Karl Emil Franzos
Das Kind der Sühne
Karl Emil Franzos

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Mein Onkel Bernhard

Mein Onkel Bernhard ist eigentlich nicht mein Onkel gewesen, noch hat er Bernhard geheißen. Seine Schwester hatte einen entfernten Vetter geheiratet. Das war die ganze Verwandtschaft. Aber wenn nicht nach dem Blute, so war er doch nach dem Herzen unser aller Onkel. Die ganze Familie, soweit sie noch kurze Kleider oder Knabenjacken trug, wendete sich an ihn, wenn sie etwas haben wollte. Denn er war stets von der Notwendigkeit bunter Bilderbücher und schöner Puppen tief überzeugt, oder er gelangte doch leicht zu dieser Überzeugung: durch einen einzigen bittenden Blick aus Kinderaugen. Und wenn jemand etwas nicht haben wollte, Schläge oder Schelte, so flüchtete er gleichfalls zu diesem kleinen, stillen Manne. Der Onkel Bernhard schüttelte den Kopf, hielt eine kurze, aber gewichtige Rede und ging dann als Vermittler zu den Eltern. In der Regel glückte es ihm auch, das Gewitter abzuwenden, denn, von den gütigen Müttern abgesehen, auch kein Vaterherz in der Sippe konnte ihm widerstehen, wenn er in seiner milden, ernsten Weise sagte: »Schlag' die Kinder nicht! Freue dich, daß sie dir leben und erblühen! Nicht jeder hat es so gut!«

Es war dies vielleicht nicht sehr logisch, noch lag darin besondere pädagogische Weisheit. Aber, wie gesagt, kein Herz widerstand diesen Worten, und geschadet haben sie wohl keinem seiner Schützlinge. Der ungebärdigste Range schämte sich, den Onkel Bernhard zu oft für sich bitten zu lassen, und schmerzlicher als die schneidigste Rute tat es jedem, wenn ihm dieser Mann endlich zürnte. Warum er so großen Einfluß auf uns hatte, war uns selbst nicht klar. Denn imponierend war er nicht, weder in seiner Erscheinung noch in seiner Lebensstellung. Ein dürftiges, gedrücktes Männchen mit langem, hagerem, furchenreichem Antlitz, welches durch einen grauen Spitzbart nur noch länger und hagerer erschien. Dieser Spitzbart wurde allmählich weiß, aber im übrigen änderte sich das Antlitz nicht, und auch die Kleidung war ewig dieselbe: ein langer, dunkelgelber Rock, im Sommer aus Nanking, im Winter aus Wolle. Außer dem Onkel Bernhard trug kein Mensch in der ganzen Stadt Czernowitz einen solchen Rock, und kein Mensch führte auch eine solche Lebensweise.

Am frühen Morgen und am späten Abend machte er lange, einsame Spaziergänge, und den Tag über saß er in seinem Stübchen und schrieb auf längliche Papierstreifen krause hebräische Zeichen. Das seien Beiträge für die hebräischen Zeitungen, erzählten die Leute, politische Artikel, und es sei eigentlich ewig schade, daß der kleine Mann das Deutsche nicht so gut erlernt, um für die Wiener Blätter arbeiten zu können, denn er sei nicht bloß ein großer Talmudist, sondern auch ein »scharfer Schreiber«. Und ein anderer, wirklich Onkel, Salomon Brunnstein, pflegte immer zu sagen: »Der Zar in Petersburg soll täglich Gott danken, daß unser Bernhard nicht Deutsch kann!« Von dem Ertrag dieser Arbeiten und den Zinsen eines kleinen Vermögens lebte der Mann und ersparte noch so viel, um alle Kinder, die er kannte, häufig durch Geschenke zu erfreuen. Das war aber auch die einzige Freude in seinem dunklen, einsamen Leben, und wenn wir, ein halbes Dutzend Rangen, auf seine Stube rückten, so konnte er mit uns spielen und fröhlich sein und so herzlich lachen, daß ihm die Tränen ins Auge traten. Wir begriffen gar nicht, warum die Erwachsenen immer sagten, der Onkel Bernhard sei doch eigentlich der unglücklichste Mensch, den diese Erde trage.

Kinder sind selten scharfe Beobachter. Vielleicht waren auch jene Tränen, die ihm so jählings über die Wangen rannen, keine Freudentränen. Vielleicht zuckte sein armes, zertretenes Herz nie schmerzlicher, als wenn er mit den fremden Kindern lachte und spielte.

Alles an diesem Manne hatte seine Geschichte: die Furchen im Antlitz, der lange, gelbe Rock und die länglichen Papierstreifen. Es soll auch alles erzählt werden und sorglich der Reihe nach; nur von dem langen, gelben Rock berichte ich zuerst. Dieses sonderbare Kleidungsstück war aus einem Kompromiß hervorgegangen, welchen der Onkel mit seiner Schwester Henriette abgeschlossen. Er hatte im Schnitt gesiegt und sie in der Farbe. Als er vor manchem Jahr aus seiner Heimatstadt in Russisch-Podolien nach Czernowitz gekommen, weil er nun niemand mehr auf Erden hatte als eben diese Schwester, da trug er jenen langen, schwarzen Talar, wie ihn die Juden des Ostens zu tragen pflegen, und nannte sich, wie er seit seiner Geburt hieß, Berisch Reinmann. Aber die Schwester lebte nicht umsonst bereits seit fünfzehn Jahren in der deutschen Stadt, sie war aus einer schlichten Hendl Reinmann eine emanzipierte Henriette Schwarzenthal geworden und mühte sich, nun auch den Bruder mit den Segnungen einer vorgeschrittenen Kultur zu beglücken. »Du mußt Bernhard heißen«, sagte sie ihm, und der kleine Mann remonstrierte ein wenig und fügte sich dann und hieß Bernhard. »Du mußt einen deutschen Rock tragen«, gebot sie; aber dem setzte er hartnäckigen Widerstand entgegen, nicht aus Abneigung gegen die Kultur, sondern weil er sein Leben lang den langen, weiten, bequemen Rock getragen. Aber sie fuhr fort, ihn zu bestürmen, und so ließ sich Bernhard seinen neuen Talar aus dunkelgelbem Stoff machen. Das war keine »jüdische« Tracht mehr, und Henriette war zufrieden.

Weitere Versuche, ihren Bruder »deutsch« zu machen, unterließ sie. Er selbst aber rang freilich still und verschämt nach demselben Ziele, ohne daß es jemand genau wußte. Er nahm Unterricht in der Sprache, die er bisher nur in einem korrumpierten Jargon gesprochen. Der alternde Mann wendete lange Jahre daran, das Hochdeutsche zu erlernen. Viele mögen nach diesem Quell westlicher Bildung sehnsüchtig gedürstet, viele mögen schmerzlich danach gerungen haben, aber vielleicht noch nie ein Mensch so innig, so eifrig wie dieser kleine »jüdische Schreiber«. Warum? Ihn trieb nicht der Durst nach Wissen, nicht die Hoffnung, das mühsam Errungene einst gut verwerten zu können, ihn trieb keine Eitelkeit – sondern sein Herz, das zertretene Herz, welches sich rächen und andere warnen wollte. Bernhard Reinmann wollte ein »deutscher Schreiber« werden, er wollte in deutschen Zeitungen gegen Rußland schreiben. »Was habe ich davon«, seufzte er, »wenn ich für den ›Hamagid‹ und den ›Ibri‹ arbeite? (Die beiden Hauptblätter in hebräischer Sprache.) Palmerston liest nicht den ›Hamagid‹, und Thiers liest nicht den ›Ibri‹. Ja, wenn ich für die ›Ostdeutsche Post‹ schreiben könnte, oder gar für die ›Augsburger Allgemeine‹!« Aber dieser Herzenswunsch ging nie in Erfüllung. Er erlernte das Hochdeutsche so weit, um jedes Buch lesen und verstehen zu können, zum Schreiben kam er nicht, sei's, daß ihm der Mut fehlte, oder daß er wirklich zu spät begonnen, um die Schwierigkeiten bewältigen zu können. Je älter er wurde, desto tiefer nagte diese vergebliche Sehnsucht an seinem Herzen. »Was« – fragte er oft seine Besucher, indem er wehmütig von den krausen Schriftzeichen aufblickte, »was tue ich jetzt? Ich flüstere! Ich aber möchte schreien, daß mich die Gewaltigen dieser Erde hören und sich ihrer Brüder erbarmen!«

Nun quält ihn dieses Dürsten längst nicht mehr, und seine Seele ist befreit von jedem Weh, auch von dem bittersten, das sie bedrückt: der nagenden Erinnerung an das gemordete Glück. Denn mein Onkel Bernhard ist tot, schon lange, lange Jahre. Die Kinder weinten sehr, als man ihn begrub, denn Kinder sind egoistisch in ihrer Liebe. Aber die älteren Leute und seine Freunde meinten: »Ihm war der Tod ein Erbarmer! Nun sieht er Weib und Kinder wieder, nach denen er sich so sehr gesehnt!« Auch mein Onkel Brunnstein sprach so, nur fügte er noch hinzu: »Der Zar in Petersburg kann sich freuen, daß Berisch Reinmann gestorben ist, ehe er in der ›Ostdeutschen Post‹ seine Geschichte erzählt hat.«

Mein Onkel Brunnstein war ein guter und kluger Mann, aber ich glaube, daß er da doch diese Geschichte überschätzt hat. Ich, der ich sie nun erzähle, bin fern davon. Und was gar den Zaren in Petersburg betrifft, so hat sie gar keinen Bezug auf ihn. Aber ich glaube, es ist doch der Mühe wert, zu erzählen, wie Berisch Reinmann der unglücklichste Mensch wurde, den die Erde trug.

Wie? Im Grunde nur durch ein Mißverständnis. Aber wehe dem Staate, in welchem ein solches Mißverständnis passieren kann. »Das ist der schlimmste Fluch schlechter Menschen«, sagt ein Weisheitsspruch des Orients, »daß sie nicht gut werden können, selbst wenn sie wollen.« Das ist der Fluch tyrannischer Staaten, daß sie nicht gerecht sein können, selbst wenn sie wollen, daß sie auch da zermalmen müssen, wo sie sich mühen, zu erheben und zu beglücken . . .

Unzählige wissen, gleich mir, um die Geschichte dieses Mannes. Wäre die Wahrheit nicht ohnehin allimmer die einzige Göttin, der ich diene, so zwänge mich schon dieser äußere Grund, nichts hinzuzufügen, nichts zu verschweigen.

Berisch Reinmann war bis in sein vierzigstes Jahr ein glücklicher Mensch. Armer Eltern Sohn, hatte er sich aus eigener Kraft ein ansehnliches Besitztum, einen fröhlichen Hausstand geschaffen. Er war Getreidehändler in einer kleinen Stadt des russischen Podoliens, dicht an der österreichischen Grenze. Das ist ein Handel, zu dem viel Klugheit und Glück gehören. Die Ernte wird, bei den verlotterten Verhältnissen der dortigen Edelleute, die nicht zuwarten können, gewöhnlich schon im Frühling an den Händler verkauft, so daß ihn, nicht den Grundbesitzer, alle Not eines Mißjahres trifft, freilich auch aller Segen eines guten Jahres. Man kann da, trotz aller Vorsicht, arm werden, freilich auch in kurzer Zeit zu Reichtum gelangen. Reinmann wurde reich. Zudem hatte er ein liebes Weib und zwei blühende Kinder. Das Weib war kränklich, die Ehe war lange Jahre kinderlos geblieben, um so ängstlicher hegte und pflegte der Mann den Segen, der ihm so spät, fast nicht mehr erhofft, gekommen. Auch sonst hatte er allen Grund, mit seinem Geschick zufrieden zu sein. Er hatte einen ausgezeichneten Ruf unter seinen Mitbürgern und war sich bewußt, ihn durch Wohltätigkeit und Ehrlichkeit vollauf verdient zu haben. Mit den Behörden kam er gut aus, weil er die Welt nahm, wie sie ist. Er wußte, daß die beiden Gewaltigen seines Heimatstädtchens, der Richter und der Polizeimeister, nicht berechtigt seien, Geschenke von ihm zu fordern, aber wenn sie es taten, so gab er ihnen den gewünschten, nicht eben niedrig bemessenen Tribut. Er hatte keinen Grund, sie zu fürchten, aber er wußte, daß sie ihm leicht das Leben sauer machen konnten, wenn sie wollten. »Jeder tut's«, dachte er, »ich werde Rußland nicht anders machen.«

Da starb der alte Polizeimeister, ein neuer trat an seine Stelle. Ich würde den Namen gerne nennen, aber er ist mir im Laufe der Jahre entfallen. Der Mann war eine habgierige Bestie; wer es gelinder ausdrücken wollte, würde lügen. Er hatte in der Armee gedient und war da seiner Trunksucht und einer schmutzigen Geschichte wegen entlassen worden. Aber einer der mächtigsten Beamten des Gouvernements Podolien war sein Vetter. Wer einen solchen Vetter hat, braucht in Rußland nicht zu sorgen; der schimpflich Entlassene erhielt jenes Amt, welches ihn auch in Ehren reichlich nähren konnte. Zu einem ausschweifenden Leben, wie er es führte, reichten freilich die regelmäßigen Einnahmen nicht hin, auch jener ungesetzliche Tribut nicht, den ihm die Leute, wie dem Vorgänger, ohne Widerrede zollten. Er erhöhte den Tribut, er ließ sich jede Amtshandlung, zu der er verpflichtet war, bezahlen – die Leute murrten, aber sie fügten sich. Reinmann war der reichste Jude im Orte, er hatte darum mehr zu leiden als die anderen, er mußte nicht bloß die größten Summen opfern, sondern auch im Vergleich zu seinem Vermögen größere als die anderen Glaubensgenossen; aber er war gleichwohl der einzige, der nicht murrte. »Ich werde Rußland nicht anders machen«, wiederholte er resigniert sein Sprüchlein und zahlte.

Aber gerade diese Resignation ward ihm zum Verderben. »Wenn dieser Jude«, dachte der Polizeimeister, »tausend Rubel zahlt, ohne eine Miene zu verziehen, so wird er jammern, wenn ich zweitausend von ihm verlange, aber er wird sie bezahlen.« Und danach handelte auch der Edle bei der nächsten Gelegenheit, die er vom Zaune zu brechen wußte.

Er irrte. Der Jude jammerte nicht. Wohl aber sagte er, nachdem er das Geld auf den Tisch gezählt: »Herr, Sie richten mich zugrunde. Das ist keine Übertreibung, ich kann es Ihnen nachweisen. Ich will nicht Ihre Großmut anrufen, aber seien Sie klug! Ein kluger Wirt schlachtet nicht die Kuh, die ihm Milch gibt!«

Der Polizeimeister wurde verlegen. Dann half er sich durch einen feinen Scherz: »Ihr seid ja keine Kuh, Berisch, sondern ein Jude, also ein Schwein! He! He!«

Berisch verzog keine Miene. Wer als Jude in Rußland und Polen aufwächst, wird solche Scherze gewohnt. »Beherzigen Sie meine Worte,« sagte er nur noch zum Abschied.

Der Polizeimeister beherzigte sie wirklich – durch volle vier Wochen. Dann schickte er zu Reinmann und ließ ihn um ein kleines Darlehn bitten.

»Wieviel?« fragte der Jude den Boten.

»Tausend Rubel!«

»Die gebe ich nicht. Geht!«

Der Bote, ein junger, untergeordneter Beamter, stand starr vor Staunen. So hatte noch nie ein Jude mit ihm zu sprechen gewagt, wenn er im Auftrage des Gewaltigen kam. »Bist du verrückt?« fragte er.

»Geht!«

Es war etwas in dieser Stimme und dem Ausdruck der Augen, was den jungen Menschen fast unheimlich berührte. Er ging rascher, als er gekommen.

Der Polizeimeister schäumte vor Wut. Eine Stunde darauf erhielt Reinmann eine offizielle Vorladung, sofort auf dem Amte zu erscheinen.

Er kam auch sogleich.

»Warum leihst du mir die tausend Rubel nicht?« begann der Polizeimeister.

»Wenn ich darum amtlich vorgeladen bin«, war die Antwort, »so will ich Ihnen den Grund zu Protokoll sagen.«

»Ich werde dich zugrunde richten!«

»Das haben Sie ohnehin halb getan. Für die andere Hälfte will ich mich wehren!«

»Wehren? – gegen mich! Weißt du, wer mein Vetter ist!«

»Der Zar ist er nicht!«

Der Jude wurde entlassen; dem Polizeimeister fiel es nämlich, trotz allen Nachdenkens, nicht ein, warum er den Mann eigentlich amtlich hatte vernehmen wollen.

Einige Tage darauf – es war gegen Ende Juni – wußte er es. Eine verschollene, längst nicht mehr gehandhabte Verordnung verbietet es den Juden, christliche Diener und Taglöhner zu halten. Reinmann beschäftigte das ganze Jahr hindurch an fünfzig christliche Schaffner und Fuhrleute und zur Erntezeit oft ein halbes Tausend Mäher.

Als ihm der Polizeimeister das Verbot publizierte, erbleichte er, faßte sich aber rasch.

»Ich werde an das Gouvernement rekurrieren«, erklärte er. »Um meinetwillen wie um meiner Leute willen. Ich werde gänzlich ruiniert, aber auch sie werden brotlos. Und sie sind ja rechtgläubige Christen!«

Die Entscheidung kam bereits nach einer Woche; der Polizeimeister habe nach dem Gesetze gehandelt. Dem unbefugten Querulanten wurde eine Mutwillensstrafe auferlegt.

Der Jude war verzweifelt, aber die Teilnahme seiner Glaubensgenossen rettete ihn aus der Not. Sie standen ja gut mit dem Polizeimeister, sie durften christliche Arbeiter halten. So übernahmen sie dann alle Rechte und Pflichten Reinmanns. Er kam dabei nicht ohne schweren Verlust weg, aber das Schlimmste war vermieden.

Bis zum Herbste blieb alles ruhig. Der Polizeimeister schien des tödlich gehaßten Mannes nicht mehr zu gedenken. Da wurde in einer Oktobernacht des Juden Haus von Polizisten umstellt und durchsucht, er selbst aus dem Bette gerissen und ins Gefängnis geschleppt. Mit Ketten gefesselt lag er dort acht Tage auf faulendem Stroh bei Wasser und Brot. Endlich erfuhr er, wessen er beschuldigt wurde: er habe seinem Nachbar, dem Küster, ein Säckchen Getreide gestohlen. Dasselbe war bei der Haussuchung im Keller vorgefunden worden, und der Küster hatte durch Eid erhärtet, daß das Säckchen Weizen sein Eigentum sei und ihm kürzlich abhanden gekommen.

Das war auch gewiß kein Meineid. Aber ebensowenig zweifelte jemand, wie das Säckchen in des Juden Haus gekommen: durch die Polizisten selbst, bei der Haussuchung.

Die Familie des Unglücklichen bot alles auf, ihn aus dem Kerker zu befreien, oder mindestens aus den Händen seines Todfeindes. War in der Tat seine Schuld so offenkundig, so hatte die Polizei kein weiteres Anrecht auf ihn, sondern die judizielle Instanz, der Stadtrichter. Ein tragisches Zusammentreffen spornte noch diesen Eifer der Verwandten. Das Weib Reinmanns, ohnehin immer kränklich und hinfällig, war einige Tage nach seiner Verhaftung an den Folgen des Schrecks und aus Kummer verschieden. Sie mühten sich daher doppelt, den beiden verwaisten Kindern mindestens den Vater baldmöglichst zurückzugeben.

Der Stadtrichter war ihnen dabei behilflich, vielleicht auch nicht ohne äußere Gründe – gleichviel! er bestand energisch auf seinem Rechte, den Gefangenen ausgeliefert zu erhalten. Der Polizeimeister tat es gleichwohl erst dann, nachdem er von den Verwandten fünfhundert Rubel hierfür erhalten.

Die Untersuchung dauerte kurz. Der Angeschuldigte wurde, trotz des corpus delicti, freigesprochen. Das Gericht, hieß es in dem Urteil, habe gleichwohl die Überzeugung gewonnen, daß ein Mann von dem Charakter und Vermögen Reinmanns sich unmöglich soweit habe vergessen können, seinem Nachbar ein Säckchen Weizen zu stehlen.

Auch dies Urteil mag, trotz der Unschuld Reinmanns, einiges Bargeld gekostet haben; es ging aber nicht anders.

Als der Jude wieder in sein Haus trat und den Tod seines Weibes erfuhr, entlud sich sein Schmerz in heißem, tagelangem Weinen. Dann aber wurde er merkwürdig ruhig, so ruhig, daß es den Kindern und Verwandten fast unheimlich war. »Jetzt will ich erst mein eigentliches Recht suchen«, sagte er, und wenn sie ihm sein eigenes weises Sprüchlein vorhielten: »Du wirst Rußland nicht anders machen«, so schüttelte er den Kopf und sagte: »In diesem einen Stück muß ich es versuchen, wenn nicht um meinet-, so doch um Gottes willen. Er, der Ewig-Gerechte, soll auch hier nicht zuschanden werden!«

Was er plante, erzählte er niemand. Man erfuhr es erst später, daß er habe nach Petersburg gehen und dem Zaren seine Geschichte erzählen wollen.

Ein Zufall, scheinbar günstig, ersparte ihm die Reise. Ein Mitglied des kaiserlichen Hauses sollte in den nächsten Tagen auf seinem Wege aus dem Ausland nach Kiew ein Nachbarstädtchen passieren und daselbst Nachtruhe halten. Dem Großfürsten ging ein guter Ruf voraus; man sagte ihm nach, daß er ebenso edel wie energisch sei; man freute sich, daß ihm ein wichtiger Verwaltungsposten in Kiew zugefallen.

Der Ruf trog nicht, das sollte auch Berisch Reinmann erfahren. Es kostete ihn viel Geld und Mühe, noch am späten Abend eine Audienz bei dem hohen Herrn zu erhalten; aber als er vor ihm stand, da schien auch alles gewonnen. Der junge Prinz hörte ihn trotz der Ermüdung leutselig an und geriet in tiefste Erregung. »Entsetzlich«, rief er und rang die Hände; die Tränen traten ihm in die Augen. Seine rein menschliche Anteilnahme wie sein Patriotismus hatten gleichen Anteil an dieser Erregung. »Ich danke Ihnen!« rief er. »Sie haben recht, derlei darf die Sonne nicht bescheinen!« Er notierte sich alles ausführlich. »Ich werde den Fall untersuchen lassen, strengstens, sofort, wenn ich in Kiew anlange. Ich werde das Gouvernement anweisen.«

»Das Gouvernement?« fiel ihm der Jude ins Wort. Und er erzählte ihm die Geschichte von dem Vetter.

Wieder geriet der Fürst in tiefste Erregung. »Das ist ja furchtbar!« rief er. »Dann sind ja auch jene Verleumdungen, welche elende Buben im Auslande –«

Er stockte. Es übermannte ihn, daß ja dann jene Männer im Exil keine »elenden Buben« seien und ihre Anklagen keine Verleumdungen.

Er wendete sich ab. Dann trat er das gebückte Männchen hart an. »Lügen Sie nicht?« fragte er und bohrte ihm die blitzenden Augen ins Antlitz.

Der Jude hielt den Blick ruhig aus. »Es ist alles wahr«, sagte er feierlich. »So wahr, als mir meine Kinder teuer sind; so wahr, als ich hoffe, dereinst wieder mit meinem Weibe vereinigt zu sein!«

»Gut« sagte der Großfürst nach einer Pause. »Ich werde die Untersuchung von Kiew aus direkt führen!«

. . . Drei Wochen waren seit dieser Unterredung vergangen, da erhielt der Polizeimeister eines Morgens ein Telegramm aus Kiew aus der Kanzlei des Großfürsten. Es lautete: »Der Kaufmann Berisch Reinmann ist zum Zwecke amtlicher Untersuchung unter strengster Bewachung sofort hierher einzuliefern.«

Der Unhold jubelte. Nun hatte er ja sein Opfer wieder in den Krallen. Das Telegramm legte er sich so aus, daß das Obergericht das freisprechende Urteil des Stadtrichters bemängelt habe und die Untersuchung wegen Diebstahls neuerdings eröffne.

Er ließ Reinmann verhaften, fesseln und stellte ihm einen Zwangspaß aus: »Inquisit, von Kiew requiriert.« Dann beorderte er zwei Kosaken, die den Unglücklichen von Station zu Station, das heißt: von Gefängnis zu Gefängnis, befördern sollten. »Besonders gefährlich«, schrieb er noch überdies hinein, und um jeden Fluchtversuch unmöglich zu machen, befahl er auch zugleich, wie die Kosaken den Mann eskortieren sollten: zwischen den beiden Pferden, die beiden Arme an die Steigbügel gebunden.

Das war alles, was er vorläufig für seinen Todfeind tun konnte. Aber für dessen Kinder konnte er mehr tun. Es waren dies ein sechsjähriger Knabe und ein vierzehnjähriges Mädchen. Die blieben nun ganz verlassen, die Mutter war tot, der Vater in Haft. Das Gesetz schreibt vor, daß in solchen Fällen sich die Behörde der Verlassenen annehmen müsse. Der Polizeimeister nahm sich ihrer an und versorgte sie. Den Knaben steckte er in das nächste griechisch-orthodoxe Kloster. Welchem Hause er aber das Mädchen anvertraute, das zarte, reine, bisher ängstlich behütete Kind, das – sträubt sich die Feder, niederzuschreiben.

Es dauert lange, bis man von der Grenze nach Kiew kommt, besonders wenn man die Reise in der Art machen muß, wie Berisch Reinmann. Hätte ihn nicht eine wilde, verzweifelte Energie aufrecht erhalten, er wäre wohl den unsäglichen Mühsalen dieser Wanderung erlegen.

Endlich, endlich war Kiew erreicht. Zwei Tage saß er dort im Kerker, da trat am dritten Morgen in aller Frühe ein junger Offizier, ein Adjutant des Großfürsten, in seine Zelle.

»Kommen Sie!« rief er ihm atemlos entgegen. »Der Großfürst ist trostlos über das Mißverständnis, dessen Opfer Sie geworden sind. Er erwartet Sie in seinem Schlosse!«

»Ein Mißverständnis!« murmelte der gebrochene Mann und ließ die Tränen fließen, die ihm ungestüm aus den Augen brachen. Alle Qual hatte er tränenlos ertragen, die jähe Rettung warf ihn fassungslos nieder.

Auch der Adjutant war erschüttert. Er geleitete den Wankenden sorglich zum Wagen und hob ihn hinein. »Der Großfürst wird Ihnen alles aufklären«, sagte er. »Ich bin überzeugt, Sie werden die glänzendste Genugtuung erhalten.«

Der Jude nickte stumm. »Mein armes Weib wird doch nicht wieder lebendig«, dachte er, »und was ich gelitten habe, kann mir auch niemand ersetzen und vergüten.«

Laut aber fragte er: »Gnädiger Herr, wie ist es zugegangen?«

Der Adjutant konnte es ihm ganz genau erzählen.

»Ein Mißverständnis!« betonte er. Es war in der Tat nur ein solches. Als der Großfürst in Kiew ankam, erinnerte er sich seines Versprechens und ließ den Präsidenten des Tribunals zu sich bitten, um den Fall mit ihm zu beraten. Der Präsident empfahl, den Juden nach Kiew kommen zu lassen, um vor allem ein sicheres Substrat der Anklage zu gewinnen und ferner, weil dieser Hauptzeuge hier unbeeinflußt bleiben könne. Denn er erinnerte sich aus seiner Praxis manchen Falles, wo derartige Untersuchungen zu keinem Resultate geführt – man hätte nämlich inzwischen auf die Beschädigten durch Drohungen oder Geld so energisch eingewirkt, daß sie sich urplötzlich nicht mehr für beschädigt erachteten. Der Großfürst meinte, er glaube nach dem Eindruck, den ihm der Mann gemacht, wohl nicht an eine solche Gefahr, stimme aber im übrigen zu, daß er hierher gebracht werde.

In seinem Eifer übernahm er es selbst, dies zu veranlassen, und sagte seinem vortragenden Rat: »Sorgen Sie dafür, daß der Kaufmann Berisch Reinmann aus B. sich baldmöglichst hier einfindet.« Aber ein vortragender Rat führt natürlich solche Aufträge nicht selbst aus. Er sagte darum einem der Departements-Chefs der Kanzlei: »Der Großfürst wünscht, daß der Kaufmann X. baldmöglichst hierher gebracht wird. Sie bürgen mir für die genaue Ausführung, es ist eine Amtssache.« Worauf der Departements-Chef seinem Sekretär auftrug: »Lassen Sie den Kaufmann X. sofort unter allen Vorsichtsmaßregeln und strengster Bewachung zum Zwecke amtlicher Untersuchung hierher schaffen.« Der Sekretär aber wendete sich natürlich sofort telegraphisch an jene Behörde, welcher die Vollziehung solcher Aufträge für ihren Sprengel oblag, an das Polizeiamt von B.

Der Jude schwieg, als ihm der Adjutant diese Geschichte auf dem Wege zum Schlosse erzählte, und nickte nur immer, als verstünde sich alles von selbst, was da geschehen, und als müßte er es billigen. Dann, nachdem er eine Weile mit geschlossenen Augen dagesessen, schlug er sie plötzlich voll auf und sagte mit lauter, harter Stimme einen hebräischen Spruch vor sich hin.

»Was heißt das?« fragte der Offizier.

»Ein Spruch unserer Väter«, war die Antwort. »Übersetzen läßt er sich schwer.«

Dieser Spruch aber, einer der düsteren, dunklen Sätze der Kabbala, lautete: »Aus Fluch wird Fluch, und aus Sünde wird Sünde bis ins letzte Glied. So aber die Sünder fühlen, daß ihr Maß voll ist, und ihnen grauet vor Gottes Gericht und sie wollen büßen und sühnen, so wird er ihren Verstand verwirren, und aus der Sühne wird wieder Sünde werden, auf daß sich an ihnen erfülle, was sie verdient.«

Der Großfürst empfing ihn freundlich und doppelt freundlich, als er sah, wie furchtbar der Unglückliche sich in den wenigen Wochen verändert. »Es soll Ihnen Gerechtigkeit werden«, versprach er und hielt auch sein Wort, so weit er konnte.

Acht Tage später stand der abgesetzte Polizeimeister in Kiew vor dem Großfürsten. Auch der Jude war zugegen. Anfangs leugnete der Mann heftig, je Erpressungen geübt zu haben, und »hielt es unter seiner Würde, sich gegen einen solchen notorischen Dieb zu verteidigen.« Aber mitten während des Verhörs wurde dem Großfürsten ein Telegramm überbracht, welches eben aus B. angelangt. Die Polizisten hatten dem dorthin entsendeten Untersuchungskommissar gestanden, daß sie jenes Säckchen mit Getreide vom Polizeimeister vor der Haussuchung erhalten und mitgenommen, um es dann geschickt im Keller zu »finden«.

Da leugnete der Elende nicht mehr, sank in die Knie und winselte um Gnade.

Schon zwei Tage darauf stand er vor den Richtern. Reinmann wohnte der Verhandlung auf der Zeugenbank bei.

Die Prozedur war kurz. Das Urteil lautete auf zwanzigjährige Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken und Ersatz der erpreßten Summen an Reinmann.

Nach der Publikation erbat sich der Ruchlose das Wort. Er sagte: »Ich weiß, daß es keine Appellation gegen das Urteil gibt, und nehme es an. Um aber dem hohen Gerichtshofe zu beweisen, daß ich im Grunde meines Herzens doch ein guter Mensch bin, will ich den Juden hier aus der Besorgnis reißen, die ihn gewiß um seiner Kinder willen erfüllt. Ich habe gut für sie gesorgt, mein Herzensfreund!«

Der Jude beugte sich zitternd vor und heftete seine Augen in Todesangst auf das Antlitz des Feindes.

»Sehr gut!« fuhr dieser langsam fort. »Was zunächst deine Tochter betrifft, so habe ich sie zu einer Frau gegeben, die sich bereits manches vereinsamten jungen Mädchens angenommen hat, zur alten Iwanowna – du kennst sie, Berisch?«

Er kannte sie. Seiner Brust entfuhr ein Schrei, so wild, so schrill, daß die Richter entsetzt von ihren Sitzen auffuhren.

»Und was deinen Sohn betrifft«, fuhr der Unhold fort, »so mußt du mir gleichfalls dankbar sein! Er wird nicht in der Hölle braten wie du, ungläubiger Jude! Die hochwürdigen Mönche haben ihn getauft, er wird in Christi Reich eingehen!«

Da griff sich der Unglückliche an's Herz und sank ohnmächtig zu Boden.

Man fürchtete anfangs, er werde wahnsinnig werden oder sterben vor Schmerz. Aber das Menschenherz kann mehr erdulden, als man gewöhnlich glaubt. Berisch Reinmann blieb leben.

Der Großfürst sorgte dafür, daß ihm die Tochter sofort zurückgegeben wurde. Den Sohn konnte auch er dem Vater nicht zuwenden, hier hatte seine Macht ihre Grenze. Wer in den Schoß der herrschenden, rechtgläubigen Kirche in Rußland aufgenommen worden, darf ihr nicht wieder entzogen werden. Schon der Versuch ist ein Kapitalverbrechen, welches mit dem Tode bestraft wird – noch heute!

Berisch Reinmann blieb in B., weil sie ihm die Tochter sterbenskrank ins Haus gebracht, und harrte ihrem Tode entgegen. Er wußte, daß sie nicht genesen könne – sie hatte zu Furchtbares erduldet . . . Nach ihrem Tode übersiedelte er nach Czernowitz. Das ist die Geschichte von meinem Onkel Bernhard.

 


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