch nachher im Leben so geweint.
Sie schien sehr bewegt. ›Ich errate‹, murmelte sie, ›o mein armer Junge, was fangen wir nun mit dir an!‹
›Schicken Sie mich nicht fort‹, schrie ich auf und umfaßte ihre Knie, ›um Gottes Erbarmung willen, nur das nicht!‹
›Und doch wird es sein müssen‹, fuhr sie fort. ›Dir geht's wirklich, wie du es mit Martin falsch vermutetest, da muß etwas geschehen! Du bist ja der einzige Sohn deiner Mutter, auch mein Mann hat dich sehr lieb! . . . Ich will nicht fragen, wen du so wahnsinnig liebst – das ist gleichgültig – jedenfalls lebt sie hier, und es gibt nur eine Rettung für dich, sie einige Zeit nicht zu sehen.‹
›Erbarmen!‹ schrie ich auf. ›Ich bin ja ein Verruchter, aber es belästigt Sie ja nicht!‹
Durch ihre dunkle, vibrierende Stimme klang ein leises Lachen.
›Nicht mich, aber dich. Wir wollen's nicht so tragisch nehmen, Heinz! Du gehst morgen mit mir nach Kösen, damit basta! Dann hast du deine Sirene aus den Augen, und Fritzchen bleibt nicht ganz ohne Unterricht. Die Kollegien besuchst du ja ohnehin nicht mehr!‹
Mir wirbelte das Hirn . . . mit ihr nach Kösen! Diese Heilige war ahnungslos – natürlich beurteilte sie alles aus ihrer eigenen Reinheit heraus.
›Du bist wohl sehr unglücklich?‹ fragte sie und strich mir das Haar aus der Stirne. ›Aber es muß sein, und wenn du willst, so hör' ich in Kösen deine Klagen geduldig an.‹
Ihre glühenden Lippen streiften meine Stirne. ›Und nun geh und pack deinen Koffer.‹
Sie verschwand im Schlafzimmer, ich aber taumelte auf meine Stube.«
»Alle Wetter!« sagte der Sanitätsrat, »die Sorte ist auch mir unter die Finger gekommen, aber in solcher Qualität doch noch nicht!«
»Mir auch nie wieder«, sagte der Erzähler. »Ja, wenn der Mensch Glück hat, so kommt er gleich mit seiner ersten Liebe an die Rechte.
Nun, und in der Sommerfrische kam dann alles, wie es kommen mußte. Aber es ist doch des Erzählens wert, weil es, wie Sie sagten, für die Qualität bezeichnend ist.
In Kösen bezogen wir am nächsten Tage eine Villa am Ufer der Saale, nahe der ›Wilhelmsburg‹, hoch über dem Städtchen; ein sonderbar gebautes Haus mit einem Turm, rings ein schöner, großer Garten. Das Turmzimmer war mir eingeräumt. Aus meinen Fenstern öffnete sich eine herrliche Aussicht ins Saaletal, auf die Rudelsburg hin.
Ich warf kaum einen Blick darauf. Wie daheim saß ich nun hier an meinem Tische, mit geschlossenen Augen, die Fäuste geballt, daß mir die Nägel schmerzhaft ins Fleisch drangen, und dachte und fühlte und begehrte sie, nur sie.
So traf mich die Jungfer, die mich zum Abendessen rief. Ihr Blick streifte den noch geschlossenen Koffer, und dann mich, wieder, wie mir's schien, mitleidig. Das machte mich verlegen; erriet sie, was in mir vorging?! ›Ich bin noch nicht zum Auspacken gekommen‹, murmelte ich. Sie erbot sich, es für mich zu besorgen, und reichte mir eine Bürste, ich steckte noch in den Reisekleidern.
Hastig machte ich mich zurecht und trat ins Speisezimmer.
Sie saß bereits mit Fritz bei Tische und drohte mir lächelnd mit dem Finger. ›Zweimal ist einmal, Heinz. Aber du warst wohl eben im besten Dichten?! ›An die Entfernte‹ – nun, ich will's noch einmal verzeihen!‹
Ich stammelte eine Entschuldigung, sie versuchte ein gleichgültiges Gespräch, erzählte unter anderem, sie habe ein Telegramm ihres Mannes aus Köln; er komme erst am zwölften Juli heim; der Ärmste würde sich dann über einen Monat in der Fremde herumgequält haben; ich gab eine zerstreute Antwort. Essen konnte ich vollends nichts, um so mehr trank ich von dem roten, schweren Ungar, der, gegen den Brauch des Hauses, diesmal auf dem Tisch stand.
Als Fritzchen ins Bett geschickt war, lud sie mich zu einem Spaziergang im Garten ein.
Es war ein schwüler Abend, der Mond schien matt durchs dichte Geäst; in meinen Adern tobte das Begehren und der ungewohnte Wein. Als sie sich auf eine Bank setzte und mild, aber entschieden befahl: ›Nun beichte, Heinz‹, da tat ich's. In der Haltung, die ich ihr gegenüber einnehmen mußte, auf den Knien, das Haupt in die weichen, duftenden Falten ihres Gewandes gepreßt, stammelte ich ihr zu, was an Glut und Qual in mir war.
Sie hörte schwer atmend zu, ich fühlte auch sie beben, aber sie stieß mich nicht zurück. Erst als ich, meiner nicht mehr mächtig, sie an mich riß und mein Mund den ihren suchte, entrang sie sich mir.
›Um Himmels willen, Heinz. Laß uns gut, laß uns rein bleiben! Bedenke, ich wußte nicht, wie es um dich stand. Und wie's um mich steht, weiß ich auch erst seit diesem Augenblick. Sei barmherzig, Heinz. Wir wollen morgen darüber reden.‹
Und sie entwich ins Haus.
Am nächsten Abend hatte ich Klarheit: die Herrliche liebte auch mich. Sie hatte es nicht geahnt und für mütterliches Wohlwollen gehalten, was sie zu mir zog.
Und nun sie's wußte – was nun?!
Todesbang saßen wir im Garten, Hand in Hand – zwei arme, reine, hilflos der Leidenschaft preisgegebene Menschen, und stammelten einander zu, was uns erfüllte – jetzt den Entschluß zu entsagen, im nächsten Augenblick die Erkenntnis, daß dies für uns beide schlimmer sei als der Tod.
›Ich bin älter als du‹, sagte sie endlich, ›schuldiger als du – laß mir die Entscheidung. Morgen, Heinz, auf morgen.‹
Aber diesmal konnte sie nicht hindern, daß ich zum Abschied ihren Mund, ihr Antlitz mit Küssen bedeckte.
Jedoch auch am Tage darauf hatte sie sich natürlich noch keine Klarheit erkämpft. Das mußte selbst ich in meinem Fieberwahn verstehen. Welche Entscheidung für eine keusche Frau! Ein achtzehnjähriger Jüngling, der Schützling ihres Gatten! Und sie liebte diesen Jüngling wie er sie. Ich freilich wußte einen Ausweg: einige Stunden des Glücks und dann der gemeinsame Tod in der Saale. Aber das verwarf sie um meinetwillen, nur um meinetwillen.
Etwas anderes schlug sie vor: eine Trennung, wenn auch nur für wenige Tage. Es war Mittwoch, der neunte Juli, ich solle für einige Tage zu Mutter und Schwestern gehen, einen Besuch schuldete ich ihnen ja ohnehin.
Ich sträubte mich, ich konnte sie nicht verlassen; ich sagte schon, ich hatte dabei immer die Vorstellung, als müßte ich fern von ihr ersticken. Aber sie bestand darauf, ich müsse; schon am Montag, dem vierzehnten Juli, dürfe ich wiederkommen, aber diese kurze Frist des Besinnens verlange sie in einer Frage, die über unser beider Leben entscheide. Da gab ich nach.
Aber ich hatte mehr versprochen, als ich halten konnte. Zwei Tage war ich in Weimar, da ertrug ich's kaum mehr. Denn fast ebensosehr wie die Sehnsucht nach ihr quälte mich der prüfende, traurige Blick meiner Mutter. Sie fragte mich nur einmal, gleich nach meiner Ankunft: ›Du siehst übel aus, Heinz, bist du unwohl?‹ Ich stotterte etwas von Kopfweh und Ermüdung; es fiel mir entsetzlich schwer; gelogen hatte ich bisher nie im Leben, nun mußte es sein – ach, es war nicht das Schlimmste, was ich tat, ich Elender, der ich danach brannte, das Glück meines Wohltäters zu vernichten . . .
Von Stunde zu Stunde steigerte sich meine Qual – und doch, ihr mußte ich gehorchen.
Da kam Sonnabend morgens ein Telegramm. Ich öffnete es bebend und hatte Mühe, nicht umzusinken. Vom Justizrat: ›Bin morgen in Kösen, erwarte dich mittags dort.‹
Mein Hirn wirbelte; er war ja erst heute daheim eingetroffen; offenbar hatte er einen Brief von ihr vorgefunden, in dem sie ihm alles gestand; nun eilte er nach Kösen und befahl mich hin, Gericht über mich zu halten.
Wohl eine Stunde saß ich in verzweifeltem Brüten, dann raffte ich mich auf; ich mußte sofort zu ihr, da hatte ich mindestens noch heute Gewißheit.
Als ich meiner Mutter das Telegramm vorwies, atmete sie erleichtert auf, sagte dann aber doch in einem Ton so weicher, zittriger Sorge, wie ich ihn nie von ihr vernommen hatte: ›Heinz, denk' immer daran, daß du braver Eltern Kind bist und meine einzige Hoffnung!‹
Die Ärmste, wenn sie geahnt hätte, wie leicht dies rührende Wort jetzt wog! Ich fühlte, ich dachte nur eins: ich überleb's nicht, von der Geliebten zu lassen, überlebe die Schmach nicht, vor ihrem Mann zu stehen wie ein ertappter Dieb.
Auf dem Weg zum Bahnhof kam ich an einer Waffenhandlung vorbei, trat ein und kaufte mir einen Revolver samt Munition.
Gegen sechs Uhr war ich in Kösen. Auf der Saalebrücke kam mir Fritzchen entgegengelaufen, ein Papier in der Hand.
›Da bist du ja wieder!‹ rief er fröhlich. ›Morgen kommt auch Papa, ich soll ihm eben telegraphieren.‹
Und er reichte mir das Papier. ›Innigsten Dank, daß du meinen sehnsüchtigen Wunsch erfüllst. Ich erwarte dich also morgen zehn Uhr vormittags am Bahnhof. Hoffentlich kannst du erst montags zurückreisen; wo nicht, so danke ich dir schon für die wenigen Stunden. Herzensgruß von deiner Klara.‹
Es war also, wie ich vermutet hatte; er kam auf ihren Wunsch! Ich starrte auf das Blatt. Die Buchstaben änderten sich nicht: mein Todesurteil . . . Dann gab ich das Blatt dem Knaben und eilte nach der Villa. Sie war auf ihrem Zimmer; ich ließ mich sofort bei ihr melden.
›Warum schon heute?‹ rief sie mir mit erstickter Stimme entgegen; ihr Gesicht war blaß vor Zorn.
Ich reichte ihr das Telegramm des Justizrats.
›So – o!‹ sagte sie langgedehnt. ›Dann bist du freilich unschuldig. Und die Angst hat dich schon heute hergejagt?! Sei ruhig, er will über Martin oder Fritz mit dir reden! Nun, es ist mir peinlich genug, daß ihr morgen hier zusammentrefft, aber das muß nun getragen sein! Ich könnt' ihm doch den Besuch nicht verbieten.‹
›Keine Lüge!‹ rief ich verzweiflungsvoll und sagte ihr, woher ich die Wahrheit wüßte.
Sie aber: ›Nun wohl, dann sollst du auch alles wissen! Ja, ich habe ihn gebeten, morgen zu kommen, nicht um ihm etwas zu gestehen – um deinetwillen, Heinz, muß ich schweigen, denn mir würde er verzeihen und dich aus dem Hause jagen –, sondern um vor der schwersten Entscheidung meines Lebens noch einmal mein Herz zu prüfen, was es für ihn empfindet. Das bin ich meinem Kinde schuldig, nach mir frage ich nicht mehr. Ich bleibe unselig, wie immer ich mich entscheide, unseliger noch, wenn ich dir entsage!‹
Und dann wild ausbrechend: ›Ich habe all die schlaflosen Nächte zu Gott gefleht, daß er mich vor dir errette, aber ich hoffe es nicht mehr!‹
Sie warf sich in meine Arme und küßte mich toll, dann stieß sie mich zurück: ›Und nun geh, und heute will ich dich nicht mehr sehen.‹
Ich gehorchte; welche Nacht ich in meinem Turmzimmer verbrachte, nein, das läßt sich nicht erzählen.
Am Morgen brachte mir die Jungfer das Frühstück. Die Frau Justizrat gehe mit Fritzchen zum Bahnhof; sie bitte mich, die Herrschaften dann vor der Villa zu erwarten.
Kurz nach zehn sah ich sie am Arm ihres Mannes herankommen, sie blickte in zärtlichem Geplauder zu ihm auf. Aber verzweifelter, als ich ohnehin war, konnte mich auch dieser Anblick nicht mehr machen.
Ich muß übel ausgesehen haben; der Justizrat schüttelte den Kopf, als er mich erblickte, reichte mir dann jedoch, nur sehr ernst, aber nicht unfreundlich, die Hand.
›Da hast du dir in deinem Leichtsinn eine böse Geschichte eingebrockt‹, sagte er. ›Komm um zwölf zu mir; die Forderung muß sich mindestens auf Säbel ändern lassen, nötigenfalls mit Hilfe des Offizierskorps!‹
Ich starrte ihn fassungslos an und wollte fragen; da sah ich einen Wink ihrer Augen und verstummte.
Einige Minuten später – ich war in den Garten gegangen – kam sie mir fliegenden Schritts nachgeeilt. ›Deine Mutter hat ihm geschrieben, daß du so verstört bist. Darum rief er dich her. Ich mußte also einen triftigen Grund erfinden. Du erinnerst dich an den Leutnant von Prillwitz?!‹
Ich mußte mich besinnen; erst als sie mir darauf half, fiel mir bei: ich hatte ihn kurz, nachdem ich ins Haus gekommen war, bei einer Soiree dort getroffen: ein blutjunger Mensch mit einem hübschen frischen Gesicht.
›Nun denn, er steht jetzt in Garnison in Weißenfels. Du hast ihn hier am Abend nach unserer Ankunft im Gasthof ›Zum mutigen Ritter‹ getroffen, ihr seid, beide etwas angezecht, in Streit gekommen, du hast ihn auf Pistolen gefordert . . .!‹
›Aber wenn der Leutnant gefragt wird?‹ rief ich.
›Er wird nicht gefragt; du tust, wie ich's wünsche!‹
Nun, ich tat's. Zum Glück brauchte ich nur immer ja zu sagen; der Justizrat kannte die ganze Geschichte auf das genaueste. Natürlich hielt er mir auch eine kräftige Strafpredigt. Dann jedoch schloß er: ›Nun aber, Kopf auf, Heinz! Meine Frau wird dem Leutnant schreiben, sie kennt ihn und seine Familie näher, noch, von ihrem Elternhause her. Ob sie das Duell verhindert, bleibt abzuwarten. Aber daß du heil bleibst, verbürgt sie. Und nun geh, schreib deiner armen Mutter und laß mich nie wieder solche betrunkenen Geschichten von dir hören.‹
Nach dem Mittagessen zogen sich die Gatten zurück. Ich saß auf meinem Zimmer, las die gedruckte Gebrauchsanweisung des Revolvers und versuchte die Läufe danach zu laden. Noch war ich nicht damit zustande gekommen, als Fritzchen zu mir kam: Mama habe ihm versprochen, daß ich ihm die Rudelsburg zeigen würde.
Da zeigte ich ihm denn die Rudelsburg. Kinder sind scharfsichtige Beobachter; der Junge war all die Stunden gedrückt; auf dem Rückweg blieb er plötzlich stehen und brach in Tränen aus. ›Was hast du, Junge?‹ – ›Du hast heute andere Augen bekommen – ich fürchte mich vor deinen Augen!‹
Das Abendessen nahmen wir wieder gemeinsam ein. Hätte ich bisher zweifeln können, wie sich das Herz der wahnsinnig geliebten Frau entschieden hatte, nun mußte ich es erkennen. Auch der Justizrat war zärtlicher, als ich ihn je gesehen hatte.
Nach dem Abendessen nahm er von mir Abschied; er wollte noch heute, kurz vor elf zurückreisen. ›Also‹, sagte er, ›du überläßt alles meiner Frau!‹ Dann gingen die beiden noch in den Garten, ich auf meine Stube.
Ich zog wieder den Revolver und die Anweisung hervor und versuchte nochmals das Laden. Es schien zu glücken; ob es richtig war, wußte ich freilich nicht.
Das mußte vor allem probiert sein. Ich schlich mich aus dem Hause, die Höhe des Hügels empor, an dessen Abhang die Villa lag. Die Nacht war mondhell; auf der Höhe stand eine alte Linde; ich trat auf einige Schritte an den Stamm heran und drückte los.
Die Kugel fuhr tief in den Stamm; ich konnte die Stelle deutlich sehen, betastete sie auch. Die Waffe war also in Ordnung.
Dann wollte ich wieder auf meine Stube zurück; nun waren noch die Briefe zu schreiben, an meine Mutter, an sie, vielleicht auch an den Justizrat. Ja, auch an ihn, meine Schuld an ihn zahlte ich ja mit dem Leben, jedoch meinen Dank mußte ich ihm sagen. Aber vor dem Hause hielt der Wagen, der ihn zum Bahnhof bringen sollte, er stand am Schlage und wartete nur auf seine Frau.
›Du bist's?‹ fragte er erstaunt. ›Wo warst du?! Hast du den Schuß gehört?! Meine Frau ist sehr darüber erschrocken. Hier gibt's ja keine Jagd!‹
Ich murmelte etwas vor mich hin und ging. Aber auf dem Flur kam sie mir entgegen.
›Gottlob!‹ schluchzte sie auf, als sie mich erblickte, ›du lebst! Ich weiß, was du vorhast. Ich ahne, wozu du den Schuß im Freien abgegeben hast! Erwarte mich gegen Mitternacht, wir gehen zusammen!‹
Kurz vor zwölf trat sie bei mir ein. Als sie im Morgengrauen schied, nahm sie den Revolver mit.«
Der Erzähler verstummte und strich sich über die heiße Stirn. Es währte wohl eine Minute, bis er fortfuhr: »Ich weiß, Ähnliches hat sich zuweilen begeben. Das ist immer ein Unglück für einen jungen Menschen, wie ich damals war. Auch hat jeder nach solcher Erfahrung das Recht zu klagen, daß er an eine Schlechte gekommen sei, jedoch es geht vorbei und wirkt nicht nach. Mit dieser Frau aber war's doch noch was Besonderes, was Ungewöhnliches. Sie war wirklich eine Schlechteste. Und das werden Sie nun erst erkennen.
Sie hatte ihr Ziel erreicht, aber sie wollte auch ferner behaglich dahinleben, ohne alle Furcht vor tragischen Geschichten. Der Revolver ging ihr nicht aus dem Sinne; den einen hatte sie mir genommen, es gab andere zu kaufen. Und ewig konnte die Historie mit dem dummen Jungen nicht dauern, keinesfalls über die Kösener Wochen hinaus; variatio delectat, und selbst davon abgesehen, schon aus Klugheit ging's nicht länger. Er konnte sich ja nicht verstellen; kam er zum Herbst wieder ins Haus, so verriet er sich und sie in der ersten Stunde. Es galt also das Scheiden vorzubereiten, ein Scheiden ohne Lärmen, ohne Aufregung.
Sie dachte sich's wohl auch diesmal zunächst so leicht wie sonst. Auf den Rausch folgt der Katzenjammer; man ist eben einander satt geworden und scheidet mit einer wehmütigen Phrase, aber innerlich sehr vergnügt.
Nun, dazu war hier keine Aussicht, das sagte ihr ihre Schlauheit sehr bald. Ich war jung und unerfahren wie keiner meiner Vorgänger, schon das erschwerte die Sache; vor allem aber: mein Gemüt war noch so unverderbt. Ich war ihr Sklave, aber ich empfand noch wie früher. Sie war mir keine Heilige mehr, aber ein reines Weib, von demselben Blitzstrahl der Leidenschaft getroffen wie ich, zu demselben Schicksal verdammt wie ich. Wir waren schuldig geworden, ja, aber nur eben, weil wir Menschen waren. Und es gab ja eine Buße dafür, ob heute, ob in Wochen, das blieb sich gleich. Es gab eine Buße, und wir wollten sie zahlen.
Sie sah ein: dagegen war nichts zu machen, solange sie auf ihrem Piedestal blieb. Was mich an sie band, mich zu dieser unheimlichen Auffassung zwang, war ja nicht bloß mein Blut, sondern auch meine Verehrung für sie, meine Meinung, daß unsere Schuld eine ungeheure sei. Das mußte sie mir benehmen, mußte also selbst hinabsteigen und dabei mich hinabziehen, so tief, bis wir beide im Kot waren und uns da endlich richtig verstanden.
Das aber fiel ihr nicht leicht; es kostete sie einen bitteren Kampf zwischen ihrer Klugheit und ihrem – ich finde kein anderes Wort – ihrem Künstlerstolz. Ich habe nie einen Menschen gefunden, der auch nur fast ebenso gut heucheln konnte, und dabei so stolz darauf war, es zu können.
Darum heuchelte sie auch weit mehr als nötig und immer und gegen jedermann. Es gibt ähnliche, nur minder schlechte Frauen, denen es zuweilen ein ungestümes Bedürfnis ist, sich gehenzulassen, mindestens einen Menschen zu haben, dem sie sich in ihrer ganzen Verderbtheit offenbaren können; ihr fehlte jede Ehrlichkeit, selbst die des Zynismus. Sogar ihrer Zofe, die doch ihr Leben kannte, deren Hilfe sie nicht entbehren konnte, spielte sie immerzu Lustspiele und Tragödien vor, ohne jede Nötigung; das arme Geschöpf war durch einen Makel seiner Vergangenheit völlig in ihrer Hand. Und nun zwang sie das Bangen vor diesem täppischen Jungen und seiner Seele, sich zu zeigen, wie sie war. Es mußte sein, die Klugheit siegte über den Künstlerstolz.
Natürlich ging's sachte, Schritt für Schritt. Ich mag nicht alles erzählen; nur so einige Proben. Erster Tag: Sie hatte, erfuhr ich, ihren Gatten nur der Versorgung wegen genommen, obwohl er ihr immer gleichgültig gewesen sei. Zweiter Tag: nicht bloß gleichgültig war er ihr schon damals, sondern unausstehlich wie jetzt; auch liebte sie einen anderen, dessen Weib sie nie werden konnte. Dritter Tag: nur um dieses anderen willen hatte sie den Justizrat geheiratet, um dem Manne ihrer Neigung angehören zu dürfen. Er hatte sie aber bald verlassen, der Schurke.
Nun eine kurze Schonzeit, dann eine zweite Geschichte. Sie habe sich nach diesem Erlebnis all die Jahre so entsetzlich einsam gefühlt, bis vor wenigen Monaten, im Frühling, eine neue Leidenschaft in ihr Leben getreten sei. Leider wieder für einen Unwürdigen . . . Auch sonst sei viel Unglück dabei gewesen: Martin habe zufällig Verdacht geschöpft, und sie habe, durch meine Entdeckung auf seinem Schreibtisch gewarnt, mit Mühe die Gefahr abgewehrt.
Wie das auf mich wirkte? Natürlich litt ich entsetzlich, vielleicht mehr als je nachher im Leben, ich glaube wirklich, es war meine schwerste Zeit. Solange ich irgend konnte, verteidigte ich sie vor mir selbst, suchte sie noch immer zu sehen wie bisher. Sie war gut und rein, aber über ihr Blut, über die Leidenschaft hatte sie eben keine Macht. Wie vollends durfte ich sie anklagen?! Sie betrog ihren Gatten, ich meinen väterlichen Freund! Freilich, verantwortlich waren wir doch für unser Handeln, Gott und unserem Gewissen und den anderen Menschen, wir mußten eben für unser Blut mit unserem Blut zahlen. Nur soweit also änderten sich zunächst meine tragischen Gedanken, daß ich nun dachte: ›So wird denn die Buße, die sie für mich zahlt, auch für die anderen gelten!‹
Aber dabei konnte es ja nicht bleiben; meine Gedanken mußten sich weiter spinnen. Die Liebe, die Leidenschaft, was waren sie im Grunde, wenn sie Menschen wie uns, ein Weib wie sie zu Verbrechern machten?! Mir begann vor dem Rausch der Sinne zu grauen – ich trank nicht mehr wie ein Verschmachtender, ohne zu denken, ich begann zu grübeln. Nein! Das war nicht allen Menschen auferlegt, andere waren eben stärker, reiner als ich, auch als sie. Dann aber wieder: stärker als sie vielleicht, aber nicht reiner! Was konnte sie dafür, daß jene beiden ersten Menschen, die sie umworben hatten, Schurken waren, daß sie meinem sündigen Begehren unterlegen war?! Dies alles stammelte ich ihr in wirren Worten zu und trank dann neuen Rausch von ihren Lippen.
Natürlich erschreckten sie diese Bekenntnisse. Der dumme Junge nahm's noch immer so schwer. So oft ich von der ›Buße‹ sprach, lachte sie gezwungen auf: ›Das findet sich, mein Junge!‹, blieb aber für einige Minuten verstimmt. Immerhin war ein kleiner Fortschritt zum Besseren wahrnehmbar: ich machte mir nun schon Gedanken über ihren Charakter. Sie mußte nur eben noch weiter hinabsteigen.
Nun nahm sie aber gleich einige Stufen auf einmal – die Zeit drängte ja, es war der achte August, in einer Woche sollte sie mit ihrem Manne in die Schweiz. Da kam nämlich die Jungfer zu mir, mich ganz aufzuklären. Das Geschöpf übernahm die Aufgabe vermutlich nicht ungern, aus Haß gegen die Herrin, aus Mitleid für mich. Ich glaubte ihr nicht, als sie mir sagte: sie habe auf meinem Schreibtisch die Briefe meiner Mutter an mich gelesen; ich dürfe schon um der armen Frau willen nicht zugrunde gehen – obwohl es wohl die Wahrheit war. Und als sie nun mit ihrem Dekameron beginnen wollte, wies ich ihr die Türe und eilte in heller Entrüstung zu der Geliebten, es ihr zu melden.
Sie hatte gerade Besuch: jenen Leutnant von Prillwitz, dem sie ihrem Manne gegenüber eine Rolle in der Komödie zugewiesen hatte. In der Besorgnis, daß sich der Justizrat an ihn wenden könnte, hatte sie ihm, wie sie mir den Tag zuvor gesagt hatte, geschrieben, ihn für heute hierher bestellt. Er war auch gehorsam aus Weißenfels herübergekommen.
Als ich nach kurzem Klopfen eintrat, unterbrach ich sie offenbar in einem erregten Gespräch. Beider Wangen flammten; besonders der junge Offizier schien vor Unwillen außer sich. Ich konnte es ihm nicht verargen; sich so in einen fingierten Ehrenhandel hineingezogen zu sehen, war niemand angenehm, am wenigsten einem Offizier.
Indes lief das Gespräch glimpflicher ab, als ich gedacht hatte.
›Es ist ja nichts weiter dabei‹, sagte sie, lachend. ›Es erfährt's ja außer uns vieren keine Seele. Meinem Manne habe ich schon geschrieben, daß die Sache durch eine Abbitte von Heinz ausgeglichen ist. Fragt er Sie danach, so brauchen Sie's nur eben zu bestätigen.‹
Er lachte verlegen auf und drehte an seinem Schnurrbärtchen. ›Na, in Gottes Namen, auf Ihren Befehl! Aber . . . ‹ Er warf einen Blick auf mich und räusperte sich.
›Richtig‹, sagte sie, ›Sie haben ja noch einen Auftrag Ihrer Schwester! Wenn du die Güte haben willst, Heinz. Ich lasse dich dann rufen.‹
Und ich ging.«
»Das war durchsichtig!« meinte einer der Zuhörer. »Und Sie ahnten nichts?!«
»Nein! Wie auch?! Eher hätte ich daran glauben mögen, daß die Saale bergauf fließen könne, als ihr derlei zuzumuten. Und eine Stunde später, als der Offizier endlich gegangen war, glaubte ich vollends wieder felsenfest an sie. Denn als ich ihr nun mein Gespräch mit Agnes erzählte, da siegte der Künstlerstolz über die Klugheit. Sie war in heller Entrüstung: das niedrige Geschöpf, das sie verleumdete, müsse sofort aus dem Hause. Aber beim Abendessen wartete Agnes auf, als wäre nichts geschehen, und zwei Stunden später hatte die Klugheit gesiegt.
Da kam Klara zu mir, schöner als je, und beichtete, abwechselnd totenblaß und errötend – das nämlich konnte sie nach Belieben, wie sie es technisch machte, weiß ich nicht; auch weinen konnte sie, wenn es ihr paßte –, sie sei ein schlechtes Weib, leichtfertig, meiner reinen Glut nicht würdig, aber eine Heuchlerin sei sie nicht. Sie wolle mir selbst alles erzählen. Und so erfuhr ich zu den zwei Geschichten, die ich schon kannte, drei neue. Der künstlerische Stil war nun ein anderer; leicht umrissene Novelletten, in denen von der verzehrenden Macht der Leidenschaft nicht mehr viel die Rede war.
Was ich dabei litt – aber das malen Sie sich selbst aus! Nur was mir das furchtbarste war, muß ich sagen, das war die tolle Glut in meinen Adern, während sie so dicht vor mir saß und alles besudelte, woran ich hing, vor allem sich selbst. O das Blut, das verdammte Blut.
Sie aber sagte sich, während ich so unter ihrem Blick erbebte: ›Nun verachtet er mich, das ist gleichgültig. Aber er beginnt jetzt auch sich selbst zu verachten, daß er mich dennoch begehrt, und das ist nützlich. Nur muß er das noch gründlicher tun; wer bis an die Ohren im Schlamm steckt, drückt keinen Revolver mehr los!‹
Und darum fuhr sie nun fort: ›Ich weiß, Heinz, du bist ebenso gut, wie ich schlecht bin, und darum wirst du vielleicht schon nach dem, was du jetzt von mir weißt, für immer von mir gehen. Und vollends wirst du es tun, wenn du erfährst, wie ich von Anbeginn gegen dich war, sonst wärest du nicht besser als ich. Du bist es, und weil ich dich rasend liebe, so ist's mir schlimmer als der Tod, auch dies über die Lippen zu bringen. Aber ich darf dir gegenüber nicht mehr lügen, das läßt mein Gewissen nicht zu.‹
Und nun beschmutzte sie mir jedes Wort, jeden Blick, jeden Kuß, den sie mir geschenkt hatte. Ich hatte ihr eben von Anbeginn gefallen, und sie war der Schüchternheit meiner achtzehn Jahre zu Hilfe gekommen. Das war alles!
Nun aber noch der Schlußeffekt. Wie ein dumpfes, stumpfes Weh hatten immer die Erinnerungen an den Tag, wo sie mein geworden, in einem Winkel meines Bewußtseins gelauert; ich konnte, ich wollte mir nicht erklären, warum sie ihren Mann gerufen hatte. Nun erklärte sie mir auch dies.«
Die Stimme des Erzählers brach sich, auch in der Erinnerung ging es ihm noch sichtlich nahe.
»Nun – und?« fragte der Schönbärtige. »Nun wußten Sie endlich, woran Sie waren, und sagten es ihr?!«
»Bewahre«, meinte der alte Arzt. »Nun blieb er zwei Stunden auf seiner Stube wie vernichtet sitzen, dann schlich er an ihre Türe und bettelte, bis sie ihm auftat!«
»Ja«, sagte der Direktor. »So war's. Nun hatte sie mich so tief herabgebracht, wie sie wollte.«
»So kommt's meistens«, sagte der alte Herr. »Zuweilen freilich geht in derlei Geschichten doch schließlich ein Revolver los. Eine Tragödie aus ähnlichen Beweggründen ist mir sogar aus meiner eigenen Erfahrung bekannt. Der junge Mensch war auch nicht viel älter als Sie, und aus der Liebe war eben Haß geworden. Haß gegen seine Verderberin.«
Der Erzähler nickte.
»Das kann niemand besser verstehen als ich. Und auch in meiner Geschichte ging schließlich etwas los, freilich kein Revolver, sondern – ein Säbel! Und ob es dieses Säbels bedurft hätte, um der Geschichte einen blutigen Abschluß zu geben, weiß ich auch nicht. Vielleicht hätte er trotzdem nicht gefehlt. Vielleicht, sag' ich. Denn es liegt mir wie ein Schleier über den nächsten Tagen. Ich kann nur sagen: dachte ich nicht an ihre Küsse, so dachte ich an den Revolver.
Aber da sauste der Säbel auf mich nieder und hieb alles entzwei: den Kampf in meiner Seele und die Marter im Hirn.
Es war am Sonntag, dem vierzehnten August, ihre Koffer wurden schon gepackt. Da schickte sie mich gleich nach dem Speisen mit Fritzchen nach Naumburg; ein Bürgerverein führte dort die ›Hussiten vor Naumburg‹ auf, und es war dem Knaben lange vorher versprochen worden, daß er hin dürfe. In Naumburg kreuzten sich damals die Züge aus und nach Thüringen.
In einem der Coupés nach Kösen nun sehe ich, als wir aussteigen, den Leutnant von Prillwitz; als er mich erblickt, fährt ein befriedigtes Lächeln über sein Gesicht. Er fährt davon. Ich war nie eifersüchtig auf ihn gewesen, selbst in den letzten Tagen nicht. Aber nun zuckt mir's durchs Hirn: ›Sie hat ihn zu sich bestellt – selbst diese Schmach tut sie sich und dir an!‹ Mir flimmert's vor den Augen; ich fasse die Hand des Knaben fester, wie um mich zu halten, und trete mit ihm aus dem Bahnhof.
Da aber übermannt's mich: ›Nein, das duldest du nicht, sie müssen beide sterben!‹ Ich lasse die Hand des Knaben fahren und eile, während er bestürzt zu weinen anfängt, durch die Stadt, die Chaussee nach Kösen hin. Ein glühheißer Tag und weit über eine Meile, aber in kaum einer Stunde bin ich in Kösen. Erst nah der Villa fällt mir bei, daß ich keine Waffe habe, nicht einmal einen Stock. Gleichviel, das muß sich finden.
Ich klingle, die Jungfer, die mir öffnet, schreit auf und will mir den Weg vertreten, ich schiebe sie beiseite und stürme die Treppe empor. Im Ständer des Korridors steht mein Ziegenhainer, ich reiße ihn hervor und stürze an ihre Türe. Sie ist verschlossen. Ich rüttle und rüttle, die Agnes steht heulend hinter mir, offenbar um sie zu warnen.
Von drinnen kein Laut. Da werfe ich mich gegen die Türe, einmal, zweimal, bis das Holz entzweikracht.
Im Zimmer steht der Leutnant, den blanken Säbel in der Hand, er allein; sie ist nicht sichtbar. ›Zurück!‹ ruft er. Ich dringe mit dem Ziegenhainer auf ihn ein. Da saust ein Hieb auf meinen Schädel nieder, und ich sinke hin. Mein letztes Gefühl ist das eines Stroms, der sich über meine Haare ergießt.
Als ich wieder halb zur Besinnung kam, lag ich in meinem Bette im Turmzimmer. An meinem Kopfende stand meine Mutter und half einem kleinen bebrillten Manne den Verband auf meinem Schädel erneuern. Es wunderte mich zunächst nicht, als ich die beiden erblickte; mir war, als hätte ich sie in den letzten Tagen schon um mich bemüht gesehen. So schloß ich denn die Augen wieder, ich fühlte mich so entsetzlich matt.
Erst am nächsten Tage fragte ich meine Mutter, was mir geschehen sei; ich wußte nun, es war etwas Furchtbares; was es war, konnte ich nicht ergrübeln, der Kopf schmerzte mich zu sehr. Da erfuhr ich denn, daß ich mich am Sonntag vor drei Wochen hier mit einem Jenenser Studenten auf Säbel geschlagen hätte und schwer verwundet worden sei. Die Frau Justizrat habe mich ins Haus schaffen lassen, für einen Arzt gesorgt und sie zur Pflege herbeigerufen. Nun sei die edle Frau mit ihrem Manne in der Schweiz.
Eine Woche später konnte ich mit meiner Mutter nach Weimar zurück. Dort pflegten sie und die Schwestern mich ganz gesund. Ihre Fragen, ihre Vorwürfe ließ ich schweigend über mich ergehen. Und als auf die Mitteilung meiner Mutter an den Justizrat, daß ich genesen sei, ein Brief von ihm eintraf, die Nachricht freue ihn, aber in sein Haus könne ich nicht zurückkehren, denn für einen Raufbold, der binnen wenigen Wochen zuerst mit einem Offizier, dann mit einem Studenten angebunden, sei darin kein Platz, beantwortete ich diesen Brief nur mit einigen Zeilen des Dankes für alles Gute, das er mir erwiesen hatte.«
Der Erzähler verstummte.
»Sie haben die Frau nie wiedergesehen?« fragte einer.
»Doch, erst im vorigen Winter, bei einem Diner im Hause des Handelsministers. Als der Justizrat, etwa zwei Jahre nach jener Kösener Geschichte, gestorben war, heiratete sie einen der reichsten und mächtigsten Schlotbarone des Westens. Sie ist noch heute eine ebenso glückliche wie allgemein verehrte Frau, namentlich um die Verbreitung des Christentums unter den Heiden hat sie sich sehr verdient gemacht. Meine Tischnachbarin war sie ja zufällig nicht, aber natürlich wurde ich auch ihr vorgestellt. Sie freute sich sehr, den Volkswirt und Parlamentarier, von dem sie schon viel gehört hatte, endlich auch persönlich kennenzulernen . . .«
Er füllte sein Glas und stürzte es rasch hinab, als wollte er die Bitterkeit mit hinunterspülen.
»Und nun von der Besten«, sagte der Arzt. »Und da bin ich eigentlich noch neugieriger.«
»Mit Unrecht«, erwiderte der Erzähler, »auch solche gibt's, und auch die häufiger, als man glaubt. Freilich, so urteile ich heute und dank dieser Erfahrung. Damals hätt' ich's auch nicht für möglich gehalten. Denn wie ich war, als ich mich nach jenem Erlebnis mühselig ins Leben zurückfand, brauche ich kundigen Männern kaum zu sagen. Jeder junge Mensch muß seine Erfahrungen verallgemeinern, und nun gar die mit dem Weibe; seine Mutter, seine Schwestern bleiben dabei immer außer Spiel; daß sie brav sind, ist selbstverständlich. So also waren die Weiber, und das war die Liebe, die Leidenschaft, welche die Dichter besingen. Nun, entbehren konnte man sie nicht, aber man mußte sie eben richtig einschätzen. Rechnen Sie hinzu, daß ich ein stattlicher Mensch war, auch bald leidlich gewandt.
Kurz: ich habe es einige Jahre wüst und toll getrieben und viel Unheil angerichtet. Und da ich nun einmal davon spreche: ja, es bedrückt mir das Gewissen, und ich gäbe viel darum, wenn ich es aus meinem Leben streichen könnte. Zwang des Bluts, Unfreiheit des Willens, das sind keine Phrasen, sondern Wahrheiten, aber die Macht des Gewissens über unser Handeln ist auch eine Wahrheit. Ich nehme also alles auf meine Kappe, will mich hinter nichts verschanzen. Aber soviel ist mir gewiß: ohne diese ›erste Liebe‹ wäre ich ein anderer, besserer Mensch geworden. Und daß ich mich dann wandelte, scheint mir vollends nicht mein Verdienst, sondern das dieser ›Besten‹. Freilich – ich wandelte mich nur, soweit es eben noch möglich war. Auch von da ab habe ich mir von der Tafel des Lebens genommen, was ich erlangen konnte, aber ich habe kein Weib betrogen und keinem Manne geraubt, was er noch in Wahrheit besaß.
Die Schlechteste war eine Frau, die damals zu den obersten Zehntausend gehörte und seither gar unter die obersten Fünfhundert aufgerückt ist. Und die Beste ein armes Ding, nur eben eine Magd. Natürlich hätte ich es auch umgekehrt treffen können, aber ich traf eben beides so.
Auch damals noch war ich jung, kaum dreiundzwanzig Jahre alt. Ich hatte ein Jahr zuvor in Leipzig meinen juristischen Doktor gemacht, dann meine Dissertation zu einer Habilitierungsschrift erweitert. Durchgeschlagen hatte ich mich bis dahin als Hofmeister, zuletzt in einer adligen Familie bei Dresden.
Da schrieb mir mein Professor der Nationalökonomie, er sei durch einen glücklichen Zufall in der Lage, mir sofort eine aussichtsreiche Dozentur zu verschaffen und eine sorgenlose Stellung dazu. Freilich nur an einer kleineren österreichischen Universität, in Graz.
Ich besprach mit ihm sofort alles Nähere und griff zu. Die Grazer juristische Fakultät wünschte eine junge Kraft, weil der Ordinarius für Nationalökonomie ein alter, bequemer Herr war; gleichzeitig suchte einer der reichsten Aristokraten der Stadt einen jungen Doktor, der seinen Sohn für die Rigorosen einpauken sollte. Acht Tage später, zu Anfang Oktober, war ich in Graz.
Ich hatte aber meinen raschen Entschluß mindestens nach einer Richtung zu bereuen. Der alte Herr ärgerte sich über das ›Buberl‹, das sie ihm vor die Nase gesetzt hatten, und erklärte, ich sei ›a schlimmer Herr‹ und meine ›Büchel‹ so gefährlich wie das ›Büchel vom Marx oder das vom anderen Juden mit dem französischen Namen‹. Das war ja nicht so ernst gemeint, denn er hatte weder meine kleine Schrift, noch das allerdings riesige ›Büchel‹ von Marx, noch die Schriften von Lassalle gelesen, aber die anderen Herren, der Statthalter und die Professoren, leider auch nicht. Auch hatte man zwar des lieben Scheines wegen einen jungen, nach dem neuesten Stand der Wissenschaft geschulten Dozenten gewünscht, aber im Ernst wollte man weder ›sozialistische Irrlehre‹ verbreitet sehen noch dem Ehrengreis wehetun.
So machte die Wahl eines Kollegs große Schwierigkeiten. Die Statistik, die man mir überlassen wollte, weil der Ordinarius noch immer die Ziffern von 1850 ablas, konnte ich nicht übernehmen, weil ich nicht Statistiker von Beruf war und mir namentlich die auf Österreich bezüglichen Ziffern erst hätte schaffen müssen. Ein anderes Hauptfach durfte ich mit Rücksicht auf den alten Herrn nicht lesen. Und so fand sich schließlich nur mühselig ein Ausweg: ein zweistündiges Kolleg über ›Geschichte der Volkswirtschaft‹, weil die Herren meinten, das sei doch gottlob nur ›historisch‹; Irrlehren von heute könnte ich da zum mindesten nicht verbreiten.
Nun, die Gefahr war auch sonst nicht so groß. Ein Kolleg zu belegen, das man für kein Examen brauchte, war, damals wenigstens, in Graz nicht Sitte. Freiwillig meldete sich ein Hörer. Dann schrieb sich aus Höflichkeit der junge Herr ein, den ich einpauken sollte, aber ›tres faciunt collegium‹ – wo den dritten hernehmen?! Endlich fand sich gegen Geld und gute Worte ein armer Kärntner dazu bereit. Es war zum Glück ein ehrlicher Junge, der den geschlossenen Pakt redlich einhielt; er mindestens kam ganz regelmäßig, und ich brauchte also nur einmal drei Wochen lang auszusetzen, als er krank war.
Hingegen gestaltete sich meine Stellung in jenem aristokratischen Hause sehr angenehm. Ich erhielt drei Zimmer angewiesen, ein Luxus, den der Graf – sagen wir Wartegg – sich und mir gönnen konnte. Denn das alte schöne Palais in der ›Räubergasse‹, ein Renaissancebau aus dem sechzehnten Jahrhundert, hatte sehr viele Räume. Die drei Stunden abgerechnet, die ich meinem Schüler widmen mußte, war ich Herr meiner Zeit, hatte meinen eigenen Diener und durfte nach meiner Wahl in meiner Wohnung oder an der gräflichen Tafel speisen.
Ich zog das letztere vor, weil mir die Herrschaften sympathisch waren. Gütige, auch innerlich vornehme Menschen. Der Graf, ein Herr um die Sechzig, früher Militär, nun eifriger Landwirt und pflichttreues Mitglied des Herrenhauses, klerikal, konservativ, aber durchaus duldsam und verständig; die Gräfin eine zehn Jahre jüngere kränkliche Dame von ungewöhnlicher Belesenheit, namentlich in der französischen Literatur, deren sie sich freilich nun, wo auch sie fromm wurde, zu schämen begann; der Sohn – zwei ältere Brüder dienten in der Armee – ein netter, nicht unbegabter junger Herr, der nur bis dahin arg gefaulenzt hatte.
Kurz, feine Menschen, in die ich mich leicht fand, wenn ich sie nur erst verstand, denn ihr Deutsch – das richtige Wiener Fiakerdeutsch – war mir zu schlecht, und ihr Französisch – ein höchst elegantes Pariserisch – leider damals noch zu gut. Nun, nach einiger Zeit sprach ich das Französische besser, das Deutsche schlechter, und das Hindernis war beseitigt.
Nur mein Herz war noch unbeschäftigt, wenn ich für jene Zeit den Ausdruck von mir gebrauchen darf. Das war teils meine Schuld, teils die der Verhältnisse. Mein gütiger Lehrer, der mich sehr genau kannte, hatte mir vor dem Scheiden gesagt: ›Noch eins, Liebster! Die Weiberhistorien hören in Graz auf. Wenn ein Ordinarius Anstoß erregt, so schafft ihm das Verdruß, aber keinen Schaden; ein deutscher Privatdozent aber, der vorwärtskommen will, muß sittlich sein. Verstehen Sie, sittlich!‹ Nun – und ich wollte vorwärtskommen. Und darum nützte es mir nichts, daß es auch hier nicht an Frauen fehlte, die mir gefielen und denen ich vielleicht nicht mißfallen hätte.
Von einer glaubte ich es sogar gewiß zu wissen. Aber von der schied mich noch obendrein die Rücksicht auf das Haus, das mich so vertrauensvoll aufgenommen hatte, und – eine Ähnlichkeit. Das war Mademoiselle Adèle, die Gesellschafterin der Gräfin, eine Belgierin, etwa siebenundzwanzig Jahre alt, eine hohe, schlanke und doch üppige Gestalt, aschblondes Haar, graue halbverschleierte Augen. Als ich sie zum ersten Male sah – es war in der frühen Dämmerung eines Oktobertags – schrak ich zusammen: das war ja Klara. Nun, unheimlich war die Ähnlichkeit trotzdem, bei hellem Licht nicht, aber immerhin groß genug, um mich stets von neuem zu bedrücken; namentlich der Blick dieser scheinbar milden oder müden Augen, der doch zuweilen so wild aufglühte, mahnte mich peinigend an jenes Weib. Mademoiselle, übrigens eine ebenso elegante wie gebildete Dame, war früher fünf Jahre Erzieherin in einem rumänischen Fürstenhause gewesen und erzählte oft von der schrecklichen geistigen Öde, in der sie dort hatte dahinleben müssen; jener Blick verriet mir, daß sie sich auch in Rumänien nicht immer gelangweilt hatte.
In den ersten Wochen bekam ich diesen Blick oft zu sehen. Und als wir eines Abends im November aus dem Landschaftlichen Theater heimfuhren, verwechselte sie meinen Fuß mit einem Schemel. Ich hielt eine Weile geduldig still, da sie aber immer heftiger drückte und ich dünne Lackstiefel trug, so zog ich endlich sachte den Fuß zurück.
Von dieser Stunde ab begegnete sie mir ebenso höflich und gemessen wie ich ihr. Aber daß sie mir nun nicht eben freundlich gesinnt war, konnte ich getrost annehmen. Ich sollte das auch in der Folge noch recht deutlich zu fühlen bekommen.
Zunächst bekümmerte es mich herzlich wenig, da ich mich schon einige Tage nach jener stummen Szene ernstlich verliebte, das heißt natürlich in der Art, die mir damals geläufig war. Die Historie ließ sich anfangs wie ein flüchtiges, aber nicht eben feines Abenteuer an, aber welche Folgen sollte sie für mein Leben haben!
Zu den kleinen Dingen, an die ich mich in Graz gewöhnen mußte, gehörte auch die Einrichtung, daß ein Portier des Nachts das Haustor öffnete und schloß; einen Torschlüssel bekam ich nicht. Als ich nun eines Abends, Ende November, kurz nach zehn, noch ins Café wollte, trat auf mein Klingeln an der Wohnung des Portiers statt des alten gichtbrüchigen Mannes ein Mädchen in den Torweg. Flüchtig glitt mein Blick über sie hin, blieb dann aber gründlich an ihr haften.
Alle Wetter, was war das für ein reizendes Ding! Kaum mittelgroß, braunhaarig und braunäugig, mit stumpfem Näschen und kirschrotem, herzförmigem Mund, Grübchen in den Wangen, und doch keine bloße Zofenschönheit. Wie fein war das Gesichtchen bei aller Fülle der Wangen, wie trug die Kleine den Kopf auf den Schultern, mit welcher Anmut ging sie vor mir her –, ›diese glücklichen Österreicher‹, dachte ich, und nicht zum ersten Male, ›hier verstehen die Mägde zu gehen wie bei uns die Geheimratstöchter nicht! Aber nun möchte ich auch die Stimme hören.‹ Und so fragte ich, ob der Grabmayr, der Portier, krank sei.
›I wo!‹ lachte sie – es klang so kindlich – ›schlafen tut er; zum Aufmachen bin ja jetzt ich da!‹
Das helle Stimmchen, der weiche Dialekt – es war zu hübsch, ich wollte mehr hören. Ob sie bei ihm diene?
Sie rümpfte das Näschen.
›Aber nein: Ich bin ja's Geschwisterkind von der Frau!‹
Das hätte ich nicht wissen können, entschuldigte ich mich; ich sei erst kurze Zeit hier.
›Weiß ich eh!‹ sagte sie: ›Sie sein ja der Herr Professor!‹ Und dann wieder lachend und zugleich redlich erstaunt: ›Aber so a junger Professor!‹
Das sei ich auch noch nicht, entgegnete ich, sondern nur Doktor.
Sie lachte wieder. ›Na, na, das weiß ich ja! Die Frau Tant' hat mir's ekschpliziert: A Doktor kuriert die Leut' oder sitzt beim Advokaten, aber bei Ihnen tun die Studenten lernen, also sind Sie a Professor! Freili, 's Geschäft geht noch net recht.‹
Aber da schlug sie sich auf den Mund und errötete; mehr war nicht aus ihr herauszubringen. Nur den Namen und das Alter erfuhr ich noch: Kathi, achtzehn Jahre.
›Also Fräulein Kathi‹, sagte ich, ›und wie weiter?‹
Sie lachte laut auf.
›Ich bin doch kein Fräul'n. Und weiter – was meinen S' da?! Ah so, wie mir uns schreiben tun? Sturzenegger!‹ Sie schüttelte den Kopf. ›Nein, was so a Preuß fragen tut!‹
Aber nun wurde sie vollends puterrot und bat um Vergebung.
Ich lachte, sie mit, und ich trat auf die Straße.
Wie schade, dachte ich, daß dieses reizende Geschöpf just meine Hausgenossin sein und zur gräflichen Dienerschaft gehören muß. Aber als ich nach einer Stunde heimging, freute ich mich doch, sie wiederzusehen.
Sie kam auch sehr rasch; die blanken, braunen Augen blinzelten schlaftrunken, das arme, junge Ding nickte wohl so in den Kleidern die ganze Nacht vor sich hin. Ich bedauerte sie, das fiele ihr wohl hart.
›I wo!‹ sagte sie. ›Und das dauert ja nur noch ein paar Monat'. Im März heirat' ich!‹
Wer denn der Bräutigam wäre, fragte ich.
›Ein sehr ein ordentlicher Mensch‹, erwiderte sie etwas gedrückt und zwar plötzlich in ihrem schönsten Hochdeutsch. ›Der Leiblakai beim Herrn Baron.‹ Den wirklichen Namen – es ist der eines ungarischen Geschlechts, kann ich Ihnen nicht nennen; sagen wir: ›Nery‹.
Ich gratulierte und ging auf mein Zimmer. Also verlobt war sie noch obendrein!
Am nächsten Tage speiste ich, da ich eine Arbeit über das englische Schecksystem für ein Fachblatt beenden mußte, auf meinem Zimmer. Mein Diener – Franz hieß er und war sonst sehr brauchbar – ließ mich eine Stunde warten, wie er mir denn auch schon des Morgens Grund zu einer Rüge gegeben hatte.
›Was haben Sie plötzlich?‹ fragte ich, und da er mich mit wirren Augen anblickte, so fuhr ich fort: ›Sind Sie krank?‹
Er schüttelte den Kopf und bat dann demütig, Geduld, mit ihm zu haben, er werde sich schon wieder ›z'sammrappeln‹. Aber gegen Abend vergaß er mir meinen Aufsatz einzuschreiben und gab ihn unfrankiert auf, und als ich ihn nun derb anfuhr, brach der junge rotbackige Mensch, der bereits seine Militärzeit hinter sich hatte, in Schluchzen aus wie ein hysterisches Frauenzimmer: er habe wohl gewußt, er werde gehen müssen, wenn die Kathi wieder zurück sei, weil er dann zu nichts mehr tauge, und so komme es nun; er wolle noch heute als ehrlicher Mensch dem Herrn Bräuer, dem Haushofmeister, kündigen.
Das habe noch Zeit, erwiderte ich, nun wieder besänftigt, aber ein ordentlicher Mensch müsse seine Pflicht tun, auch wenn er dumm genug gewesen sei, sich in die Braut eines anderen zu verlieben. Worauf er: damals sei sie ja noch nicht die Braut des Halunken, des Jean, gewesen; sie sei ja im Frühling gleichzeitig mit ihm ins Haus gekommen, ›und wie ich sie g'sehn hab, hab i mir gleich gedenkt: Die oder keine nicht!‹ Und weil ich ihn nicht unterbrach, so erzählte mir der arme Mensch in seiner Herzensnot die ganze kurze Geschichte seiner Leidenschaft.
Die Kathi könne nichts dafür. ›Sie war immer freundlich zu mir, und da hab ich Trottel mir einbild't, sie hat mich auch gern, aber sie is ja zu jedem freundlich, weil sie ja noch a halbs Kind is, und so gut und so lieb; sie lacht jeden an, wie die Sonn' jeden anlacht, und wenn sich einer an der Sonn' verbrennt, so kann ja die Sonn' nix dafür und die Kathi auch net!‹ Aber die anderen seien an seinem Unglück schuld, und die arme Kathi werde es erst recht büßen müssen ihr ganzes Leben lang. ›Nämlich der Jean von unserem Herrn Kusäng, dem Baron Nery – das heißt, unser Kusäng is ja der alte Sünder gar net, aber seine Frau is eine Cousine zu unserer Gräfin – was ist das für a Mensch! Ein Fallott is er, ein Gauner is er, und bei was für Sachen er sein' Herrn geholfen hat – pfui Teufel.‹
Aber das Schlimmste kam noch. ›Und wissen Sie, woher er is?! Aus Czaslau is er, Jan Wodliczka heißt er, kurz: a Tschech!‹ Aber freilich, Geld genug habe er sich in den dreißig Jahren, wo er seinem sauberen Herrn diene, zusammengescharrt, und nun kaufe sich der ›alte Kracher, der keine Haar mehr am Kopf hat‹, die Kathi zur Frau. Zuerst habe er ihre Tante, die alte Närrin, herumgebracht, und dann den Grabmayr durch ›tausend Pfiffe Gespritzten‹ (Gläschen Landwein mit Sodawasser vermischt), und dann die Eltern, die ja arme Winzersleute in Radkersburg seien, und endlich mit Hilfe der vier Alten auch die Junge. ›No ja, so a Kind – die weiß viel, was heiraten is!‹ Natürlich sei aber der Jean ›eifersüchtig wie's böse Gewissen‹, und darum habe die Kathi im September für die Zeit seiner Abwesenheit zu den Eltern müssen, der Jean sei nämlich mit seiner Herrschaft in ein Bad gegangen, – unten bei die ›Katzelmacher‹ (der Spitzname, mit dem die Österreicher die Italiener belegen); ›Battaglia tut sich das Bad schreiben, und soll alte Leut' wieder jung machen, daß sie wieder springen können, aber wenn der alte Sünder, der Nery, springen kann, wenn er zurückkommt, dann will ich den ganzen Schloßberg auffressen, als wenn er ein Engelkopf wär'. Der springt nimmer, Herr Professor, der bleibt sein Leben im Rollstuhl, so daß ihn seine schöne Frau bequem betrügen kann!‹ In einer Woche kämen sie wieder, die Kathi aber habe schon jetzt aus Radkersburg zurück müssen, weil sich's der Grabmayr gern bequem mache. ›Aber damit is auch mein bissel Verstand wieder zum Teufel!‹
Und er begann abermals zu lamentieren, und unterbrach sich nur, um mich anzuflehen, seine bösen Worte über ›unseren Herrn Kusäng‹ zu vergessen. ›Er hat ja auch seinem Jean beim Grabmayr das Wort gered't‹, entschuldigte er sich, ›und da is es mir herausgerutscht.‹ Und über die Frau Baronin habe er ja nichts Böses gesagt. ›Wenn S' erst den Herrn Baron Nery sehn – so einen Mann darf man betrügen!‹
Ich war am Abend zu einer Gesellschaft beim Dekan meiner Fakultät geladen und kam nach Mitternacht halbtot vor Langeweile heim. Als ich die Klingel des Palais zog, nahm ich mir vor, mich mit der Kleinen, so gut sie mir auch gefiel, in kein Gespräch mehr einzulassen. Es hatte keinen Sinn, von allem übrigen abgesehen, konnte ich doch auch nicht gut der Rivale meines eigenen Bedienten werden.
Auch blieb ich standhaft, obwohl sie mir heute noch reizender erschien als gestern. Vielleicht weil sie blasser war und die Augen feucht schimmerten; sie mußte wohl geweint haben. Aber da trippelte sie zögernd mit ihrem Laternchen bis zur Treppe neben mir her und begann dann stockend: ›Bitt' schön, Herr Professor . . . aber net bös sein . . . net bös sein.‹
Ich blieb stehen: was sie wünsche?
›Wünschen?! O du mein Gott! Zu wünschen hab' ich doch nix, bitten möcht' ich nur, weil ich mir gar net mehr z'helfen weiß. Ach, Herr Professor!‹ Und sie brach in Tränen aus.
Ich suchte sie zu beruhigen, sie möge mir's nur getrost sagen, es sei gewiß nichts Unrechtes.
›A wo!‹ schluchzte sie, ›was Rechtes is es g'wiß! Aber ich trau mich halt net! Und jetzt schon gar net! Ich kann Sie doch nicht jetzt mitten in der Nacht eine halbe Stund' anlamentieren. Morgen komm' ich zu Ihnen und sag's. Aber das is ja auch net möglich‹, fuhr sie fort und schluchzte noch stärker. ›Da is ja der Franz im Vorzimmer.‹
Also das war's! Ich sollte ihr den stürmischen Werber zähmen helfen. Nun, warum nicht?! Da sie Braut war, so war das eine ebenso sittliche wie humane Mission. Und so strich ich ihr tröstend über das dichte, seidenweiche, hellbraune Haar und versprach, den Franz morgen um zehn auf eine Stunde fortzuschicken.
Sie haschte nach meiner Hand und hätte sie geküßt, wenn ich sie nicht hastig hinweggezogen hätte. ›Ich dank' Ihnen!‹ rief sie, ›der Franz hat recht, Sie sein a guter Herr!‹
Meine Zusage reute mich, kaum daß ich sie gegeben hatte, und nun erst am nächsten Morgen! Gerade weil mir das liebe Ding so gut gefiel und weil ich mich kannte. Indes, sein Wort muß man halten.
Um zehn war Franz mit einem Haufen Bücherzettel zur Universitätsbibliothek getrabt. Und eine Viertelstunde später trat die Kathi bei mir ein, in demselben dunkelblauen, etwas zu engen Leinenkleidchen, in dem sie nachts ihren Dienst versah. Aber weiß Gott, hübsch genug war sie auch so. Abwechselnd tiefblaß und dann dunkelrot stammelte sie schon an der Türe ihre Entschuldigungen, kam nur zögernd näher und schlug den angebotenen Stuhl aus. ›Um Gott's will'n, unsereins setzt sich net vor der Herrschaft hin!‹ wehrte sie ab und trug dann endlich ihre Bitte vor.
Natürlich handelte es sich wirklich um den armen, närrischen, schrecklichen Menschen, den Franz. Er habe ihr ja schon im Sommer oft gedroht, es werde ein schlimmes Ende nehmen, wenn sie sich mit dem Jean verlobe – sie sagte immer: ›Herr Jean‹ –, aber seit sie zurück sei, führe er vollends ›grausliche‹ Reden. Bald wolle er ihren Bräutigam erwürgen und sich aufhängen, dann zum mindesten sich selber erschießen – und ›ich kann doch gar nix tun, ich fürcht' mich halt und zitter' nur immer, aber das nützt ja net viel!‹ Wenn sie es ihrem Onkel sage, so komme der Franz sofort aus dem Hause, das wisse sie, aber dann werde er seine Drohungen erst recht ausführen. Und da habe sie, da der Franz mich so lobe, in ihrer Verzweiflung den Mut gefaßt, meine Hilfe zu erbitten. ›Er hat erst gestern abend g'sagt, Ihnen zulieb ging er durchs Feuer, und da hab' ich mir halt gedenkt, vielleicht hängt er sich auch Ihnen zu lieb net auf und tut auch dem Herrn Jean nix an.‹
Ich wolle gern das Meine tun, versprach ich, aber der Franz sei eben leider sehr verliebt.
›Ja, sehr‹, bestätigte sie treuherzig mit einem tiefen Seufzer, ›es is ganz schrecklich, wie verliebt er in mich is.‹
Ich mußte lächeln; ob sie denn aber keine Schuld daran trage, indem sie ihm Hoffnungen gemacht habe.
›Nein‹, beteuerte sie und beschwor es bei der heiligen Jungfrau und allen Heiligen des Kalenders. ›Wie hätt' ich es denn tun sollen?‹ rief sie. ›Er hat mir ja gar nie g'fallen, das wär' also a Lug gewesen, und gelogen hab' ich noch niemals nicht!‹ Und wie sie so dastand und mich mit den braunen, klaren Augen anguckte, da kam mir diese Beteuerung sehr überflüssig vor, der hätt' ich und jeder auf diesen Blick hin alles geglaubt.
›Hm‹, sagte ich, ›dann ist also auch ein anderer Ausweg schwer möglich, der mir vorgeschwebt hat. Der Franz hat mir gesagt, Ihr Bräutigam sei ein älterer Mann, mit dem Sie sich nur auf Zureden Ihrer Verwandten verlobt hätten. Ist das wahr?!‹
Sie wurde rot, das Blut schlug ihr bis über die Stirn.
›Ja‹, sagte sie dann leise, aber fest. ›Das is wahr!‹
›Und haben Sie ihn während Ihres Brautstandes liebgewonnen?‹
Die Röte wich tiefer Blässe, dann schüttelte sie den Kopf.
›Verzeihen Sie‹, sagte ich unwillkürlich, ›aber ich meine es gut‹, – und in diesem Augenblicke wenigstens meinte ich es wirklich so. ›Nun denn, ließe sich diese Verlobung nicht aufheben? Der Franz liebt Sie wirklich und ist ein tüchtiger Mensch, auch wird er immer sein Brot haben und Sie anständig ernähren können.‹
›Nein!‹ sagte sie. ›Das sagt ja auch er selber immer, aber das kann net sein! Der Herr Jean – wie er is, so is er – aber mein Wort muß ich ihm jetzt halten . . . Wie ich das dem Franz gesagt hab‹, fuhr sie stockend fort, nun wieder abwechselnd errötend und erbleichend, ›da hat er was Schlechtes von mir geglaubt, aber das is net wahr! Net wahr!‹ wiederholte sie nun totenbleich, doch fest, und blickte mich voll an. ›Aber der Herr Jean hat meinem Vater fünfhundert Gulden auf sein Häusel geliehen, und mein Vater kann sie nie zurückzahlen – und darum muß es sein! . . . Und Ihnen‹, fuhr sie fort, ›will ich auch was sagen, was ich dem Franz gestern net hab' sagen wollen, obwohl er mich so gekränkt hat, denn er is ja so gach (jähzornig), und ich hab' Mitleid mit ihm und will ihn net ins Unglück bringen. Also: selbst wenn ich vom Herrn Jean loskäm', den Franz nähm' ich nimmer. Denn früher hab' ich dummes Mädel das net so gewußt, aber jetzt weiß ich's: verloben darf man sich nur mit einem, den man gern hat. Und den Franz hab' ich net gern!‹
Ich kann Ihnen ja nur erzählen, was sie sagte, nicht, wie sie's sagte, sonst würden Sie mir's glauben, daß ich, trotz meiner jungen Jahre kein weicher Mensch, aufrichtig gerührt war. Es war keine Phrase, als ich ihr versprach, ich wolle in der Sache tun, was ich irgend könne. Sie dankte unter Tränen und ging.
Ich machte mich denn auch sofort ans Werk, aber viel erreichte ich nicht. Als ich dem Franz einige Stunden später kräftig ins Gewissen redete – natürlich verhehlte ich ihm mein Gespräch mit der Kathi nicht – war er sehr zerknirscht, versprach auch, sich zusammenzunehmen, ›aber‹, fügte er verzweifelt bei, ›ich fürcht' nur: wenn ich den Hund seh', fahr' ich ihm doch an die Gurgel, und das Unglück is fertig!‹
Immerhin konnte ich die Kleine des Abends beruhigen.
›Weiß ich schon!‹ unterbrach sie mich fröhlich und faßte zutraulich meine Hand. ›Der Franz sagt, Ihnen zulieb will er sich z'sammnehmen. Ach, Herr Professor, was sein Sie für a guter Mensch! Als ob Sie ein richtiger Christ wär'n!‹
›Das bin ich ja auch!‹
›I wo!‹ Sie lachte über das ganze Gesichtchen, alles lachte mit: die braunen Augen, die runden Wangen, das Näschen, die Grübchen, nicht bloß der kleine, rote Mund. ›A Luthrischer sein S'! In die Höll' kommen S'!‹
Aber dann würde sie wieder glührot und bat demütig um Entschuldigung.
›Nein, so a Frechheit von mir!‹ hörte ich sie noch ganz erschreckt hinter mir her sagen.
Und ähnliche Sächelchen könnt' ich Ihnen weiß Gott wie viele erzählen. Wie ein Kind, dachte ich zuweilen, oder auch: Ist das alles auch echt? Aber das kam nur davon, weil ich eben ein ›Preuß‹, ein ›Luthrischer‹ und zum ersten Male in Österreich war.
Die Kathi war kein Kind, im Gegenteil, trotz ihrer achtzehn Jahre auch seelisch reif, und nun vollends kein geziertes Geschöpf, sondern nur eben das richtige österreichische Mädel aus dem Volke. Ach, was ist das für eine reizende Gattung: gut und fröhlich, dankbar und selbstlos, warm an Leib und Seele – und die Kathi war nur eben ein Prachtstück der Gattung. Mir aber, der ich diese nicht kannte, erschien sie vollends wie ein liebes Wunder, und nach zwei oder drei Tagen war ich über Hals und Kopf in sie verliebt. Zudem waren wir ja durch ihre Bekenntnisse von Anbeginn in eine gewisse vertraute Beziehung gekommen: die Art, wie sie zu mir aufsah, schmeichelte mir, und daß ich sie immer nur nachts und unter vier Augen sprach, konnte mein Blut auch nicht eben beruhigen.
Dennoch hielt ich an mich und gab mir nur insoweit nach, daß ich sie allnächtlich zweimal sprach. Ich ging erst nach Zehn, wo das Tor geschlossen wurde, ins Kaffee, kehrte gegen Mitternacht wieder und plauderte jedesmal ein Viertelstündchen mit ihr. Worüber? Eben über nichts, es war schon Stoff genug, daß sie ein anderes Bändchen im Haar trug, oder daß der Herr Bräuer den Grabmayr heute scharf abgekanzelt habe, und vor allem, daß der Franz zwar noch immer seufze und die Augen verdrehe, sooft er sie erblicke, aber keine schlimmen Reden mehr führe.
Das war so der Hauptspaß. ›Wie macht er's denn jetzt?‹ fragte ich, und dann spielte sie's mir vor und sah dabei zum Küssen hübsch und neckisch aus.
Nun – und endlich kam's auch einmal zu einem Kuß, so fest ich mir auch vorgenommen hatte, standhaft zu bleiben.
Es war vier Tage, nachdem ich den Franz und sie ›gerettet‹ hatte, und ich war am Vormittag sehr mißmutig aus dem Kolleg heimgekommen: mein braver Kärntner war erkrankt, und ich mußte meine Weisheit für mich behalten. Auch im Palais wußte man davon durch den jungen Herrn, und das Mitgefühl, mit dem beim Abendessen Graf und Gräfin, am wärmsten aber meine Freundin, Mademoiselle Adèle, diese Unterbrechung meiner glorreichen Dozentenlaufbahn mit mir besprachen, konnte mich nicht eben aufheitern. In dieser Stimmung wechselte ich auch mit der Kleinen, als sie mir das Tor öffnete, nur wenige Worte, und erst bei der Heimkehr fragte ich wieder, um mich aus meinem Mißmut zu reißen: ›Nun, wie hat's der Franz heute gemacht?‹
Sie sah mich teilnahmsvoll an. ›Ja, das fragen S' so aus Gütigkeit. Ach, Herr Professor, ich hab' ja g'hört, was für Verdruß Sie heut im G'schäft g'habt haben! Ich versteh's nimmer, so a Herr wie Sie und die Studenten kommen net! Ihnen sieht man's doch an, daß Sie Ihre Sach' verstehn!‹
Ich mußte laut auflachen.
›Ja, Kathi, das wird nicht eher besser, bis Sie sich ins Zeug legen. Sie lassen sich bei mir einschreiben, und dann kommen die Leute schon!‹
Sie stimmte munter ein: ›Ja, so wird's gehn! Ich mach's Kraut fett!‹ – fragte dann aber gleich darauf bekümmert: ›Was könnt' da aber wirklich g'schehn?! Verzeihn S', wenn's a Dummheit is, aber könnten S' denn nicht in die »Tagespost« setzen: »A junger Professor« – und so und so. Na ja, aus nix wird nix!‹
Natürlich mußte ich über dies Mittel, mein Dozententum in Schwung zu bringen, erst recht lachen. Aber wie sie so vor mir stand, und auf dem lieben Gesichtchen wechselte die Sorge um mich mit dem Anreiz, in meine Heiterkeit mit einzustimmen, da hielt ich mich nicht länger und sagte: ›Nein, Kathi, wenn Sie mir schon auf die Strümpfe helfen wollen, so gibt's ein besseres Mittel. Geben Sie mir einen Kuß, und ich bin kreuzfidel!‹
Sie wurde purpurrot. ›Das wär' grad's Rechte‹, lachte sie verlegen, fragte dann aber ganz ernst: ›Darf denn das eine Braut?‹
›Selbstverständlich! Einen Kuß in Ehren.‹
›Na, dann in Gott's Namen!‹
Und sie hielt mir den Mund hin. Ich umfaßte sie, es sollte nur ein Augenblick sein, aber dann kam's wie ein Rausch über mich, als ich den heißen Gegendruck ihrer Lippen fühlte, und einige Minuten hielt ich sie in den Armen. Sie begann zu zittern, hing mir aber willenlos am Halse. Erst, als ich sie endlich ließ, sah ich, wie blaß sie nun war.
›Kathi‹, fragte ich, ›sind Sie mir böse?‹
Sie schüttelte den Kopf.
›Nein, aber . . . o Gott, mein Gott! . . . So is das also, so . . . ‹
Und jählings überströmten die Tränen ihr Gesicht, und sie rannte davon; das Laternchen ließ sie stehen.
Kopfschüttelnd ging ich auf mein Zimmer und konnte lange nicht den Schlaf finden. Stolz war ich wirklich nicht auf mich.
Noch weniger stolz aber war ich am nächsten Abend, wo ich erkannte, was ich in dem armen Kinde wachgeküßt hatte.
Als ich aus einer Gesellschaft heimkam, blieb sie bei meinem Anblick erschauernd stehen und ließ das Köpfchen hängen, so traurig, daß sich mir das Herz rührte. Ich suchte sie zu beruhigen; ich wollte sie nie wieder küssen.
Wieder begann sie zu weinen.
›Das dürfen S' auch net‹, stieß sie schluchzend hervor, ›mir is auch so bitter genug! Ich weiß ja net mehr, wo aus, wo ein! Und erst seit gestern.‹
Da brach sie ab und preßte die Lippen zusammen. Ich wollte nicht weiter fragen, wozu auch, da mir ohnehin alles verständlich war – aber nun öffnete sich die Türe der Portiersloge: ›Kathi!‹ rief eine scharfe Stimme, ›mit wem plauschst denn schon wieder?‹ Der alte Grabmayr.
Als ich zu Bette ging, versprach ich mir: ›Derlei soll dir nie wieder passieren.‹ Aber das half mir über die Scham nicht hinweg.
Darum wies ich auch den Franz zunächst kurz ab, als er am Nachmittag darauf mit dem seltsamen Anliegen bei mir erschien, ich möge doch um Himmels willen gestatten, daß die Kathi wieder zu mir komme und mir ihr Herz ausschütte. ›Das arme Hascherl geht ja so zugrund!‹ jammerte er und erzählte dann erregt: sie habe heut morgens von dem ›Herrn Schurken‹ – er nannte den Jean immer so, als wäre das der Amtstitel des Mannes – einen Brief bekommen und sei seitdem ganz verzweifelt. Ihm wolle sie nicht sagen, was der Herr Schurke geschrieben habe, aber es müsse wohl etwas Schreckliches sein, und jemand müsse doch der Verzweifelten beistehen, das sei ja Christenpflicht. Da habe er ihr selbst angeboten, ihr eine Unterredung mit mir zu erwirken, denn auf mich halte sie ja ebenso große Stücke wie er selbst, und ich würde ihr vielleicht Rat wissen.
Wie gesagt, ich lehnte zunächst ab und ließ mich dann doch durch seine flehentlichen Bitten erweichen. Wieweit mich dabei meine Verliebtheit mitbestimmte oder der Wunsch, gutzumachen, was mein Kuß angestiftet hatte, war mir selbst nicht klar. Auch ganz gewöhnlich neugierig mag ich gewesen sein.
Nun, diese Neugier fand bei dem Gespräch mit dem armen Kinde jedenfalls bessere Befriedigung als mein Wunsch, ihr behilflich zu sein. Schon der Brief, den sie nach langem Zögern – ›ich schäm' mich zu Tod!‹ rief sie unter bitteren Tränen immer wieder – in meine Hände legte, war ein seltsames ›document humain‹. So also schrieb ein fünfzigjähriger Mann dieses Standes an seine achtzehnjährige Braut, ein braves Mädchen, das ihm bisher nur Küsse gestattet hatte. Und neben diesen wüsten, widerlichen Äußerungen seiner ›Liebe‹ standen die fürchterlichsten Drohungen, wenn sie ihn mit dem Franz betrüge. Veranlaßt war der Brief durch die Nachricht, daß sie vor ihm nach Graz zurückgekehrt sei; er selbst, schloß er, komme nächstens.
Ein abscheulicher Brief also, und ich konnte es dem armen Kinde nachfühlen, wenn es schaudernd ausrief: ›Und den soll ich heiraten!‹ Ich suchte sie zu trösten: der Mann liebe sie ja in seiner Art, worauf aber sie: das sei ihr eben das Furchtbare. ›Ich hab' bisher geglaubt‹, stieß sie zitternd hervor, ›es is immer schrecklich, wenn man einen Mann küßt, aber das glaub' ich jetzt nimmer!‹ Sie sagte es so leise, daß ich es kaum verstehen konnte, aber mir klang es dröhnend ins Ohr.
Es währte lange, bis ich mich so weit gefaßt hatte, um ihr einen Rat geben zu können. Viel war nicht davon zu erwarten, aber es war das einzige, was mir möglich schien.
Die Gräfin war eine feine, gütige Frau, die erst kürzlich bei Tische geäußert hatte, die Kathi sei ›frisch, stark und rein wie eine Feldblume‹, ich riet dem Mädchen, ihre Hilfe anzurufen. Sie schüttelte traurig den Kopf, ließ sich schließlich aber doch dazu überreden. Und weil sie ein echtes Kind ihres Stammes, also leicht beweglichen Gemüts war, so glomm, als sie von mir ging, in den braunen Augen wieder ein lichter Strahl auf.
Was mich betrifft, so tat ich mir, nachdem sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, in aller Stille einen Schwur. Der Kuß ließ sich nicht ungeschehen machen, aber durch mehr und anderes wollte ich die Ruhe meines Gewissens und meine Stellung im Hause nicht erschüttern. Denn ich will mich nicht besser machen, als ich damals war, auch an dies dachte ich, und zwar recht lebhaft.
Nun, diesen Schwur mindestens habe ich gehalten. Es fiel mir auch nur in den ersten Tagen schwer; da ging ich sogar, die Versuchung zu vermeiden, des Abends nicht aus. Sah ich die Kathi tagsüber, so nickte sie mir fröhlich zu, wurde allerdings auch etwas rot dabei. Die Wolke, die über ihr hing, hatte sich so weit verzogen, daß sie den Himmel für immer blau glaubte. Es war nicht das Verdienst der Gräfin, denn noch ehe das Mädchen den Mut gefunden hatte, meinen Rat zu befolgen, war die Nachricht eingetroffen, daß Jean schwerlich vor dem Frühjahr heimkommen werde. Baron Nery war auf der Rückreise wieder an Ischias erkrankt, lag nun in Bozen fest, schlimmer als vor der Kur in Battaglia, und sein Leiblakai war ihm, nach den Reden bei Tische zu schließen, schwerer entbehrlich als seine Gattin. Denn den Jean brauchte er zur Pflege und die Baronin nur, um sie zu quälen. Namentlich die Gräfin Wartegg war so sehr gegen ihn erbittert, wie es ihr sanftes Gemüt irgend zuließ, und beklagte ihre Cousine der traurigen Weihnachten wegen, die sie in der Fremde werde verbringen müssen. ›Freilich‹, fügte sie seufzend bei, ›ihr ganzes Leben ist ja traurig.‹
Aus ihren Reden wie aus dem, was ich ohnehin aus der Geschichte Österreichs über ihn wußte, gewann ich von Nery ein nicht eben günstiges Bild. Er war zuletzt Feldzeugmeister gewesen, nun an Siebzig und längst außer Dienst, schon seit 1859, wo er mit zwei oder drei anderen Heerführern seines Schlages den Verlust der Lombardei verschuldet hatte. Unfähigkeit war übrigens noch das Geringste, was man ihm nachsagte; sein Name war auch durch die grausame Härte befleckt, die er nicht bloß in Italien, sondern 1849 bei der ›Pazifizierung‹ seiner eigenen Landsleute erwiesen hatte, und damit nicht genug: er wurde recht unverblümt schmutziger Geldgeschäfte mit Armeelieferanten beschuldigt. In Graz pflegte man ihn den ›kleinen Haynau‹ und noch häufiger ›die fünf G‹ zu nennen: ›Gamaschentum‹, ›Geldgier‹, ›Grausamkeit‹, ›Gemeinheit‹, ›Geiz‹. Geheiratet hatte der Graf erst vor zwölf Jahren, also nach seiner Verabschiedung und als grauhaariger Fünfziger; seine Gattin, die Baronin Irma, war an vierzig Jahre jünger als er und entstammte einem der berühmtesten Geschlechter Innerösterreichs, ihr Vater, nun längst tot, war der Oheim der Gräfin Wartegg, der jüngste Bruder von deren Vater. Da das Geschlecht zudem nicht bloß an Ruhm, sondern auch an Besitz viel bedeutete, so schien es rätselhaft, wie das junge Blut an den alten Sünder, der in jeder Hinsicht ein schmähliches Leben hinter sich hatte, gekommen war. ›Traurige Geschichten‹, sagte mir der junge Wartegg, als die Rede darauf kam, ›die Ärmste büßt für ihre Eltern‹. Er schwärmte von ihrer Schönheit und Güte, der Tapferkeit, mit der sie sich in ihr schweres Los gefunden habe. Ähnlich urteilte seine Mutter.
So gewann ich aus den Gesprächen über sie das Bild einer sanften, edlen Dulderin, für deren Schicksal ich mich unwillkürlich interessierte. Was mir Franz gesagt hatte, war offenbar häßlicher Dienstbotentratsch.
Da sollte ich früher als vermutet selbst über sie urteilen können. Wir saßen – etwa eine Woche vor Weihnachten war's – eben bei Tische, als ein Telegramm von ihr aus Bozen eintraf, sie komme am nächsten Morgen; ihr Mann folge ihr erst in einiger Zeit. Die Gräfin war ehrlich erfreut. ›Wie mag sie sich das durchgesetzt haben?‹ fragte sie, worauf der Graf lächelnd: ›Vermutlich auf dieselbe Weise wie früher manches andere auch!‹
Am Tage darauf wurde ich ihr vor der Mahlzeit vorgestellt. Es war ein grauer, düsterer Tag: der Salon lag im Zwielicht, in diesem ungewissen Schein sah sie ungünstig aus. Eine tiefbrünette Dame von etwa dreißig Jahren, sehr groß, aber selbst für diese Größe etwas zu stark, in der Bewegung schwer und langsam, mit nicht unhübschen, aber sehr fleischigen Zügen; der fahle Teint, von dem sich die vollen, blutroten Lippen grell abhoben, die buschigen, zusammengewachsenen Brauen, die Starrheit der Züge wirkten fast unheimlich; zudem lag in der Art, wie sie meine tiefe Verbeugung aufnahm, ein Hochmut, der mir kaum je begegnet war, am wenigsten in diesem Lebenskreise voll formaler Höflichkeit.
Anders freilich urteilte ich über ihr Äußeres, als wir im erleuchteten Speisezimmer saßen. Im Schein der Lampen erschien der Teint noch immer bleich, aber nicht mehr fahl; es lag ein eigentümlicher, sehr matter Schimmer über der Haut, wie man ihn etwa an der Birkenrinde im Frühling findet, und das tiefschwarze Haar von einer Üppigkeit, wie ich es kaum je gesehen hatte, war von einem bläulichen Hauch überflutet; wandte sie das Haupt, so flimmerte es in dem mächtigen, welligen Knoten auf, in den dies märchenhafte Haar über der niedrigen Stirn auf dem Scheitel gebändigt war. Auch nun noch erschienen mir ihre Bewegungen langsam, aber nicht ungraziös mehr; es war in der Art, wie sie jetzt in ihrem Sessel lehnte oder den Kopf wandte, etwas Lässiges, aber die Lässigkeit ungewöhnlicher Kraft; die große, muskulöse, herrlich modellierte Hand sah aus, als könne sie einen Felsblock schleudern, und wäre doch das Entzücken jedes Bildhauers gewesen.
Ähnlich wie sie sich bewegte, sprach sie auch; langsam, mit tiefer, aber weicher, leicht vibrierender Stimme, daß man unwillkürlich lauschte; auch in ihrem Dialekt, so hart er klang, lag ein gewisser Reiz; allerdings sprach sie kein tadelloses Deutsch – ihre Muttersprache war das Ungarische – aber auch ihr Französisch war so unelegant, daß es selbst mir auffiel. Sie sprach wenig, fast nur auf Fragen; es war etwas Gedämpftes in ihrem Wesen, aber nicht die elegische Trauer, die ich nach ihrem Geschick vorausgesetzt hatte; es machte vielmehr den Eindruck mühsam verhaltener Kraft und Leidenschaft.
Schon die Art ihres Atemholens hatte etwas Aufregendes; langsam, mit halbgeöffneten Lippen, einem feineren Ohr hörbar, und tief, tief zog sie die Luft ein, daß sich der Busen sehr merklich hob, dann schloß sie die Lippen und atmete durch die Nase aus, daß die Flügel dieser starken, scharf und kühn geschnittenen Nase vibrierten. Dies konnte ich sehen, weil der junge Graf, der zwischen ihr und mir saß, sich zuweilen zurückbog; von ihren Augen bemerkte ich nur, daß sie groß und hell waren, was zu den düsteren, pechschwarzen, hart aneinanderstoßenden Brauen seltsam genug paßte. Erst als wir im Salon saßen, konnte ich diese merkwürdigen Augen studieren, die fast von Minute zu Minute anders erschienen, grau, grün, dann wieder fast dunkel.
Ich sollte aber noch an demselben Abend erfahren, was diese Augen vermochten. Meine Arbeit über das Schecksystem war nun erschienen und wurde, weil die Einrichtung damals in Österreich noch wenig bekannt war, in den Zeitungen besprochen. Der Graf sagte mir ein freundliches Wort darüber und ließ sich dann die Sache näher erklären. Während ich eifrig sprach, hatte ich plötzlich eine seltsame Empfindung; nie vorher noch nachher habe ich Ähnliches erlebt. Mir war's, als wehe mich ein schwüler Hauch an – aber nein, es war stärker: als striche mir eine heiße, schwere Hand über Stirn und Wangen und als fühlte ich an den Lidern, den Schläfen die spitzen Nägel dieser Hand . . . Ich stockte, fühlte mir das Blut jäh ins Gesicht schießen und sah die Baronin Irma an: ja es waren ihre Augen, die ich so fühlte, der Ausdruck kaum zu beschreiben; starre, nun ganz helle, grüne Augen, und wie loderte es in ihnen – als sähe man Feuer hinter einer Glaswand aufzucken . . . Von ›einem Blick der Schlange‹ pflegen da die Dichter zu reden . . . aber das sind Worte, Worte . . . erlebt, gefühlt muß man's haben . . . Auch währte es nur einige Sekunden, aber nun wußte ich genug von ihr . . .«
Er hielt inne.
Der alte Arzt lächelte. »Und nach vierzehn Tagen kannten Sie sie ganz genau!«
Der Direktor schüttelte den Kopf, sein Gesicht war ernst, ja finster.
»Nach drei Tagen«, sagte er. »Es ist nicht klug, derlei zu erzählen, aber tut man's, so soll man nicht lügen wollen, und vollends darf man nicht schönfärben. Weichmütige, phantasievolle Menschen werden das immer tun, weil sie müssen, weil sie die Wahrheit nicht ertragen können, weil sie sich sonst vor sich selber zu Tode schämen müßten. Weh ihnen, daß sie müssen; dieser Zwang ihrer Seele macht ihnen solche Erlebnisse erst recht gefährlich, denn das innerste Wesen solcher Bündnisse bleibt doch auch für sie dasselbe; das wärmste Gemüt, die kräftigste Phantasie vermag sie auf die Dauer nicht zu adeln. Da sind die Härteren und Verständigeren besser daran; gewiß, aber das müßte kein Mensch sein, der nicht, und sei er so leichtfertig wie damals ich, zuweilen doch empfände, daß solche Beziehungen immer ihre Strafe in sich tragen. Immer – es bedarf gar nicht äußerer Katastrophen, nicht des Strafgerichts der Welt – in jeder solchen Blüte sitzt, mit ihr zugleich geboren und mit ihr wachsend, der Wurm, der sie zernagt.
Immer, sag' ich, so auch hier. Wenigstens, von mir darf ich dies versichern. Ich war sehr rasch der Versuchung erlegen, aber welche Rolle ich dabei spielte, namentlich dem Grafen Wartegg und seiner Frau gegenüber, vergaß ich doch niemals. Ich log nicht einmal Irma vor, daß ich sie liebte, geschweige denn mir selbst; auch sie heuchelte mir nicht, was sie nicht empfand. Was ich mir also sagen konnte, war nur: ›Sie ist ein schönes Weib, und hättest du dich besonnen, so wäre sie eben an einen anderen gekommen‹ – und das ist doch eigentlich, wenn man halbwegs Ehre im Leibe hat, schrecklich wenig. So wenig, daß ich mich vielleicht aus eigener Kraft aus dieser anscheinend so heißen, in Wahrheit so kalten und leeren Beziehung gerissen hätte, wenn mich nicht doch wieder einiges festgehalten hätte.
Ich meine nicht das heiße Blut der Baronin, obwohl ich auch seine Macht über mich nicht leugnen will, sondern im Gegenteil ihr kühle Auffassung unserer Beziehung. Ich habe Ihnen von ihrem Äußeren gesprochen, weil es merkwürdig war und schließlich auch diese Episode meines Lebens bestimmte, von ihrer Seele wüßte ich Ihnen nicht so viel zu sagen. Im Grunde eine Dutzendseele, nicht gut noch schlecht, dann freilich durch ihre Schicksale zum Schlechten bestimmt.
Ihr Unglück war, daß sie von Anbeginn niemand hatte achten können, die Eltern schon gar nicht. Der Vater ein Schwächling, ein Knecht seiner Leidenschaften, die Mutter nicht ohne zähe Kraft, aber ein schlechtes Weib.
Er war Rittmeister bei den Husaren gewesen, in einer kleinen Garnison im tiefen Alföld; die Zeit schlug er mit Karten und Pferden, bei der Flasche und mit Weibern tot. Das tun Hunderte seinesgleichen und kommen doch schließlich äußerlich heil davon, wenn sie nur körperlich kräftig genug sind; ihm ging's übel, weil er's nicht war; zuerst verwüstete er seine Nerven, dann sein Vermögen und schließlich auch seine Ehre; er heiratete seine Mätresse, eine Schusterstochter, weil sie es so wollte.
Natürlich mußte er nun seinen Abschied nehmen, auch seine Familie sagte sich von ihm los, und so saß er schließlich in Debreczin mit seinem Weibe in einem armseligen Häuslein fest und zehrte die Reste seines Vermögens auf. Das Elend voll zu machen, kam nun das Kind zur Welt. Da versuchte er es sogar, wieder zu arbeiten, er gab, da er nichts anderes gelernt hatte, Fechtunterricht, schrieb dann, als er immer mehr verfiel, Akten bei einem Notar ab und quälte sich durch, bis der Tod ihn erlöste.
Nun versuchte die Witwe die Teilnahme der Familie für das damals fünfjährige Kind zu gewinnen und reiste mit ihm nach Wien und Graz; die Verwandten wollten sich auch Irmas annehmen, aber natürlich unter der Bedingung, daß die Mutter ihren Rechten entsage, und davon wollte diese Frau nichts wissen; so schlecht sie sonst war, an dem Kinde hing sie. Sie lehnte die Rente ab, die man ihr als Kaufpreis bot, und kehrte mit ihrem Kinde nach Debreczin zurück. Dort schlug sie sich einige Jahre unsauber genug durch, und das Ende wäre wohl für Mutter und Kind das gleiche und entsetzliche gewesen, wenn nicht schließlich auf Betreiben der Verwandten die Gerichte eingegriffen hätten; das Kind wurde der Mutter abgesprochen und zur Erziehung in ein Kloster gebracht; die Frau kämpfte verzweiflungsvoll dagegen an, bis sie starb.
Das waren die Eltern der Baronin Nery – und ihr Gatte?! Nun der ›kleine Haynau‹, für ›fünf G‹! Als das schöne, achtzehnjährige Mädchen in die Welt trat, war sie, trotz der bösen Erbschaft im Blut, an sich nicht schlechter als jede ihrer Mitschülerinnen und hätte vielleicht einem braven, jungen Manne ein ordentliches Weib werden können – vielleicht – je älter ich werde, je mehr ich vom Leben sehe und erkenne, desto grausamer und unbezwingbarer erscheint mir die Macht der Vererbung . . . Nun kam sie aber zudem an diesen Menschen, der sie nahm, weil er ein junges, schönes Mädchen aus alter Familie suchte, und dem man sie gab, weil sie eben ihrer Eltern Kind war. Und so wurde diese Ehe nach zwei oder drei Jahren, was sie nun war: es war schwer zu entscheiden, ob er sie mehr haßte und verachtete oder sie ihn. Natürlich hatte sie zunächst Schlimmes von ihm erduldet, war wirklich die Märtyrerin gewesen, wofür sie ihre Verwandten noch heute hielten oder doch – sie klagte niemals und heuchelte überhaupt nur, soweit wie sie mußte – zu halten vorgaben, aber das war längst vorbei.
Jetzt hatte sie sich, wie sie mir gleich in den ersten Tagen sagte, ›ihre Stellung ihm gegenüber gemacht‹. Wie ihr dies gelungen sei, würde sie mir schwerlich gesagt haben, wenn ich sie darum bestürmt hätte; nun hütete ich mich aber, daran zu rühren; mir sagte mein Instinkt: das waren unheimliche Geschichten; vermutlich wußte sie von ihm noch Schlimmeres als die anderen Menschen, und er fürchtete sie vielleicht mehr als sie ihn. So hatten sie ihren Pakt gemacht: sie blieb in seinem Hause, repräsentierte als Wirtin; damit mußte er zufrieden sein. Sie war mit ihm nach Battaglia gegangen, weil sich das so schickte, und war nun allein zurückgekommen, weil's ihr in Bozen zu langweilig geworden. ›Daß mein Leben verpatzt (verpfuscht) ist‹, sagte sie zu mir, ›dafür kann ich nichts; ich such's mir nun wenigstens so angenehm einzurichten, wie es noch möglich ist.‹ Und dazu gehört eben auch eine Beziehung, wie nun die zu mir. ›Das ist das einzige‹, sagte sie zu mir, ›was ich vor ihm verbergen muß. Er weiß, daß ich ihn verabscheue, und er trägt es; daß ich einem anderen angehöre, würde er nicht ertragen, das würde ihn rasend machen. Ich muß also sehr vorsichtig sein, und weil ich's sein muß, so bin ich's eben. Er hat bisher nichts gemerkt und wird es auch diesmal nicht.‹
Sie sehen, allzuviel Romantik war nicht dabei; sie erzählte niemals von meinen Vorgängern in ihrer Gunst, aber sie leugnete nie, daß es deren gegeben hatte. ›Lieber Freund‹, pflegte sie mir immer wieder in ihrer langsamen, gleichmütigen Art des Redens zu sagen, ›nur keine Dummheiten! Und Illusionen sind für Menschen in unserer Lage die gefährlichsten Dummheiten. Ich habe Sie gewählt, weil Sie mir gefallen und weil Ihre Stellung bei Warteggs jede Indiskretion Ihrerseits ausschließt. Und Sie mich, weil ich Ihnen gefallen und weil ich Sie nie kompromittieren werde.‹
Man kann wirklich nicht vernünftiger sein. Auch beim Sie blieben wir aus dem gleichen Grunde. Wir mußten ja fast täglich in anderer Beisein miteinander reden, wie leicht hätten wir uns da versprechen können . . . Und so ging es Woche um Woche fort, nie eine Szene, nie ein unangenehmes Wort.
Ich sagte schon: vielleicht hielt mich, wie ich damals war, gerade diese nüchterne Art an sie gekettet. Mein Gemüt war nicht aufgeflammt und konnte nicht erkalten, und daß der Rausch der Sinne fortwährte, dafür sorgte ihre Schönheit. Zudem hielt sie uns beide immer in gewissen Schranken und sorgte dafür, daß wir nie allzutief in den Schlamm gerieten. Kurz, in jeder Hinsicht ein verständiges und in seiner Art ehrliches Weib.
Trotzdem war's eine häßliche Zeit in meinem Leben; ich denke nicht einmal an die Abende in ihrer Villa am Rosenberg gern zurück, geschweige denn an die Tage auf meinem Zimmer. Ich fühlte mich nicht gerade unglücklich, aber wohl war mir in meiner Haut wahrhaftig nicht. Niemand im Hause schien etwas von der Beziehung zu ahnen; nur einmal, im Januar, machte es mich unruhig, als ich während eines flüchtigen Gesprächs mit Irma die Augen von Mademoiselle Adèle scharf und prüfend auf uns gerichtet fühlte, aber ich tröstete mich: viel las sie mir nicht vom Gesichte ab und der Baronin vollends nicht. Aber auch, wenn's niemand wußte, ich konnte meinem Schüler und namentlich seinen Eltern gegenüber ein unbehagliches Gefühl nicht loswerden.
Dazu mein Fiasko als Dozent, der Kärntner war ja nun hergestellt, und ich langweilte ihn wieder zwei Stunden wöchentlich; erhebend war die Tätigkeit gerade nicht. Mein Leipziger Gönner, dem ich's klagte, tröstete, das sei ja ein unverschuldetes Fiasko; ich hätte wirklich was gelernt und spräche auch nicht schlechter als die meisten – aber das war mir ein karger Trost, und sein Rat, auszuharren, behagte mir nun schon gar nicht. Bis zum Herbst konnte ich ja bei Warteggs bleiben, aber sollte ich dies?! In Graz kam ich als Dozent nie vorwärts, das war klar – ob anderwärts, ob ich überhaupt zum Gelehrten taugte?! Es wurde mir immer zweifelhafter; was mich zumeist fesselte, war doch nicht die Theorie, sondern die Praxis. Ich hatte infolge meiner Arbeit über das Schecksystem den Direktor des ›Steirischen Bankvereins‹ kennengelernt und volontierte nun zwei Stunden täglich auf seinem Büro; sie waren mir die interessantesten des Tages. Und als ich wieder die Feder ansetzte, wurde es keine Abhandlung für ein Archiv, sondern ein Aufsatz über das Wesen der Arbitrage für ein großes Wiener Blatt. Es wurde sofort gedruckt und blieb nicht unbemerkt, gleichwohl wurde ich das Gefühl nicht los: ›Du regst in deinem Kahn ab und zu die Arme, um zu rudern – und weißt nicht wohin!‹
Aber nicht diese große Frage, etwas anderes schuf mir in jenen Zeiten die schlimmste Pein: die arme, schöne, gute Kathi! – Sooft ich an sie dachte, regte sich das bißchen, was noch gut in mir war, und ich schämte mich. Und der schwerste Augenblick in jenen Zeiten war es wohl, wenn ich, in tiefer Nachtstunde vom Rosenberg heimkehrend, die Klingel des Palais in der Raubergasse zog. Sie machte es mir nicht schwer; behende wie immer kam sie in ihren klappernden Stiefelchen herangetrabt und öffnete mir mit freundlichem Gruß das Tor. Auch mühte sie sich immer, mir ein heiteres Gesicht zu zeigen. Ich aber mußte mir sagen, daß es auch meine Schuld war, wenn diese hellen Kinderaugen nun trüber blickten als sonst. Auch glaubte ich zuweilen in diesen Augen eine stille Sorge zu lesen, die mich beschämte. Die Kathi wußte nicht, von wem ich kam, aber auf welchen Wegen ich wandelte, mochte sie wohl ahnen . . . Gesprochen wurde zwischen uns seit Wochen nur noch das Notwendigste. Da traf ich sie, es war Mitte Februar, eines Nachts so blaß, so verweint, daß ich bei ihrem Anblick erschrak und unwillkürlich fragte: ›Was gibt's, Kathi?‹
Sie schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen; nur die lieben Augen füllten sich wieder mit Tränen. Erst, als ich nochmals fragte, stieß sie schluchzend hervor: ›Nix Besonderes, Herr Professor! Der Herr Jean hat mir geschrieben, er kommt nächstens zurück – es is jetzt mit sein' Herrn soweit wieder gut.‹ Und dann mit mühsam errungener Fassung: ›No ja, ewig kann er doch net in Bozen bleiben. Das hab' ich ja gewußt‹ – aber dabei schüttelte ein Schauer den jungen Leib.
Ich fühlte mich erblassen: das wußte Irma noch nicht, und wie sollte es nun zwischen uns werden?! Dann aber dachte ich auch an das arme Kind vor mir und seinen großen, großen Jammer und suchte es zu trösten: es werde wohl nicht so schlimm werden; zudem könne sie ja nun die Hilfe ihrer Herrin, der Gräfin, anrufen. Sie hörte mich gesenkten Hauptes an. ›Nein, nein‹, sagte sie dann, ›wie Gott will . . . Ich tu' nix dagegen!‹
Und sie schlich auf ihre Kammer zurück.
Am nächsten Abend empfing mich die Baronin gleichmütig wie sonst.
›Hat Ihnen Ihr Mann nicht geschrieben?‹ fragte ich erregt und erzählte ihr, was ich von Kathi wußte.
›Der Brief kam heute.‹ erwiderte sie ruhig. ›Er ist nächsten Sonntag hier. Warum sind Sie so bestürzt? Das kann uns beiden ganz gleichgültig sein. Durch sein Kommen ändert sich nur so viel an meiner Lebensweise, daß ich nun, statt bei Warteggs oder allein, des Mittags mit ihm speise. Im übrigen bleibe ich hier in meinem Flügel, er drüben in dem seinigen. Abends gehe ich, wie bisher, ins Theater oder in Gesellschaft. Alles wie sonst.‹
›Und ich?!‹
›Sie kommen eben, sooft es uns paßt. Die einzige Änderung, um die ich Sie bitten muß, ist nur, daß Sie etwas später, kurz vor Mitternacht, kommen, und nicht mehr durch den Haupteingang, sondern durch den Garten, die Seitentür links, die direkt in meine Zimmer führt. Der Baron ist nachts oft schlaflos und könnte Sie sonst kommen hören.‹
›Und die Dienerschaft . . .‹
›Lieber Freund‹, unterbrach sie mich, ›bürden Sie sich nicht meine Sorgen auf! Ich weiß nicht‹, fuhr sie lächelnd fort und tippte mit dem Finger an meine Stirn, ›welche Gedanken hinter der Wand da über mich zu finden sind. Sie sind zwar, gottlob, ein recht verständiger, weltläufiger junger Mann, aber anderseits sind Sie ein deutscher Privatdozent, der früher viel Verse gemacht hat, man kann das also nicht so genau wissen. Aber wie immer Sie mich beurteilen: für unvorsichtig haben Sie mich bisher gewiß nicht gehalten; tun Sie es auch ferner nicht.‹ Dann aber erklärte sie mir noch näher: auf die vier Leute, die sie jetzt im Hause habe, könne sie sich nach dieser Hinsicht unbedingt verlassen; ›sie haben mich gern, sind zu gescheit, ihre angenehme Stellung zu riskieren, und hassen den Baron.‹ Ihr Mann bringe drei Leute mit: den Jean, einen Riesen von Neger, den er als Masseur habe ausbilden lassen, und einen jungen Lakaien; von ihnen komme nur der Jean in Betracht, und das sei ein Mensch, von dem nichts zu befürchten sei, wenn man ihn zu behandeln wisse.
›Er soll‹, wandte ich trotzdem ein, ›seinem Herrn sehr anhänglich sein.‹
Sie machte eine ungeduldige Bewegung, sagte dann aber lachend: ›Lieber Doktor, Sie sind heute wirklich unangenehm! Sie zwingen mich, Ihnen zu sagen, was man doch einem deutschen Jüngling nicht gern gesteht: daß Jean sich bei einem ähnlichen Anlaß gegen ein anständiges Taggeld durchaus korrekt gegen mich benommen hat. Seinem Herrn anhänglich?! Nur soweit es dem Schurken paßt.‹
Da war ich denn beruhigt. Und in der Tat ereignete sich in den nächsten vierzehn Tagen nichts, was auf eine Gefahr hätte schließen lassen. Ich war während der Zeit vier- oder fünfmal in der Villa, zu deren Gartentür ich nun den Schlüssel hatte. Die Baronin empfing mich unbefangen wie immer.
Des Barons wurde nur einmal erwähnt. Sie fragte mich, ob ich keinen Vorleser für ihn wüßte; der Mann müsse Deutsch und Französisch können.
Ich versprach, Umfrage zu halten.
›Es eilt nicht‹, sagte sie. ›Zudem hat sich Mademoiselle Adèle erboten, zwei Stunden täglich auszuhelfen, bis der Richtige gefunden ist. Ich würde das aber ungern annehmen, die Person ist mir antipathisch,‹ und dann: ›les ennemis de nos amis sont nos ennemis‹ – ›sie haßt Sie tödlich.‹
›So?!‹ fragte ich möglichst gleichmütig. ›Warum eigentlich?!‹
Die Baronin lachte. ›Tun Sie nicht so erstaunt! Das wissen Sie besser als ich und ebenso den Grund, ich kann ihn nur erraten . . . Näheres interessiert mich nicht‹, fuhr sie lustig fort, als ich sprechen wollte, ›ich möchte nicht eitel werden. Aber lassen wir das! Es ist ganz gleichgültig, ob sie Sie haßt.‹
Dieser Meinung war auch ich. Und darum nahm ich's sehr ruhig auf, als ich nach einigen Tagen erfuhr, daß sie dem Baron Nery nun ab und zu aus französischen Romanen vorlese.
Kurz darauf bekam ich diesen Herrn zufällig zu sehen. Als ich eines Vormittags mit dem jungen Wartegg an seiner Villa vorüberritt – es war ein ungewöhnlich milder Februartag, und die Sonne schien fast warm –, saß er in Pelze gehüllt in seinem Rollstuhl auf der Veranda der Villa; hinter ihm stand, gleichfalls wohl eingehüllt, der Neger, ein herkulisch gebauter Mann mit stumpfem, tierischem Gesicht. Als der Baron uns erblickte, winkte er den jungen Herrn heran; ich stieg mit ab und wurde vorgestellt. Es war mir ein peinlicher Augenblick. Scheu sah ich in das wüste Greisenantlitz mit den zerwühlten Zügen; namentlich die unsteten Augen ließen mich erschauern.
Auch seine Reden machten den Eindruck, als hätte der alte Sünder die Gewalt über sich verloren.
›Also Sö san der Herr Instruktor!‹ sagte er kichernd. ›Aber dazu taugen S' eigentlich net! So a hübscher, starker Kerl! So a schöne, grade Nasen! Beichtvater sollten S' werden, für Damen natürlich, hihi! Dies wär 's richtige Geschäft für Sie!‹ Und sooft er grinste, tat's auch der unheimliche Mensch, der Neger.
Ich war froh, als wir gehen konnten.
Natürlich steigerte diese Begegnung mein inneres Behagen nicht. Von Tag zu Tag empfand ich die Lage, in die ich mich gebracht hatte, peinlicher. Und dann tat mir das liebe Mädel, die Kathi, so sehr, sehr leid.
Ich sah sie nur einmal, des Vormittags. Blaß und verstört saß das arme, junge Blut am Fenster der Portierswohnung und starrte in eine Schüssel Schoten, die sie aushülsen sollte, die Lider gesenkt, die Mundwinkel tief herabgezogen, ein Bild tiefsten Grams. Seit der Rückkehr ihres Bräutigams versah wieder der alte Grabmayr sein Amt, unter Stöhnen und Fluchen. ›Der grausliche Mensch, der Jean, is ja verrückt vor Eifersucht‹, klagte er mir, ›er leid't net mehr, daß die Kathi aufmacht!‹
Auch den ›Herrn Schurken‹, wie ihn Franz nun grimmiger als je nannte, sah ich einmal, als er mit einer Botschaft seiner Herrin beim jungen Grafen eintrat: ein widriger, verlebter Kerl mit brutalem Gesicht. Mich streifte sein Blick mit einem Ausdruck hämischer Vertraulichkeit – die Quittung über das ›anständige Taggeld‹ stand darin geschrieben – wahrlich, ich hatte Grund, stolz auf mich zu sein . . .
Übrigens sollte der Mensch noch lange an diesen Besuch im Palais denken. Als er die Treppe hinabging, stieß er mit dem Franz zusammen, und dieser prügelte ihn weidlich durch und hätte ihn erwürgt, wenn nicht die anderen Lakaien hinzugesprungen wären. Natürlich mußte nun Franz aus dem Hause; der Graf, ein milder Herr, schickte ihn auf seinen Sommersitz in Obersteier; unter Tränen nahm er von mir Abschied. ›Geben S' auf die Kathi acht‹, bat er schluchzend, ›sonst geschieht ein Unglück!‹ Aber was konnte ich da machen?
So lebte ich die nächsten Tage unfroh und gequält dahin, in einer dumpfen, stumpfen Leere des Herzens und des Hirns, und alles peinigte mich: auch das Verflackern der Sinnenglut, und daß ich nicht ernstlich arbeiten konnte, und am meisten die Unfähigkeit, mich frei zu machen. Ich war entschlossen gewesen, nach dem ersten Rigorosum meines Zöglings zu gehen; nun bestand er es am ersten März, und es war gleichgültig, wer ihn für das zweite vorbereitete, dennoch blieb ich. ›Fort muß ich‹, sagte ich mir täglich, ›ich muß mit dem Grafen sprechen‹ – und täglich blieb's beim Vorsatz.
Da griff das Schicksal ein und riß mich empor und begnadete mich gegen Recht und Verdienst mit dem Segen eines inneren Erlebnisses, das mich so weit wandeln und veredeln sollte, wie dies überhaupt noch möglich war.
Ich weiß noch heute das Datum: Montag, den 5. März 1875. Ein heller, sonniger Vorfrühlingstag. Licht und Wärme und Heiterkeit, wohin das Auge blickte. Ich aber stand seufzend auf und dachte beim Ankleiden ohne Freude daran, daß ich heute kurz vor Mitternacht in der Villa am Rosenberg erwartet wurde.
Dann ging ich ins Kolleg und bewies meinem armen Mietling, welch ein bedeutender Mann Friedrich List gewesen sei. Er hielt geduldig stille, aber als ich schloß: ›Über die weitere Entwicklung der Listschen Theorie der produktiven Kräfte wollen wir, meine Herren, das nächste Mal sprechen!‹, da trat er mit dem Mut des gekrümmten Wurms auf mich zu und bat, ob ich ihn nicht für den Rest des Semesters dispensieren könne. Er wolle heimgehen und für die Staatsprüfung arbeiten. Aber wenn mir daran liege: sein Vetter, ein Theologe, sei bereit, ihn zu vertreten. Darauf verzichtete ich edelmütig und ging heim. Jener Satz aber, mit dem ich schloß, ist mir aus guten Gründen in Erinnerung geblieben; es ist der letzte, den ich im Leben von einem Katheder herab gesprochen.
Damals ahnt' ich's noch nicht, trotz des erhebenden Abschlusses, und obwohl mir mein Freund, der Bankdirektor, mittags sagte, eine große Wiener Bank, zu deren Gruppen sein Institut gehöre, suche einen Direktionssekretär; er sei bereit, mich für den glänzend bezahlten, sehr aussichtsreichen Posten zu empfehlen. Dieser Posten und ich – wir seien füreinander geschaffen. Ich dankte ihm, erbat Bedenkzeit und dachte zunächst nicht weiter daran. Ein lachendes Tal, ich aber starrte nur immer in den Nebel vor mir.
Träg schlichen die Stunden dahin; ich mochte trotz des herrlichen Tages nicht ins Freie. Trübselig saß ich auch des Abends allein auf meinem Zimmer und lauschte auf die Stimmen der eigenen Brust. Ach, sie klangen schrill und traurig genug. Von allem, was ich mir hier zu erringen gehofft hatte, war mir nichts geblieben als ein bißchen Sinnenglut, auch diese im Verflackern und von trübem Qualm umschwelt.
Gleichviel, ich durfte Irma nicht warten lassen. Als es elf Uhr schlug, schloß ich die Fenster, durch die bisher die noch immer milde Luft eingeströmt war, nahm Mantel und Hut und wollte die Treppe hinabgehen. Bei dem ungewissen Schein des Deckenlämpchens am Korridor sah ich am Pfeiler neben der Treppe eine Gestalt lehnen.
Erstaunt sah ich schärfer hin. Da regte sie sich, daß der Lichtschein auf ihr Antlitz fiel, ein erregtes, totenblasses Antlitz.
›Kathi!‹ rief ich.
Sie trat wankenden Schritts vor; das arme Kind hielt sich sichtlich mühsam aufrecht.
›Herr Professor‹, stammelte sie, ›ich hab' auf Ihnen g'wartet! Ich muß Ihnen was sagen.‹
Ich sah sie fragend an.
›Sie dürfen net hin!‹ rief sie und hob die zitternden Hände empor. Im Klange ihrer Stimme, in ihrer Gebärde lag ein Ausdruck so dringlichen Flehens, so hilfloser Herzensnot, daß ich sie zunächst fassunglos anstarrte.
›Sie dürfen net!‹ wiederholte sie. ›Um Christi Barmherzigkeit willen! – Es wär' Ihr Ende!‹
Sie stieß es schrill hervor, es klang wie ein Schrei durch die Stille der Nacht.
›Pst!‹ machte ich unwillkürlich; die Treppe mündete dicht neben der Portiersloge.
›Jesus Maria!‹ murmelte sie, ›wenn mich der Onkel g'hört hätt! Er glaubt, ich schlaf. Herr Professor, machen S' Ihre Tür wieder auf und lassen S' mich zu sich ins Zimmer. Sie müssen alles wissen.‹
Ich hatte mich gefaßt. ›Liebe Kathi‹, sagte ich, ›Sie meinen es gut, aber muß es heute sein?! Ich weiß nicht, was Sie zu wissen glauben, aber dort, wohin ich gehe, erwartet mich keine Gefahr!‹
›Das größte Unglück‹, rief sie und umfaßte meine Rechte mit ihren beiden fieberheißen, zitternden Händen.
›Der Hassan, der Schwarze! Machen S' Ihre Tür auf – Sie müssen alles wissen!‹
Da tat ich, wie sie wünschte, zündete die Lampe an und ließ sie eintreten.
Nun erst, im helleren Licht, sah ich, wie verwüstet die Züge des armen Kindes waren. Ich bat sie, sich zu setzen.
Sie schüttelte den Kopf. ›Nein, kurz. Also . . . !‹
Aber da stockte sie wieder und schlug die Hände vors Gesicht. ›Mein Herr und Gott, wie soll ich das sagen!‹
Dann begann sie wieder stammelnd, von Purpurröte übergossen: ›Ich weiß schon seit vorgestern, mit wem Sie . . . wohin Sie jetzt abends so oft gehen. Der Herr Jean hat's mir g'sagt. Nämlich jeden Samstag führt er mich jetzt aus, zum Wein. Ich muß ja mit, ich bin ja seine Braut.‹
Ihre Stimme klang heiser und sank zum Flüstern herab. ›Er hofft immer, wenn ich trink' . . . aber . . . lieber sterben. Aber er selbst hat sich dann nimmer in der Hand und red't gar viel. Und da prahlt er also am Samstag: jetzt hat er auch von seiner Baronin täglich fünf Gulden extra . . . und wofür sie's ihm gibt.‹
Sie rang nach Worten: ›Mir . . . mir war sehr bitter, wie ich das gehört hab'. Net meinetwegen . . . nein, was dürfen Sie mich angehen?! Aber Ihretwegen! Sie, Sie . . . ‹
Sie verstummte und schlug die Hände vors Gesicht.
Ich verstand wohl, was sie sagen wollte: ›Sie sind zu gut dazu!‹
Ich stand am Fenster und preßte die heiße Stirn gegen die Scheiben. ›Weiter!‹ sagte ich endlich . . .
›Ja, ja!‹ Sie strich sich mit der Hand über die Stirne. Sie lerne jetzt vormittags auf Wunsch des Herrn Jean bei der Theres' von Nerys das Kochen, esse dort und bessere nachmittags in der Stube der Mizzi, der Zofe, seine Wäsche aus. Der Herr Jean wolle zwar, daß sie das auf seinem Zimmer besorge, aber das tue sie nicht . . . ›Heut nach vier, wie's schon dunkel wird – er is grad' beim alten Herrn – geh' ich in sein Zimmer, die Wäsch' einzulegen. Da hör' ich ihn plötzlich kommen. In meiner Angst versteck' ich mich hinter ein' Vorhang. Er kommt mit dem Schwarzen, und da muß ich hören, was sie reden.‹
Wieder versagte ihr die Stimme. Ich mußte zureden, auch wiederholt fragen, bis ich über den Inhalt des Gesprächs im klaren war.
Der ›Herr Jean‹ habe den Hassan im Auftrage des Barons gedungen, einen jungen Herrn, der kurz vor Mitternacht durch den Garteneingang eintreten werde, vor der Pforte zu überfallen und halbtot zu prügeln. ›Ganz hin darf er net wer'n, aber mindestens die Nasen mußt du ihm entzweischlagen. Hörst?! – die Nasen! Das will der Herr Baron. Dafür kriegst hundert Gulden!‹ Und der Hassan hatte es in seinem gebrochenen Deutsch zugesagt: ›Ja, ich tun Nasen weg!‹ Und darauf seien beide wieder aus dem Zimmer gegangen, und sie sei heimgestürzt, mich sogleich zu warnen.
Aber da habe ihr doch der Mut gefehlt. Dann habe sie sich hingesetzt, mir zu schreiben. ›Aber ich kann ja so schlecht schreiben. Und dann hat mich die Angst gepackt: vielleicht geht er doch hin. Und da hab' ich auf Sie gewartet.‹
Ich ging, während sie dies stammelte, im Zimmer auf und nieder. Wirr genug war mir im Gemüt, noch wirrer im Hirn. Ich schämte mich vor dem lieben, armen Ding, schämte mich, wie ich's kaum sagen kann. Aber wie immer ich war, ein Feigling war ich bisher nie gewesen und durfte es auch jetzt nicht sein. Freilich nützte ich vermutlich der Baronin nichts, brachte nur mich selbst in Gefahr, aber es mußte sein.
Mein Entschluß war gefaßt. Ich trat zur Kathi, ergriff ihre Hand und dankte ihr herzlich. Sie möge nun schlafen gehen.
›Und Sie!‹ schrie sie auf. ›Sie gehen doch hin!‹
Ich schwieg.
›Bei allen Heiligen‹, drängte sie. ›Antworten S' mir!‹
›Ich muß, Kathi! Ich nehme meinen Revolver mit, da geschieht mir nichts!‹
›Es darf net sein!‹ Sie stürmte zu meinen Füßen nieder und umklammerte meine Knie.
Ich hob sie sanft empor, blieb aber fest. Und da . . .«
Der Erzähler hielt inne. Als er fortfuhr, zitterte seine Stimme.
»Und da, meine Herren, da erlebte ich, was mich dies Mädchen die Beste ihres Geschlechts nennen läßt.
Sie erhebt sich und wankt nach der Tür. Da bleibt sie stehen und wird glühendrot, dann totenbleich und tritt endlich wieder an mich heran. Und so, zwei Schritte von mir, die Arme schlaff herabhängend, murmelt sie: ›Herr Professor, Sie dürfen net hingehen. Die Baronin ist eine große Dame, und ich bin nur an armes Mädel. Aber lieber wie sie hab' ich Sie. Ich hätt's nimmer g'sagt, jetzt wissen S's! Lieber wie mein Leben hab' ich Sie! Und ich . . . ich hab' Ihnen ja auch amal g'fallen. Sehr g'fallen, sonst hätten S' mich net so geküßt. Und Sie haben's nur aus Erbarmen mit mir net wieder getan. Herr Professor, geküßt hat mich auch der Herr Jean, aber mehr net, bei Gott, mehr net! Wenn eins von uns beiden zugrund' gehen soll, so will ich's sein. Denn der Herr Jean schlagt mich dann gewiß tot, aber daran liegt nix. Herr Professor, hier bin ich . . . ich will mich net wehren. Aber Sie gehen net hin!‹
Ich starrte sie an, dann wich ich zurück.
So standen wir wohl eine Minute, beide zitternd, einander gegenüber.
›Gehen Sie‹, rief ich endlich. ›Ich bleibe zu Hause! Ich danke Ihnen. Gehen Sie!‹
Darauf sie: ›Herr Gott, ich dank' dir!‹ Noch einen Augenblick stand sie schwer atmend da, dann verließ sie, das Antlitz plötzlich von Tränen überströmt, aber aufrechten Hauptes, mein Zimmer.«
Wieder verstummte der Direktor, in seinen Augen war ein feuchter Schimmer. Aber als er fortfuhr, klang seine Stimme wieder ruhig wie sonst: »Sie werden mir gerne glauben, daß ich in dieser Nacht kein Auge schloß. Und das Gelöbnis, das ich mir in den qualvollen Stunden ablegte, habe ich zu halten versucht.
Am nächsten Morgen um acht Uhr brachte mir ein Knabe ein Billett von mir unbekannter, ungelenker Frauenhand: ›Seien Sie heute um zehn im Museum in der Herrengasse.‹ Nach der Beschreibung, die mir der Bote von der Frau gab, war es die Mizzi, die Zofe der Baronin. Ich ging hin; es war wirklich die Mizzi. Lachend erzählte sie mir, sie habe gestern nacht von elf bis zwei vergeblich einige tausend Schritte von der Villa auf mich gewartet, um mich heimzuschicken, wenn ich käme. Mademoiselle Adèle habe dem Baron Nery die Ohren voll gewispert und dieser darauf den Schergen gedungen, mir aufzulauern. Zum Glück habe Jean davon Wind bekommen und die Baronin rechtzeitig gewarnt. Sie habe eben ihrem Mann eine furchtbare Szene gemacht und ihm erst nach langen Bitten wieder vergeben. Natürlich dürfe ich nun zunächst nicht wiederkommen, etwa drei Wochen lang.
Ich erwiderte, daß ich überhaupt darauf verzichten müßte, da ich noch heute nach Wien abreise. Ob ich der Baronin durch ihre Vermittlung schreiben dürfe. ›Lieber nicht‹, war die Antwort. ›Sie is keine Freundin von Briefen, das dürfen S' mir glauben.‹
Und ich glaubte es ihr.
Dann ging ich zum Bankdirektor und bat, meine Bewerbung in Wien anzumelden; hierauf zum Grafen Wartegg, der meine Bitte um sofortige Entlassung gütig gewährte. Nach einem Brief an den Dekan der Fakultät, in dem ich auf die Dozentur verzichtete, blieb mir in Graz nur noch eines zu tun übrig. Ich besaß etwa tausend Gulden; das Notwendigste behielt ich davon zurück, das übrige gab ich einem Grazer Anwalt mit dem Auftrage, sich mit dem Winzer Sturzenegger in Radkersburg in Verbindung zu setzen und ihm das Geld auszuzahlen an dem Tage, wo das Verlöbnis seiner Tochter Kathi mit dem Jean Wodliczka gelöst sei.
Dies ist geschehen. Daß die Kathi ahnte, von wem das Geld komme, konnte ich nicht verhindern; sie dankte mir brieflich. Ich habe nie wieder von ihr gehört.
So – das ist alles!«
Er zog die Uhr.
»Alle Wetter, halb zwei. Gute Nacht, meine Herren!«