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Es war am 7. Juli 1866 – das Schicksal hat dafür gesorgt, daß ich das Datum nie vergesse – morgens halb neun im Lehrsaal der Septima zu Czernowitz in der Bukowina; Unterprima würde man die Klasse in Deutschland nennen. Auf dem Katheder stand der Professor Wilhelm Lang, der ehrgeizige Mann, der mit uns den Horaz schon in Septima las, die schlanke, elegante Gestalt leicht vorgeneigt, sein Prüfungsbüchlein in der weißen, weichen, beringten Hand. »Kossowicz!« hatte er eben gerufen und dazu gelächelt, wie er immer zu lächeln pflegte, wenn er den großen, plumpen, dicken Menschen aufrief. Und der einfältige rumänische Popensohn hatte sich erhoben und die asklepiadische Strophe schlecht skandiert und stotterte nun bei der Übersetzung – alles wie immer. Wir Schüler aber grinsten fröhlich, nie machte Professor Lang bessere Witze, als wenn er den Kossowicz Eusebius prüfte, unsern armen, vielgehänselten »ultimus ultimorum«.
Diesmal sollte es nun vollends so lustig werden wie nie vorher. »Nil pictis timidus navita puppibus fidit«, hatte der Rumäne gelesen und sollte es nun übersetzen. »Der furchtsame Schiffer vertrauet nicht . . .«, begann er, »vertrauet nicht . . .«
»Seinem natürlichen Genie«, fiel der Professor ein, »sondern präpariert sich!«
Die Klasse wieherte.
»Kossowicz! Was heißt pingere?«
»Malen«, flüsterte ein barmherziger Nachbar dem Prüfling ein.
»Malen«, wiederholte Kossowicz.
»Und puppis?«
»Hinterteil des Schiffs«, flüsterte derselbe Nachbar wieder. Aber Kossowicz verstand nur das erste Wort. Über das stumpfe Gesicht flog es wie ein Leuchten.
»Ich weiß schon!« sagte er freudig in seinem seltsamen Deutsch. Und dann mit Donnerstimme, jede Silbe wuchtig betonend: »Der furchtsame Schiffer vertrauet nicht auf sein bemaltes Hinterteil!«
Wir brüllten los, daß die Wände widerhallten. Auch Lang lachte und lachte, daß die Tränen über die Backen liefen. Dann aber rief er:
»Kossowicz Eusebius, setzen Sie sich auf Ihre puppis. Schade, daß Sie schon zu alt sind, um sie Ihnen blau und rot zu streichen: Es würde nichts mehr nützen!«
Seltsam, darauf blieb es still. Wir waren übermütige Bengels zwischen fünfzehn und siebzehn, Kossowicz unser Prügelknabe, Lang unser Abgott, jeder Witz von ihm wurde belacht, diesmal schwiegen wir. Denn wir fühlten: Das geht zu weit! So darf man einen dreiundzwanzigjährigen Mann nicht behandeln. Der arme, tölpelhafte Mensch, der spät aufs Gymnasium gekommen und jede Klasse zweimal durchmachte, war vielleicht nur zwei Jahre jünger als unser eleganter Lehrer.
Auch Kossowicz empfand es so. Zuerst stand er regungslos, das dumpfe, stumpfe Antlitz vorgeneigt, offenbar verstand er den »Witz« noch nicht. Dann ging ein Zucken durch den wuchtigen Körper, er wurde totenbleich.
»Herr Professor!« lallte er fast drohend. »Ich –«
Weiter kam er nicht. In demselben Augenblick tat sich die Tür auf, der Direktor trat ein. Wir schnellten von den Sitzen empor, nicht bloß, weil es die Vorschrift gebot, auch aus Überraschung und Erwartung. Der Direktor kam während des Unterrichts – das war unerhört und mußte die gewichtigsten Gründe haben.
Keine angenehmen, das sah man dem würdigen Manne vom Antlitz ab. Stefan Wolf hieß er, wir nannten ihn Gorgias, weil er diesen Dialog des Plato in jeder Rede zitierte. Sein Antlitz war bleich, und der mächtige Schnurrbart zitterte.
Er trat aufs Katheder neben den Professor, der ihn nicht minder erstaunt anblickte als wir.
»Also«, begann er – nie hat ein sterbliches Ohr eine Rede des Wackeren vernommen, die mit einem anderen Wort begonnen hätte – »also, Sie können gehen. Also, der Unterricht für das Schuljahr ist zu Ende. Die Zeugnisse können Sie nach einer Woche bei mir abholen . . .«
Ein Laut der Überraschung aus fünfzig Kehlen, dann ein Summen und Surren. »Warum?« riefen einige.
»Unfug!« donnerte Gorgias. »Schweigen Sie! Also, der Herr Landeschef hat es eben verfügt. Also – der Krieg, der entsetzliche Krieg. Also« – der Schnurrbart zitterte konvulsivisch – »die Schlacht von Königgrätz . . . aber damit nicht genug. Also« – und bei diesen Worten hüpfte der Schnurrbart vollends wie ein selbständiges Wesen auf und nieder – »die Cholera . . .«
Wieder ein Rufen und Flüstern.
»Unfug! Schweigen Sie! In solchen Zeiten ärgert man seinen Direktor nicht. Auch Obst dürfen Sie nicht essen. Also, wer Gurken ißt – Unfug, der streng bestraft werden muß! Also, heute Nacht sind in der Wassergasse drei Menschen gestorben! Gehen Sie nach Hause!«
Wir begannen die Bücher zusammenzupacken.
»Ruhe! Unfug!« donnerte er wieder. »Im Gorgias sagt Plato . . .« Er hielt inne. »Nein, das sage ich Ihnen morgen – wollte sagen nächstens. Also – die Cholera, Galle – Gallenruhr. Jede andere Ableitung ist falsch.« Und er wiederholte mit furchtbarer Entschiedenheit: »Ganz falsch, hört Ihr!« Dann aber brach sich die Stimme des Mannes – ich bin im Leben selten einem warmherzigeren begegnet. »Adieu Jungens! Schwere Zeiten! Haltet Euch vernünftig und fürchtet Euch nicht. Wir stehen in Gottes Hand. Auf Wiedersehen – im Herbst. Alle, hoffentlich wir alle.«
Und er rannte hinaus, damit wir die Tränen in seinen Augen nicht sehen sollten, und wir alle hinterdrein, er, die nächste Klasse aufzulösen, wir über die Korridore auf die Gasse.
Sie lag im Glanz der Julisonne. Die Kinder spielten auf den Trottoirs, die Leute gingen ihren Geschäften nach. Nirgendwo eine erregte Miene, ein ängstliches Wort. Wir lachten, riefen, pufften uns. Hätten uns nicht die letzten Worte des guten Alten, den wir alle, trotz seiner eigentümlichen rednerischen Leistungen wie einen Vater liebten und ehrten, im Ohr nachgeklungen, unsere Freude über die unverhofft frühen Ferien wäre eine ungetrübte gewesen.
Erst auf dem Marktplatz klang uns wieder jener Name entgegen, dessen richtige Ableitung er uns so energisch eingeschärft, aber auch nicht eben in furchterregender Art. Zwei Polizisten gingen von einer Hökerfrau zur anderen und konfiszierten die unreifen Kirschen und Stachelbeeren. Die Weiber jammerten, die Umstehenden lachten, auch die Polizisten nahmen ihr Geschäft nicht ernst.
»Dumme Sache! Aber der Herr Bürgermeister hat's befohlen! Die Cholera! Platz, Ihr Leute!«
In der Siebenbürger Gasse holte ich meinen Coetanen Kossowicz ein. Er ging gesenkten Hauptes dahin und wich niemand aus, daß ihn die Leute zornig oder lachend aus dem Wege schoben. Ich holte ihn ein und sprach ihn an. »Nimm's dir nicht zu Herzen«, suchte ich ihn zu beruhigen. »Er hat's nicht so böse gemeint.«
Er schüttelte den großen, unförmigen Kopf. »Is mir bitter«, sagte er dumpf. »Is mir sehr bitter! Lang is Hund!« schrie er dann gellend auf.
»Das ist er nicht!« sagte ich. »Freilich hätte er den Witz nicht machen sollen!«
»Is Hund!« wiederholte er. »Bin ich schlecht? Nein! Bin ich faul? Nein! Bin ich Bub? Nein! Schlechten, faulen Bub droht man mit Prügel, aber mir? Ich bin ein alter Mensch mit Bart, unglücklicher Mensch! Warum? Kein Kopf zum Studieren! Muß doch studieren! Will Bauer werden, soll Pope werden. Guter Mensch hätte Mitleid mit mir – also Kossowicz kann nichts, bekommt dritte, aber man läßt ihn in Ruh! Schlechter Mensch tut mir das an! Aber ich werd' ich es ihm zeigen – ruf mich Hund, wenn ich's nicht tu'!«
Auf dem stumpfen Antlitz lag der Ausdruck eines ehernen Entschlusses. »Kossowicz«, sagte ich erschreckt und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du wirst dich an Lang nicht rächen! Du wirst dich nicht unglücklich machen!«
»Mir ist alles eins«, erwiderte er. »Unglücklich bin ich auch so! Aber er soll lernen besser sein und vor Gott Furcht haben!«
»Was willst du tun?« fragte ich und hielt ihn fest.
»Wirst hören«, erwiderte er, riß sich los und trat in das kleine ebenerdige Haus, wo er mit vielen anderen Schülern bei einer Pfarrerswitwe zur Miete wohnte.
Das nahm ich viel schwerer als die Cholera und setzte meinen Weg ernster fort als bisher. Erst daheim kam mir eine Ahnung von dem Entsetzlichen, das der Name in sich barg. Als ich mit der Kunde ins Zimmer trat, ward das Antlitz meiner Mutter bleich wie das Linnen, an dem sie nähte. »Das ist furchtbar . . .«, murmelte sie mit entfärbten Lippen. »Wenn es so kommt wie vor fünfunddreißig Jahren . . .« Und sie erzählte mir von der Choleraepidemie von 1831, die sie als junges Mädchen in Brody durchgemacht, wie jeder zehnte Mensch gestorben und es nicht mehr Hände genug gegeben, die Toten zu bestatten.
Ich hörte zu, und weil sie selbst erregt war, machte es auch mir Eindruck, aber tief war er nicht. Dann nahm ich wieder die Mütze vom Nagel und wollte gehen.
»Wohin?«
»Zum Kossowicz. Der arme Kerl soll keine Dummheiten machen!« Ich erzählte ihr, um was es sich handelte.
Sie nickte. »Aber bis zwölf bist du zurück. Wir gehen zu deinem Vormund, der heute seinen Geburtstag hat, um ihm zu gratulieren. Auch speisen wir dort.«
Der Rumäne war nicht zu Hause. Was sei ihm denn widerfahren? empfing mich seine Wirtin. Er sei lange brütend dagesessen und dann plötzlich fortgerannt. Und ob es wahr sei, daß die Leute in der Wassergasse dahinstürben wie die Fliegen?!
Ich beschloß, hinzugehen, obwohl die Zeit knapp war, wenn ich mittags wieder daheim sein wollte. Czernowitz liegt auf einem Hügel, die Wassergasse umgibt, dem Lauf des Pruth folgend, den Fuß des Hügels. Damals wohnten nur arme Leute dort, namentlich Juden und Ruthenen. Den Hochsommer abgerechnet, wo man die Pruthbäder aufsuchte, kamen die Städter nie in die armselige, entlegene Vorstadt.
Wieder kam ich über den Marktplatz, er war nun etwas belebter als vorher, namentlich standen die Leute in dichten Gruppen um große, gelbe Plakate, die eben angeschlagen wurden. Der Bürgermeister teilte mit, daß sich seit gestern in der Pruthvorstadt drei Fälle von Brechdurchfall mit tödlichem Ausgang ereignet. Ob es sich um asiatische Cholera handle, sei noch nicht festgestellt, doch habe er ungesäumt alles Nötige veranlaßt. Eine Cholerabaracke sei im Bau, die Pruthvorstadt abgesperrt. Die Bekanntmachung schloß mit einigen hygienischen Ratschlägen.
Die Umstehenden beurteilten dies Schriftstück sehr verschieden. Die einen lobten den Bürgermeister seiner Energie wegen, die anderen fanden den Eifer höchst überflüssig. »Weil in der Pruthvorstadt drei Arbeiter sterben, die sich den Magen mit unreifem Obst vollgestopft haben, bringt er die ganze Stadt in Aufruhr!« Am schärfsten verurteilte Herr Gregor Lupul diese »Dummheiten«. Es war dies der Besitzer des schönsten Hauses, des mächtigsten Bauchs, der rötesten Nase und des lautesten Organs in ganz Czernowitz. »Wer ist denn 1831 hier oben gestorben? Kein Mensch, der zu essen hatte. Hab' ich nicht recht, Mayer, Sie müssen's ja auch noch wissen!«
»Gewiß weiß ich es, Herr von Lupul«, erwiderte der kleine, schmächtige Salomon Mayer geschmeichelt. »Die Cholera ist eine Art Hungertyphus, für die armen Leut.« »Und deshalb soll ich keinen Salat essen?« rief Lupul entrüstet. »Justament eß' ich heut sogar einen Italienischen! Kommen Sie mit, Mayer, zum Anatowicz in die Weinstube!«
Mayer ging mit, ich aber der Wassergasse zu. Je tiefer ich den Berg hinabkam, desto mehr Leute standen da, desto lauter sprachen, desto heftiger gestikulierten sie. Überall dasselbe Thema und dieselben Urteile. Die einen priesen, die andern höhnten den Bürgermeister. Die einen mahnten zur Vorsicht, die anderen prahlten, was sie sich alles zu essen getrauten, die einen erzählten zitternd, alle Stunde stürben da unten einige Menschen, und alle Ärzte seien dort beschäftigt, die anderen schworen, die Leute in der Wasserstadt seien so vergnügt wie nur je. Sicheres wußte niemand.
Da kamen zwei Wagen die Straße herabgepoltert, große, unförmige Karren, mit schwarzem Tuch überdeckt. Auf dem Bock saßen zwei städtische Diener.
»Wohin? Wozu?« rief man sie an.
»Die Toten abholen!« erwiderte einer der Diener.
»Wieviel?«
»So ein Dutzend. Jetzt können's leicht mehr sein!«
Ein wildes Schreien und Lärmen, dazwischen ein gelles Lachen – und im nächsten Augenblick war die Straße wie reingefegt. Heulend, jammernd, fluchend stürzten die Leute den Berg empor, ihren Wohnungen zu, und gaben die Schreckenskunde verzehnfacht weiter.
Als ich den Eingang zur Pruthgasse erreichte, stand da ein großer Haufe Menschen und lachte und schrie: Lehrjungen, Strolche und Dirnen. Sie unterhielten sich damit, die städtischen Polizisten zu verhöhnen, die den Eingang zur Straße bewachten, damit niemand den verseuchten Stadtteil verlasse. Sonst war auch nichts zu sehen. Die wenigen Häuschen, die man überblicken konnte, boten denselben Anblick wie sonst. Vor den Türen spielten die schmutzigen Kinder in der Gosse, an den Fenstern flatterte zerlumpte Wäsche zum Trocknen, ein Schuster hockte auf seinem Dreibein vor der Werkstätte und flickte ein Paar Stiefel, ein Trunkener saß auf einer Bank und schlug mit einem Stecken um sich, eine Verlorene lehnte sich halbbekleidet aus ihrem Dachfenster weit vor und lachte uns frech an. Alles wie gewöhnlich an dieser Stätte des Elends und der Verworfenheit . . .
Schon wandte ich mich zum Gehen, da klang ein Laut in mein Ohr, der mich anhalten ließ – ich glaube, ich höre ihn noch, während ich das schreibe. »Boze!« (»Gott«) rief eine Stimme schrill, verzweiflungsvoll. Selbst das rohe Gesindel um mich her wurde plötzlich still. Noch einmal »Boze!« und »Ratujcie!« (»Rettet!«) Und aus dem Hause, vor dem der Schuster saß, kam ein Mensch hervorgestürzt, ein junger todblasser, fast nackter Mensch, der eben aus dem Bett gesprungen sein mußte, und warf sich wie ein Kreisel in der Luft herum und stürzte in Krämpfen hin. Das war der erste Cholerakranke, den ich damals gesehen habe.
Als ich heimkam, war es längst zwölf vorbei. Meine Mutter schalt heftig auf mich ein, als sie erfuhr, wo ich gewesen, besprengte mich mit einer Essenz, die sie inzwischen besorgt, und ließ mich die Kleider wechseln. Dann gingen wir zum Hause meines gestrengen Vormunds. Die anderen Glückwünschenden waren schon dagewesen, man hatte mit dem Speisen auf uns gewartet, der alte Herr war sehr ungnädig.
»Das blödsinnige Gerede von der Cholera verdirbt einem die Laune!« rief er. »Und nun kommt man auch nicht rechtzeitig zu Tisch.«
»Aber der Doktor Atlas und der Lupul sind auch noch nicht da«, suchte ihn seine Frau zu begütigen.
»Der Doktor steht in städtischen Diensten«, rief er, »und muß tun, was der Bürgermeister will. Wahrscheinlich muß er gerade die Betrunkenen in der Wassergasse nüchtern machen! Aber der Lupul – richtig, der Lupul ist ja auch noch nicht da! Wo steckt denn der Alte? Schick doch zu ihm hinüber!«
Es währte lange, bis der Bote wiederkam. Wir setzten uns inzwischen zu Tische. Mein Vormund war sichtlich noch immer unwirsch, und seine Laune besserte sich nicht, als der Bote endlich meldete, die Haushälterin wisse nicht, wo der Herr von Lupul geblieben, er sei seit dem Morgen fort. »Der Kerl wird doch nicht vergessen haben!« rief der alte Herr in hellem Zorn. Das war verzeihlich, denn Lupul war sein bester Freund, auch pflegte dieser Demosthenes von Czernowitz seit fünfundzwanzig Jahren bei dem Diner am 7. Juli den Toast auf das Geburtstagskind zu sprechen. Weil aber das Essen gut war, der Wein noch besser, so erheiterte sich allmählich die Laune des Gastgebers, besonders, da ein anderer Freund des Hauses das Hoch beinahe ebenso gut ausbrachte wie sonst Lupul. Und so saßen wir da und aßen und tranken, und weil die beiden leeren Stühle an der Tafel ungemütlich waren, so schoben wir sie weg. Bei meinem Vormund geschah alles gründlich und ausgiebig, nach eins waren wir zu Tische gegangen, kurz vor sechs wurde der Kaffee serviert. Da erst erinnerte er sich des ausgebliebenen Freundes und schickte nochmals hinüber. Diesmal kehrte der Diener sehr bald zurück.
»Nun?« rief ihn der alte Herr an. »Ist er zu Hause?«
»Ja, seit zwei Uhr!«
»Warum kommt er nicht?«
»Er kann nicht!«
»Ist er krank?«
»Tot ist er!« stieß der Diener hervor. »An der Cholera gestorben, der Doktor Atlas war bei ihm.«
Einige Minuten später war der Saal leer, die Gesellschaft zerstoben, als ob der Tote selbst in ihrer Mitte erschienen wäre. Auch meine Mutter und ich gingen heim.
Als wir an dem Häuschen jener Pfarrerswitwe vorübergingen, stand die alte Frau vor der Tür und spähte besorgt die Straße auf und nieder. »Ist der Kossowicz zu Hause?« fragte ich.
»Nein!« rief sie. »Ich sterbe vor Angst! Zum Essen nicht heimgekommen! In den neun Jahren, wo er bei mir wohnt, habe ich das nicht erlebt. Er und vom Essen wegbleiben! Es ist ihm etwas passiert. Die Cholera! Wenn ich nur wüßte, wo ich ihn suchen soll.«
Da wußte auch ich keinen Rat. Ich suchte sie zu beruhigen und bat, mich wissen zu lassen, wenn er wieder zurück sei.
Eine Stunde später kam das Kind der Witwe, Kossowicz sei eben heimgekommen und lasse mich bitten, ihn zu besuchen, er sei nicht ganz wohl.
Meine Mutter schärfte mir Vorsicht ein, ließ mich aber hingehen.
Ich traf ihn auf der Bank im Gärtchen vor dem Haus. Er war bleich und trug trotz der Schwüle seine »Bunda« (rumänischer Bauernmantel) umgeschlagen, als fröstelte es ihn. »Halt!« rief er mir entgegen, als ich das Gärtchen betrat. »Halt!« rief er noch einmal, als ich einige Schritte vorwärts tat. »Komm mir nicht zu nahe, ich war ich eben bei einem Cholerakranken!«
»Bei wem?«
»Bei Lang!«
Ich traute meinen Ohren nicht, er aber erzählte:
»Ich geh' ich um elf Uhr zu ihm! Wozu? Um ihn zu ohrfeigen. Dann soll man mich meinetwegen aufhängen, aber der schlechte Mensch soll seine Lehre haben. Komm ich hin. Sagt sein Mädchen: ›Herr Professor nicht zu Haus.‹ Frag ich: ›Wann kommt?‹ Sagt sie: ›Um zwei, nach dem Essen.‹ Ich lauf' ich bis halb zwei im Volksgarten herum, ganz wütend, und ich wiederhol' ich immer, was ich ihm sagen will. Dann stell' ich mich vor sein Haus. Umsonst. Kommt nicht. Endlich kommt, aber im Wagen. Ganz blaß, ganz elend. Denk ich: ›Schlecht! Kranken kann man nicht hauen!‹ Will gehen. Da seh' ich, er kann nicht mehr selbst vom Wagen. Tret' ich zu, helf' ich ihm. Sagt er: ›Vorsicht! Mir scheint – die Cholera.‹
Sag ich zornig: ›Oh, nein! Unkraut verdirbt nicht!‹ Und weil er nicht kann, ich helf ich ihm in sein Zimmer. Das Mädchen hat Furcht, traut sich nicht herein. Also was tun? Ich muß ich ihn ins Bett legen. Sagt er: ›Kossowicz, das hab' ich nicht um Sie verdient!‹ – Sag' ich: ›Nein, ganz was anderes, und das kommt auch noch, wenn Sie gesund sind!‹ – Sagt er: ›Was?‹ – Sag' ich: ›Das erfahren Sie früh genug.‹ Ihm wird aber immer übler, und ich seh': wirklich die Cholera. Was tun? Hund is er, aber jetzt is er doch krank, ich kann ich ihn doch nicht allein lassen. Also ich schick' ich das Mädchen um Krankenwagen ins Spital, und inzwischen pfleg' ich ihn! Eine Stunde und zwei und drei, und ihm wird immer schlechter. Und Wagen kommt nicht. Gott im Himmel, bet' ich, was soll ich da anfangen, der Kerl stirbt mir so unter den Händen, und er soll ja gesund werden, damit ich ihn hauen kann. Gott im Himmel, bet' ich, wenn du nicht willst, daß ich ihn hauen soll, so will ich es nicht tun, aber laß gesund werden. Dann bin ich schon mit der Rache zufrieden, daß er sieht: ›Dieser Kossowicz, immer bin ich auf ihm herumgeritten und hab ihn sekkiert und gemartert, und jetzt hält er bei mir aus und pflegt mich!‹ Nicht wahr«, unterbrach er sich, »du, sag, das ist doch auch schon gute Rache? Ganz gute?!«
Ich konnte nur stumm bejahen. »Aber wo ist Lang jetzt?« fragte ich dann.
»Im Spital. Um sechs is endlich Wagen gekommen. Is aber schon halb tot. Ich fürcht' ich, wird sterben! Und mir is auch so. Bleib weg, du, zehn Schritt vom Leib! Was machst für Gesicht, dummer Kerl? Also meinst: Rache hab' ich schon, auch wenn Lang stirbt?!«
Einige Minuten später mußte ich zum Spital, den Krankenwagen für meinen Kollegen zu holen. Am Morgen des 8. Juli ist er dort gestorben, er hat den Lehrer, der ihn gekränkt und bei dessen Pflege er sich die Krankheit geholt, nur um zwei Stunden überlebt.