Karl Emil Franzos
Das Kind der Sühne
Karl Emil Franzos

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Das Kind der Sühne

Von einem Kind handelt diese Geschichte. Es hieß Lea und war vierjährig und hatte schwarze, glänzende Haare und große, dunkle Augen. Diese Augen aber waren nicht glänzend, wie ein Schleier lag es über ihnen und über dem blassen, zarten Gesicht des kleinen Mädchens. Es war sehr armer Leute Kind und hatte ein einziges Kleidchen, das arg geflickt war, dasselbe für die Samstage, dasselbe für die Wochentage, man konnte kaum noch die ursprüngliche Farbe des gelben Zitzes heraus erkennen. Aber daher rührte jener Schleier nicht. Was wußte Lea von der Armut?! Alle Tage wurde sie satt, wenn nicht ganz, so doch halb satt, alle Tage durfte sie im Sonnenschein spielen, so viel ihr beliebte. Und den allerschönsten Spielplatz hatte sie, den man sich nur wünschen kann, groß und grün und still, und unzählige Blumen wuchsen da, und mit schweren Blütenzweigen neigte sich der Holunder über vielen, sehr vielen Ruhesitzen, denn Leas Spielplatz war der Judenfriedhof zu Barnow. Es war eigen, wenn man das ernste Kind so still zwischen den Gräbern einhergehen sah, oder wenn es auf einem der Steine saß und zusah, wie die lustigen Goldkäfer dahinliefen durch das aufsprossende Gras. Aber auch daher rührte jener Schleier nicht. Was wußte Lea von dem Tode?! Der Vater war tot, das wußte sie, und Totsein heißt schlafen und niemals, gar niemals mehr Hunger haben. Und wie hätte sie etwa sonst der tägliche Anblick der Gräber betrüben können?! Nein, das war's nicht, und auch die Juden in Barnow logen, wenn sie sagten: »Das Kind ist nun einmal ein ›Kind der Sühne‹ – wie sollt es ein ander Gesicht haben?!« Nein, ein Erbteil war jener Zug des Leidens in dem blassen Gesichtchen. Die arme Miriam Goldstein hat dies Kind unter einem Herzen getragen, das von schwerem Kummer gequält war, von schier unsäglichem Seelenschmerz. Und blutige Tränen waren auf das Antlitz des kleinen Wesens gefallen, als es an ihrem Busen lag. Auch solche Tränen vertrocknen, aber sie lassen eine Spur zurück. Die kleine Lea trug in ihrem Antlitz die Spur der Tränen, die einst ihre Mutter darauf geweint hatte.

Denn später, als das Kind heranwuchs, da weinte die Mutter nicht mehr. Die arme Witwe hatte dazu keine Zeit mehr. Den Tag über mußte sie schaffen und sorgen, und des Nachts sank sie ermattet hin, und selbst wenn sie aufwachte und so nachgrübelte über ihr hartes, armseliges Leben, auch da weinte sie nicht, denn zum Schluß konnte sie doch immer sagen: »Gottlob, mein Kind und ich, wir brauchen weder zu betteln noch zu verhungern, gottlob, das Kind ist gesund!«

»Das Kind ist gesund!« Die Miriam Goldstein, die Witwe des Totengräbers zu Barnow, die von der Gemeinde als Witwengehalt ein kleines Stübchen in der Hütte am Friedhoftor eingeräumt erhalten, die den Tag über für fremde Leute wusch und nähte, die arme Frau weinte auch des Nachts nicht in schlaflosen Stunden. Ihr Kind war gesund – ich frage alle Mütter: Warum hätte Miriam Goldstein weinen sollen?!

So kamen und gingen die Tage. Die kleine Lea ward vierjährig und spielte den Sommer über auf den Grabhügeln und schlüpfte still, aber fröhlich unter den Holunderzweigen hindurch und unter der Wäsche, welche die Mutter an langen Stricken über den Gräbern zum Trocknen aufgehängt hatte.

Dann aber kam der Herbst und die kühlen, feuchten Abende. Es dämmerte früh, die arme Frau kam erst immer in der Dunkelheit heim, und das Kind wartete so lange geduldig in der Kammer. Es wußte ja doch, daß endlich draußen der wohlbekannte Schritt klingen müsse, dann tat sich die Tür auf, und die Mutter rief »Lea!« – und das Kind stürzte in die ausgebreiteten Arme. Dann machte die Mutter Licht und Feuer und kochte für sich und das Kind eine warme Suppe.

Aber einmal, an einem trüben, kalten Septembertag, war es nicht so. Wohl kam die Wäscherin heim und rief den Namen ihres Kindes, aber es kam ihr nicht entgegen. Die Frau machte zitternd Licht. Die Stube war leer. »Lea!« rief die Mutter noch einmal laut, gellend. Keine Antwort. Sie ließ die erhobenen Hände wie gelähmt sinken. Dann raffte sie sich auf und stürzte in die Wohnstube ihres Nachbars, des Totengräbers, der einst der Gehilfe ihres Mannes gewesen und nun selbständig das Ämtchen versah. »Mein Kind!« schrie sie, »wo ist mein Kind?« Der Mann und sein Weib sahen die arme Miriam an, als wäre sie wahnsinnig. »Woher sollten wir's wissen?« fragten sie endlich zögernd. – »Es ist verschwunden, helft, helft!« jammerte die Verzweifelte und stürzte hinaus in die Nacht, auf den Friedhof.

Des Totengräbers Weib lief suchend auf die Heerstraße gegen das Städtchen zu, ihr Mann folgte der armen Mutter. Er kannte sich sehr gut aus unter den Hügeln und den Steinen, aber er vermochte Miriam nicht einzuholen. Wie ein gehetztes Wild eilte sie über Stock und Stein, bald stieß sie sich an einem Grabstein, bald stolperte sie über eine Baumwurzel, aber vorwärts rannte sie und kreuz und quer und schrie in Todesangst immer wieder den Namen ihres Kindes. Der Mann kannte diesen Ort, und alle Schrecken dieses Ortes waren ihm ein Alltägliches, dennoch sträubte sich sein Haar vor Entsetzen, als er so in dunkler Nacht über die Gräber lief und der Notschrei des Weibes immer wieder an sein Ohr schlug. So näherten sich beide der Stelle, wo der Friedhof von dem Flußbett begrenzt wird, von dem Bett des tiefen, langsam und träge dahinflutenden Sered. »Der Zaun ist schadhaft«, flüsterte der Mann vor sich hin, er wagte den Gedanken nicht auszudenken.

Aber das Schicksal war barmherzig gewesen. Als die beiden längs des Zaunes hineilten und Miriam mit fast versagender Stimme den Namen des Kindes schrie, da ward plötzlich hinter einem Grabstein hervor ein dünnes, zitterndes Stimmchen vernehmbar, das »Mutter!« rief. Das kleine Mädchen hatte sich den Tag über müde gelaufen und war von der Dämmerung an der entlegenen Stelle überrascht worden. So hatte es sich denn hingesetzt und war eingeschlafen. Das Kind begriff kaum, warum die Mutter es so hastig empor und an ihre Brust riß, warum sie ihm das kleine Antlitz mit tausend Küssen und Tränen bedeckte. Langsam trug sie es in das Häuschen zurück. Der Totengräber folgte ihr, auch er war erfreut, aber dennoch schüttelte er den Kopf und murmelte: »Es hätt' mich nicht gewundert, wenn wir das Kind tot gefunden hätten oder gar nicht. Das ›große Sterben‹ soll ja wieder heranziehen, man sagt, es ist schon bei den Türken.«

Aber Miriam vernahm diese sonderbaren Worte nicht. Sie trug das Kind in das Stübchen und bettete es da viel weicher als gewöhnlich und strich ihm das Haar aus der Stirn und küßte es unzählige Male. Dann ging sie zu den Nachbarn hinüber und dankte ihnen nach Weiberart mit sehr vielen Worten. Und darauf kam sie in ihr Stübchen zurück und dankte auch Gott. Das aber tat sie mit einem einzigen langen, langen Blick gegen den Himmel.

Schlafen konnte sie nicht. So hockte sie denn neben der kleinen Lagerstatt hin und blickte ihr schlafendes Kind an. Aber Himmel, was war das?! Dem armen Weib gerann das Blut wieder zu Eis, das sonst so bleiche Antlitz des Kindes war fieberhaft gerötet, die Atemzüge gingen schwer und röchelnd, die Hände und die Füßchen waren kalt und der Kopf glühend heiß. »Lea, bist du krank?« rief die Mutter. »Sprich, mein Leben!« Das Kind öffnete beim Klang der wohlbekannten Stimme die Augen: sie waren nicht glanzlos wie sonst, ein fremdes, unheimliches Feuer glühte in ihnen. »Mich friert!« stammelte das Kind, dann schloß es wieder die Augen, und die Händchen griffen in krampfhaftem Zucken an der Decke umher.

»Das Kind stirbt!« Die Witwe sprach es nicht aus, aber sie fühlte, wie ihr der Gedanke riesengroß über Seele und Körper kam, daß sie kein Glied zu regen vermochte. Dann aber ermannte sie sich, riß das dünne Tuch von den Schultern und ihr Feiertagskleid aus der Truhe und deckte beides über das Kind. Es fror sie heftig, ihre Zähne schlugen aneinander, aber was achtete sie das? Sie stürzte wieder zur Nachbarstube und rüttelte an der verschlossenen Tür. Die arme Frau wollte ihren Nachbar bitten, herüberzukommen und zu sehen, was dem Kind fehle, denn ein Totengräber versieht unter den Juden jener Landschaft meist noch ein anderes Amt: er wartet die Kranken. Wer den Arzt nicht ruft, ruft doch mindestens den Totengräber. Aber der Mann war in das Städtchen gegangen, um die Nachtwache bei einem eben Verstorbenen zu halten, bei dem reichen Moses Freudenthal. Nur sein Weib kam und wachte mitleidig mit der Witwe. »Es ist nur ein Fieber«, tröstete sie, »das Kind hat sich erkältet. Es ist nur ein gewöhnliches Fieber, seht, nun folgt auf die Kälte die Hitze.« In der Tat glühte nun der ganze Körper des Kindes, und die Mutter mußte alle Decken entfernen. Die Frauen kochten einen Tee aus kräftigen Kräutern, aber davon mochte das Kind nichts nehmen. Langsam, langsam verging die furchtbare Nacht.

Als der Morgen graute, kam der Totengräber von seinem traurigen Amt nach Hause. Er trat an das Lager des kranken Kindes und schüttelte den Kopf. Verzweiflungsvoll rang die Mutter die Hände bei dieser Gebärde und stöhnte leise auf. Der Mann fühlte Mitleid mit ihr. »Es ist nicht gefährlich«, sagte er zögernd, »das Kind wird wohl wieder gesund werden.«

»Sagt mir die Wahrheit«, bat Miriam, »den Doktor will ich jedenfalls rufen.«

Der Totengräber zuckte die Achseln. »Der Doktor ist in Zalesczyki, seit acht Tagen schon, bei der Assentierung. Aber wär' er auch hier – dem Kind kann kein Doktor helfen!«

»Also muß es sterben?« fragte Miriam leise, sie war dem Umsinken nahe.

»Kein Doktor, mein ich«, wiederholte der Totengräber langsam, »nur ein frommer Mann, ein Rabbi. Heute um zehn Uhr ist die Bestattung des alten Moses Freudenthal. Da kommt unser Rabbi mit heraus. Bittet ihn, daß er das Kind ansieht und segnet. Er ist ein frommer Mann, vielleicht ist seine eigene Kraft groß genug zu retten, vielleicht gibt er Euch einen Rat.« Damit ging er hinaus, dem neuen Ankömmling die Stätte zu bereiten. Sein Weib folgte ihm.

»Ich sollt' eigentlich gleich zwei Gräber graben«, sagte er und stieß den Spaten in die Erde.

»Du meinst das Kind?« fragte sein Weib. »Die arme Miriam, daß Gott behüte.«

»Ja«, erwiderte er, »es tut mir selbst das Herz weh, aber da gibt es keine Menschenhilfe. Man sagt, das ›große Sterben‹ kommt wieder. Gott will uns verschonen, er nimmt nur das ›Kind der Sühne‹, das wir ihm bestimmt haben.«

»Um Gottes willen!« schrie das Weib auf, »darum soll ein unschuldig Leben vergehen?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Was willst du frömmer sein als unser frömmster Rabbi? Was willst du gerechter sein als der große Reb Srolce, der Wunderrabbi von Sadagóra, der es so angeordnet hat?!«

Die Frau verstummte.

 

Was hatte der Wunderrabbi angeordnet? Warum nannten sie dies Kind ein »Kind der Sühne«?!

Unheimlich, riesengroß, ein entsetzlicher Würgengel des Herrn, war im Jahre des Unheils 1831 eine bisher ungekannte Pest über alle Länder gekommen. Man nannte sie die Cholera. Vom fernsten Osten kam sie, in den fernsten Westen drang sie und verödete die Städte und bevölkerte die Grabstätten. Furchtbar lag sie über den schmutzigen, armseligen Städtchen der podolischen Ebene, wie Fliegen sanken unzählige dahin, und nicht Menschenhände genug gab es, die Toten zu begraben. Kein Heilmittel rettete, keine Lebensweise schützte. Stumpfe Ergebung kam über die Menschen oder wilde, ingrimmige Verzweiflung. Und Gott ließ es geschehen, und von Gott kam keine Hilfe. Sie schrien zu ihm, und er hörte sie nicht.

Warum, warum?! War es denn nicht ihr Gott, zu dem sie flehten, der Gott ihrer Väter, der Starke, der Gerechte, Einzige?! Hatte er keine Ohren mehr, um zu hören, keine Arme mehr, um zu helfen? Warum wütete er plötzlich gegen sein eigen Volk, warum schonte er nicht einmal die Guten und Gerechten?!

Die Gedanken dieser unglücklichen Menschen begannen sich zu verwirren. Für sie gab es ja nur ein Licht in ihrem Leben: ihren Glauben, und dieser Glaube trog sie. Sie faßten es nicht. Da kam über sie ein anderer Gedanke, furchtbar, zerschmetternd und doch zugleich trostvoll. War ihr Gott nicht auch ein Gott der Rache?! War er nicht ein eifervoller Gott, der jeden Frevel grausam, unerbittlich sühnte? Und wenn er heute seine Hand auf Guten und Bösen so fürchterlich lasten ließ, geschah es nicht vielleicht deshalb, weil die Bösen sündigten und die Guten diese Sünden ungeahndet und ungerächt geschehen ließen?

»Reinigen wir uns!« erscholl plötzlich der gellende Ruf durch das unglückliche, verblendete, von Angst und Trauer gepeitschte Volk. »Suchen wir den Frevel auf in unserer Mitte, und versöhnen wir durch seine Bestrafung Gottes Zorn!« Und sie reinigten sich. Ein Volksgericht entstand, ein unheimliches Gericht, das im Dunkel prüfte, im Dunkel entschied, im Dunkel strafte, grausam, grimmig, mit einer Gewalt, der man nicht entrinnen konnte. Es hatte tausend Augen und tausend Arme und war doch unsichtbar und unfaßbar. Sie »rächten Gottes heiligen Namen«, und in der Tat mag in jener Zeit manchem Verbrecher, der der Justiz des Staates entronnen war, die Stunde der Vergeltung geschlagen haben. Aber mit wieviel unschuldigem Blut sich die Wahnsinnigen beluden! Es sind in jenen düsteren Tagen Taten geschehen, daß das Herz erstarrt, wenn man ihrer gedenkt.

Aber die Seuche ward nur immer furchtbarer und bösartiger. Und nun legten auch die wenigen Ärzte die Hände in den Schoß. Sie konnten nun nicht einmal lindern, geschweige denn erretten.

Da ließen die Menschen ab, gegeneinander zu wüten. Die wachsende Wucht des Unglücks machte sie kleinmütig, ja entsetzlich feig. Sie wagten es nicht einmal mehr, selbst zu Gott zu beten. Ein, anderer, ein Vermittler, sollte es für sie tun.

Zu diesem Fürbitter wählten sie den Rabbi von Sadagóra, einem kleinen Städtchen in der Bukowina. Der Mann hieß ohnehin seiner angeblichen Taten wegen allgemein der »Wundermann«. Er sollte helfen und erlösen durch Flehen vor Gott, durch eigene Tat. Denn er war ja in der Meinung jener Unglücklichen der Mann, aus dessen Geschlecht einst der Erlöser erstehen würde, und es ging die Sage, er trage auf der innern Handfläche das Wahrzeichen des königlichen Stammes Davids, das Abbild des Löwen, seltsam als äußeres Zeichen göttlicher Sendung in die Haut eingegraben. Darum rafften sie Geld und Kostbarkeiten zusammen, und selbst die Armut opferte ihre Habe, den Rabbi zu beschenken und so zur Fürsprache bei Gott zu vermögen. Der uneigennützige Mann versprach zu helfen. »Ihr alle habt Gott beleidigt«, versicherte er, »Ihr alle müßt Buße tun.« Und er schrieb Bußtage aus, und pünktlich, schier grausam, ward Fasten und Kasteiung durchgeführt, denn die Angst vor dem Tode wachte über der Erfüllung des Gebots. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr, daß in jener Zeit drei Wochen hindurch die gesamte jüdische Bevölkerung jener östlichen Lande nur jeden zweiten Tag Speise und Trank genoß.

Die Folgen sind leicht zu begreifen. Über die gemarterten, geschwächten Körper kam die Seuche nur um so rascher. Der Ruf des Rabbi stand auf dem Spiel und damit die Einträglichkeit seines Geschäfts. Er ersann ein anderes Mittel. »Gott am meisten wohlgefällig«, verkündete er, »ist die Vermehrung seiner Gläubigen. Jede Gemeinde statte daher ein oder mehrere Paare aus und vermähle sie – ein Opfer dem erzürnten Gott – auf dem Friedhof.«

Das Mittel hatte verschiedenen Erfolg. In manchen Orten bewirkte die Ansammlung der Menschen auf dem Friedhof, die Schwelgerei bei dem Hochzeitsmahl nur noch ein Wachsen der Seuche. Anderwärts aber schadete das wahnsinnige Mittel nicht, weil das »große Sterben« ohnehin im Abnehmen war, und bald darauf erlosch dieses.

Das Mittel blieb in Erinnerung. Und als das Jahr 1848 herankam mit all seinem Freiheitsjubel und all seinen Todesnöten, als auch das »große Sterben« wieder herangeschlichen kam durch die Steppen des Ostens, da griffen die Geängstigten wieder zu jenem Mittel, und allerorts gab es wieder solche schauerlichen Hochzeitsfeste.

Also war es auch in Barnow. Das arme Paar, das dort – ohne gegenseitige Neigung, durch den Willen der Vorsteher – erwählt, mit kümmerlichem Heiratsgut bedacht und dann mitten zwischen den frischen Gräbern getraut wurde, war Nathan Goldstein, der Totengräber, und Miriam Roth, die blutarme Waise, die im Hause des Gemeindevorstehers als Magd diente. Sie sahen sich eigentlich zum ersten Mal recht an, als sie bereits unter dem Trauhimmel standen. Aber die Ehe, die so plötzlich, in so gräßlicher Umgebung, zu so traurigem Zweck geschlossen worden, war dennoch still und friedlich. Der Knecht und die Magd – wer wußte besser als diese den Segen des eigenen Hausstandes zu schätzen?

So lebten Nathan und Miriam glücklich miteinander, und zwei Kinder wurden ihnen geboren. Der erste große Schmerz kam über sie, als die beiden Kinder plötzlich rasch hintereinander starben. Das war im Jahre 1859. Aber freundlichen Ersatz wollte Gott ihnen gewähren: im Frühling desselben Jahres fühlte sich Miriam wieder Mutter. Als aber der Sommer jenes Jahres ins Land kam, da kam auch wieder jener entsetzliche Würgengel aus Osten geschritten, und wieder hielt er fürchterliches Gericht über die verwahrlosten jüdisch-polnischen Städtchen der großen Ebene.

Barnow blieb verschont. Hier fiel nur ein einziges Opfer: Nathan, der Totengräber. Grenzenlos war der Schmerz der Witwe, die nun in ihrem Zustand doppelt hilflos war. Aber die Gemeinde jubelte über den glücklichen Verlauf der großen Krankheit, und als diese auch rings im Lande erloschen war, sandte sie die Nachricht davon mit Danksagungen und Geschenken nach Sadagóra, an den Sohn des Wundermannes, der des Vaters Geschäft geerbt hatte. Die Geschenke nahm der Rabbi an, die Danksagungen ließ er sich gefallen, und als ihm die Abgesandten von dem einzigen Todesfall berichteten, versicherte er: »Ihr wart Gott wohlgefällig, darum ließ er die Seuche vor elf Jahren, kaum daß Ihr das Opfer gebracht, erlöschen. Aber die Menschen, die Ihr so gütig bedacht, waren ihm nicht wohlgefällig. Darum ließ er die Kinder sterben und dann – ein Sühnopfer für Euch alle – den Mann. Und wenn das Weib wieder ein Kind gebärt, so wird auch dies Kind nur darum leben, um dereinst ein Sühnopfer für Euch alle zu sein.«

So sprach der Rabbi, denn die Witwe eines Totengräbers kann keine Geschenke geben.

Die Männer aber kehrten heim und verbreiteten den Spruch unter den Leuten. Auch Miriam hörte davon und weinte blutige Tränen darüber. Dann aber hatte sie keine Zeit mehr dazu, sie mußte arbeiten, um mit ihrem Kind nicht zu verhungern.

So vergingen die Jahre, und es kam der Herbst heran, der trübe Herbst von 1863. Die Polen hatten sich erhoben gegen das große Volk des Ostens, und unheimliches Gerücht ging durch die Lande, daß auch jener Würgengel wieder erwacht sei, der gräßliche Bruder und Gefährte des Krieges. Und darum glaubte der Totengräber nicht, daß das arme »Kind der Sühne«, die kleine Lea, gerettet werden könne.

 

Das Begräbnis des Moses Freudenthal war vorüber. Er war ein sehr alter Mann gewesen, ganz vereinsamt, an seinem Sarg war keine Klage, die wenigen Begleiter gingen rasch auseinander. Auch der alte Rabbi des Städtchens wandte sich zum Gehen. Auf diesen Augenblick hatte die Witwe von ferne demütig geharrt. Nun trat sie dem Rabbi in den Weg und bat ihn, nach ihrem Kind zu sehen. Sie fügte kein flehendes Wort hinzu, aber in ihrer Stimme und dem Blick ihrer Augen lag etwas, das dem alten Mann unwillkürlich ans Herz griff. Gleichwohl zögerte er einen Augenblick. Dieses Weib war ihm peinlich, war sie doch Gott nicht wohlgefällig! Und was nun gar vollends das Kind betraf, dieses »Kind der Sühne« . . .

Aber er trat doch in das Häuschen und in die Kammer. Dann beugte er sich über das Lager des kranken Kindes und sah es lange an. Sein Antlitz war streng und herb, als er sich wieder aufrichtete.

In tödlicher Angst harrte die Mutter seines Ausspruchs. Aber der alte Mann schwieg und schickte sich zum Gehen an.

»Wollt Ihr das Kind nicht segnen?« fragte das Weib des Totengräbers.

»Frau«, erwiderte der Rabbi dumpf, »dem Kinde hilft kein Segen. Und dann . . . ich tue es nicht, es wäre ein Eingriff in den Willen des Allmächtigen.«

Mit einem Schrei stürzte die Mutter an das Lager und umschlang das fiebernde, bewußtlose Kind, als wollte sie es gegen jede fremde Hand schützen, selbst gegen Gottes Hand. Dann rief sie gellend: »Warum, Rabbi, warum?«

Der alte Mann sah sie finster an, dann suchten seine Augen wie verlegen den Boden. »Du weißt«, sprach er zögernd, »warum du deinem Mann angetraut worden bist. Du weißt, warum er gestorben ist und welche Folgen sein Tod brachte. Du weißt, welche Worte der große Rabbi von Sadagóra über dich und dein Kind gesprochen hat. Nun, und . . . und das große Sterben zieht wieder heran.«

Das Weib verstand ihn. »Ah!« schrie sie auf, es war ein unbeschreiblicher schriller Laut des Jammers und des Zornes. Mit glühenden Augen, mit flammendem Antlitz richtete sie sich langsam vom Lager empor, bis sie dem Rabbi dicht gegenüberstand. Und so, Aug in Aug, zischte sie es ihm ins Antlitz: »Du lügst, Rabbi, du lügst! Mein Kind wird nicht sterben! Gott ist weise, milde, gerecht, du aber, du und ihr alle, ihr seid es nicht! Gerecht wollt ihr sein und könnt verlangen, daß ein unschuldig Kind für eure Sünden büße?! Milde wollt ihr sein und wünscht eurem Nächsten den Tod?! Weise wollt ihr sein und könnt glauben, daß Gott das zulassen wird, unser guter, starker, gerechter Gott?!«

Wild griff sie sich an die Stirn, wankte und sank besinnungslos zusammen.

»Gott mag entscheiden zwischen mir und ihr«, murmelte der alte Mann und verließ die Stube.

 

Ein Tag und eine Nacht waren vergangen, und es schien, daß Gott bald entscheiden werde zwischen der armen Frau und dem Rabbi. Es schien, daß er für den Rabbi entscheiden wolle, für den Wundermann und die harten, törichten Menschen. Als der Morgen des zweiten Tages grau durch die Fenster der Kammer lugte und die Nachtlampe hin und her schwankte im Hauch des kalten Herbstwindes, der durch alle Sparren drang, da flackerte auch das junge Leben nur noch wie ein verlöschendes Kerzlein vor dem eisigen Hauch des Todes.

Die Mutter weinte nicht mehr. Der tröstende Quell der Tränen war ihr versiegt. Mit starren, trockenen Augen kauerte sie neben dem Krankenlager. Nur zuweilen, wenn Fieberschauer den Leib des Kindes durchrüttelten, ächzte sie leise auf. So vergingen die Stunden, es wurde Tag, und die Stube füllte sich mit Besuchern. Zahlreiche Weiber gingen aus und ein, aber auch einige Männer kamen. Vielleicht gab es auch solche darunter, die das Mitleid zum Besuch bewog, die meisten aber trieb ein Gefühl hierher, das aus Selbstsucht und Grauen gemischt war. Stumpf und gleichgültig sah Miriam zu, wie sie kamen und gingen. Nur einmal erhob sie sich und schrie wild auf: »Geht, geht! Es ist noch nichts zu sehen, das Kind stirbt noch nicht!« Darauf schlichen die Leute stumm hinaus.

Am Nachmittag hielt ein Wagen vor der Hütte am Friedhof. Es war die »Britschka« des Gemeindevorstehers, und eine sehr alte Frau saß darin. Man hob sie vorsichtig herab, und da die Greisin ohne fremde Hilfe nicht mehr gehen konnte, so mußte man sie in die Stube tragen. Das war Sara Grün, die Witwe des erschlagenen Simon Grün und die Mutter jener Frau Hanna, deren Geschichten man so gerne hörte. Hanna war sechzig-, sie aber achtzigjährig, und wie jene überall »Babele« hieß, so ward Frau Sara »Urbabele« (Urgroßmutter) genannt von allen im Städtchen, von Großen und Kleinen, Christen und Juden, und es gab niemand, der sich nicht vor ihrem Alter, ihrer Weisheit und Frömmigkeit ehrfurchtsvoll beugte. In ihrem Hause hatte einst Miriam als Magd gedient, und die alte Frau hatte sie sehr liebgewonnen. Darum ließ sie sich jetzt, trotz des Widerstrebens der Ihrigen, nicht abhalten, selbst zu kommen. Man trug sie in die Stube und setzte sie da auf einen Sessel hin. Die Witwe sah gleichgültig auf, dann belebte sich ihr Blick. »Urbabele«, schrie sie auf und stürzte der Greisin zu Füßen, »Urbabele, Gott lohn es Euch.«

Sie sprach nicht aus, Schluchzen erstickte ihre Stimme, nun konnte sie wieder weinen. Leise fuhr die Greisin mit der zitternden Hand über das verhärmte Antlitz der Knieenden. »Sprich nichts«, sagte sie, »ich kenne deine Trübsal, sie haben mir alles berichtet. Sprich nichts, hör an, was ich dir sagen muß, hör mich ruhig an.«

Aber dann konnte sie selbst die Tränen nicht zurückhalten, sie rannen über ihr blasses, ehrwürdiges Antlitz, als sie weiter sprach: »Ich weiß nicht, ich bin nur eine alte Frau, meine Füße wollen mich nicht mehr tragen, auch mein Kopf wird schon schwach, aber ich glaube, es ist ein groß Unrecht, wenn wir dein Kind so sterben lassen. Ja, ein groß Unrecht. Und darum glaube ich auch, das kann nicht der Wille Gottes sein und darum auch nicht der Wille des großen Rabbi von Sadagóra, denn er ist vom Geist Gottes beschattet.«

Die alte Frau hielt einen Augenblick inne und schüttelte den Kopf, als wollte sie einen Gedanken bekämpfen, der ihr heimlich aufgestiegen. Dann fuhr sie fort: »Ja, gewiß, er hat Wunder getan, Gottes Geist spricht aus ihm. Und er hat nun einmal das Wort über dich und dein Kind ausgesprochen, und wir müssen uns an sein Wort halten. Hörst du, ob wir wollen oder nicht, wir müssen. Denn wenn wir an dem einen zweifeln, so zweifeln wir an allem. Und darum hat auch unser Rabbi die harten Worte nicht verdient, die du gestern zu ihm gesprochen hast.«

»Oh, wenn Ihr wüßtet.«

»Sprich nicht!« Die alte Frau schrie es förmlich, als träfe sie jedes Wort der Witwe ins Herz. »Sprich nicht, entschuldige dich nicht, du brauchst keine Entschuldigung! Mein Gott, wer könnte dich darum anklagen – es ist ja dein Kind! Mein Gott, ich bin ja auch eine Mutter . . . Aber höre, was der Rabbi gesprochen hat, kann nur er allein zurücknehmen, verstehst du mich?! Ich hab' meinen armen alten Kopf zerquält, ich hab' keinen anderen Ausweg gefunden. Fahre nach Sadagóra und erbitte dir dort das Leben deines Kindes!«

»Ich soll das Kind in seiner Krankheit verlassen?« schrie Miriam auf.

»Ich will für die beste Wartung sorgen«, versicherte die Greisin. Und die Frau des Totengräbers fügte hinzu: »Ich will dein Kind pflegen, als wäre es mein eigenes.«

»Muß es denn sein?« rief die unglückliche Mutter wieder.

»Es muß sein«, erwiderte die Greisin fest. Dann aber setzte sie leise und schwankend hinzu: »Es scheint wenigstens, daß es so sein muß. Ach, nur Gott allein weiß das Richtige. Ach, Miriam, wenn du wüßtest, wie viel ich gedacht und gelitten hab' um dich und dein Kind! Achtzig Jahr bin ich alt geworden, und nie ist mir ein Zweifel gekommen an Gott oder an dem Wort seiner Weisen. Und nun erst habe ich fragen müssen: Ist es auch recht so?«

Dann richtete sie sich wieder auf und sprach fest, ja befehlend: »Miriam, du mußt zum Rabbi fahren. Morgen in aller Frühe fährt Simon, der Kutscher, mit zwei Frauen nach Czernowitz. Er wird dich bei Sadagóra absetzen. Ich werd' einen Platz im Wagen für dich mieten, und hier hast du auch Geld für Zehrung und Rückweg. In drei Tagen kannst du wieder zurück sein. Ich bin überzeugt, du findest dein Kind auf dem Weg zur Besserung. Willst du es tun, Miriam? Es geht um die ganze Gemeinde, doch das hat dich nicht zu kümmern, aber es geht um dein Kind. Miriam, willst du es tun?«

Die arme Frau rang einen harten Kampf. Ihr Gottvertrauen hatte sie belogen, das Kind war immer schwächer geworden. Und der Ertrinkende greift auch in die Schneide des Schwertes, um sich zu halten. So gab das Weib nach, den Menschen, welcher sie verflucht hatte, um Schonung anzuflehen. »Ich will's tun!« versprach sie endlich. Es klang wie ein Wehruf.

 

Und sie tat es. Am nächsten Morgen fuhr sie im Wagen Simons, des Kutschers, mit den beiden anderen Frauen aus dem Städtchen und hinaus auf die Straße, die gegen Süden führt, in die Bukowina. Wie sie von ihrem Kind Abschied genommen, wie ihr dabei ums Herz gewesen – es soll hier nicht beschrieben werden . . .

Die Sonne stieg empor, eine kalte, matte Spätherbstsonne, und sie schien herab auf das öde, flache Gelände und auf das armselige Gefährt, das mühsam dahinschlich im tiefen Kot der Straße. Dann zogen sich die Wolken zusammen, eine graue Riesendecke über der traurigen, schmutzig braunen Ebene, und die Decke ward immer dunkler und senkte sich immer tiefer herab, und dann begann es zu regnen. Lau und schwach, aber unablässig ging der Herbstwind über die Ebene wie ein Seufzer. Nur manchmal ward er stärker und rüttelte an der Leinwanddecke des Wagens.

Langsam krochen die Pferde dahin auf der breiten, verwahrlosten Straße, vorüber an entlaubten, triefenden Bäumen, an nebelumschleierten Weihern, an ärmlichen Dörfern, die doppelt trostlos erschienen im Lichte dieses trostlosen Tages. An mancher Stelle war der Grund der Straße klaftertief aufgeweicht, und der Wagen blieb ganz stecken. Dann stiegen Simon und die drei Frauen ab und mühten sich, ihn wieder flottzumachen. Miriam war sicherlich die schwächste unter ihnen, aber sie arbeitete am meisten. Nur dann zeigte es sich, daß sie bei Besinnung war. Denn die übrige Zeit lag sie wie schlafend, mit geschlossenen Augen in ihrer Ecke, und Fieberschauer durchrüttelten sie.

Oh, wie sie litt! Sie hielt die Augen geschlossen, aber klar, furchtbar klar und quälend standen ihr entsetzliche Bilder vor der Seele. Das Lager ihres Kindes sah sie, und wie das arme kleine Wesen seine Ärmchen nach ihr ausstreckte. Eine Gestalt beugte sich über das Lager, die Frau des Totengräbers, aber nein, das war nicht die Frau, das war eine Gestalt in weißen, wallenden Gewändern, mit einem blutlosen, furchtbar ernsten Antlitz: der Todesengel.

Und wieder war es ihr, als stehe sie vor dem großen Rabbi in Sadagóra, dem finsteren, harten Mann, und flehe ihn an, o so innig, wie nur eine Mutter flehen kann für ihr Kind, aber er weise sie fort mit harten Worten, und sie komme zurück und finde ihr Kind unter der Erde. Und wieder war es ihr, als habe er sich ihr freundlich zugeneigt und gesagt: »Ich gestatte, daß dein Kind lebe!« und sie sei heimgekehrt und habe ihr Kind dennoch tot gefunden, tot. Oh, wie sie litt! Immer und immer und unablässig ging der laue Herbstwind über die Heide. Aber war es wirklich nur der Wind, der so klagend dahinstrich?! Wie sich das Seufzen nun stärker erhob, da verstand sie es auf einmal, das war die Stimme ihres Kindes, das nach ihr rief: »Mutter! Mutter!« – »Habt Ihr nichts gehört?« schrie die Brütende wild auf und faßte angstvoll nach der Hand der Frau, die neben ihr saß . . .

Gegen die zweite Nachmittagsstunde hielt der Wagen bei einer großen, einsamen Schenke, die auf dem Weg zwischen Tluste und Zalesczyki liegt. Hier sollte kurze Rast gehalten werden. Vor dem Tor hielt eine elegante, aber arg mit Kot beschmutzte Reisekalesche; die schönen, feurigen Rappen wurden eben wieder angeschirrt. »Miriam, wir bleiben hier zwei Stunden«, sagte der Kutscher, und die Weiber setzten mitleidig hinzu: »Kommt, Miriam, steigt aus, Ihr müßt wenigstens eine warme Suppe essen, Ihr werdet sonst ernstlich krank.« Die Frau gehorchte und trat mit den anderen in die große Wirtsstube. »Ich darf nicht krank werden«, sagte sie laut vor sich hin. Der große Raum mit den grauen, triefenden Mauern und dem schmutzigen, schlüpfrigen Lehmboden war leer. Nur an einem Tischchen – nahe dem Fenster – saß ein junges, schönes Paar in eleganter Reisekleidung, ein blonder Mann, nahe den Dreißig, mit milden, aber energischen Zügen, und eine schöne, junge Frau mit dunklem Haar und blitzenden braunen Augen in dem frischen, mutwilligen Gesicht. Es waren offenbar Neuvermählte, das sah man an ihren Blicken und der fröhlichen, seligen Art, in der sie sich beim Speisen neckten. Sie nahmen ein sehr ärmliches Mahl ein, es bestand aus Brot und Eiern. Die vornehmen Reisenden hatten wohl die etwas eigentümliche Kost des Landwirtshauses verschmäht.

Die drei Frauen setzten sich in eine Ecke. »Das ist der Herr Oberförster von unserer Frau Gräfin«, zischelte die eine Frau der andern zu, »er hat sich seine junge Frau aus Czernowitz abgeholt und fährt nun wahrscheinlich nach Barnow zurück.« – »Nach Barnow?« fragte Miriam hastig. Dann aber sank sie matt auf ihren Sitz zurück, sie mußte ja nach Sadagóra!

Die Weiber bestellten Suppe, und auch Miriam nahm wenige Löffel davon. Dann aber schob sie ihren Teller zurück. Eben trat Simon, der Kutscher, in die Stube, auf den ging sie zu. »Ich bitt' Euch«, bat sie, »müssen wir so lange hier bleiben?«

»Ja, wegen der Pferde«, erwiderte er, »bis vier Uhr.«

»So lange?« seufzte sie. »Wieviel Meilen sind wir denn schon von Barnow?«

»Drei Meilen, der Weg ist so schlecht.«

»Drei Meilen«, wiederholte sie erschreckt, »wann kommen wir da nach Sadagóra?«

»Übermorgen gegen Mittag.«

»Übermorgen!« schrie sie auf, »da komm' ich ja nicht vor sechs Tagen wieder zurück, und der Sabbat kommt dazwischen! Also sieben Tage, eine volle Woche! O mein Gott, o mein Gott!«

Sie setzte sich wieder in ihre Ecke und preßte die Hände vors Antlitz. Aber es nützte ihr nichts, daß sie die Augen schloß und die Finger auf die Lider preßte: sie sah doch all die furchtbaren Bilder wieder, die sie auf der Heerstraße gequält hatten. Und wieder vernahm sie von fernher und durch die Mauern des Hauses hindurch den zitternden Ruf: »Mutter! Mutter!«

Die Reisenden hatten das Zwiegespräch mit dem Kutscher angehört, sie sahen das Weib zu ihrem Sitz wanken und riefen Simon herbei.

»Was ist's mit dem Weibe?« fragten sie.

Simon lüpfte ehrfurchtsvoll seinen Hut und berichtete dem Herrn Oberförster, was er von der Sache wußte. Als er geendet hatte, sahen sich die beiden Gatten lange schweigend an. »Es ist entsetzlich, Ludmilla«, sagte endlich der Oberförster. »So ein Aberglaube!«

»Es ist entsetzlich, Karl«, wiederholte die junge Frau. Aller Mutwille war aus dem blühenden Gesichtchen verschwunden, mit warmem Mitleid sah sie nach dem armen Weib. Miriam saß noch immer bewegungslos da, die Hände fest auf das Antlitz gepreßt. Fieberschauer machten ihren Körper erbeben, aber stärkere Schauer durchrüttelten ihre Seele.

Der Herr zahlte seine Zeche, dann trat sein Kutscher ein und meldete, die Pferde seien eingespannt, und die jungen Ehegatten legten ihre Oberkleider an. Aber sie gingen nicht, unschlüssig blieben sie stehen. »Karl«, begann zögernd die junge Frau. – »Du meinst, Ludmilla?« – »Das arme, arme Weib!« – »Ja, Ludmilla, es ist ein Elend.«

Und wieder blieben sie unschlüssig stehen. Miriam ließ die Hände sinken. Langsam, wie erwachend, strich sie sich über die Stirn. Dann, als sie die beiden Reisenden schon zum Gehen bereit sah, erhob sie sich rasch und schritt auf sie zu. Vor der Frau blieb sie stehen, unendlich flehend blickten ihre Augen, sie faltete ihre Hände, wie man sie vor Gott faltet, aber sprechen konnte sie nicht . . .

Die Augen der schönen Frau hatten sich mit Tränen gefüllt, als sie in dieses totenbleiche, gramerfüllte Antlitz sah.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie.

»Nach Barnow«, stammelte Miriam, »nehmt mich nach Barnow mit.«

»Gern«, erwiderte die junge Frau. »Kommen Sie nur, wir nehmen Sie gern mit.«

»Und der Rabbi?« riefen die beiden Judenweiber. »Ihr wollt nicht zum Rabbi?« Und Simon, der Kutscher, klagte: »Was wird die Gemeinde sagen?«

Miriam richtete sich auf. »Mögen sie sagen, was sie wollen«, sprach sie, »es ist mein Kind, ich muß zu meinem Kinde!« Aber dann verließen sie wieder die Kräfte, und der vornehme Herr und sein Kutscher mußten sie fast zum Wagen tragen. Sie setzten sie in den Fond neben die junge Frau, der Herr nahm gegenüber Platz. Die arme Miriam merkte diese Güte gar nicht und bedankte sich nicht. Nur, als der Herr dem Kutscher zurief: »Fahr zu, was die Pferde laufen können!« da blickte sie ihn demütig dankbar an.

So saß sie still neben den beiden fremden Herrschaften im Wagen, und nur zuweilen erhob sie sich ungeduldig, als ginge ihr die Fahrt noch zu langsam. Aber diese ging sehr rasch, und es war noch Tag, als sie in das Städtlein einfuhren. Die Leute auf der Straße blieben verwundert stehen, als sie die seltsame Gesellschaft im Wagen gewahrten, und steckten die Köpfe zusammen. Die junge Frau wurde rot. Aber ihr Gatte schüttelte den Kopf. »Was kümmert's uns?« fragte er. Und als sie an dem großen Standbild der Muttergottes vorüberfuhren, das vor dem Kloster der Dominikaner steht, da kam ihm ein seltsamer Gedanke. Er sagte leise vor sich hin: »Sie hieß auch Miriam und war ein armes Judenweib, und auch ihr Mutterherz durchbohrten die Schmerzen.« In der Dämmerung hielten sie vor der kleinen Hütte am Friedhof. Rasch sprang Miriam ab. »Gott lohn' es Euch«, stammelte sie atemlos.

»Habt Ihr einen Arzt?« fragte der Herr.

»Nein«, erwiderte sie, »der Stadtdoktor ist fort – zur Assentierung.«

»So schicke ich Euch den herrschaftlichen Wundarzt vom Schloß«, rief er ihr noch nach.

Sie hörte es aber nicht mehr. Sie war schon drinnen in der Stube. Das kranke Kind war allein. Eine Lampe warf ihren Schein auf sein hochrotes, über und über mit Schweiß bedecktes Gesichtchen. Es war aber nur mit einer ganz dünnen Decke umhüllt. Rasch langte Miriam einige Kleider hervor und deckte das Kind zu. »Der Schweiß«, jubelte sie, »das ist ein Zeichen der Rettung.«

Gleich darauf kam die Frau des Totengräbers. Sie war sehr erstaunt, als sie Miriam erblickte, aber sie wagte es nicht, ihr darüber einen Vorwurf zu machen. »Dem Kind war so heiß«, meldete sie nur, »da habe ich alle Decken entfernt.«

»Das war nicht gut«, meinte die Mutter, »man darf den Schweiß nicht vertreiben.«

Dann kauerte sie am Lager nieder. Ihr war's, als müßte nun alles wieder gut werden.

Eine Stunde später hielt ein Wagen vor dem Haus. Ein fremder Mann trat ein; es war der Wundarzt vom Schloß. Er sah das Kind an, fühlte nach seinem Puls und deckte es sorgsam wieder zu. Dann ließ er sich von den Frauen die Ursache und alle Zeichen der Krankheit erzählen.

»Es war eine große Gefahr«, meinte er, als sie geschlossen hatten, »nun ist sie vorüber. Ein großes Glück ist, daß Ihr so richtig den rettenden Schweiß erkannt und das Kind sorgsam zugedeckt habt.«

Miriams Augen glänzten. »Und wenn das nicht geschehen wäre?« fragte sie.

Der Arzt sah sie erstaunt an. »Wie Ihr sonderbar fragt.«

»Antwortet!« rief sie, »Ich bitt' Euch, Herr Doktor!«

»Nun«, meinte er ohne Besinnen, »dann wäre das Kind sicherlich oder mindestens höchstwahrscheinlich gestorben.«

»Gott, ich danke Dir!« rief Miriam. Und stolzen, leuchtenden Blickes rief sie der Nachbarin zu: »Wollt Ihr noch behaupten, ich sei von Gott verflucht, ich, an der er soeben ein starkes Wunder vollbracht hat? Ein Wunder war's, daß die guten Herrschaften gerade in derselben Stunde in das Wirtshaus gekommen sind – ein Wunder, sonst wäre mein Kind verloren gewesen.«

Das Kind genas.

Und die Leute von Barnow? Hätten sie ahnen können, daß es nur die Liebe war, die Mutterliebe, die hier dem Haß entgegengetreten war und ihre heilende, erlösende Kraft geübt hatte, sie hätten wohl nicht aufgehört, der Witwe und ihrem Kind zu grollen. Aber hier war ja ein sichtliches »Wunder Gottes« geschehen! Und ein Wunder, das Gott selbst tut, das allein ist mächtiger als eine Satzung des Wunderrabbi!

 


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