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Es ist eine wehmütige Erinnerung aus meiner Jugendzeit, die ich hier in schlichten, aber aus tiefstem Herzen quellenden Worten aufzeichnen will, die Erinnerung an einen edlen Tondichter, das schöne Mädchen, das er geliebt, und das herrliche Kunstwerk, in dem er seine Liebe ausgeströmt. Das Werk hieß: »Der Stern von Lopuschna«, das Mädchen ebenso und daneben Anastasia Bogdanowicz, der Künstler aber Frantisek Majir.
Der Name dürfte selbst den gründlichsten Kennern der neueren Musik nicht bekannt sein; Majir hat den Ruhm, den er verdient, nicht errungen. Aber das lag nicht an seinem Streben und Können, eine häßliche Intrige brach seine Kraft und raubte ihm den verdienten Lorbeer. Der Mann, der den teuflischen Anschlag ausgeheckt, war nur ein ganz gewöhnlicher Apotheker und steht für meinen Zorn zu tief, aber gelungen ist ihm sein Werk nur durch die Mithilfe eines auch heute noch vielgenannten, ja gefeierten Künstlers. Mit Unrecht gefeiert, wenn er etwa auch noch gegen andere die gleiche Schuld auf dem Gewissen hat wie gegen den armen Majir. Die Wahrscheinlichkeit spricht ja dafür, und dann wäre der ganze Ruhm dieses Mannes eitel Lüge. Doch will ich nichts behaupten, was ich nicht beweisen kann.
Den Frevel an Majir aber kann ich beweisen. Und darum werde ich den Namen des berühmten Komponisten am Schlusse dieser Aufzeichnung furchtlos nennen, es entstehe daraus, was da wolle. Wer eine sittliche Pflicht erfüllt, dem darf nicht bange werden – und habe ich nicht die Vergeltung ohnehin durch drei Jahrzehnte immer wieder aufgeschoben? Denn im Sommer 1865 ist Majirs Ruhm vor meinen Augen vernichtet, seine Künstlerkraft geknickt worden. Vorher hatte dieser Ruhm nur kurz geblüht, denn Majir war damals noch jung, etwa siebenundzwanzig Jahre, und alles an ihm war neu, der Hut, der Rock und die Stiefel, sogar der Name und die Nationalität waren neu. Sein Vater hatte noch Gottfried Mayer geheißen und sich sein Leben lang als Deutscher bekannt. Allerdings sprach es dagegen, daß er nicht bloß aus Chrudim stammte, sondern auch als Hausknecht nach Czernowitz eingewandert war. Denn dies war der Beruf, den die Tschechen fast ausschließlich ergriffen, um die Kultur aus Böhmen nach Wien und Pest sowie nach Galizien und der Bukowina zu tragen, wo es allerdings eigentlich immer schon genug eingeborene Hausknechte gegeben hat.
Aber wie dem auch sei, der Vater hieß wirklich Mayer und trug im Jahre 1848 mit vielem Stolz als Czernowitzer Nationalgardist das schwarz-rot-goldene Band um die Brust. In diesem glorreichen Jahr war er übrigens nicht mehr Hausknecht, sondern, dank seinem zähen Fleiß, Sensenhändler, und da er die rumänischen und ruthenischen Bauern, die zum Wochenmarkt in die Stadt kamen, etwas weniger betrog als seine Konkurrenten, auch sonst, mit dem landesüblichen Maß gemessen, ein ehrlicher Kaufmann war, so besaß er bald die ansehnlichste Eisenhandlung der Stadt, da, wo die Siebenbürger Gasse in den Ringplatz mündet, dem Rathaus gegenüber.
Noch sehe ich den dicken Mann mit dem blühenden Vollmondgesicht breit und stattlich in der Tür seines Ladens stehen, immer ein großes, kupferrotes Taschentuch in der Hand, das leider abfärbte, denn auch die Nase war kupferrot. Des Morgens, wo diese Nase noch grau war, lächelte er nur herablassend auf uns Jungen nieder, wenn wir an ihm vorbei nach dem Gymnasium zogen, mittags, wo sie sanft glühte, gönnte er uns zuweilen auch ein gütiges Wort, z. B.: »Ihr Raubersbub'n, was gaffts ihr mich an?«, des Nachmittags aber, wo die Nase bereits purpurn in die einbrechende Dämmerung schimmerte, glotzte er uns nur noch aus stieren Augen schweigend an.
Die Meinungen über ihn waren geteilt, die einen waren überzeugt, daß er sich täglich in Bier betrank, andere rieten auf Met, wieder andere auf Wein und Schnaps, an das abfärbende Taschentuch glaubten nur die edelsten Gemüter. Alle aber stimmten dahin überein, daß er deshalb doch ein tüchtiger Geschäftsmann sei und eigentlich nur täglich den aufsteigenden Gram über seinen Franz hinabschwemmen müsse. Das war sehr wahrscheinlich. Denn der Vater war nicht klüger als die anderen Leute von Czernowitz und hielt seinen Sprößling auch für einen Lumpen.
Franz war aber ein Genie. All die Merkzeichen, aus denen ein kundiger Blick erkennt, daß wieder ein neuer Stern am Horizont der Menschheit aufgeht, trafen auf ihn zu, nur daß eben niemand in der kleinen Stadt am Pruth einen solchen Blick hatte. Er war von schroffer Einseitigkeit wie jedes Genie und lehnte alles ab, was ihn innerlich nichts anging. Zunächst die Kenntnis der Lese- und Schriftzeichen, dann, nachdem ihm diese eingebleut worden, allen toten Wissenskram. Die moderne Gymnasialreform voraussehend und erwartend, blieb er drei Jahre in der untersten Klasse sitzen, bis man ihn hinauswarf. Träumerisch wie jedes Genie, schlief er nur täglich zwölf Stunden und lungerte die übrige Zeit müßig auf den Straßen und im väterlichen Laden umher, statt dort zu arbeiten und die Handelsschule zu besuchen. Auch sein Schönheitsdurst erwachte früh, keine Magd der Nachbarschaft war vor ihm sicher.
Anders jedoch äußerte sich seine künstlerische Anlage zunächst nicht, was ja auch ganz naturgemäß ist: aus einem Wunderkind wird höchstens ein Virtuose, der schaffende Genius reift langsam und organisch. Später aber, als sich seine Schwingen zu entfalten begannen – er pfiff, daß man es in der halben Stadt hörte, und half den Leierkastenmännern beim Einsammeln –, würdigte dies niemand, ja, er mußte deshalb sogar körperliche Züchtigung erdulden. Gottfried bestand darauf, daß er im Laden kräftig eingreife, und als Franz dies nun tat und namentlich in die Ladenkasse eingriff, und zwar mit aller Tatkraft, da war es dem Alten wieder nicht recht. Er prügelte ihn durch und verbannte ihn zu seiner Schwester nach Chrudim.
Immer das alte Lied! Es hat in Czernowitz Leute genug gegeben, die das billigten, wie es Leute in Wien gegeben hat, die Franz Schubert für einen verbummelten Schulmeister hielten.
Die Jahre vergingen, man hörte nichts von dem Knaben; die Taschentücher aber färbten immer mehr ab, und schließlich war Gottfried Mayers ganzes Gesicht schon in den Morgenstunden kupferrot. In noch hellerem Glanze jedoch begann das Gemüt des alten Mannes zu leuchten, immer leutseliger wandte er sich der Jugend zu, und schließlich mußte zuweilen die Polizei eingreifen, weil die Zwiegespräche zwischen dem ehrwürdigen Greis und den munteren Knaben immer geräuschvoller wurden, daß die halbe Stadt gerührt umherstand. Ich konnte dies deutlich verfolgen, denn er war unser Hausherr, meine Mutter wohnte im zweiten Stockwerk zur Miete.
Eines Tages aber – es war im Sommer 1863 – als ich aus der Schule heimkam, fehlte Herr Mayer in der Ladentür, und ich hörte die große Botschaft, daß der Franz heute morgen, nach siebenjähriger Abwesenheit, wieder eingetroffen. Und zwar, wie unsere Köchin erzählte, in Gestalt eines überaus schönen Jünglings, der mit einer für Czernowitz unerhörten Pracht gekleidet sei.
Schon am nächsten Tag konnte ich mich selbst überzeugen, daß diese Beschreibung zutraf. Herr Mayer junior machte bei den Mietern seinen Antrittsbesuch und teilte ihnen mit, daß er die Verwaltung des Hauses und Ladens übernommen.
Schon die äußere Hülle vermochte den Blick zu fesseln. Er trug einen Anzug aus weißem, mit dicken blauen Quadraten bedecktem Sommerstoff, eine rote Krawatte, rote Handschuhe und einen weißen Strohhut mit blaurotem Band. Die Gestalt war wuchtig und glich, da er etwas kurz war, einer auf zwei Pfeilern ruhenden Kugel. Das Haupt aber zeigte sofort das Genie. Denn so langes Haar gedieh bei keinem gewöhnlichen Menschen, als gelbe Mähne erhob es sich wohlgeölt über der niedrigen Stirn und fiel dann in mächtigen Locken auf den Nacken nieder. Um den allerdings etwas breiten Mund lag ein weiches, träumerisches Lächeln, und die kleinen, wasserblauen Augen blickten so verzückt nach oben, daß man von ihnen zunächst nur das Weiße sah. Konnten meine Mutter und ich all dies schon bei den ersten geschäftlichen Worten bewundern, so gestaltete sich sein Gebaren vollends, als er Platz nahm und von sich zu reden begann, wahrhaft beängstigend künstlerisch. In sanftem Lispeln, das nur zuweilen durch einen Seufzer, dann aber unvermutet durch ein Donnerwort unterbrochen wurde, erzählte er, daß er seinem greisen Vater durch die Heimkehr ein schweres Opfer gebracht, denn wohl habe er in Prag den Eisenhandel erlernt, aber sein Herz hänge an der heiligen Kunst, er sei Tondichter, habe schon einzelnes komponiert und: »Hier« – er schlug sich auf die Stirn, daß es dröhnte –, »hier wogt eine Oper.« Aber der alte Herr habe sich so sehr nach ihm gesehnt, und so habe er sich aus Kindesliebe darein gefunden, sein Leben in der Fremde zu verbringen.
In der Fremde? fragte meine Mutter. Er sei doch ein geborener Czernowitzer, und sie erinnerte sich noch seiner, wie er die ersten Höschen getragen.
Er schüttelte elegisch das Haupt. »Die ersten Höschen – ja!« sagte er schmerzlich lächelnd, »aber ist dies meine Heimat? Hat man hier Sinn für die Ideale? Hier sind Musikanten, aber keine Künstler«, fügte er dröhnend hinzu. »Und dann«, hauchte er wieder, »freilich hat mich mein teures Mütterchen hier zur Welt gebracht, aber ist hier Böhmen? Wer versteht hier meine Sprache?« Und dann donnernd: »Wir sind ja Tschechen!«
Das habe sie gar nicht gewußt, erwiderte meine Mutter, auch sei Mayer ein deutscher Name.
»Majir!« brüllte er und fügte dann hauchend hinzu: »Mein guter Vater war so schwach, hier seine Nationalität zu verbergen. Ich kann es nicht, die Majirs waren immer treue Söhne ihres Volkes.« Und wieder donnernd: »Treue Söhne!« Dann fragte er mich, ob ich musikalisch sei.
»Nur ein wenig«, erwiderte ich.
»Dann wird Ihr Leben öde sein«, flüsterte er mitleidig. Damit erhob er sich und kündigte meiner Mutter an, daß er den Zins um hundert Gulden steigern müsse; er sagte es mit weicher, zitternder Stimme, aber es gefiel ihr doch nicht. »Glauben Sie mir, es muß sein«, hauchte er, die Hand in schmerzlicher Bewegung aufs Herz pressend, und ging.
Verblüfft blickten wir ihm nach. »Man sieht gleich, daß er ein Künstler ist«, sagte ich schüchtern.
»Ach was!« rief meine Mutter, »ein eitler Narr ist er und dabei doch ganz schlau!« Ich würde dies Urteil, welches dem Scharfblick meiner guten Mutter kein günstiges Zeugnis ausstellt, nicht verzeichnen, wenn mich nicht die Wahrheitsliebe dazu zwänge, aber ich darf auch entschuldigend beifügen, daß viele Leute so dachten und leider gerade die erfahrensten. Für Majir schwärmten eigentlich nur die Köchinnen und einige Gymnasiasten, alle anderen waren gegen ihn.
Schon daß die Majirs immer gute Tschechen gewesen, stieß auf entschiedenen Unglauben. Das entlegene Städtchen im Osten war immer gut deutsch gesinnt; man nahm es dem Künstler übel, daß er über die »Tyrannei der Deutschen« klagte, und verspottete ihn, weil sich sein heißer nationaler Drang sogar in der Kleidung offenbarte. Denn jenes Sommerkostüm hatte den geheimen Sinn, daß es die slawischen Farben, blau-weiß-rot, präsentierte. Im Winter aber trug Majir einen verschnürten Rock, einen wallenden slawischen Mantel und eine Pelzmütze »à la Hus«.
Auch sein Genie wurde bezweifelt, am meisten – wieder das alte Lied! – von den Musikern.
Er war das Mitglied des Gesangvereins geworden und spielte im Musikverein die zweite Violine. Die Kapellmeister sagten ihm nach, daß er ein mittelmäßiger Dilettant sei, das einzige, was er leidlich leiste, sei Tanzmusik auf dem Klavier, aber das gehöre nicht zur Kunst. Und von seinen Kompositionen habe er bisher nur gesprochen, aber nichts gezeigt, so sehr man in ihn dringe. Mich, der ich zu seinen Bewunderern gehörte, kränkten diese Reden, und ich fragte ihn einmal um den Grund seiner Zurückhaltung.
»Lieber junger Freund«, lispelte er, »soll ich auch noch den Neid gegen mich entfachen? Ich warte, bis die Oper in Prag aufgeführt ist – dann muß es gewagt sein, dann fürchte ich auch keine Nadelstiche mehr. Ja, vorläufig heißt's auch von mir: Pegásus im Joche!«
Bei allem ehrfürchtigen Mitgefühl erlaubte ich mir doch die Bemerkung, es heiße »Pégasus«.
»Tschechisch heißt es Pegásus«, erwiderte er mit überlegenem Lächeln. Dann drückte er mir die Hand und sagte: »Auch mein Tag wird kommen. Eine kleine Gemeinde habe ich schon auch hier!«
In der Tat verlautete bald, daß Majir Auserwählte durch Proben seines Schaffens entzücke: einige Familien, in denen er verkehrte. Sie gehörten insgesamt dem wohlhabenden, mehr durch Besitz als durch Bildung ausgezeichneten Bürgerstand an. Was Majir bei ihnen Eingang verschafft, war nicht sein Genius, noch weniger die blau-weiß-rote Kleidung und Gesinnung, wohl aber der Reichtum des Vaters und die Art, wie der junge Künstler sein Geschäft betrieb. Daß er den Eisenhandel gründlich verstehe, gaben selbst seine schlimmsten Gegner zu. Im Gegenteil, die meinten, er verstehe ihn nur allzugut, die Waren habe er verschlechtert, den Preis erhöht und dennoch den Umsatz gesteigert. Auch fehlte es an Törichten nicht, die schon deshalb sein Talent bezweifelten – als ob nicht Goethe ein trefflicher Minister gewesen wäre und Meyerbeer ein genauer Kenner des Kurszettels!
Namentlich in jenen Familien, wo es heiratsfähige Töchter gab, wurde Majir gern gesehen, und hier ließ er sich zuweilen herbei, etwas aus seinen »Träumereien« zum besten zu geben. »Was verstehen die von Musik«, brummte der alte Kapellmeister Pauer, »ihnen kann er die Volkshymne als seine Komposition vorspielen, und sie erkennen's nicht.«
Diese und ähnliche hämische Reden konnten nicht hindern, daß man allmählich auch in weiteren Kreisen von Majirs Kompositionen zu reden begann. Namentlich seit seines Vaters Tode, im Frühling 1864, steigerte sich die Anerkennung. Wie das zusammenhing? Böse Zungen wiesen darauf hin, daß der alte Herr, der sich still und emsig in ein delirium tremens und schließlich in ein besseres Jenseits getrunken, dem Sohne ein weitaus größeres Vermögen hinterlassen, als man ihm zugetraut. Die Wahrheit lag natürlich anderswo: der Schmerz hatte das weiche Künstlergemüt tief aufgerührt und entlockte ihm nun immer edlere Perlen. Möglich auch, daß noch ein anderes Erlebnis mit dazu beitrug. Im Herbst gestand mir Majir, er würdigte mich seines Vertrauens, weil ich im ganzen Hause als einer der ersten Lyriker der Siebenbürger Gasse galt – da also gestand er mir, daß er liebe. »Nicht zum erstenmal, junger Freund, aber zum letzten! Oh, wie schön sie ist, eine wahre Hoboe!«
»Hebe?!«
»Tschechisch heißt es Hoboe! Oh, wenn sie mein würde!« Den Namen nannte er nicht, aber im Winter war es bereits ein offenes Geheimnis, daß Majir um Anastasia Bogdanowicz werbe. Auch darüber machten die Leute boshafte Bemerkungen, die ich nur deshalb wiedergebe, um sie widerlegen zu können.
Vor allem stieß man sich daran, daß ihr Vater, Herr Stefan Bogdanowicz, ein Armenier, der als Ochsenhirt begonnen, um als reicher Rentier zu enden, sein Vermögen auf nicht ganz reinliche Weise erworben. Einen triftigen Beweis dafür konnte man nicht erbringen, denn der Umstand, daß er zwei Jahre wegen schweren Wuchers und Betrugs gesessen, kann in einer Zeit, wo die Verurteilung Unschuldiger schließlich die Aufmerksamkeit aller Gesetzgeber auf sich gezogen hat, nicht als entscheidend gelten. Herr Stefan behauptete, er sei das Opfer beispielloser Undankbarkeit geworden. Gerade der Mensch, von dem er keinen Heller Zinsen genommen, habe ihn denunziert. Und das war richtig. Er hatte von dem Edelmann, dem er gegen die Verschreibung seiner Güter fünftausend Gulden geliehen, keine Zinsen, ja nicht einmal das Kapital gefordert, sondern sich großmütig mit dem Gut allein begnügt. Übrigens war dies schon vor zehn Jahren geschehen. Viele dachten nicht mehr an die Undankbarkeit des Edelmannes, andere wieder fanden keinen Grund, Champagner zu verschmähen, wenn er von einem Opfer kurzsichtiger Justiz gespendet wurde. So fehlte es seinem Hause nicht an Gästen und seiner Tochter nicht an Bewerbern.
Was aber Fräulein Anastasia betrifft, so mochte man allerdings zugeben, daß sie mehr einer Oboe als einer Hebe glich, denn mit dem Blasinstrument hatte sie die scharfe hohe Stimme gemein, während an die Göttin der Jugend nicht viel erinnerte. Aber auch sie hatte ihre Vorzüge. Vor allem war sie kein leichtfertiger Backfisch mehr, sondern ein gereiftes Mädchen, ein Vorzug, den sie selbst freilich bescheiden verleugnete. Ferner brauchte, wer sie nahm, nicht viel auf Kleiderstoffe auszugeben, denn sie war ein hageres, kleines, pechschwarzes Persönchen. Endlich aber vereinte sie mädchenhafte Schüchternheit mit dem tiefen Bewußtsein ihres inneren Wertes, der sich auf etwa eine Viertelmillion Gulden belief. Eben darum hatte sie noch keinen Bewerber erhört, auch Majir hatte sich den ganzen Winter vergeblich bemüht. Vielleicht geschah es deshalb, weil ihr zur selben Zeit ein anderer ernster Freier genaht war: Herr Xaver Korn, der neue Besitzer der Apotheke »Zum heiligen Salvator«. So schön wie Majir war er nicht, auch gar nicht genial, zudem ein kinderloser Witwer von etwa vierzig Jahren, aber er war sehr respektiert, und seine Sippe gehörte zu den ersten der Stadt. Das machte Anastasia schwanken. Einer Familie anzugehören, die geachtet war, hätte Reiz für sie gehabt – den Reiz der Neuheit.
So standen die Dinge noch im Juli 1865. Da aber sollten sich in rascher Folge die Ereignisse abspielen, deren ich bereits im Eingang dieser Aufzeichnung erwähnt. Man höre und staune, wie weit der Neid selbst einen berühmten Künstler führen kann. Etwa zehn Meilen von Czernowitz liegt im oberen Serethtal der Kurort Lopuschna. Dorthin pilgern im Sommer viele Czernowitzer, um Molke zu trinken und im Sereth zu baden. Besondere Heilerfolge hat das kleine Bad nur auf einem Gebiet aufzuweisen: einige Mädchen haben sich dort im letzten Stadium der Gereiftheit noch glücklich verlobt. Die Fälle sind beglaubigt. Vielleicht erklären sie sich durch die Langweiligkeit des Badelebens, vielleicht auch macht die einförmige, aber großartige Berglandschaft von wilder, ja grauenhafter Schönheit den Menschen gegen kleinere Schrecknisse stumpf. Genug, man verlobt sich in Lopuschna, und wenn das nicht glückt, verliebt man sich wenigstens. Ich meinerseits ging freilich in den Ferien von 1865 aus einem anderen Grunde hin: weil ich schon verliebt war.
Ich darf heute gestehen, daß sie Charlotte hieß, prächtige braune Augen und Haare und auf der Oberlippe ein allerliebstes kleines Mal hatte. Alles braun, wie eine kleine, nette, appetitliche Haselnuß. Sie war sechzehn und ich ein Jahr älter. An den Gedichten, die ich auf sie gemacht, könnte sich ein Verleger arm drucken, aber ihr zu sagen, daß ich sie liebte, habe ich nicht gewagt. Gewußt wird sie es freilich haben, das weiß jede, auch wenn sie erst sechzehn ist. Sie hat später einen Weinhändler geheiratet, ist sehr dick geworden und geht jetzt jährlich nach Marienbad. Ich bin ihr dort vor einigen Jahren begegnet . . . ach, hätte ich sie nie wieder gesehen! Im stattlichsten Häuschen des Orts, auf dem Wege zu den »drei Linden«, wohnte Anastasia mit ihrem Vater. All die Sommer vorher, wo sie bereits ein junges Mädchen war – denn reichlich fünfunddreißig Jahr mochte es schon her sein, seit an ihrer Wiege die Grazien ausgeblieben –, hatte sie mit dem greisen, ehrwürdigen Herrn längere Reisen gemacht, ans Meer, ins Hochgebirge, in die großen böhmischen Kurorte, natürlich jene beiden Jahre abgerechnet, die er in jener kühlen, aber dennoch unbehaglichen Sommerfrische auf Staatskosten verbracht. Daß sie diesmal das kleine Lopuschna gewählt, deutete Majir als einen Triumph seiner Werbung, denn daß er ihr nicht nach Ostende oder ins Berner Oberland würde folgen können, hatte er ihr gesagt, einerseits der Eisenhandlung und andererseits der Oper wegen, die damals eben nach seiner Versicherung geradezu ungestüm aus dem Hirn auf das Notenpapier zu wogen begann.
Aber dieser Traum zerrann ihm, als er zwei Tage, nachdem Vater und Tochter abgereist, im Posthof zu Czernowitz den Eilwagen nach Lopuschna bestieg, denn wer saß da schon im Wagen und fuhr bei seinem Anblick erschreckt zusammen?! Der »Pillendreher«, die »Philisterseele«, Herr Xaver Korn.
Anastasia begrüßte sie beide gleich herzlich und freute sich, daß sie Wort gehalten. Dann kreischte sie mit ihrer Oboen-Stimme in jenem anmutigen Deutsch, das sich ergibt, wenn eine Armenierin in der Bukowina gemütliches Österreichisch nachahmt: »Dos is jo a Saunest! Nix als Berg und sogar kane Toiletten nicht! Die Speisen nicht zum Fressen. I hob mich schon sehr g'langweilt!«
Nun, das änderte sich von derselben Stunde ab, denn wenn Anastasia mit der Kurzweil, die sich ihr nun bot, nicht zufrieden war, so mußte sie recht ungenügsam sein. Schon des Morgens, wenn sie auf der Promenade erschien, konnte sie darauf gespannt sein, welcher der beiden Verehrer zuerst auf sie zustürzen und ihr den größeren Strauß überreichen würde. Denn die Größe dieser Blumenspenden wuchs durch die Konkurrenz immer mehr, und schließlich waren es wahre Wagenräder aus Rosen und Vergißmeinnicht, unter deren Last die entflammten Freier dahergekeucht kamen.
Dann begann der Kampf um den Platz an ihrer Seite, denn da sie stets am Arm des Vaters erschien, so konnte nur einer das Glück genießen, das Moschusparfüm, das sie umwitterte, aus nächster Nähe einzuatmen, der andere mußte nur eben neben dem ehrwürdigen Stefan einherwandeln. War das entschieden, so begann der Kampf, wer heute die glänzendere Konversation zu machen wußte. Majir sprach von den göttlichen, slawischen Meistern, daneben auch von Wagner und Beethoven, »nur Deutsche, aber talentvolle Menschen«, vom hunderttürmigen Prag und von der Schönheit der Karpatenlandschaft, wie sie sich in seiner Künstlerseele abspiegelte. Herr Korn, der nicht viel über Lemberg, wo er den Pharmazeutenkurs absolviert, herausgekommen und eine Offenbachsche Melodie nicht von einer Bachschen Fuge unterscheiden konnte, suchte seinen Rivalen durch Czernowitzer Klatschgeschichten und zarte Anspielungen auf die Einträglichkeit der Salvatorapotheke zu schlagen. Das war aber auch alles, was dieser Herr leisten konnte; höchstens wußte er noch zu erzählen, was der Czernowitzer Gemeinderat, dem er angehörte, jüngst beschlossen. Kein Wunder, daß in der Konversation der so zart und tief empfindende Künstler den Philister besiegte. Hingegen verstand sich dieser, da er schon wiederholt in Lopuschna gewesen, auf das Arrangieren von Landpartien besser, und zuweilen gelang es ihm auch, für diese Ausflüge einige Honoratioren unter den Badegästen zu gewinnen. Das brachte das Zünglein der Waage wieder ins Gleichgewicht, weil es Menschen waren, die bisher nie von der verwerflichen Undankbarkeit jenes Edelmannes zu überzeugen gewesen und jede Berührung mit dem reichen Armenier ängstlich gemieden. Die meisten jedoch bewunderten auch jetzt noch das vierblättrige Kleeblatt nur aus der Ferne. Es war aber auch kein alltäglicher Anblick, denn während man sonst wie überall, so auch in Lopuschna, daran erinnert wurde, daß leider die Zeit der herrlichen Antike vorüber ist, lag auf dieser Gruppe ein Abglanz von Hellas schönheitstrunkenen Tagen.
Schon jeder einzelne stach in die Augen.
Wie Majir war, ist ja bereits gesagt. Hinzuzufügen wäre nur, daß er in diesen Sommertagen eine wahrhaft tizianische Farbenpracht entwickelte. Blaue Hosen mit roten Streifen, weiße Röcke mit blauen Streifen, rotblaue Krawatten, weiße Hüte mit blauroten, blaue Hüte mit weißroten Bändern, dazu das Lockenhaar, das nun fast schon den halben Rücken bedeckte – stumm vor Neid starrten ihm die Menschen nach, die Stiere aber gingen brüllend auf ihn los. Übrigens erwies sich auch bei dieser Gelegenheit, daß selbst der Hang zu hämischer Verketzerung ein gewisses natürliches Gerechtigkeitsgefühl in der Menschenbrust nicht ganz ertöten kann. Soviel man an dieser Tracht nörgelte, so wagte doch niemand zu leugnen, daß sich, solange die Erde stehe, noch kein Mensch so getragen. Hingegen behauptete man ziemlich einstimmig, daß das Haar nicht natürlich gekräuselt sei: selbstverständlich ein böswilliges Sophisma, denn weder an dem Friseur von Lopuschna noch an seinem Brenneisen war etwas Unnatürliches zu finden.
Was Herrn Bogdanowicz betrifft, so hatte ihn schon die Natur zu dem geschaffen, was er geworden, ich meine nicht Zuchthäusler, sondern Ochsenhirt. Der würdige Ehrengreis war sechs Fuß lang und zwei Fuß breit, seine Schuhe hätten daneben auch als Kähne verwendet werden können. Handschuhe trug er überhaupt nicht, vielleicht, weil jede Fabrik eine Bestellung für sein Maß als schlechten Witz betrachtet hätte. Auch er pflegte sein Haar immer lang zu tragen – natürlich jene beiden Jahre abgerechnet, wo man es ihm abgeschoren hatte. In straffen, einst schwarzen, nun grauen Strähnen umstarrte es sein breites Gesicht mit den hervorspringenden Backenknochen, der niedrigen Stirn, den buschigen Brauen, dem wulstigen und sehr weitgeschlitzten Mund. Aber daß er sich die Ohren fett machte, wenn er Butterbrot aß, war eine Übertreibung. Auf den ersten Blick erinnerte das Gesicht an jene Schützlinge, denen die Kraft seiner Jugend gegolten, namentlich an die wilden, bessarabischen Ochsen, aber wen sein schlauer, unsteter Blick traf, erkannte wohl, daß dieser Mann nicht durch Zufall reich geworden, und hielt in aufrichtiger Bewunderung seine Augen offen und die Taschen zu. Übrigens war der Biedere von schlichter Lebensführung und jedem Luxus feind. Ohne Grund gab er niemand einen Bissen Brot, geschweige denn Trüffelpastete und Champagner, es sei denn, daß die Tochter es befahl. Aber über seine Kleidung hatte auch sie keine Macht. Wer seine reinen Hemden trug, war ein ungelöstes Rätsel, hingegen behaupteten Kundige, daß sein dunkler Sommeranzug einst neu und von hellgrauer Farbe gewesen. Es waren sonst verläßliche Gewährsmänner, aber wer den Anzug sah, konnte schwer daran glauben.
Im Gegensatz zu ihm trug sich die schöne Anastasia stets nach der neuesten Mode, ohne sich doch sklavisch daran zu binden, mit sicherem Schönheitsgefühl wußte sie das neueste Modekupfer so zu modeln, wie es ihr am besten stand. Die Czernowitzer Damen meinten freilich, wenn man sich die jeweilige Mode verleiden lassen wolle, brauche man sich bloß die Armenierin anzusehen, denn sie mache alles zur Karikatur – aber das war nur eben der ohnmächtige, giftige Neid auf Anastasias Geschmack und Wagemut. Denn allerdings gehörte einige Entschlossenheit dazu, um eine Krinoline zu tragen, die im Durchmesser dem Heidelberger Faß nur wenig nachstand, aber eben dies gab einen frappierenden Gegensatz zu den knappen Taillen, die damals Mode waren. Hübsch war es namentlich, wenn sie zu einem feuerroten Unterkleid ein hellgrünes Oberkleid anlegte. Sie glich dann, da sie stets am Arm des Vaters dahinging, einer Tulpe mit abwärts gekehrtem Kelch und dünnem Stengel, die der riesige Mann neben sich herschleifte. Denn sie reichte ihm wenig über die Hüfte, so daß sie den Arm hochrecken mußte, um den seinen zu erreichen. Anastasia gehörte nicht zu den majestätischen, sondern zu den zierlichen, graziösen Erscheinungen. Wer sie von ferne sah, mochte sie für ein Kind halten, in der Nähe erkannte man schon aus den etwas scharfen Fältchen um Mund und Augen das völlig erwachsene Mädchen, das an Reife nichts zu wünschen übrigließ. Beinahe ebenso schneidend wie die Oboen-Stimme war der Blick der kleinen graugelben Augen; die Nase erinnerte durch ihre Länge an jene der Kleopatra, wogegen selbst diese berückende Ägypterin jenes pikanten Reizes entbehrt hatte, den Anastasias Oberlippe aufwies: eines kleinen, zierlichen, aber doch wohlgediehenen Schnurrbärtchens.
Der Teint war insofern merkwürdig, als er zu den verschiedenen Tageszeiten wechselte. Wenn Anastasia am frühen Morgen – sie wohnte in Lopuschna mir gegenüber – das Fenster öffnete, um nach dem Wetter auszuspähen, so war ihre Haut gelblich mit einem Stich ins Graue, auf der Promenade hingegen war sie milchweiß, und die Wangen blühten in gesunder Röte. Als sie jedoch einmal durch einen Gewitterregen durchnäßt vom Spaziergang heimkehrte, da wiesen diese Wangen ein Farbenspiel auf, das jeden Physiologen als einzige, kaum wieder zu beobachtende Erscheinung gefesselt hätte. Ebenso wäre einem Manne der Wissenschaft das Rabenhaar dieser Schönen gewiß von größtem Interesse gewesen; es hatte die seltsame Eigenschaft, sich des Nachts zusammenzuziehen und bei Tage aufzuschwellen. Des Morgens sah ich es als dünnes Rattenschwänzchen am Hinterhaupt wippen, bei Tage blühte es zu einem Lockenwald auf, oder sein Reichtum war durch ein großes Goldnetz nur mühsam gebändigt. Kurz, eine Fülle von seltenen, zum Teil einzigen Reizen haftete an diesem Mädchen, aber freilich kein Quentchen Fleisch. Tadle das, wer mag. Mir weckte ihr Anblick die traute Erinnerung an die heimatliche Heide, auf der nicht die geringste Erhöhung zu gewahren ist. Ich gebe zu, nicht jeder ist auf der Heide geboren, es ist möglich, daß auch die Viertelmillion dazu beitrug, dem Mädchen Freier zuzuführen, aber nur des Geldes wegen geschah es gewiß nicht.
Was endlich Herrn Xaver Korn betrifft, so bot zwar seine Kleidung nichts Besonderes, er war eben auch in dieser Beziehung ein Philister, aber anmutig anzuschauen war er deshalb doch. Die Natur selbst hatte ihn gewissermaßen zum Gatten Anastasias, zum Schwiegersohn des Armeniers bestimmt, denn mit diesem hatte er die Länge, mit dem Mädchen die Dünne gemein, so daß man ihn wohl mit einem Bleistift hätte vergleichen können, wenn es Bleistifte gäbe, die in drei Linien gebrochen sind. Die Beine stiegen ziemlich gerade aufwärts, der Oberkörper beugte sich sanft vor, wogegen er das Haupt in den Nacken zurückzuwerfen pflegte, vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht, weil er Gemeinderat von Czernowitz war. Das schmale, längliche Gesicht war von interessanter Blässe und wies immer den Ausdruck leisen Staunens auf, und der offene Mund schien stets zu fragen: »Gibt es noch so etwas wie die Apotheke zum heiligen Salvator?« Im rastlosen Nachdenken über diese Frage war ihm alles Haar ausgegangen, nur im Nacken stand noch ein bißchen fahles Gestrüpp. Ich hielt ihn damals für einen harmlosen Spießbürger. Ach, wie sollte ich mich in dem Manne täuschen!
Man sieht, die vier waren wirklich – schon jeder für sich – geeignet, eine Badegesellschaft, die sonst nicht viel zu tun hat, mit immer neuem Wohlgefallen zu erfüllen, aber nun traten sie ja zudem immer vereint auf. Daraus ergaben sich für ihre Bewunderer täglich neue Freuden. Es war hübsch zu sehen, wenn der mächtige Armenier die Tulpe neben sich herschleifte, während die Tonkunst in Kugelgestalt neben dem dreimal gebrochenen Bleistift hinterdrein wandelte. Auch der lange Dünne und der lange Dicke machten sich gut, während Majir und Anastasia, beide klein, beide farbenprächtig und doch so verschieden, vor ihnen einherschritten. Aber den anmutvollsten Anblick gewährten sie doch in jener Gruppierung, in der man sie nach einer Woche fast immer sah; am rechten Flügel Herr Korn, neben ihm Anastasia am Arm des Vaters, und Majir am linken Flügel, so daß die Linie zweimal hoch anstieg, um sich dann tief zu senken. Sehr tief, denn während Majir neben dem Vater einherging, lag sein Haupt so betrübt auf der Brust, daß er sich noch mehr als sonst der Kugelgestalt näherte.
In der Tat, alle äußeren Zeichen sprachen dafür, daß die schnöde, nüchterne Pharmazie, die zudem verwitwet war und eine Glatze hatte, über die blühende Tonkunst mit dem Riesenhaar den Sieg davongetragen. Auch bei dem ersten Tanzkränzchen, dem die vier beiwohnten – diese berauschenden Feste fanden jeden Sonnabend in dem kleinen, schlecht gedielten, erstickend heißen Saal des Gasthauses zu Lopuschna statt –, fiel es allgemein auf, daß Anastasia wohl ein dutzendmal mit dem Apotheker dahinschwebte, zum Glück hatte er so lange Arme, um sie unterhalb der Schultern fassen zu können, während Majir nur einen Walzer und dann mit schwerer Mühe nur eine Française eroberte. Ach, und bei der Damenwahl wählte sie nur Herrn Korn, und immer wieder Herrn Korn, und beim Kotillon gab sie Herrn Korn ihre drei Orden und Herrn Majir nicht einmal einen halben.
Wie aber nahm die Badegesellschaft dies auf? Äußerte jemand sein Mitgefühl mit dem edlen, in seinen heiligsten Empfindungen gekränkten Künstler?!
Ich wurde ganz melancholisch, als ich so nach rechts und links horchte – wie böse waren diese Menschen! »Haha«, kicherten die einen, »sogar diese gemalte alte Schachtel mit dem Zuchthausvater läßt den tschechischen Hausnarren abfallen.« – »Ja, das ist lustig«, erwiderten die anderen, »aber traurig ist, daß die Habgier einen bisher geachteten Menschen, den Apotheker, so weit führt, daß er sich um sie bewirbt!« Nirgendwo eine Spur von Wohlwollen, von Anerkennung für das Genie, mit dem die platten Alltagsmenschen dieselbe Luft teilen durften.
Als der letzte Geigenstrich verklungen war und ich neben der kleinen, braunen Charlotte und ihrer dicken Mutter dem Ausgang zuschritt, um die Damen nach Hause zu geleiten, trat Majir auf mich zu. Seine Lippen bebten. »Ich muß Sie sprechen!« flüsterte er mir erregt zu. Ich nickte und kehrte, nachdem ich meine Ritterpflicht erfüllt hatte, zum Wirtshaus zurück. Er erwartete mich vor der Tür. »Wollen wir noch ein bißchen spazierengehen?« fragte er. »Ich bin so nervios.«
»Nervös«, sagte ich.
»Tschechisch heißt es nervios«, erwiderte er heftig. Dann aber schob er seinen Arm unter den meinen.
»Na ja«, sagte er, »Sie haben vielleicht recht. Woher soll ich auch gut deutsch reden? Bin ich ein Deutscher? Im Tschechischen mach' ich keine Fehler! Aber das ist ja alles gleichgültig. Die Hauptsache ist: was bin ich? Ich bin ein junger Mann, die Damen in Prag haben für mich geschwärmt, ich komponiere eine Oper, ich spiele Klavier, ich habe ein gutes Geschäft. Ist das wahr oder nicht?!«
»Sehr wahr!« erwiderte ich.
»Gut! Und dennoch – haben Sie gesehen? Ich frage Sie – Sie sind ja gewissermaßen mein Bruder, Sie machen Gedichte –, welcher der sieben Musen man huldigt, ist ja gleichgültig.«
»Ganz gleichgültig«, erwiderte ich, »aber es gibt neun Musen.«
»Auch das ist gleichgültig! Wie oft soll ich sagen, im Deutschen mache ich Fehler – aber haben Sie gesehen?!«
»Ich habe gesehen!«
»Ihm die drei Orden, mir keinen, ihm alle Quadrillen, den Kotillon, sogar die Rundtänze – ich muß es mir zweimal ausbetteln! Und was ist er? Ich frage Sie, was ist er?«
»Ein Apotheker«, erwiderte ich und suchte in das Wort eine Welt von Mißachtung zu legen.
Es entging ihm nicht. »Sie verstehen mich!« rief er und faßte meinen Arm fester. »Aber wenn er noch wenigstens jung und schön wäre! Er hat ja kein Haar auf dem Kopf und ist dünn wie ein Zwirnsfaden. Das ist ja kein Mann, sondern ein Schemel!«
»So heißt es tschechisch«, sagte ich, »deutsch heißt es ›Schemen‹. Aber wie erklären Sie sich dennoch seinen Triumph?«
»Weil er mich verleumdet hat!« rief er. »Es kann gar nicht anders sein!«
»Aber was kann er gegen Sie gesagt haben?«
»Oh, vieles! Vor allem sagt er, ich mache nur Schwindel, ich komponiere nicht. Hahaha! Ich kann keine Note erfinden. So lachen Sie doch!«
Ich lachte.
»Und dann sagt er: mein Vater hat fast nichts hinterlassen! Und mein Geschäft geht schlecht! Dieser Intrigant, dieser Melo-Masto-Mepho-«
»Mephistopheles . . . Aber woher wissen Sie das?«
»Weil mir der Alte vorgestern plötzlich sagt: ›Herr Majir‹, sagt er, ›Ihr Vater muß doch ein sehr tüchtiger Mensch gewesen sein, weil er durch das kleine Geschäft ein so großes Vermögen erworben hat‹. – ›Ja‹, sag' ich, ›sehr tüchtig.‹ – ›Aber merkwürdig ist es doch!‹ sagt er . . . Und dann fragt er? ›Was trägt jährlich Ihr Geschäft Reingewinn?‹ – ›Sechstausend!‹ – ›Merkwürdig.‹ Verstehen Sie, alles merkwürdig! – er glaubt es nicht. Und dazu die Launen dieses Fräuleins! Am Mittwoch sagt sie mir: ›Herr Majir, auf dem Kränzchen am Samstag möchte ich nach einer Melodie von Ihnen tanzen. Sie haben ja auch Polkas und Walzer komponiert, geben Sie etwas der hiesigen Musik, die studiert es ja in ein paar Stunden ein!‹ – ›Fräulein‹, sag ich, ›für Sie alles, aber das geht nicht! Ich hab' ja hier nichts mit!‹ – ›So lassen Sie es aus Czernowitz kommen!‹ – ›Fräulein‹, sag' ich, ›meine Kompositionen sind ja mein Heiligstes! Ich habe sie in meine eiserne Kasse eingesperrt.‹ – ›Nun‹, sagt sie, ›so komponieren Sie hier was! Sie sagen ja immer, die Melodien fliegen Ihnen nur so im Kopf herum, alle Tage drei, so schreiben Sie doch eine auf!‹ – ›Fräulein‹, sag ich, ›das sind ja Opernmelodien! Arien – verstehen Sie? – und Leitmotive und so Sachen. Die Zeit‹, sag' ich, ›wo ich Tänze komponiert habe, ist längst vorbei!‹ – ›Und auch wenn ich Sie bitte‹, sagt sie pikiert, ›können Sie es nicht mehr tun?‹ – ›Fräulein‹, sag' ich, ›meine musikalische Entwicklung – als Künstler nämlich – Schritt für Schritt – immer vorwärts, nie zurück. Also zum Beispiel Richard Wagner!‹ – ›Es ist gut!‹ sagt sie, ›Sie wollen es nicht!‹ – ›Aber wenn ich es auch schreibe‹, sag' ich, ›wer soll es hier spielen?‹ – ›Die Badekapelle!‹ – ›Oh, Fräulein Stasia‹, sag' ich, ›wie können Sie das einem Künstler zumuten! Diese elenden Musikanten!‹ Und hab' ich da nicht recht gehabt?«
»Nun«, sagte ich, »Tänze spielen sie doch eigentlich ganz erträglich.«
»Für Ihre Ohren!« rief er heftig, »für meine nicht. Ich kann das nicht tun, und wenn sie eine Aphrodicke wäre! Nein, nein! Und sie ist keine Aphrodicke!«
»Das ist sie nicht«, gab ich zu. »Übrigens heißt es deutsch Aphrodite. Also deshalb ist sie böse?«
»Ja, seit der Stunde behandelt sie mich schlecht. ›Reden wir nicht mehr darüber‹, sagt sie und lächelt so gewiß, wissen Sie, und schaut den Apotheker an, und der lächelt auch! Niederträchtig – was?«
»Sehr niederträchtig«, sagte ich. »Aber was wollen Sie tun? Sie können doch den Verdacht nicht auf sich sitzen lassen.«
»Aber kann ich es tun? Auch Richard Wagner täte das nicht, ich sage Ihnen, er täte das nicht! Und dann, von dieser Kapelle spielen lassen! Das kann ein Künstler wie Majir nicht tun! Und vor diesem Publikum! Lauter boshaftes Gesindel!«
»Aber auch unmusikalische Menschen. Was liegt Ihnen daran, wie die Sie beurteilen?«
»Natürlich nichts!« erwiderte er, wurde dann aber nachdenklich, blieb stehen, blickte zum Himmel empor und zur Erde nieder. Schon glaubte ich, daß der Geist über ihn gekommen, aber als er endlich sprach, fragte er nur: »Glauben Sie wirklich, daß niemand hier ist, der sich so halb und halb auf Musik versteht?«
»Ich wüßte wenigstens niemand.«
Er atmete auf. »Das wäre ja gut«, murmelte er und versank wieder in Nachdenken. Bewundernd blickte ich zu ihm empor, oder eigentlich, da ich etwas größer war, auf ihn hinunter. Welches Feingefühl einer Künstlerseele, dachte ich. Vor Kennern will er sich durch diese Kapelle selbst in einer Tanzkomposition nicht produzieren. »Es geht doch nicht«, sagte er dann, »diese Musikanten!«
»Gar so schlecht sind sie doch nicht«, meinte ich, »und der Kapellmeister, der kleine Kupczanko, ist sogar ein ganz begabter Mensch. Er hat mir selbst erzählt, daß er das Lemberger Konservatorium besucht hat und nur seiner Armut wegen im Sommer in Bäder spielen geht. Auf den wäre Verlaß.«
»Nein, nein!« sprudelte er hervor. »Gerade seinetwegen kann ich es nicht tun.«
»Halten Sie ihn für solchen Stümper?«
»Nein. Das heißt ja, natürlich! Den größten Stümper.«
»So? Aber wenn nun Fräulein Anastasia darauf beharrt?«
»Natürlich tut sie das«, seufzte er. »Mein Gott, was soll ich tun? Cert a peklo – wenn ich denke, daß dieser Pillendreher . . .« Er verstummte. »Gute Nacht«, murmelte er dann mit erstickter Stimme und eilte davon.
Ehrfurchtsvoll blickte ich ihm nach. Da spricht man, dachte ich, so viel von der Selbstsucht, der Habgier der Menschen, und dieser Künstler setzt lieber den Besitz des geliebten Mädchens aufs Spiel, als daß er seine künstlerische Entwicklung unterbräche oder auch nur eine Polka von einer Kapelle spielen ließe, die ihm nicht genügt. Wahrlich, in diesem Busen lodert die heilige Flamme. Und wie sehr sie lodert!
Als ich am nächsten Morgen auf der Promenade erschien, erschrak ich sehr: Majir fehlte, die schöne Anastasia wandelte nur zwischen dem Vater und dem Apotheker auf und nieder. Zu vermissen schien sie ihn nicht, sie lachte so laut und unbefangen, daß man das Gold an ihrem Gebiß weithin schimmern sah.
Aber ich hatte ihr doch unrecht getan. Als ich ihr ein zweites Mal begegnete, hielt sie mich an, wie sie denn überhaupt zuweilen ein freundliches Wort an mich wendete; Majir hatte mir das Glück verschafft, ihr vorgestellt zu werden. Sie fragte huldvoll, ob ich mich gestern recht müde getanzt, und trat dann dicht an meine Seite, so daß ich nun wohl oder übel neben ihr hergehen mußte. Denn einerseits war es ja ein Vergnügen, aber andererseits eine drückende, weil unverdiente Ehre.
»Wo is denn Ihr Freund Majir?« fragte sie, nachdem wir außer Hörweite der beiden Herren waren.
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich bekümmert. »Er war heute nacht so erregt.«
»Na, aufg'hängt hot er sich doch nicht«, sagte sie lachend, aber die Stimme vibrierte doch etwas nervios, wie es im Tschechischen heißt.
»Um Himmels willen!« rief ich, »so ein Genie.«
»Woher wissen S' denn, daß er an Schenius is?«
»Sie zweifeln doch nicht? Man sieht es ihm ja an . . . Und er sagt es doch selbst.«
»No ja, ober mon hört nix davon.«
»Ich glaubte, er hätte in Ihrem Salon . . .«
»No ja! Ober wir verstehn ja nix davon. Hören S', Sie sind ja sein Freund?!«
»Sein Bewunderer«, erwiderte ich bescheiden, »seinen Freund kann ich mich eigentlich nicht nennen.«
»Olles ans! Olsa hören S'. Der Majir g'fallt mir. A fescher Kerl! Aber da sind zwei Sochen. Erstens: kein Mensch glaubt an sein Schenius! Is a nit notwendig, daß a Eisenhändler a Schenius is. Ober dann soll er nit darmit schwindeln. Olsa: entweder steckt er den Schenius auf, oder er loßt hier etwas von seine Sochen spielen! Verstanden?«
»Ja«, erwiderte ich, »es ist ja auch deutlich genug!« Oh, dachte ich, und einem Mädchen von so harter Gesinnung hat sich dies weiche Künstlerherz zu eigen gegeben!
Aber es sollte noch deutlicher kommen.
»Zweitens: wos hot der alte Säufer hinterlassen? Wieviel tragts G'schäft? Das soll er mein Vottern ausweisen. Sie sind sein Freund, sogen Sie's ihm.« Sie nickte huldvoll und entschwand.
»Ich werde es ihm sagen«, murmelte ich drohend hinter ihr her. »Aber ich hoffe, du sollst keine Freude davon haben.« Damit ging ich dem Häuschen zu, wo er wohnte, das heißt, fügte ich in Gedanken hinzu, wenn du ihn nicht etwa schon zur Verzweiflung gebracht hast. Dann wehe dir!
Aber er lebte. Eben trat er aus seiner Tür. »Ich habe mich matt gefühlt«, erwiderte er auf meine besorgte Frage, »und wollte eigentlich gar nicht ausgehen. Gott Morphium hat sich heute nacht vergeblich von mir bitten lassen.«
Durfte ich ihm in diesem Zustand alles sagen? Und doch, vielleicht war es so das beste. Aber die Wirkung war doch eine etwas andere, als ich erwartet, ich hatte eben die Heftigkeit seiner Leidenschaft unterschätzt. »Das hab' ich ja ohnehin vermutet«, sagte er. »Mit dem Geld hat sie auch recht. Sehen Sie, da habe ich eben an meinen Buchhalter und an meinen Advokaten geschrieben. Die letzte Bilanz und die Erbschaftsakten werden in einigen Tagen da sein. Aber mein Künstlertum gebe ich hier nicht preis. Sie soll sich gedulden, bis wir zur ersten Aufführung meiner Oper nach Prag reisen.«
»Bravo!« rief ich, »aber eigentlich ist sie Ihrer überhaupt nicht würdig.«
»Ich liebe sie aber«, sagte er. »Und dann, wissen Sie, dahinter steckt ja der Vater. Ein Plato ist wie der andere, wer sich mit den Platokraten einläßt, muß auf solche Sachen gefaßt sein. Sie haben Geld und verlangen Geld.«
»Aber jenes unwürdige Mißtrauen in Ihr Genie?«
»Das hat mir ja der Trüffel, der Korn, eingebrockt. Oh, der Duckmäuser!«
»Tartüffe?«
»Fangen Sie schon wieder an? Probieren Sie einmal tschechisch zu reden, ob das ohne Fehler geht. Aber Sie sind ja mein Freund. Also, sagen Sie ihr meine Antwort.«
Ich tat es, aber sie schüttelte den Kopf. »Dann is nix mit uns zwei«, sagte sie. »Geld hat der Korn noch mehr. Der Majir ist mir lieber, weil er jung und fesch is, aber so lang ihn jeder für a Schwindler hält, nehm ich lieber den Korn – Ehrenmann, Gemeinderat – verstanden?«
Wie ein Leutnant, dachte ich. Und den Schnurrbart dazu hat sie ja eigentlich auch. Aber das war nun Majirs Sache.
Er schäumte auf, als er die Botschaft vernahm. In stolzen, edlen Worten wies er die schnöde Zumutung für immer ab.
»Sagen Sie ihr das!« rief er.
Ich machte mich auf den Weg.
»Halt!« rief er mir nach. »Lassen Sie mich noch nachdenken! Vielleicht . . . bis nachmittag.«
Zur Mittagsstunde fehlte er im Wirtshaus. Korn saß triumphierend da und führte das große Wort. So also, dachte ich bitter, wird edles Streben gelohnt. Der Philister triumphiert, während sich der Künstler daheim im Kampf zwischen Leidenschaft und künstlerischem Gewissen verzehrt und der irdischen Nahrung vergißt. Dies war aber zum Glück ein Irrtum. Majir hatte inzwischen nicht bloß sich verzehrt, sondern auch sein Diner, nur daß er es sich auf sein Zimmer hatte holen lassen. So erzählte er mir, als ich ihm nach dem Speisen begegnete. Zu einem Entschluß war er noch nicht gekommen. »Ich weiß nicht«, murmelte er immer wieder. »Kennen Sie den Kupczanko? Was ist das für ein Mensch?«
»Gar nicht übel«, sagte ich, »ich glaube sogar talentvoll. Aber das müssen Sie besser wissen.«
»Glauben Sie, daß er Geld braucht?«
»Ja!« rief ich aus innerster Überzeugung, »aber warum fragen Sie?«
»Nichts . . . aber da kommt er ja.«
In der Tat, da kam der Kapellmeister daher, ein junger, hübscher Mensch, kaum über die Zwanzig. Er war ärmlich gekleidet, trug aber den Kopf hoch. Als er Majir erblickte, überflog ein spöttisches Lächeln seine Züge; denn auch er gehörte damals zu jenen, die an ihm zweifelten, ja er behauptete sogar, nach einem Gespräch, das er mit Majir gehabt, daß dieser nicht Dur von Moll zu unterscheiden wisse. Majir trat mit herablassendem Lächeln auf ihn zu. »Immer fleißig, Herr Kupczanko?« fragte er.
»Leider nicht so fleißig wie Sie«, war die Antwort. »Man sagt ja, Ihre Oper kommt schon im Winter? Wenn Sie uns doch was draus geben wollten.«
»Unmöglich!« rief Majir. »Auch studieren Sie ja nichts Neues ein.«
»Oh, von Ihnen!« erwiderte der Kapellmeister. »Sonst reicht ja unser gewöhnliches Repertoire aus.«
»Das finde ich eigentlich nicht«, meinte Majir. »Besonders in Tänzen! Zum Beispiel, wie viele Walzer von Strauß spielen Sie?«
»Von Johann Strauß? Vier!« Er nannte die Titel. »Das ist doch genug!«
»O nein! Warum spielen Sie nicht einige neue von ihm?«
»Weil ich sie nicht habe. Und Noten zu kaufen und ausschreiben zu lassen, kostet Geld. Nach dem Gehör kann ich sie doch nicht spielen! Und ich habe noch dazu kein sehr gutes musikalisches Gedächtnis.«
»So?!« fragte Majir. »Nun, deshalb können Sie doch ein guter Kapellmeister sein! Vielleicht . . . aber ich weiß noch nicht . . .«
Er nickte ihm gütig zu und ging weiter. Mir schien es, als hätte dies Gespräch den Gebeugten merkwürdig erheitert.
Und in der Tat richtete er sich nach einer Weile tapfer auf und sagte entschlossen: »Es soll geschehen, ich komponiere einen Walzer, widme ihn dem Fräulein und lasse ihn hier spielen.«
Auf der Nachmittagspromenade bot sich den Badegästen jenes Bild, welches sie in den ersten Tagen von Majirs Aufenthalt erfreut. Triumphierend ging er neben Anastasia einher, Korn folgte betrübt mit dem Vater. Und bald wußte auch alle Welt, welches große künstlerische Ereignis das Tanzkränzchen vom nächsten Sonnabend bringen würde.
Dem Begnadeten fällt es leicht.
Am Sonntag hatte sich Majir zur Komposition entschlossen und um Notenpapier nach Czernowitz geschrieben, am Dienstag war es eingetroffen. In der Nacht darauf waren ihm ohne Klavier, ohne jeden anderen Behelf, die Töne aus der Seele aufs Papier geflossen, am Mittwoch morgen zeigte er mir das fertige Opus. Auf dem Titelblatt stand:
WALZER,
KOMPONIERT UND DEM
HOCHWOHLGEBORENEN FRÄULEIN
ANASTASIA BOGDANOWICZ
EHRFURCHTSVOLL ZUGEEIGNET
VON
FRANTISEK MAJIR.
op. 327.
»Gefällt Ihnen der Titel?« fragte er.
»Er könnte nicht besser sein!« rief ich begeistert. »Und dreihundertsechsundzwanzig Werke haben Sie schon komponiert?«
»Dreihundertsechsundzwanzig«, erwiderte er, jede Silbe betonend. »Natürlich die große Oper nicht mitgezählt.«
Er übergab Kupczanko sein Werk, der sich sofort an das Ausschreiben und Einstudieren machte. Nie hatte der Kapellmeister so angestrengt gearbeitet, und dabei kam er doch aus der Fröhlichkeit gar nicht heraus. Offenbar hatte auch ihn die heitere Anmut der Komposition bezaubert. – »Nun«, fragte ich, als ich ihm begegnete, »ist der Walzer ein Stümperwerk?« – »Im Gegenteil«, rief er, »das reizendste Ding von der Welt!« Und dabei lachte er übers ganze Gesicht. – »Also haben Sie keinen Zweifel mehr an Majir?« – »Nicht den geringsten!« Und wieder das tolle Lachen. Das fiel mir nicht weiter auf. Offenbar steckte eben in dem Walzer ein geradezu drastischer Humor. Hingegen stimmte es mich bedenklich, daß plötzlich Korn, welcher einige Tage nur noch aus zwei Linien bestand, weil er auch das Haupt demütig vorgebeugt trug, wieder die alte Dreizahl aufwies. Fast ahnte mir für den Sonnabend Schlimmes, denn ich hatte damals bereits sehr viele Künstlerbiographien gelesen und wußte, welche Dornenwege der Genius, namentlich im Beginn, zu wandeln hat. Die Befürchtung war grundlos, im Gegenteil, es wurde einer der reinsten, schönsten, erhebendsten Siege des Göttlichen über das Irdische, welche ich je mitmachen durfte.
»Der Stern von Lopuschna« war als der erste Walzer des Abends angesetzt. Als Kupczanko den Taktstock hob, trat lautlose Stille ein. Auch trat niemand zum Tanz an, die Spannung war zu groß. Majir stand neben der Erkorenen, er war etwas bleich, auch er tanzte nicht.
Die Töne begannen durch den Saal zu fluten, eine liebliche, anmutige, dabei berauschend fröhliche Weise, die einem unwillkürlich das Herz heiter und die Füße beschwingt machte. Ich war der erste, welcher der Lockung nicht widerstand und mit Charlotte dahinflog, andere Paare folgten.
Als die Musik zu Ende war, geschah etwas, was ich diesen neidischen Seelen nie zugetraut hätte, man applaudierte, nicht viel, nicht anhaltend, aber doch so, daß Kupczanko den Walzer mit Ehren wiederholen konnte. Nun wagte es auch Majir, der bis dahin mit gesenkten Lidern dagestanden, den Arm um die Holde zu legen und mit ihr dahinzufliegen.
Und nachdem es zu Ende war, wurde abermals applaudiert, aber diesmal noch lauter, daß Kupczanko zum drittenmal begann. Nun schwang sich alles mit, was Beine hatte, nur Korn blieb in seiner Ecke. Und endlich wieder ein Händeklatschen, jetzt so laut, daß die Wände dröhnten.
Ja, es war ein schöner Moment, und als ich nun durch den Saal ging, hatte ich meine helle Freude. »Reizend, ganz reizend!« riefen die Unbefangenen und fügten höchstens bei: »Das hätte man dem Majir nie zugetraut!« Die Befangenen aber schwiegen oder murmelten höchstens: »Dahinter steckt etwas!« Fragte man sie aber ernstlich, was sie meinten, oder sagte ihnen: »Ein großes Talent – das steckt dahinter«, so zuckten sie die Achseln und verstummten.
Einen echten Künstler berauscht auch der Erfolg nicht. Majirs Antlitz wies keinen Triumph. Im Gegenteil, er spähte mit einer gewissen Ängstlichkeit um sich, und als ich auf ihn zutrat, um ihm zu gratulieren, schnitt er das Lob kurz ab und flüsterte ängstlich: »Der Korn lächelt immer so merkwürdig!« In der Tat – die drei Linien waren heute besonders scharf ausgeprägt, und um den Karpfenmund lag ein Zug, der wahrscheinlich Ironie bedeuten sollte. »Lassen Sie ihn!« sagte ich, »er wird bald genug weinen. Sie sind doch mit Stasia einig?«
»Morgen oder übermorgen«, erwiderte er, »wenn die Erbschaftspapiere da sind.«
Am Dienstag früh waren sie da, und am Nachmittag schon verbreitete sich das Gerücht von der Verlobung. Auf der Promenade harrte man gespannt dem Erscheinen des Brautpaares entgegen. Aber wohl gingen die beiden nebeneinander, während sich Korn mit dem Platz an des Vaters Seite begnügen mußte, aber noch nicht Arm in Arm. Noch nicht! Wer sah, mit welchem Ausdruck der Blick des schönen Mädchens auf ihrem Begleiter ruhte, konnte nicht daran zweifeln, daß die Papiere in Ordnung gewesen. Hingegen schien Majir seltsamerweise gedrückt. Das Lächeln, das seinen Mund umspielte, hatte etwas Krampfhaftes, und zuweilen wendete er den Kopf, als wollte er erlauschen, was sein Feind und Rivale mit dem Vater spreche.
Den Grund erfuhr ich am Abend. »Darf man gratulieren?« fragte ich. Da faßte er meine Hand, als wollte er sich daran klammern. »Geben Sie acht«, murmelte er, »morgen erlebe ich was von dem Pillendreher. Er hat eine Intrige gegen mich geschmiedet! Sie wissen doch, morgen ist Festkränzchen, Kaisers Geburtstag, da also will mir dieser Mensch was antun. Er ist schon heute hinter mir hergeschlichen wie diese – ich weiß nicht, wie sie deutsch heißen –, die Weiber, die einen immer verfolgen.« – »Deutsch heißen sie die Eumeniden!«
»Richtig, also wie die Miniden hinter dem Römer, der seine Mutter geheiratet hat.« – »Ödipus. Eigentlich war es ein Grieche. Aber das ist doch einerlei. Sie haben doch nicht Ihre Mutter geheiratet?«
»Nein!«
»Oder sonst etwas Böses begangen?«
Er seufzte tief auf. »Nein!« – »Warum fürchten Sie ihn also? Und woher vermuten Sie, daß er morgen beim Kränzchen einen Streich gegen Sie führen will?«
»Es kann ja nicht anders sein! Als ich heute auf das Postamt gehe, die Papiere zu beheben, steht er vor dem Amt auf der Straße und liest einen Brief. Wie er mich sieht, lacht er laut auf und sagt: ›Herr Majir, was da steht, wird Sie freuen!‹ – ›Möglich‹, sage ich, ›aber lassen Sie sehen!‹ Darauf blickt er mich einen Augenblick unschlüssig an und sagt dann: ›Herr Majir‹, sagt er, ›wir sind Nebenbuhler, aber ich habe sonst nichts gegen Sie. Glauben Sie, daß ich ein Ehrenmann bin?‹ – ›O gewiß!‹ sag' ich. – ›Nun, dann glauben Sie mir auch aufs Wort, wenn Fräulein Stasia diesen Brief liest, so wird sie nicht Ihre Frau!‹ – ›So, so!‹ sage ich lächelnd. ›Was steht denn so Schreckliches darin?‹ – ›Glauben Sie es mir aufs Wort, nichts Angenehmes für Sie! Versprechen Sie mir, daß Sie von der Werbung zurücktreten und noch heute abreisen, und ich gebe Ihnen nicht bloß den Brief, sondern auch mein Ehrenwort dazu, daß niemand etwas vom Inhalt erfährt!‹ – ›Mit Speck fängt man Mäuse‹, sage ich. – Darauf er: ›Der Brief ist von . . . ‹ Da hält er ein und besinnt sich. – ›Nun!?‹ frage ich. – ›Nein‹, sagt er, ›Sie sind sehr schlau, Sie würden die Sache so zu drehen wissen, als ob Sie unschuldig wären. Was Sie sich eingebrockt haben, sollen Sie essen! Adieu!‹ Und geht. Was sagen Sie dazu?«
»Empörend! Aber woher wissen Sie, daß er gerade beim Kränzchen . . .«
»Das weiß ich ja von meiner Braut – nämlich, unter uns gesagt, wir sind schon verlobt. Ich habe sie sogar schon geküßt!« Sein Antlitz überflog ein tiefer Schatten. »Nämlich, als ich meine Papiere habe, lege ich sie dem Alten vor, und er ruft die Stasia, und sie sinkt an meine Brust, und er segnet uns. Da klopft es – der Korn! Er sieht uns an und sagt dann: ›Auf ein Wort, Herr Bogdanowicz!‹ Und führt ihn ins Nebenzimmer. Nach einer Weile kommt der Alte zurück und sagt: ›Kinder, die Verlobung bleibt vorläufig, bis zum Kränzchen, unter uns. Erst in der Ruhepause, beim Souper, dürft ihr's sagen!‹ – ›Aber warum?‹ rufen wir. – ›Weil ich meine Gründe habe.‹ – Korn hat ihm nämlich gesagt, daß er bis dahin mit solchen Beweisen gegen mich vortreten wird, daß er mir seine Tochter nicht geben kann. Der Alte glaubt ihm zwar nicht ganz, aber er wartet doch. So hat mir die Stasia eben erzählt!«
»Aber, was kann es sein?« rief ich.
»Nichts! Aber wer ist gegen einen Filet sicher?«
Was sollte ich sagen? Er hatte recht, obwohl es ja deutsch Filou heißt.
Ach, er sollte auch recht behalten, weiß Gott, wie sehr! Noch krampft sich mir das Herz vor Mitleid und sittlicher Entrüstung zusammen, wenn ich daran denke. Und mit einem solchen zusammengekrampften Herzen schreibt es sich schwer.
Also kurz! Nur die Tatsachen und – die Anklage gegen einen sogenannten berühmten Komponisten, die ich bereits angekündigt habe.
Es war am 18. August 1865, abends neun Uhr, im Tanzsaal des Wirtshauses zu Lopuschna. Sämtliche Badegäste waren in ihren besten Kleidern und mit ihren schönsten patriotischen Gefühlen erschienen. Nur Anastasia fehlte. Sie sei nicht wohl, sagte ihr Vater dem entsetzten Bräutigam. War Majir schon bisher etwas blaß gewesen, so wurde er nun vollends grau.
Zur Eröffnung des Balles wurde die Volkshymne gespielt und gesungen. Dann eine Polonaise und nun – nun erklang wieder die liebliche Weise des »Sternes von Lopuschna«. Alle Welt tanzte, nur Majir nicht. Ein dröhnendes Beifallsklatschen und stürmische Dacapo-Rufe. Den lautesten Beifall spendete Herr Korn. Ich muß sagen, das gefiel mir nicht. Der Mensch soll nicht heucheln, was er nicht empfindet. Der Beifall dauerte fort. Aber statt zum Taktstock zu greifen, zieht Kupczanko ein Papier aus der Brusttasche und entfaltet es . . .
»Hört, hört!« ruft Herr Korn. »Hört, hört!« rufen andere. Endlich wird es still, und Kupczanko beginnt: »Meine Damen und Herren, ich habe Sie für eine Täuschung um Entschuldigung zu bitten, an der ich, freilich unschuldig, mitgewirkt habe. Heute vor einer Woche übergab mir ein Herr dieser Gesellschaft einen angeblich von ihm komponierten Walzer –«
»Angeblich?« rufen zehn Stimmen zugleich.
»Angeblich, meine Herrschaften. Natürlich studierte ich ihn sofort ein. Aber dabei war es mir immer, als hätte ich ihn, hm! – schon einmal gehört, als wäre es ein Walzer eines sehr bekannten Wiener Walzerkomponisten. Ein Herr schrieb an den Verleger dieses Komponisten und legte die Komposition bei. Hier die Antwort.«
Er entfaltete das Papier. Bis dahin hatte die rohe Menge gelacht, geschrien und auf ihr Opfer mit Fingern gewiesen. Da stand Majir und suchte sich verzweiflungsvoll einen Weg durch die Umstehenden zu bahnen, aber man ließ ihn nicht durch. »Bleiben Sie nur«, riefen die Barbaren, »der Brief wird Sie interessieren!« »Er ist auch ganz kurz!« fuhr Kupczanko fort und las: »Sehr geehrter Herr! Ihre Vermutung ist richtig. Das mir eingesendete Manuskript, ›Der Stern von Lopuschna‹ überschrieben und angeblich von Frantisek Majir komponiert, ist eine Abschrift des in meinem Verlag erschienenen Walzers ›Aus dem Sophiensaal‹ von Johann Strauß. Die Abschrift unterscheidet sich von dem Original nur durch einige Schreibfehler, welche darauf schließen lassen, daß der Plagiator ganz unmusikalisch ist. Ich lege Ihnen Ihrem Wunsche gemäß sowohl das Manuskript als auch einen Abdruck des Straußschen Walzers bei, wofür Sie mir gefälligst einen Gulden und achtzig Kreuzer vergüten wollen. Hochachtungsvoll.«
»So, meine Damen und Herren«, schloß er, »nun wissen Sie die Wahrheit! Und nun wollen wir den Walzer nochmals spielen!«
Ein Beifallsorkan. Die Musik fällt ein, die Paare drehen sich im Tanze. Da erst gelingt es dem unglücklichen Tondichter zu entfliehen.
Niemand folgte ihm, niemand zweifelte an seiner Schuld. Auch ich – es soll meine harte, aber wohlverdiente Buße sein, daß ich dies ausspreche – war von dem Unverstand der Menge mitgerissen und widersprach nicht, als sie im Saal die giftigsten Reden gegen ihn führten. Erst im Morgengrauen, als ich heimging, ergriff mich der Gedanke: »Kann ein Mensch so viel lügen?! Und wenn dies vielleicht möglich ist, kann ein solches Künstlerhaar lügen?! Der Brief war vielleicht nicht echt. Vielleicht auch hatte da ein Zufall gewaltet! Wie oft begegnen sich zwei kongeniale Naturen in demselben Gedanken! Wie, wenn Majir unschuldig litt! Und wenn er diese unschuldig erlittene Schmach nicht ertrüge, wenn er –«
Ich stürmte nach dem Hause, wo er wohnte. Gottlob, er lebte noch und dachte an keinen unheimlichen Entschluß. Denn in seinem Zimmer schimmerte Licht, und vor dem Haus stand ein Fuhrwerk, auf welches der Hausknecht eben Majirs Koffer festschnürte. Einen neuen Koffer mit einer goldenen Lyra darauf. Ach . . .
Seine Stubentür stand halb offen. Als ich eintrat, packte er eben noch die Waschsachen in die Handtasche. Mir schien es, als erröte er bei meinem Anblick, vielleicht täuschte ich mich.
Einen Augenblick stand ich verlegen da und wußte nicht, wie ich beginnen sollte. Endlich fiel mir etwas ein, was gewiß keine Taktlosigkeit war. »Guten Morgen«, sagte ich.
»Guten Morgen«, erwiderte er.
»Sie reisen ab?«
»Wie Sie sehen!«
»Warum?!« Es war mir so entfahren, das war schon nicht mehr taktvoll, aber nun war's geschehen.
»Warum!« rief er. »Sie fragen! Und Sie wollen ein Dichter sein! Ich, Frantisek Majir, soll an einem Ort bleiben, wo man mich so behandelt?! Ist Lopuschna meiner noch würdig? Ja oder nein?!«
»Nein!«
»Nun also! Darum reise ich. Mich ekelt vor dieser ganzen Gesellschaft. Und wenn sie mich auf den Knien darum bitten würden, ich komme nie mehr her! Mich ekelt vor diesem Pillendreher und noch mehr vor diesem elenden Kupczanko. Denn er will selbst ein Künstler sein und ist an einem anderen Künstler zum Judas geworden. Verstehen Sie das?«
»Ich verstehe!«
»Und wissen Sie, vor wem mir geradezu graut? Vor dieser kleinen, dürren, häßlichen, bemalten, alten Person! Und wenn sie jetzt hereinkommt in dieses Zimmer da und sagt: ›Wenn Sie mich nicht nehmen, so gehe ich in den Sereth‹, ich antworte ihr: ›Bitte, Fräulein, nur zu!‹ Sie hat ja kein Herz! Und glauben Sie, daß sie eine Viertelmillion hat?! Schwindel! Es fehlen 20 000 Gulden daran. Aber geht das mich noch etwas an?!«
»Nein!«
»Aber wissen Sie, vor wem mich am meisten ekelt? Vor diesem Johann Strauß! So ein elender, heimtückischer Ligator!«
»Ligator?!«
»Ja, ja! Ein frecher Ligator! Er hat mir ja meinen Walzer gestohlen!«
»Plagiator. Sie glauben, daß Strauß ein Plagiat begangen hat?!«
»Natürlich.«
»Er an Ihnen?«
»An wem sonst?! Was machen Sie für ein verdutztes Gesicht?! Glauben Sie vielleicht – ich an ihm?!«
»Behüte! Es kam mir nur so – so überraschend.«
»Oh, es wird auch der Welt überraschend kommen! Glauben Sie, ich werde schweigen?! Alles werde ich enthüllen, zugrunde werde ich ihn richten, und meine Nation wird mir dabei helfen!«
»So also erklärt sich die Sache!« rief ich. »So einfach! Aber muß deshalb Strauß ein Plagiator sein? Vielleicht ist er es ebensowenig wie Sie! Wie oft begegnen sich zwei Künstler in demselben musikalischen Gedanken.«
»Bis auf die letzte Note gleich?!« rief er. »Das ist noch nie vorgekommen, das kann niemand glauben!«
»Aber wie wäre er denn in den Besitz des Manuskripts gekommen?«
»Sie haben es ja gehört! Die Lumpen haben mein Werk nach Wien geschickt an den Verleger. Der liest es. ›Ha, ein Genie! Und ein Tscheche! Wenn der bekannt wird, ist mein Strauß totgeschlagen!‹ Nimmt sich einen Fiaker, fährt zum Strauß. ›Lesen Sie!‹ Der wird gelb und grün vor Neid. ›Da muß was geschehen!‹ – ›Aber was?‹ sagt der Verleger. Und darauf der Strauß: ›Es ist ja noch nicht gedruckt, der Majir ist noch unbekannt, drucken wir es noch heute als mein Werk, und er ist tot!‹ Und so haben sie es gemacht!«
»Schändlich!« rief ich. »Und wie wollen Sie es beweisen?«
»Mit Hilfe meiner Nation!« Er reichte mir die Hand, bestieg den Wagen und, verließ das undankbare Lopuschna.
Seither sind an dreißig Jahre vergangen. Johann Strauß ist immer berühmter geworden, nun auch als Opernkomponist. Von Majir hat die Welt nichts mehr gehört. Meine Lage bei dieser Enthüllung und Anklage ist also die denkbar ungünstigste. Aber ich sagte schon, es muß sein.
Warum Majir schwieg, ist eine traurige, aber kurze Geschichte: weil seine Kraft gebrochen war.
Der tapfere Entschluß jener Nacht war gewissermaßen das letzte Aufflammen seiner Künstlerseele. Er wagte den Kampf nicht aufzunehmen, weil er um sich nur Hohn und Neid sah. Mich ausgenommen, glaubte kein Mensch in Czernowitz mehr, daß er ein Tondichter sei. Und vollends hielt, mich ausgenommen, niemand den gefeierten Strauß für einen Plagiator an Majir. Man lachte ihm ins Gesicht, wenn er davon sprach. Auch ich wurde deshalb viel verhöhnt. Man sagte mir, »Aus dem Sophiensaal« sei schon im Fasching 1865 erschienen und – »Frantisek Majir contra Johann Strauß«, das gab den Ausschlag, der Unberühmte war und blieb das Opfer.
Auch seine Nation half Majir nicht, wahrscheinlich aus denselben Gründen. Da erkannte er, daß sie seiner nicht würdig sei, und sagte sich von ihr los. Er legte die blau-weiß-roten Sommerröcke ab, und, im Winter verschwand mit dem Schnürrock auch die Pelzmütze à la Hus. Er schaffte sich ganz gewöhnliche Kleider an. Noch mehr, nach einem Jahr ließ er sich das Haar kurz scheren, und nach zwei Jahren stand auf seinen Visitenkarten nicht mehr »Frantisek Majir«, sondern »Franz Mayer«. Fragte man ihn nun, welcher Nationalität er sei, so erwiderte er: »Ich bin ein Geschäftsmann!« Und wer die Rede auf seine Kompositionen brachte, dem lief er davon. Kurz, er wurde ein Alltagsmensch, der höchstens im Eisenhandel und namentlich in der Kunst, den Bauern um teures Geld schlechte Sensen zu verkaufen, Hervorragendes leistete. Diese Kunst trieb er lange. Jetzt, wo er es nicht mehr nötig hat, hält er einen Geschäftsführer. In seinen Mußestunden spielt er Tarock und erzieht seine Kinder. Er hat vier Jahre nach jenen Sommertagen geheiratet, wo der »Stern von Lopuschna« aufgeflammt und zerstoben. Seine Erwählte war schön wie Anastasia, sogar noch ein wenig gereifter, aber bei ihr fehlte nichts zur Viertelmillion, und ihr Vater konnte nicht stören, denn er war kein entlassener Zuchthäusler, sondern in der Strafanstalt gestorben.
Anastasia aber lebt noch, unvermählt und einsam. Die Sache mit Herrn Korn zerschlug sich, und zwar, wie es heißt, der fehlenden Zwanzigtausend wegen. Und darnach fand sich kein anderer mehr. So ist das herzlose Geschöpf von einer gerechten Strafe heimgesucht worden.
Johann Strauß aber ist bisher straflos ausgegangen.
Ich jedoch meine, daß es nicht so bleiben kann, und habe darum jene böse Tat seiner Jugend enthüllt. Nur aus Rechtsgefühl; Majir-Mayer weiß nicht davon. Ich wußte ja, hätte ich ihm von meiner Absicht geschrieben, er wäre dagegen gewesen. Entschieden dagegen. Der gebrochene Mann hat entsagt, vielleicht sogar vergeben und verziehen. Er hätte mich sogar angefleht, zu schweigen. Und da ich das nicht kann, so habe ich ihn nicht erst gefragt.
Wird man mir meine Anklage glauben? Ich hoffe es. Die Stimme der innersten Überzeugung hat einen Klang, dem man sich schwer entziehen kann. Man wird mir glauben, ganz ebenso wie ich Majir vor dreißig Jahren geglaubt habe.