Karl Emil Franzos
Das Kind der Sühne
Karl Emil Franzos

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Romeo und Julia

Als ich das letzte Mal mit meinem Freunde Matthias in seinem bescheidenen, aber sehr behaglichen Arbeitszimmer bei einer ganz erträglichen Zigarre beisammensaß, gestand er mir, daß er seit seinen Schülerjahren nur noch die Zeitung und seine philologischen Handbücher gelesen habe. Da bin ich denn leidlich sicher, daß ihm auch diese Erzählung seiner eignen Schicksale unbekannt bleiben wird, und ich mag nicht leugnen: das ist mir ganz recht. Keineswegs aus dem Grunde, weil ich etwas daran entstellen oder auch nur ausschmücken möchte, sondern im Gegenteil, eben weil ich alles der Wirklichkeit nachschreiben will. Matthias jedoch würde sagen: »Nur am Anfang und am Ende ist alles wahr, aber in der Mitte vieles ganz und gar erfunden«, und er würde dies nicht bloß seiner guten, rundlichen Frau sagen, sondern auch sich selber. Kurz, er würde aussprechen, was er nun selbst seltsamerweise für richtig hält, und weil er eine grundehrliche Seele ist, so ist mir diese Selbsttäuschung eigentlich das Merkwürdigste an seiner Geschichte.

Eine grundehrliche Seele – wer wüßte das besser als ich?! Denn der Zeit, wo ich meinen Matthias noch nicht gekannt habe, kann ich mich nicht leicht mehr entsinnen. Wir haben auf derselben Schulbank lesen und schreiben gelernt, und zwar bei seinem Vater, Herrn Wenzel Purscht. Das war ein kleiner, sanfter Mann mit einem großen, scharfen Lineal, von dem ich bis in meine Jünglingsjahre hinein bisweilen geträumt habe, weil es so unheimlich war. Nämlich kein totes, viereckiges Stück Holz, an den Rändern mit Messing beschlagen, sondern ein lebendiges, sehr boshaftes Wesen, das sich von selber gegen uns schwang und den dürftigen Arm, der daran hing, regierte.

So sah es wirklich aus, wenn Herr Purscht es handhabte, denn er war ein schwächliches Männchen mit einem gefurchten, betrübten Kindergesicht, das uns immer gleich zaghaft, sanft und traurig ansah; und auch die Stimme klang weich und mild, was immer er sagen mochte. Am sonderbarsten aber sah es aus, wenn das erbarmungslose Lineal auf den kleinen Matthias losschlug. Da standen sich die beiden Menschen gegenüber, die sich durch nichts unterschieden, als daß der eine um einige Zoll größer war als der andre. Dasselbe struppige, fahlblonde Haar, dieselben kleinen, grauen Augen, dieselbe Stumpfnase, dieselben dünnen Lippen mit den trübselig nach unten gesenkten Winkeln, die langen Arme schlaff herabhängend, daß sie an den kurzen Beinchen fast bis an die Knie reichten. Es konnte einem ordentlich bange dabei werden. Nicht Vater und Sohn standen da Aug in Aug, sondern derselbe alte, sorgenvolle Mensch in zwei Exemplaren. Nun trugen sie obendrein ganz gleich geschnittene Anzüge von verschossenem, ursprünglich schwarzem, nun grau schimmerndem Tuch, was sich daraus erklärte, daß Mutter Purscht die feierlichen Amtskleider des Gatten, wenn sie aus Altersschwäche den Dienst versagten, durch rätselhafte Mittel für den einzigen Sohn verjüngte und zurechtschnitt. Aber mindestens die Mienen der beiden, sollte man denken, müßten in solchen Schicksalsmomenten verschieden gewesen sein, und sie glichen sich aufs Haar! Es war kaum zu entscheiden, ob Vater oder Sohn betrübter und zerknirschter aussah, und wenn Matthias schluchzend hervorstieß: »Verzeih mir, morgen werd' ich's können!«, flehte die sanfte Knabenstimme des Vaters: »Oh, du Lump! Dir will ich die Faulheit austreiben!« Noch ein kurzer Kampf mit dem Lineal, und dann hatte das bösartige Ding gesiegt und begann sein Werk.

Indes, solche Freuden erlebte das unheimliche Lineal an jedem von uns öfter als an Matthias, und zwar nach Recht und Gebühr, denn er war der Fleißigste in der Klasse, eine kleine, brave, gehetzte Lernmaschine, die rastlos hinter der etwas größeren Lehrmaschine einherkeuchte und ihr alles nachtat, sogar das trübselige Knarren. Matthias sprach wie der Vater und dachte und benahm sich wie dieser, und da Herr Wenzel in der ganzen Stadt »Vater Purscht« hieß, so tauften wir unseren Mitschüler »Großvater Purscht«, und er ist den Spitznamen lange nicht losgeworden. Jedoch böse gemeint war das nicht, denn wir hatten ihn lieb trotz seiner Tugendhaftigkeit. Er war eben ein so harmloser, gutherziger, treuer Junge, daß wir ihm alles verziehen: seinen Fleiß, sein musterhaftes Stillsitzen, seine seltsamen Schulröcke und seine altklugen Reden. Nur ganz im Anfang bekam er zuweilen einen Puff, dann aber entwaffnete uns, so grausam wir nach Knabenart waren, seine Schwächlichkeit, und daß er keinen beim Vater verklagte. Wenn wir Indianer spielten und einen bestimmen mußten, der »tabu«, das heißt unverletzlich sein sollte, so gab es darüber niemals Streit, natürlich war »Großvater« »tabu«. Und da stand nun der blasse, schüchterne Junge inmitten der beiden Heerhaufen und sah blinzelnd zu, wie wir die hölzernen Tomahawks gegeneinander schwangen.

Aber für das Schicksal ist niemand »tabu«, das sollte auch unser armer Matthias erfahren. An einem Sonntag im Juli hatte Vater Purscht die Zeugnisse verteilt, die uns die Pforten des Gymnasiums erschlossen, und mit nassen Augen Abschied von uns genommen. Einige Wochen darauf mußte er der ganzen Welt ade sagen. Das aber tat er mit lächelnder Miene, so wunderbar hatte ihn ein Gespräch, das er vorher mit zweien seiner einstigen Schüler, einem Anwalt und einem Arzt, gehabt hatte, getröstet. Ihnen gestand das demütige Männchen die heimliche Sünde seines Lebens: seine, wie er's nannte, wahnwitzige Hoffart. Er war nämlich immer der Meinung gewesen, daß er es bei seinen Fähigkeiten mit etwas mehr Glück sogar zum Gymnasiallehrer hätte bringen können. Und als sie dies milde aufnahmen, offenbarte er ihnen seinen letzten Wunsch: daß es seinem Matthias gelingen möge, die Höhe zu erklimmen, nach der er sich vergeblich abgehärmt hatte. Die beiden sicherten ihm zu, daß der Junge studieren werde, und weil Vater Purscht sie kannte, sahen wir Schüler sein Antlitz zum erstenmal heiter und verklärt, als er vor uns im Sarge lag. Wenn ich in das Dämmer meiner Kindheit zurückblicke und die Punkte zähle, von denen Licht ausgeht, gehört das Antlitz des armen toten Schulmeisters zu den hellsten, die mir entgegenschimmern. Und es mag immerhin sein, daß für mich all die Jahre auch etwas von dem Licht auf den Sohn gefallen ist.

Einige Wochen nach dem Begräbnis trat Matthias mit uns andern in die lateinische Schule, und wie es ihm da erging, ist bald gesagt. Er blieb all die Jahre, was er unter seines Vaters Lineal gewesen: eine rastlose Lernmaschine, der man das leise Knarren anhörte, auch wenn sie schwieg. Auf dem blassen, gespannten Gesicht stand deutlich zu lesen, daß er eigentlich immer still und beharrlich die für die kaiserlich-königlichen österreichischen Gymnasien vorgeschriebene Wissenschaft in sich hineinstopfte, und bald auch in andre, denn er begann schon sehr früh mit Stundengeben. Das war ja alles notwendig, wenn sich der ehrgeizige Wunsch des Vaters erfüllen sollte, auch die Lektionen, denn die Gesellschaft, die sich gebildet hatte, um Matthias Purscht zu einem Gymnasiallehrer zu machen, wurde mit den Jahren durch Tod und Wegzug immer kleiner. Das bißchen Gotteslohn als Dividende konnte neue Zeichner nicht locken. Aber wenn auch notwendig, achtungswert war dieser eiserne Fleiß doch, nur daß unsere Lehrer mehr Sinn dafür hatten als wir Jungen in den Flegeljahren. »Großvater« wurde auf dem Gymnasium viel gehänselt, auch ein neuer, minder harmloser Spitzname: »Ruminans«, zu deutsch »der Wiederkäuer«, tauchte auf. Aber das hätte schon ein böser Bube sein müssen, um dies arme, beladene Menschenkind ernstlich zu kränken. Und versuchte es einer, so leuchteten wir andern ihm gründlich heim.

Kurz, »Großvater« blieb auch auf dem Gymnasium »tabu«. Soll ich mein Verhältnis zu ihm und das stärkste Band, das uns neben der Erinnerung an das unheimliche Lineal verband, bezeichnen, so muß ich sagen: es war unser aufrichtiges Mitleid füreinander. Ich fand es immer ein Jammer, daß er nicht rauchte, und er ein dunkles Verhängnis, das mich zwang, mir im Tabakladen immer wieder Üblichkeiten für mich oder doch bösen Dunst für mein Stübchen einzuhandeln. Mir schien ein Jüngling, der nicht tanzte, ein Unding, ein Widerspruch in sich, und er sah mich schaudernd eine Stätte betreten, wo man sich im Kreise drehen mußte, bis einem der Atem ausging. »Und dann«, murmelte er entsetzt, und die kleinen, grauen Augen wurden starr, »dann sind ja auch Mädchen auf Bällen! . . . Und wenn – wenn du dich in eine verliebst?!« Als nun dies Furchtbare wirklich eintrat, kannte sein Mitleid keine Grenzen. Unglücklich aber, denn wir hatten uns wirklich gern, geradezu unglücklich machte ihn die Entdeckung, daß ich Verse machte. Er blieb eine Weile stumm und rief dann schmerzvoll: »Um Gottes willen, ein Mensch wie du, der im griechischen Pensum ›befriedigend‹ hat . . .«

Das war kurz vor dem Abiturientenexamen. Dann bezogen wir verschiedene Universitäten, und als wir sechs Jahre später in Wien zusammentrafen, war alles schlimmer gekommen, als er selbst in seinen bösesten Ahnungen befürchtet hatte: ich war nun wirklich Schriftsteller geworden. So durfte ich mich mit Fug und Recht nennen, weil ich Sachen schrieb, die für den Druck bestimmt waren. Daß sich niemand fand, der sie dieser Bestimmung zuführte, war doch eigentlich ein unwesentlicher Umstand. Anders Matthias. Das einzige, was er verfaßt hatte, eine Abhandlung über ein vierzeiliges Hymnenfragment, das einige dem Stesichoros aus Himera zuschrieben, während er es mit der Mehrzahl der Beurteiler für den Ibykos aus Rhegion in Anspruch nahm, wurde eben als Programm des Leopoldstädter Gymnasiums gedruckt, an dem er nun als Supplent wirkte. Der Traum des Wenzel Purscht hatte sich voll erfüllt. Pünktlich und brav hatte Matthias alle Prüfungen bestanden, zuletzt auch das Lehrerexamen, im Herbst durfte er auf eine feste Anstellung in der Provinz rechnen. »Aber du?!« fügte er zögernd bei und sah mich mitleidvoll an.

»Großvater«, sagte ich, »mach dir keine Sorgen um mich, ich tu's auch nicht.« Und da log ich nicht einmal, denn einige Stunden vorher hatte mir ein bekanntes Stuttgarter Blatt ein Manuskript mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückgeschickt, es wegen Raummangels nicht verwenden zu können, und dies Bedauern eines großen Blattes war doch immerhin ein Erfolg. Die Annahme wäre mir ja lieber gewesen, aber ein Erfolg war's doch. Und wenn auch nicht, meinen guten Matthias wollte ich nicht beneiden. Im Gegenteil, ein Jahr darüber brüten, welcher von den beiden alten Herren vor dritthalbtausend Jahren die vier Zeilen geschrieben hatte, und zur Belohnung in Horn oder Leitomischl den Buben das »mensa, mensae« beibringen – mich überflog ein Schauder. Freilich, für Matthias paßte es, und daß er sein Ziel pünktlich erreicht hatte, wunderte mich nicht; er war eben in allem derselbe geblieben, sogar im Äußern. Zwar so klein wie in der Linealzeit war er nun nicht, aber das Haar war nicht dunkler noch weicher, die Stumpfnase nicht spitzer geworden, und auch das trübselige Karpfenmündchen hatte sich nicht viel gerundet. Ein braver Mensch, mein guter Matthias, aber nicht schön, und was man so kurzweilig nennt, auch nicht. Und während wir in meinem Stammcafé, in das ich ihn gezogen hatte, als ich ihm zufällig auf der Straße begegnet war, einander gegenübersaßen und unsre Ansichten austauschten, da ergab es sich, daß es in dieser Riesenstadt schwerlich zwei Menschen gab, die sich in allen großen und kleinen Dingen so wenig verstanden. Und nachdem wir dies erkannt hatten, beschlossen wir, mindestens zweimal wöchentlich zusammenzukommen, am Mittwoch und Sonnabend nachmittags, wo er frei war. Denn Jugendfreundschaft hält wie Eisen, und alles andre ist Werg dagegen.

An diesen Nachmittagen also saßen wir im Frühling 1873 in jenem Café – »Café Troidl« hieß es und lag in der Wollzeile, dicht an der alten Universität – zusammen, und wenn er redete, so schüttelte ich den Kopf, und redete ich, so tat er das gleiche. Zu dieser Bewegung hatte er aber noch weit öfter Anlaß als ich, weil auch meine Freunde regelmäßig kamen: der kleine Albin mit dem guten, hageren Gesicht, der ein Dramatiker werden wollte, es auch wirklich unter tausend Kämpfen geworden ist, aber nun seit langen, langen Jahren auf einem Berliner Friedhof von allen Mühen seines Lebens ausruht, und der hübsche, feine Max mit dem Mädchengesicht. Da er aber noch lebt und noch immer ein Mädchengesicht hat, so kann ich hier nicht mehr über ihn sagen. Damals aber waren die beiden zunächst Schriftsteller von derselben Geltung wie ich, und so fand denn der gute Matthias gleich drei Menschen beisammen, die er bemitleiden und über deren Ansichten er sich entsetzen konnte. Einen Bundesgenossen aber hatte er nicht, denn der fünfte Mann der Runde begnügte sich in der Regel, zu allem »Hm, hm!« zu sagen.

Es war dies ein Herr in mittleren Jahren mit einem breiten, biederen, klugen Gesicht und einem stattlichen Bäuchlein, mit dem wir zufällig – er bot sich Purscht zu einer Schachpartie an – bekannt geworden waren. Wir wußten von ihm nur, was auf seiner Karte stand: »Karl Roithner, Privatier«, aber das genügte uns, da er anständig gekleidet war, sehr vertrauenerweckend aussah und immer nur »Hm, hm!« sagte. Den lieben langen Tag im »Café Troidl« zu sitzen und diese Laute von sich zu geben, schien uns lange seine einzige Beschäftigung, aber dies stimmte uns weiter nicht bedenklich, denn ein Privatier kann sich dies erlauben. Dann aber wurden wir gewahr, daß er sich mit den andern Stammgästen des Lokals, jungen Ärzten und Anwälten, doch minder lakonisch zu unterhalten pflegte. Er schien lange, ernsthafte Konferenzen mit ihnen zu haben, bei denen er fast immer das Wort führte, während der andere andächtig lauschte. Denn es waren in der Regel Unterredungen unter vier Augen, in einem Winkel des Cafés, wohin kein Lauscherohr reichte. Unser Freund Max war der erste, dem dies auffiel, was freilich kein Wunder war, da er fast ebensolang im Café zu verweilen pflegte wie Roithner, nämlich acht bis zehn Stunden täglich. »Der Mensch ist unheimlich«, sagte er, »am Ende gar ein Geldverleiher.«

Mein andrer Kollege, Albin, horchte hoch auf, ihm waren solche Menschen nicht unheimlich. Der Privatier begann ihn zu interessieren. »He, Anton!« Er winkte den Zahlmarqueur herbei und fragte nach Roithners Beruf.

Der stattliche Mann strich sich lächelnd die Bartkoteletten. »Ein sehr ein feiner Herr«, versicherte er in seinem schönsten Hochdeutsch. »Sehr solid, sehr vorsichtig!«

»Aha!« rief Albin freudig und machte die Gebärde des Halsabschneidens.

»Bedaure, Sie enttäuschen zu müssen, Herr Doktor«, erwiderte Anton. »Der Herr von Roithner hat ein ganz andres Geschäft! Er macht die Leut' glücklich, nicht unglücklich . . .«

»Das könnte er aber auch bei uns versuchen«, meinte Max. »Wir könnten's brauchen. Und uns sagt er immer nur ›Hm! hm!‹ und sonst nichts . . .«

»Da müssen sich der Herr Doktor gefälligst gedulden«, erwiderte der Marqueur. »An dem Tag, wo in dem Blatt da« – er schwenkte eine große Zeitung, die er in der Hand hielt – »ein Feuilleton über Ihr neuestes Werk steht, spricht der Herr von Roithner auch mit Ihnen unter vier Augen . . .«

Sprach's und verschwand. Unsre Vermutungen auszutauschen, war zunächst nicht möglich, denn Roithner setzte sich eben zu uns, höflich, liebenswürdig, schweigsam wie immer. Einige Minuten darauf – es war Sonnabend – erschien auch Purscht, diesmal sehr feierlich angetan, in Bratenrock und Zylinder. Er komme von einer Kindtaufe, erklärte er, bei seinem Kollegen, Doktor Müller.

»Das freut mich!« rief Roithner lebhaft. »Wieder ein Kinderl! Das dritte in vier Jahren! Ein glückliches Paar, der Herr Professor Müller und seine Frau. Eine geborene Schwingenschlögl, der Vater ist Hausbesitzer auf der Wieden. Eine liebe, hübsche, scharmante Frau!«

Erstaunt blickten wir ihn an; er glühte ordentlich vor freudiger Begeisterung. »Großvater« aber sagte bedächtig wie immer: »Gewiß, mein geehrter Herr Roithner, man hört allseitig das Beste über die Ehe meines Herrn Kollegen. Aber hübsch ist die Frau Doktor Müller vielleicht doch nicht so ganz, mindestens nicht im üblichen Sinn des Wortes –«

»Verzeihung, Herr Professor«, sagte der Privatier bescheiden, aber fest. »Mir gefällt sie. Und ihrem Manne auch. Und wenn sie nicht hübsch wäre, was kommt's darauf an?! Für das Glück der Ehe entscheiden andre Eigenschaften der Frau: Gemüt, Bildung, Gesundheit, gute Familie, Geld.« Diese fünf guten Dinge zählte der Privatier an den fünf dicken, ringgeschmückten Fingern seiner Rechten ab und ließ sie dann geballt auf den Tisch fallen. »So ist's, meine Herren!«

»Haben Sie keinen sechsten Finger?« fragte Albin. »Ich meine: die Liebe. Denn wie der Dichter sagt: ›Die Liebe ist der Inbegriff, und auf das andre pfeif' ich!‹«

»Sehr richtig!« rief Roithner und hob die geballte Faust. »Das ist die Liebe! Die Liebe ist einbegriffen. Denn wo die fünf Dinge vorhanden sind, da kommt die Liebe.«

»Immer?!« fragte Albin spöttisch.

»Fast immer! Wo sie trotzdem nicht kommt, kann freilich von Heirat keine Rede sein. Ehe ohne Liebe –« er schüttelte sich ordentlich. »Aber das sind Ausnahmen, in der Regel kommt sie!«

Da zog Albin die Brauen hoch und trat mir unter dem Tisch auf den Fuß, daß ich fast aufgeschrieen hätte. Der Tritt war sehr fühlbar, aber was er bedeuten sollte, wußte ich noch nicht. Das wurde mir erst klar, als sich Purscht Schlag fünf, wie immer, erhob und Roithner gleichzeitig nach seinem Hut griff. »Gestatten Herr Professor, daß ich Sie begleite«, sagte er sehr höflich. »Ich will auch in die Leopoldstadt.«

»Es ist empörend«, rief Albin, nachdem die beiden gegangen waren. »Der pure Menschenhandel!«

»Nun«, meinte Max, »das eine muß man ihm lassen, daß er ein Menschenkenner ist. Uns dreien wagt er mit solchen Dingen nicht zu kommen.«

»Auch ›Großvater‹ wird ihn abfallen lassen«, sagte ich. »›Großvater‹ ist in seiner Art auch ein Idealist. Er verdankt alles sich selber, da wird er doch wahrlich seine Frau nicht dem Vermittler danken wollen!«

Am nächsten, dem Sonntagmorgen, brachte mir schon die erste Post einen Brief in Purschts seltsam verschnörkelten und doch knabenhaften Zügen, Er bat mich, ihn nachmittags fünf Uhr zu erwarten und auch für den Abend keine andre Verabredung einzugehen. »Der Freund meiner Kindheit und Jugend«, fuhr er fort, »wird mir diese Bitte nicht weigern«, und schloß mit dem Wort des Ennius: »Amicus certus in re incerta cernitur.« (Den sicheren Freund erkennt man in unsicherer Sache.)

›O Freund meiner Kindheit und Jugend‹, dachte ich in der ersten Aufwallung, ›dich hab' ich überschätzt! Statt den Menschenhändler sofort selbst zum Teufel zu schicken, willst du erst mit mir beraten, ob du es tun sollst. Indes, mein Rat soll dir werden.‹

Ich ging ins Café Troidl und frühstückte. Noch keine Viertelstunde war ich dort, da trat der Privatier auf mich zu und ließ sich trotz meiner abweisenden Miene an demselben Tisch nieder. »Sie erlauben«, sagte er unbefangen. »An Ihrem Gesicht seh' ich, daß Ihnen Herr Purscht schon geschrieben hat. Vielleicht stimmt es Sie aber freundlicher, wenn ich Ihnen versichere, daß der Herr Professor Sie auf meine Bitte beizieht.«

»Er hätte es auch sonst getan!«

»Ganz meine Meinung!« Er nickte mit liebenswürdigem Lächeln. »Eben darum hielt ich es für richtig, ihn selbst darum zu bitten . . . Und nun hören Sie mich gefälligst ruhig an. Ich kann mir denken, wie ihr jungen Schriftsteller über mein Geschäft urteilt. Aber das ist nicht gerecht. Es ist ein nützliches Geschäft, und nur ein ehrlicher Mann bringt's da zu etwas. Schon in der Auswahl der Herren, die man in Auftrag nimmt, kann man nicht ängstlich genug sein. Die Schlechten – nicht in die Hand! Niemals! Denn erstens –«

»Bringt man sie schwer an!«

»Sehr wahr! Und bringt man sie an, so wird doch die arme Frau unglücklich, das bedrückt einem das Gewissen.«

»Und schadet dem Ruf der Firma.«

»Ganz richtig! Und auf den Ruf kommt alles an. Darum bin ich heute gottlob in meiner Spezialbranche, den akademisch gebildeten Herren, der erste Mann am Wiener Platze . . .«

»Wie sind Sie darauf gekommen?«

»Durch persönliche Beziehungen. Adel, Militär, Kaufmannsstand sind ja allerdings lukrativer, weil die Mitgift höher ist. Aber leben kann unsereins auch.«

»Das tut mir herzlich leid«, sagte ich. »Nun, hoffentlich gibt es doch Eltern genug, die sagen: ›Lieber mag unser Kind einsam bleiben, ehe wir es auf diesem Wege verheiraten‹, und noch öfter finden sich wohl Herren, die sich schämen, Sie zu beauftragen, oder Sie kurz abweisen, wenn Sie an sie herantreten.«

»Kommt vor. Gottlob seltener, als Sie glauben, aber es kommt vor. Und dagegen ist nichts zu tun. Selbst Rothschild kann nicht jedes Geschäft machen, das er beabsichtigt.«

»Also die Besten schließen sich selbst aus?«

»Die Besten?! Nun ja, mit Menschen, die an Geist, Gemüt, Schönheit und Besitz gleich erlesen sind, habe ich es kaum zu tun, die brauchen mich nicht. Aber diese wenigen abgerechnet – ist jemand deshalb edel, weil er selber sucht, und deshalb gemein, weil er sich an mich wendet?! Es ist keine Frage des Charakters, sondern der Vernunft!«

»Nicht des Charakters?!«

»Bewahre! Und eigentlich ist sogar ›Vernunft‹ da nicht das rechte Wort. Es ist eine Frage des Bedarfs! Wer's braucht, soll's tun, wer's nicht braucht, soll's lassen. Fehlt es Ihrer Tochter an Freiern nicht, oder können Sie als junger Mann junge Damen genug kennenlernen, so werden Sie den Roithner nicht rufen. Aber können Sie dies nicht, so tun sie klüger, ihn zu betrauen, als auf Bälle zu laufen. Niemand kann Ihnen Ihr künftiges Glück verbürgen, aber eine größere Gewähr bietet Ihnen meine Arbeit als der Zufall einer Ballbekanntschaft.«

»Und doch«, wendete ich ein, »hat einer der klügsten Menschen gesagt, daß nichts auf Erden unvernünftiger ist als eine Vernunftheirat.«

»Ganz richtig, wenn man darunter eine Heirat versteht, wo nur Geld oder Rang stimmt und alles andre nicht. Bei einer richtigen Vernunftheirat aber muß alles Wesentliche so stimmen, daß sich die beiden Leute ineinander verlieben können . . .«

»Das überrascht mich nicht«, sagte ich. »Schon im Meidinger steht die Geschichte von dem Vermittler, der einem Herrn auf den abweisenden Bescheid, er heirate nur aus Neigung, erwiderte: ›Neigung? – solche Partien habe ich auch!‹«

»Ganz richtig! Alle guten Geschichten stehen schon im Meidinger. Aber es ist mehr als ein Witz: jeder richtige Vermittler muß im Ernst so antworten können.«

»Schön«, sagte ich, »das ist so die Theorie Ihres Geschäfts, Herr Roithner. Aber wie gestaltet sich die Praxis? Gehen wir vom Nächstliegenden aus. Sie tragen da einen Ehering am Finger, haben Sie durch den Vermittler geheiratet?«

»Ich?!« erwiderte er langgedehnt, und das behäbige Antlitz wurde verlegen. »Nein. Aber wer sagt Ihnen, daß ich glücklich bin?! Gerade meine eigne Geschichte . . .« Er seufzte tief auf.

» . . . hat Sie zum Ehevermittler gemacht?« ergänzte ich. »Bitte, erzählen Sie! Ich mache Sie aber aufmerksam: Geschichten erfinden ist mein Geschäft.«

Er lachte fröhlich. »Dann fang' ich lieber gar nicht an. Aber wir wollen ja nicht von mir sprechen, sondern von Ihrem Freunde. Ist Großvater Purscht der Elitemensch, der mich nicht braucht? Hat er anderwärts Gelegenheit, sich unter den Töchtern des Landes umzusehen? Hätte er, selbst wenn die Gelegenheiten nur so auf ihn niederregnen würden, auch nur die Courage, sich eine recht anzusehen? Hindert ihn sein Feingefühl, sich unter meine Fittiche zu begeben? Können Sie dies alles bejahen, so dürfen Sie ihm abraten. Sonst nicht!«

»Mir genügt's, daß ich die letzte Frage bejahen kann!«

»Oh, welcher Irrtum! Ihm war mein Vorschlag dreimal recht! Wie auch nicht? Ein braver, nüchterner Philister, der sich endlich bis ans Ziel durchgequält hat, nur noch eben eine Frau braucht, aber beim bloßen Gedanken an ein Mädchen in Todesangst ist. Und nun sagt ihm einer: ›Ich schaffe dir die Gattin, die für dich paßt, ein braves, gutes, gebildetes Fräulein mit stattlicher Mitgift.‹ Er war vergnügt, sag' ich Ihnen, sehr vergnügt, und will auch gar nicht Ihren Rat, sondern Ihren Rockschoß, um sich daran zu halten, wenn sie naht . . .«

»Vederemo. Schön ist die Dame wohl nicht?«

»Nein! Sonst –« er blinzelte mich schelmisch an. »Aber seit den Masern ist das Mädchen nie krank gewesen – auf Ehre!«

Ich erhob mich. »Ich bedaure dennoch, Ihnen nicht dienen zu können, Herr Roithner. Will Purscht meine Ansicht wissen, so werde ich sie ihm ehrlich mitteilen.«

Er zuckte die Achseln und machte mir lächelnd eine sehr tiefe Verbeugung.

Nachmittags fünf Uhr trat Purscht in mein Zimmer, festlich angetan wie gestern, nur daß ein Veilchensträußchen im Knopfloch des Bratenrocks das Feierliche der Erscheinung lieblich milderte. Schon dieser Strauß erschreckte mich, noch mehr der Rosenduft, der ihn umwitterte.

»Großvater«, sagte ich schnuppernd, »wie kann ein humaner Mensch nur so duften . . .?! Du hast doch um Himmels willen nicht schon heute dein erstes Rendezvous?!«

Er errötete und strich sich verlegen über den Scheitel. Und wie ich mit den Augen seiner Bewegung folgte, sah ich ein neues Anzeichen, das auf das Äußerste schließen ließ. Ich sah nämlich, was weder ich noch sonst ein Sterblicher je vorher gesehen, was auch niemand für möglich gehalten hätte: die fahlblonden Borsten waren mit Pomade an den Kopf glatt geklebt, daß er nun im Sonnenschein fettig glänzte. Nur am Schopf stand ein Büschel aufrecht, da war alle Mühe des Frisörs vergeblich gewesen. So glich sein Haupt einem der lebensmüden Igel, wie man sie zuweilen in Menagerien findet: nur am Rücken können sie die Stacheln noch sträuben.

Das Gleichnis paßte immer mehr, denn er senkte unter meinen prüfenden Blicken den Kopf tiefer und tiefer. »Also wirklich!« rief ich. »Wirklich ein Rendezvous?!«

»Nein . . .«, erwiderte er endlich unsicher und suchte den Blick zu heben, mußte ihn aber in seinem Schuldbewußtsein sofort wieder senken. »Wir . . . wir gehen heute abend ins Burgtheater . . . ich habe die Sitze gleich mitgebracht . . . Parkett, achte Reihe rechts . . . Dagegen läßt sich doch nichts sagen!«

»Nein! Aber vor uns oder hinter uns oder neben uns oder in einer Loge wird sie sitzen, mit Vater und Mutter, mit Brüdern und Schwestern, das heißt, wenn diese Schwestern ihr gleichen. Sind sie hübscher, so bleiben sie heute zu Hause.«

»Sie – sie hat gar keine Schwestern!«

»Du gestehst also! Aber damit ist's noch nicht genug. Nach dem Theater gehen wir soupieren in irgendein feines Restaurant, zum ›Alten Stroblkopf‹ oder gar zum Sacher. Und sie sind auch da. Und Roithner stellt uns vor. Und wir setzen uns an ihren Tisch. Und beim Abschied laden sie uns ein, sie zu besuchen . . .«

Er hatte sich wieder gefaßt. »Das hat dir wohl Roithner gesagt? Zum ›Alten Stroblkopf‹ gehen wir.«

»Nein, nichts hat er mir gesagt, sonst hättest du mich nicht zu Hause getroffen. Ich weiß es, weil diese Menschenhändler ihre jämmerliche Komödie immer nach demselben Programm in Szene setzen. Nur hätte ich nun und nimmer gedacht, daß du dich wirst verhandeln lassen! Noch gestern sagte ich's meinen Freunden: mein Matthias tut's nicht. Und nun!«

»Aber wenn wir ins Burgtheater gehen.«

»Wir nicht! Du und der Makler deiner Reize, aber ich nicht. Nein, nein, nein!« Ich wollte es in feierlicher Entrüstung rufen, aber da mußte ich niesen. Trotz des offenen Fensters wurde der Rosenduft immer stärker. »Mensch, tue wenigstens das Parfüm von dir!«

»Aber wie?!« fragte er weinerlich. »Der Frisör hat mich damit besprengt und den Rest des Flakons in die Taschentücher gegossen. Schon in der Pferdebahn habe ich bemerkt, daß es wohl zuviel ist. Die Leute rückten alle von mir ab, aber was nun?«

»Dann tu wenigstens die Taschentücher weg!« Ich klingelte dem Dienstmädchen, und er langte, als sie eintrat, die Tücher gehorsam hervor; er hatte ihrer nicht weniger als drei zu sich gesteckt. »Du hast dich wohl schon heute zu einer großen Rührszene gerüstet«, sagte ich grimmig, und zu dem Mädchen: »Hängen Sie die Tücher an einen Ort, wo sie niemand stören. Dem Herrn geben Sie drei von mir.«

Ich stopfte mir mittlerweile meine Pfeife und setzte sie in Brand. »So«, sagte ich und begann mich in schützende Wolken zu hüllen, »Und nun höre!«

Es war eine kräftige Rede. »Also«, schloß ich, »ich gehe keinesfalls hin, aber du auch nicht! Denn du bist auch ein Idealist, eine Individualität, und darum kannst du dich nicht um schnöden Mammon verkaufen wie ein Herdenmensch!«

Er räusperte sich. »Ein Idealist bin ich«, erwiderte er dann bescheiden, aber fest. »Ich will immer meine Pflicht tun, bald den Titel Professor verdienen und in fünfzehn oder zwanzig Jahren Direktor werden. Auch will ich nur ein braves, gebildetes Mädchen heiraten. Ideale also habe ich auch . . . Aber eine Individualität, ich verstehe nicht recht . . . Ich glaube, ich bin keine Individualität . . .«

Ich sah ihn an, wie er so dasaß, die dürftige Gestalt vom Bratenrock umwallt, das hagere Gesichtchen ängstlich und selbstbewußt zugleich . . . ›Hm‹, dachte ich, ›da hat mein Matthias doch eigentlich nicht unrecht‹.

»Dann genügt's, daß du ein Idealist bist«, sagte ich. »Ich will gar nicht davon sprechen, daß dein Vorhaben geradezu gegen die Religion geht. Ehen werden im Himmel geschlossen und nicht im Café Troidl. Aber es geht gegen die Ehre. Aus eines solchen Menschen Hand gegen drei Prozent der Mitgift sein Lebensglück empfangen?!«

»Da übertreibst du«, erwiderte er sanft. »Er verlangt nur zwei Prozent. Aber auch sonst übertreibst du. Das haben sehr ehrenhafte Männer getan. Mein Kollege Müller, mein Kollege Waisnix, ich glaube auch Schuppner, obwohl seine Frau hübsch ist. Und ich wüßte auch gar nicht, wie ich's sonst anfangen sollte . . .«

»Wie?!« rief ich entrüstet. »Die Augen auftun! Eine wählen! Sich rasend verlieben! Ihre Gegenliebe im Sturm erringen . . .«

Er sah betrübt vor sich nieder. »Das ist leicht gesagt . . . Eine wählen, sich verlieben, so weit hab' ich's auch gebracht. Sogar rasend«, fuhr er seufzend fort und strich seinen Zylinder glatt, »denn vor zwei Jahren habe ich ein Gedicht zu ihrem Geburtstag gemacht. Sie war die Schwester eines meiner Schüler. Ein bescheidenes, geziemendes Gedicht – und was war die Folge? Sie hat mir ins Gesicht gelacht, und mein Schüler hat den Respekt vor mir verloren. Im Sturm also, wie damals, versuche ich es nie wieder. Und überhaupt nicht, auch ohne Sturm nicht. Ich kann mit jungen Damen nicht reden, ich bin zu ernst dazu. Auch zu . . .«

»Furchtsam«, ergänzte ich. »So fahre denn hin, du Idealist! Aber was soll ich bei der Geschichte? Du schriebst von einer ›res incerta‹, aber nun bist du ganz entschlossen.«

»Im Prinzip allerdings«, erwiderte er fest. »Ich habe wenig Verkehr in Familien, bin nicht sehr gewandt und muß im September aufs Land. Als Junggeselle in einer Kleinstadt hausen, ist bitter; man nimmt dann in der Verzweiflung die erste beste, auch wenn sie häßlich ist und kein Geld hat. Da ist es doch viel klüger, ich benutze hier die Gelegenheit. Roithner sagt, sie passe für mich. Da sehe ich sie mir eben an. Aber es ist halb sieben. In einer halben Stunde beginnt die Vorstellung!«

»So geh. Gute Verrichtung!«

»Du kommst mit!« rief er flehend und faßte meine Hand. »Bei der alten Freundschaft beschwör' ich dich! Was fang' ich ohne dich an! Es ist ja im Grunde doch noch eine ›res incerta‹ – und von welcher Wichtigkeit für mich! Über das Äußere traue ich mir ja auch ein Urteil zu, aber nicht über die Toilette, das Benehmen, die Familie. Und dann – im Restaurant, was fang' ich unter den wildfremden Menschen an?!«

»Gut«, sagt' ich. »Aber du versprichst mir: Sieht sie nicht menschenähnlich aus, so ersparen wir uns die angenehme Bekanntschaft und gehen nicht zum ›Stroblkopf‹, sondern in unser Stammbeisl.«

Das versprach er, strich sich vor dem Spiegel noch einmal das Haar glatt, und wir gingen.

Auf dem Wege erzählte er mir alles Nähere. »Eine gute, solide Beamtenfamilie, der Vater ist Polizeikommissär in Pension, stammt aus Prag.«

»Und heißt Kratochwil«, ergänzte ich.

»Du kennst ihn?!«

»Nein! Aber solche Menschen heißen Kratochwil. Hab' ich's getroffen?«

»Ja. Das Mädchen soll recht gebildet sein und sehr, sehr häuslich. Die Mutter stammt aus einer wohlhabenden Wiener Bürgerfamilie. Sie haben außer der Tochter, Pauline – der Name ist doch hübsch, nicht wahr? –, nur einen Sohn. Darum wollen sie ihr auch zwanzigtausend Gulden mitgeben.«

»Das ist auch hübsch«, sagte ich. ›Zu hübsch!‹ fügte ich in Gedanken bei, ›die Geschichte hat einen Haken.‹ Laut aber fragte ich: »Was wird denn heute im Burgtheater gegeben?«

»Ich habe gar nicht nachgesehen. Roithner sagte: ein passendes Stück.«

Es war »Romeo und Julia«.

Aus der Bank, in der wir unsere Plätze aufsuchten, grüßte uns bereits Roithners behagliches Gesicht. »Liebenswürdig, daß Sie Wort halten!« rief er mir herzlich entgegen und schüttelte mir die Hand. Und zu Matthias: »Famos! Aber . . .« Er schnupperte. Es war ja nun allerdings eine merkwürdige Mischung: Rosenduft und Knaster. Dann ließ er ihn in der Mitte Platz nehmen. »Bitte, zu meiner Rechten. Sonst gibt's Verwechslungen!«

Die andern waren also schon im Theater, und wir wurden beobachtet. Auf Purscht übte dies zunächst die Wirkung, daß er sich durchaus auf seinen Zylinder setzen wollte und dann, als Roithner dies mit sanfter Gewalt verhütet hatte, mit geschlossenen Augen dasaß.

Ich ließ meinen Blick über die Logen schweifen. Da mußten sie sitzen, und ich dachte: ›Kratochwils wirst du doch erkennen.‹ Richtig, da waren sie in der Loge rechts, wenige Schritte von unsern Sitzen.

Ein Kunststück war's nicht, sie herauszufinden. Der tschechische Polizeibeamte ist ein Typus: das stumpfe Amtsgesicht mit den breiten Backenknochen, den runden, von buschigen Brauen umschatteten Augen, dem kurzen, borstigen Schnurr- und Backenbart, der nach aufwärts gereckten Knollennase, dem plumpen Kinn, das in der hohen schwarzen Binde zwischen den Vatermördern verschwindet – man trifft's zwischen Elbe und Adria wirklich nicht bloß in den Witzblättern, sondern auf allen Wegen. Der eine ist dick, der andre dünn, der eine blond, der andre schwarz, der eine lustig, der andre trüb, aber sie gleichen sich doch wie Brüder, was vielleicht der Gesichtsausdruck bewirkt, der allen gemein ist, der Ausdruck einer gewissen feierlichen Borniertheit. So würdevoll freilich wie Herr Kratochwil nun auf seinem Logenplatz dasaß, in schwarzem Rock und weißer Weste, unter der sich ein Spitzbäuchlein mächtig wölbte, sehen selbst unter seinen Amtsgenossen nicht viele aus. Und auch diese nur in dem Augenblicke, wo ihnen ein recht armer Sünder vorgeführt wird. Möglich, daß er diese Empfindung hatte, als er nun meinen armen Matthias anstarrte.

Das tat auch die dicke Frau an seiner Seite, sie hielt sogar die Lorgnette vors Auge, aber sie gefiel mir doch weit besser, trotz des überbreiten Gesichts mit der niedrigen Stirn und dem in drei Etagen abfallenden Unterkinn, trotz des Juwelenladens auf dem Seidenkleid und den ringbedeckten, fetten Fingern. Es war etwas Gutes, Gemütliches in dem Gesicht – so sehen die Wiener Fleischerfrauen aus. ›Auch du bist‹, dacht' ich, ›sicherlich zwischen Würstchen und Karbonaden erblüht.‹

Aber im nächsten Augenblick wandelten sich meine Empfindungen für die Dicke. Enttäuscht, ja zornig ließ sie die Lorgnette fallen, fächelte sich dann mit dem Fächer heftig Kühlung zu, und der Blick, den sie Roithner zuwarf, war ein Dolchstoß: Was? So an schiechen Traumichnöt für meine Paulin?

›Gemach‹, dachte ich, ›wie sieht denn dein Fräulein Tochter aus?‹ Im Sitzen konnte ich zwischen den beiden nur eine blaue Schleife im schwarzen Haar erkennen, so erhob ich mich von meinem Eckplatz und sah hin.

Eine Sekunde genügte – oh! oh! Und dann wandte ich mich zu Roithner und warf ihm einen Blick zu, der ihn hinschmettern mußte, wenn er nicht von Eisen war. Er schien aber von Eisen, denn er lächelte nur. »Ein netter, kleiner Käfer, was? Gefällt Ihnen wohl selber?«

»Herr«, schnarrte ich, aber da hob sich der Vorhang. Das Gesinde der Montecchi und Capuletti hänselte und raufte sich. Romeo klagte dem Benvolio seine Liebesnot, die alte Gräfin bereitete Julia auf die Werbung des Paris vor, mir aber war schon beim ersten Akt der Tragödie zumute wie sonst erst beim fünften. Mitleid und Entsetzen erfüllten mein Herz. Mein ahnungsloser Freund aber kam im Halbdunkel langsam wieder zu sich, öffnete die Augen und blickte auf die Bühne, dann jedoch verstohlen auf die Logen hin und fragte endlich flüsternd: »Wo sind sie?«

»Matthias«, erwiderte ich ebenso leise, »begehre nimmer und nimmer zu schauen.«

»Ist sie . . . schlecht gewachsen?«

»Wenn's nur das wäre! Aber sie ist überhaupt nicht gewachsen!«

Er fuhr zusammen. »Nicht ge-«

Aber da brachten uns die Nachbarn durch ein energisches »Pst!« zum Schweigen. Romeo tauschte eben mit Julia seinen ersten Kuß.

Als der Vorhang gefallen war und das Haus sich erhellte, machte mein Matthias flugs die Augen wieder zu. Da aber faßte ich seine Hand. »Blick hin, Matthias!« Ich bezeichnete ihm die Loge. »Und das soll deine Strafe sein.« Er blieb aber sitzen und blinzelte nur scheu nach rechts.

Herr Roithner musterte uns lächelnden Blickes. »Ihr Freund hat recht«, sagte er wohlwollend. »Dazu sind Sie ja hier. Auch kann sich die junge Dame wirklich sehen lassen.«

›Allerdings‹, dachte ich, ›sogar gegen Eintrittsgeld.‹ Laut aber wiederholte ich nur: »Auf, Matthias!« Es blieb vergeblich, er wurde nur immer röter und röter, wie wir so von rechts und links auf ihn einsprachen, bis der zweite Akt begann.

Erst das Dunkel machte ihn wieder mutiger. Während Romeo mit Julia im Garten koste, reckte er den Hals und spähte nach der Loge. Plötzlich seufzte er tief auf, wandte sich ab und folgte nun der Vorstellung.

Nachdem der gute Frater Lorenzo die Liebenden zusammengegeben hatte und der Vorhang gefallen war, drängte alles in die Korridore hinaus; nach dem zweiten Akt war die große Pause. Auch Kratochwils waren aus ihrer Loge verschwunden. Mein Matthias hingegen schien kein Bedürfnis nach frischer Luft zu haben. Aber da faßte ich seine Hand und zog ihn sachte hinaus; wehren konnte er sich nicht, da Roithner von hinten nachdrängte. Diese Bundesgenossenschaft kam mir unerwartet. Mir lag daran, daß Matthias die junge Dame schon jetzt aus der Nähe sehe, aber warum half mir Roithner?

Gleichviel, er half. Denn draußen übernahm er die Führung und lenkte uns so, daß wir dicht an Kratochwils vorbei mußten. Beide Häuflein kamen im Gänsemarsch gezogen: Roithner, »Großvater« und ich, und uns entgegen Frau Kratochwil, Fräulein Pauline und endlich der Polizeikommissär. Es sah aus, als hätten ein mächtiger Dampfer und ein dräuendes Kriegsschiff eine winzige Schaluppe in die Mitte genommen. Während der breite Dampfer schnaubend vorbeizog, litt ich, daß Matthias die Lider geschlossen hielt, dann aber kniff ich ihn in den Arm, daß er sie weit aufriß und die Schaluppe sehen mußte, die mit gesenkten Wimpeln vorbeiglitt.

»Nun?« fragte Roithner triumphierend. »Aber – später, Herr Professor, Sie sollen mir Ihr Entzücken später sagen.« Und er eilte Kratochwils nach.

»Nun?« fragte auch ich, als wir wieder allein waren, und zog Matthias in eine Ecke. Er trocknete sich mit einem meiner drei Taschentücher den Schweiß von der Stirn. »Ich . . . ich glaube, sie ist nicht groß.«

»Nur zu wahr!« erwiderte ich. »Du erinnerst dich wohl noch an Amanda, die schöne Zwergin, die wir am letzten Sonntag im Wurstelprater gesehen haben?«

»Oh, die war viel kleiner!«

»Schön«, sagte ich, »ein paar Millimeter sollen alte Freunde nicht trennen. Amanda war wirklich noch kleiner, aber dafür im Vergleich zu deiner Zukünftigen von einer wahrhaft berauschenden Üppigkeit der Formen.«

Er seufzte tief auf. »Auch recht brünett ist sie.«

»Wieder nur zu richtig. Ich habe in meinem ganzen Leben nichts Schwärzlicheres gesehen.«

Die Klingel ertönte, wir kehrten auf unsere Plätze zurück. Roithner aber kam während des ganzen Akts nicht wieder, er blieb bei Kratochwils in der Loge. Freilich ward er nicht sichtbar, weil er im Hintergrunde oder im Korridor abwechselnd mit dem Kommissär oder dessen Frau verhandelte.

Eine ganze Weile saß sogar Paulinchen allein da. Sie starrte nach der Bühne, aber viel hörte sie wohl von dem unsterblichen Streit nicht, ob es die Nachtigall oder die Lerche gewesen. Und folgte sie der Handlung, wie mochte dies Hohelied der Liebe in diesem Augenblick auf sie wirken?! Sie wußte, was vorging, man sah es ihrer gedrückten Miene, der befangenen Haltung an. Und vielleicht war's nicht das erste, vielleicht das zehnte Mal in ihrem Leben, daß sie so in der Loge saß, während die Eltern und Roithner über ihr Schicksal verhandelten. Mich faßte plötzlich ein Mitleid mit dem armen Geschöpf, das ja schließlich nichts für sein Äußeres konnte. Freilich, eine Augenweide war sie nicht. Zug um Zug glich sie dem Vater, nur daß sich bei ihr Brauen und Mundwinkel ebenso auffallend nach oben bogen wie bei ihm nach unten. Das gab dem kleinen, hageren Gesicht den Ausdruck ewigen lächelnden Staunens, der sich doppelt seltsam ausnahm, wenn sie, wie offenbar jetzt, recht betrübt war. Auch meinem Matthias war nicht wohl zumute. Es geschah schwerlich aus Mitgefühl mit Juliens Los, wenn er während der Strafrede des alten Capulet gegen die Tochter immer wieder tief aufseufzte. »So stöhne doch nicht so!« flüsterte ich ihm endlich zu. »Natürlich gehen wir nicht zum ›Alten Stroblkopf‹.«

»Nein!« erwiderte er. »Aber es ist schade. Alles andere hätte so gut gepaßt!«

Knapp ehe der Vorhang fiel, kehrte Frau Kratochwil wieder auf ihren Platz zurück, hochrot im Gesicht und sichtlich nicht in angenehmster Stimmung. Dann flüsterte sie der Tochter etwas zu, worüber auch diese nicht eben glücklich schien. Endlich nahm auch der Herr Kommissär seinen Platz wieder ein, beantwortete einen vorwurfsvollen Blick seiner Gattin mit einem Achselzucken und sah dann starr vor sich nieder.

Was da vorging, war nicht allzuschwer zu erraten. Dieselbe Empfindung, die den guten Purscht beim Anblick des Mädchens ergriffen hatte, erfüllte offenbar auch Frau und Fräulein Kratochwil.

»Zwei Seelen und ein Gedanke.
Zwei Herzen und ein Schlag!«

– das Dichterwort hatte sich erfüllt. Sie wollten auch nicht zum ›Alten Stroblkopf‹. Aber da hatte Roithner mit Kratochwils Hilfe gesiegt – sie mußten hin.

Als Roithner sichtbar wurde, stand ihm der Ärger noch deutlich auf dem Gesicht zu lesen. Freilich verzog er es flugs ins Strahlende, als er wieder neben uns Platz nahm. »Ich gratuliere«, sagte er herzlich und faßte Matthias' Hand. »Ich sage Ihnen offen, ich habe mir von Ihrer Unterhaltung, Ihrem Charakter Eindruck versprochen, aber von Ihrem Äußeren eigentlich« – er räusperte sich – »eigentlich auch, aber weniger! Und nun schwärmen die Damen von Ihnen, wirklich – sie schwärmen. ›Man sieht ihm gleich den geistvollen Gelehrten an‹, sagte Fräulein Pauline, und Frau Kratochwil meinte, sie sähen so solid, so vertrauenerweckend aus. Nun, ich konnte den Damen ja zum Glück ähnliches von Ihrem Enthusiasmus –«

»Das konnten Sie freilich«, fiel ich ihm ins Wort. »Warum auch nicht? Es war ebenso wahr wie alles, was Sie uns von drüben erzählen.«

Herr Roithner lächelte. »Pardon! Doch nicht! Hier kann ich die volle Wahrheit sagen, drüben mußte ich ein wenig aufschneiden. Nur ein wenig! Denn die junge Dame gefällt Ihnen ja wirklich.«

»Hm!« Matthias räusperte sich verlegen.

»Bitte, sprechen Sie nicht! Wozu auch! Ich weiß ohnehin alles!«

»Alles?« fragte ich. »Auch daß mein Freund nicht zum ›Alten Stroblkopf‹ kommt?«

Herrn Roithners Lächeln ward zum Lachen, zum herzlichen, harmlosen Lachen. »Gut! Sehr gut! Was die Herren von der Feder für Einfälle haben! Eine solche Mitgift, eine solche Familie, ein so gebildetes, häusliches Fräulein – da müßte der Herr Professor ja rein ver . . . Pardon! Hahaha! So lachen Sie doch auch, Herr Professor!«

Aber Matthias lachte nicht. »Herr Roithner«, begann er. »Nämlich – allerdings – bei näherer Überlegung –«

»Ah so?!« rief Roithner lachend. »Sie wünschen mich noch unter vier Augen zu sprechen? Bitte!« Der Vorhang zum vierten Akt hob sich eben. »Aus der Komödie machen wir uns ja beide nichts!« Und flugs hatte er Matthias zur Bank hinausgedrängt und war mit ihm im Korridor verschwunden.

Erst kurz vor Beginn des letzten Aktes traten die beiden wieder ein. Ein Blick auf ihre Miene, und ich sah, daß Roithner gesiegt hatte, denn Matthias schlug die Augen nieder, und der Privatier nickte mir mit seinem liebenswürdigsten Lächeln zu. ›Lächle nur‹, dachte ich. ›Wenn die dicke Frau da meinem Matthias den Standpunkt klarmacht, nützen dir all deine Lügen nichts mehr.‹ In der Tat, wie sie nun mit purpurrotem Gesicht dasaß und hinter dem Fächer auf den Gatten einsprach, sah sie ganz danach aus, als ob sie das gründlich könnte. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht, und sie winkte mit dem Fächer Roithner herbei. Sie hatte gesiegt!

Auch dem Privatier war dies anzusehen. Er wurde blaß und biß sich auf die Lippen. Schon während der Schlußworte des Prinzen erhob er sich. »Auf Wiedersehen! Ich komme nach!« Und er stürzte in die Loge.

Als ich mit Matthias auf dem Michaelerplatz vor dem Theater stand, begann ich: »Nun, Großvater?«

»Zum . . . zum ›Alten Stroblkopf‹«, sagte er stotternd.

»Dann brichst du aber dein Wort!«

»Doch nicht!« verteidigte er sich zaghaft und betrübt. »Du sagtest – hm! ›menschenähnlich‹, sagtest du. Und das wirst du doch – hm! – gelten lassen.«

Ich mußte laut auflachen. Dann aber redete ich ihm ernst ab, wenn auch jetzt nur noch deshalb, um ihm die Demütigung des vergeblichen Harrens zu ersparen. Es nützte nichts. Er wurde nur ungehalten. »Wenn du wüßtest«, sagte er, »wer sich um sie bewirbt. Zwei Advokaten, ein Privatdozent der Medizin.«

»Wenn er Anatom ist, so mag's wahr sein. Aber im Ernst: glaubst du Roithner alles?«

»Dann müßte er ja lügen wie ein . . .« Er suchte nach dem passendsten Vergleich.

»Wie ein Vermittler«, sagte ich.

»Aber es ist doch nicht alles Lüge. Die gute Familie – Kratochwil hat den Franz-Josephs-Orden – und die Bildung und so weiter. Auch hat Roithner recht, sie hat auch äußere Vorzüge, hübsche Augen, sehr reiches Haar –«

»Das ist wahr«, sagte ich. »Um ihr Schnurrbärtchen hätte ich sie noch als Fuchs sehr beneidet.« Und den Ton hielt ich fest, obwohl er ihn verdroß. ›Er wird's mir danken‹, dachte ich, ›wenn's erst Mitternacht ist und wir noch immer allein dasitzen.‹

Es schien so zu kommen. Wir hatten im Restaurant auf Purschts Wunsch an einem großen Tisch im letzten Zimmer Platz genommen, wo es wenig Gäste gab. Unser Abendessen war verzehrt, es ging auf elf, und niemand kam. Immer unruhiger rückte Matthias hin und her. »Es wird doch kein Mißverständnis sein!« murmelte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wärst du denn wirklich unglücklich«, fragte ich, »wenn sie nicht kämen?«

»Nein«, gestand er. »Eigentlich im Gegenteil – im Gegenteil. Von allem andern abgesehen – mir ist so bang davor. Aber der Aufschub nützt ja nichts. Dann muß es eben nächsten Sonntag . . .« Da zuckte er zusammen, und die kleinen Augen wurden starr.

Ich wandte mich um. Roithner hatte den Kopf ins Zimmer gesteckt und blieb wie vor Staunen gebannt stehen, als er uns erblickte. »Was, Teufel!« rief er. »Da sitzen Sie? Und wir im Extrazimmer! Seit einer Stunde! Aber ich sagte Ihnen doch, lieber Herr Professor: Ex-tra-zim-mer!« Er betonte jede Silbe.

»Pardon«, erwiderte Matthias fest. »Im letzten Zimmer geradeaus, sagten Sie!«

»Sie irren!«

Da zog mein ehrlicher Matthias sein Notizbuch hervor. »Wichtige Dinge pflege ich mir immer aufzuschreiben. Sehen Sie her: das habe ich mir gestern nach Ihrem Diktat notiert!«

»Wirklich?!« rief Roithner und schlug sich dann auf die Stirn. »Aber bitte, meine Herren, kommen Sie nun, kommen Sie, die Herrschaften sind schon ganz mißvergnügt vor Ungeduld.«

Das schien allerdings der Fall. Als wir in das Extrazimmer traten, erwiderte nur Kratochwil unsern Gruß, würdevoll und gemessen, jeder Zoll ein kaiserlich-königlicher Polizeikommissär, aber es war doch ein sichtbares Neigen des Hauptes. Für die Dicke zu seiner Rechten, das Töchterchen zu seiner Linken waren wir Luft. Purscht bemerkte es freilich nicht. Er war als der letzte in das kleine Zimmer gestolpert, in dem die drei als einzige Gäste saßen, und stand nun dunkelrot und schwer atmend da, das mitgebrachte halbgeleerte Bierglas fest an die Brust gepreßt.

»Die Herrschaften gestatten«, rief Roithner und stellte uns vor. »Wie der Zufall spielt! Da treffe ich meine jungen Freunde hier wieder, die Herren waren nämlich auch im Burgtheater! Und da habe ich sie gleich mitgebracht. Bitte, nehmen Sie Platz!«

Ich setzte mich auf seinen Wink neben die Dicke, er selbst nahm seinen Platz Kratochwil gegenüber ein, so blieb für »Großvater« nur der Stuhl neben dem Fräulein. »Bitte, Herr Professor!« Aber es währte lange, bis Matthias endlich dasaß. Dem armen Kerl schwamm es offenbar vor den Augen, denn er setzte sein Bierglas auf ein Salzfaß, daß es überschlug und die braune Flut auf sein Beinkleid floß. »Tut nix!« rief Roithner fröhlich. »Das bedeutet Kindstauf' – Hochzeit!« verbesserte er sich hastig. Und er reichte dem Ärmsten seine Serviette.

Frau Kratochwil war bisher schweigsam, wenn auch nicht geräuschlos dagesessen, denn sie atmete recht hörbar. Nun aber tat sie den Mund auf:

»Meinen S', Herr von Roithner? Manchmal bedeutet's auch nur Ungeschicklichkeit!«

»Allerdings«, stimmte der Privatier liebenswürdig zu. »Aber – was wollt' ich nur sagen? Richtig, wir sprachen vorhin über das Stück. Wie hat's denn Ihnen gefallen, Herr Professor?«

Matthias hatte noch mit seinem Beinkleid zu tun, war aber wohl auch sonst nicht in der Verfassung, seine Ansichten über »Romeo und Julia« eingehend darzulegen. Er fuhr bei Roithners Frage zusammen, schnappte nach Luft und sagte dann stockend: »Es ist . . . eine Tragödie . . . von Shakespeare . . .«

»Was Sie nöt sagen?!« rief die Dicke. »Und wir haben gedacht, es ist eine Posse von Nestroy.«

Da fühlte ich mich verpflichtet, einzugreifen. »Das war dann ein Irrtum, meine Gnädige«, erwiderte ich. »Es ist wirklich eine Tragödie von Shakespeare. Und kein gebildeter Mensch wird auf Herrn Roithners Frage eine andere Antwort geben als die ironische meines Freundes. Denn Gebildete unterhalten sich nicht darüber, ob ›Romeo und Julia‹ ein gutes Stück ist . . . Meinen Sie nicht auch, mein Fräulein?«

Pauline wurde rot. »Ja . . . Ein großer Dichter!« Sie hatte ein Quiekstimmchen, dessen Dünne zu allem andern an ihr paßte.

»Die kennt sich aus!« sagte Frau Kratochwil voll mütterlichen Stolzes. »Sie kann ja aber auch diesen Schöcksbier auf französisch lesen.«

»Englisch, Mama!«

»Aber doch auf französisch auch? Warst ja fünf Jahre bei die Sakrekör (Filles du Sacré-Cœur, ein klösterliches Erziehungsinstitut in Wien). Und mit 'n Schöcksbier hat sie's besonders. Vor zwei Monat' hab'n mir die schreckliche G'schicht von ihm anhören müssen – wie heißt's nur – wo der Baumeister als Bauer so rabiat wird?«

»Der Richter von Zalamea«, half ich höflich ein. Jetzt gefiel mir die Frau ganz gut.

»Na also, und jetzt hat sie wieder gepenzt und gepenzt: ›Romeo und Julia‹ – sie muß, sie muß! Der Krastel soll so gut sein und die Bognar – und überhaupt so a Stuck hat selbst der Schöcksbier nöt mehr g'schrieben, sagt sie, er hat's als junger Mensch g'schrieben, sagt sie, es is voller – was hast du gesagt, daß es voller is?«

»Voll Lyrik, Mama«, sagte Pauline.

»Richtig! Und jetzt grad hast ja noch was g'sagt. Wirklich was Hübsches. Sag's doch, Mädel, genier dich nöt.«

»Aber Mama!«

»Ich schaff' dir's aber!« rief Frau Kratochwil energisch. »Geh, Mann«, wandte sie sich an den Gatten, »schaff du's ihr. Na, wird's?!«

»Ich meinte«, quiekte Fräulein Pauline mit niedergeschlagenen Augen, »– aber ich traue mich wirklich nicht, es ist mir ja nur so durch den Kopf gegangen, ich meinte: ›Romeo und Julia‹ ist das glühendste, süßeste und leidenschaftlichste von Shakespeares Werken.«

»Na, was sagt man dazu?« rief Frau Kratochwil und legte mir die Hand auf den Arm. »Wie kommt sie nur auf so was? Woher hat sie das? Können S' mir sagen, woher?«

Wie gesagt, die dicke Frau gefiel mir nun sehr, und weil ich ihre Frage zufällig wirklich beantworten konnte, so hielt ich mich verpflichtet, dies zu tun. »Das hat Ihr Fräulein Tochter«, erwiderte ich also, »aus Meyers Konversationslexikon.«

Undank ist der Welt Lohn. Frau Kratochwil wandte sich zornig ab, und Fräulein Pauline war gleichfalls ungehalten.

»Na, jetzt haben wir aber genug vom ›Hecheren‹ (Höheren) geredet!« rief Herr Roithner in dies Schweigen hinein. »Darf ich Ihnen was Lustig's erzählen? Mein Barbier hat jetzt den persischen Sonnen- und Löwenorden gekriegt! Und wissen S', warum?!«

Herr Kratochwil war bisher schweigend und würdevoll dagesessen, nun aber nahm er eine geradezu imponierende Haltung an. »Ich muß ich serr bitten«, sagte er in seinem harten Tschechisch-Deutsch. »Solche Geschichten passen für Damakraten, nicht hirr. Hirr sitzen zwei gaiseliche Staatsbiamte, ich und der Herr Professor. Über Orden macht man kaine Witz', isse zu hailige Gegenstand . . .«

»Ganz richtig. Aber ein persischer.«

»Isse sich gleich! Orden isse Orden, Majestät hat gegeben. Und ich hab' ich selbst Sonnen- und Lebenorden, sehrr scheene Orden. So isse heutige Zeit! Über Orden macht man Witz', über Staat, sogar über Pulizei! Und was isse Welt ohne Pulizei! Ich bitt' ich Ihne, was? Das hamme hait auf Theater gesehen! Was war in Verona ganze Unglück?! Keine Pulizei!«

»Oh, wie wahr!« rief ich begeistert. Auch mein Matthias benutzte die Gelegenheit, endlich einen Laut von sich zu geben. »So ist es!« sagte er etwas unsicher, aber doch ganz vernehmlich.

»Natürlich!« fuhr Herr Kratochwil geschmeichelt fort. »Muß ja Kind einsehen. Da raufens sich die Bediente von die Grafen immerzu – wu is Pulizei?! Da laufens Romeo und Freunde vermaskiert auf Gassen herum, schleichens sich in fremde Haus – wu is Pulizei? Da klettert Romeo über Mauer – Pulizei sieht nix, hört nix! Romeo hat Schwert, Tybalt hat Schwert, Julia hat Dolich – isse das eine Ordnung?«

»Und von einem Waffenpaß«, fügte ich bei, »ist sogar nirgendwo auch nur die Rede! Kein Mensch denkt daran, und geschieht dann ein Totschlag, so wird der Schuldige verbannt, statt daß ihn die Polizei einsperrt.«

»Sie scheinen S' vernünftige Mann«, sagte der Polizeikommissär außer Dienst wohlwollend. »Aber was war in Verona allergrößte Malhör?! Ungenügende Überwachung des Medikamentenhandels! ›Meine Herren‹, hat mein seliger Chef, der Hofrat Pawlitschek, immer g'sagt, ›ich bitt' ich Sie, schaun S' den Drogisten auf die Finger und den Aputhekern.‹ Dasse hamme auch getan. Aber dort? Lorenzo gibt Schlaftrunk, Aputheker verkauft Gift! Isse Skandal!«

»Wie wahr!« jauchzte ich wieder. »Und wie neu! Das hat ja noch kein Mensch vor Ihnen herausgefunden!«

Herrn Kratochwils dramaturgische Lorbeeren ließen seine Gattin nicht ruhen. »Daran is ja was!« sagte sie. »Aber ich hab' mir immer gedacht: Das größte Unglück is doch der schlechte Dienstbot' im Haus! Nein, diese Amme! Wie die red't, und was die tut! Statt zu der Gräfin zu gehen und ihr zu sagen: ›Geben S' acht auf das Fräulein!‹ lauft sie hin und kuppelt. So a nixnutzige alte Gredl! – No ja, mit schlechte Dienstboten kann man was erleben, das sag' ich immer. Und –«

Fräulein Pauline war schon seit einigen Minuten unruhig hin und her gerückt. »Mama!« sagte sie nun sehr bestimmt, »es geht auf zwölf!«

Die Familie erhob sich und rief nach dem Zahlkellner. Während der Herr Kommissär die Zeche berichtigte, trat Roithner auf die Dicke zu. Aber sie wies ihn kurz ab. »Sie gehn ja mit«, erwiderte sie, »da können wir uns aussprechen.«

›Gottlob‹, dachte ich, ›eingeladen werden wir also nicht!‹ Und so war es auch. Noch mehr, nur der Herr Kommissär versicherte uns, es sei ihm »ein Vergnügen« gewesen. Stumm blieben Matthias und ich noch eine Weile sitzen, tranken unsre Gläser leer und wandelten dann ebenso schweigsam ins Café Troidl. Auch da wollte sich lange kein Gespräch finden. Endlich fragte er: »Wie – hm! wie erklärst du dir das?«

»Daß sie uns nicht eingeladen haben?« Ich dachte nach. Nein, ich wollte es ihm nicht sagen, er war ja ohnehin verschüchtert genug. »Das ist ja ganz gleichgültig!« sagte ich dann: »Die Hauptsache ist doch, wie du denkst! Würdest du sie nehmen – ja oder nein?«

Er blickte lange schweigend vor sich nieder. »Nein!« sagte er dann. »Ich weiß, ich bin auch kein Adonis . . . Aber die . . . Nein! Und wenn sie eine Million hätte, nein!« Und mit einer Entschiedenheit, die ich wahrlich nicht an ihm gewohnt war, hieb er auf das Marmortischchen, daß Tassen und Gläser aneinanderklirrten.

Als ich am nächsten Morgen an demselben Tischchen frühstückte, war der fleißige Privatier bereits im Lokal. Er erledigte einige ausgiebige Unterredungen mit jungen Advokaturskandidaten, ehe sie ihre Kanzleien aufsuchten, und setzte sich dann zu mir. »Nach der Arbeit das Vergnügen«, sagte er sehr liebenswürdig. »Hoffentlich sind auch Sie nun mit meinem Versuch ausgesöhnt. Denn erstens danken Sie ihm viel Spaß, und zweitens ist er ja gescheitert, was Sie auch nicht kränkt!«

»Nein!« erwiderte ich. »Also Sie geben's auf? Es ist ja auch nichts zu machen. Beide wollen eben nicht. Und eine Ehe ohne Neigung ist ja gegen Ihr Prinzip!«

»Ganz richtig! Aber es ist schade. Ein großer Verlust!«

»Vierhundert Gulden von Purscht. Und was hätte Ihnen der Kommissär gegeben?«

»Ebensoviel. Achthundert Gulden – viel Geld! Gewiß, auch darum tut's mir leid. Mein Gott, man ist Familienvater . . .« Er seufzte tief auf. »Auch hätten ja beide vortrefflich zueinander gepaßt.«

»Na, na«, sagte ich, »nach beiden Richtungen werden Sie Ersatz wissen!«

»Hm!« Er schüttelte den Kopf. »Mit ihr versuch' ich's noch – aber mit Purscht ist nichts zu machen! Ja, wenn er wenig Geld wollte, aber er will viel Geld! Offen gesagt, ich habe ihn nur für Kratochwils herangezogen, und da dies nicht ging – Schwamm drüber!«

Er seufzte nochmals tief auf und empfahl sich.

Als ich meinen Freunden Max und Albin am Nachmittag meine Sonntagsfreuden schilderte, wäre fast ein Buch daraus entstanden. Wir beschlossen, eine Dramaturgie vom Standpunkt der Polizei zu schreiben, aber dann lockte uns wieder die Dienstbotenfrage in der tragischen Dichtung. Und so wurde doch nichts daraus, weil für jeden der beiden Pläne der Stoff zu reichlich floß.

Mit einiger Spannung sahen wir Purschts Erscheinen am nächsten Mittwoch entgegen. Aber er blieb aus und ließ sich auch in nächster Zeit nicht blicken. Und als nun vierzehn Tage seit jenem Theaterabend verstrichen waren, da dachte ich: ›Der arme Kerl würgt an seiner Blamage und vermeidet dich darum. Das darf nicht sein!‹ Ich beschloß, ihn am nächsten Sonntagmorgen in seiner Wohnung aufzusuchen.

Da brachte am selben Morgen die erste Post einen Brief von ihm. Ohne sonderliche Neugierde entfaltete ich das Blatt und – prallte zurück. Denn der Brief lautete kurz und bündig:

»Lieber Freund! Ich habe mich gestern abend mit Fräulein Pauline Kratochwil verlobt. Sie und ihre Eltern bitten Dich, heute nachmittag drei Uhr bei ihnen zu speisen. Rasumowskijgasse 5, I. Stock links. Sonst nur Familie, aber Du bist ja mein ältester Freund.

Dein Matthias.

Ich bin sehr zufrieden. Wenn das meine Eltern erlebt hätten!«

Ich las zum zweiten, zum dritten Male, aber von den steifen, verschnörkelten Buchstaben rückte keiner von seinem Platze. Es war wirklich so, »Großvater« hatte sich mit Fräulein Kratochwil verlobt, und »Großvater« war sehr zufrieden. Er war's, sonst hätte er's nicht geschrieben.

In einem seltsamen Zwiespalt der Empfindungen ging ich ins Café. Auf dem Wege dorthin kam mir's erst zum Bewußtsein, wie geflissentlich mich Roithner in den beiden letzten Wochen vermieden hatte. Jetzt aber trat er, kaum daß ich Platz genommen hatte, freudestrahlend auf mich zu.

»Ich gratuliere«, sagte ich. »Achthundert Gulden . . . Ist aber auch dem armen Matthias zu gratulieren?!«

»Und ob! Die beiden sind ja wie füreinander geschaffen!«

»Aber wie in aller Welt ist es Ihnen schließlich doch gelungen? Sie hatten's ja schon aufgegeben!«

»Bewahre! Etwas aufgeben, was so vernünftig, so in jeder Beziehung passend war?! Da kennen Sie den Roithner schlecht! Ich sagte das Ihnen, weil ich –« Er lachte. »Nun ja! Unbequem ist ja in derlei Sachen jeder Unbeteiligte, und nun gar einer, der – verzeihen Sie – die Dinge nicht so sieht, wie sie sind . . . Was stand denn zwischen den beiden? Sie fanden ihr Äußeres gegenseitig nicht bezaubernd, und weil sie darin beide nicht unrecht hatten, so sprach eben dies für die Sache!«

»So?! Aber die ›Neigung‹?!«

»Eben darum! Wäre Aussicht auf Neigung vorhanden, wenn ich Fräulein Kratochwil einen Adonis zugeführt hätte und Herrn Purscht eine Venus?! So ist sie vorhanden! Noch mehr, schon jetzt gefallen sie einander recht gut. Sie werden ja sehen!«

Natürlich fuhr ich sofort zu Matthias, um ihm Glück zu wünschen. Er war noch zu Hause und vollendete eben seine Toilette, indem er eine weiße Krawatte von unerhörten Dimensionen umlegte. Bei meinem Anblick wurde er ein wenig verlegen, schüttelte mir dann aber freudestrahlend die Hand. »Du – du warst wohl etwas erstaunt?« fragte er dann. »Denn vor heut vierzehn Tagen war ich ja zuletzt noch unentschieden . . .«

»Ja – a!« sagte ich langgedehnt und nicht wenig verblüfft. Mein Matthias sagte sonst immer die Wahrheit.

Aber er log auch diesmal nicht bewußt. »Das heißt«, sagte er, »im Innern« war ich unentschieden. Dir sagte ich wohl in meinem Ärger noch ganz andres. Denn ich ärgerte mich wirklich, als sie gingen, ohne uns zu einem Besuch aufzufordern. Das sah ja wie eine Ablehnung aus, war's aber wahrhaftig nicht. Roithner klärte mich schon am nächsten Tage auf. Der Grund – aber das darfst du nicht übelnehmen –«

»War ich!« ergänzte ich. »Aber darf ich dann heute.«

»Wie du nur so reden kannst! Meine liebe Paulitschka – mein Schwiegervater, der Herr Kommissär, nennt sie so, und ich will mir's auch angewöhnen, weil ich den Namen so herzig finde –, meine Braut also sagte mir gestern: ›Dein Freund ist unser Freund! Und‹, sagte sie, ›jemand muß doch den Toast auf meine Eltern sprechen.‹ Du siehst, du bist herzlich willkommen . . . Du wirst doch sprechen?«

»Unter einer Bedingung«, sagte ich. »Du erzählst mir haarklein, wie sich eure Herzen gefunden haben!«

»Gern, aber du wirst enttäuscht sein, denn es ist alles so verständig und ordentlich zugegangen. Am Montag also lud mich Roithner ein, des Abends mit ihm ins dritte Kaffeehaus im Prater zu gehen. Kratochwils waren da, ich unterhielt mich fast nur mit dem Herrn Kommissär. Er war sehr liebenswürdig und fragte mich nach meinen verstorbenen Eltern, meinem Beruf, meinen Aussichten für die Zukunft. Meine Braut tat, als interessiere sie dies nicht, und Frau Kratochwil meinte sogar, sie sei nur auf Befehl ihres Mannes in den Prater gegangen, auch lud mich der Herr Kommissär diesmal noch nicht ein, aber Roithner klärte mich dann auf. Die Damen wollten mir eben nicht zeigen, daß ich Eindruck gemacht hatte. Auch mußt du bedenken, daß Frau Kratochwil eine geborene Weißkappel ist. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, was das bedeutet.«

»Gewiß! Erste Wiener Fleischhackeraristokratie!«

»Ja. Die Einladung aber hatte er vergessen.«

»Und deine Braut gefiel dir nun?«

»Nein, damals noch nicht. Erst so allmählich. Es ist ein Gesicht, das sehr gewinnt, wenn man es öfter sieht. Paulitschka meint, ich hätte auch ein solches Gesicht. Nun, am Dienstag waren Roithner und ich im Zirkus Renz und Kratochwils auch. Da wurde ich eingeladen, machte auch schon am nächsten Tage meinen Antrittsbesuch, und von da ab sahen wir uns fast täglich.«

»Und nun sprachst du natürlich auch mit den Damen?!«

»Ja, das heißt mit Frau Kratochwil, Paulitschka war sehr schweigsam, und du weißt, ich bin leider nicht sehr gewandt. Aber schon am vorigen Sonntag wagte ich eine Anspielung – und mit Erfolg. Ja wirklich! Wir sprachen über Familiennamen, und der Herr Kommissär meinte: ›Kratochwil ist häufig, aber Kratochwil ist schön.‹ Und darauf ich zu ihr gewendet: ›Purscht ist selten, aber leider nicht schön!‹ – Weiß Gott, woher ich den Mut dazu nahm, aber ich sagte es. – Und darauf sie: ›Ja!‹ und wurde rot und ging aus dem Zimmer.«

»Das war alles?« fragte ich.

»Aber, mein Gott, was noch?! Bin ich ein Romeo und sie eine Julia?! Nun, und so sprachen wir auch in den nächsten Tagen über verschiedenes, und gestern ging ich auf Roithners Rat hin und hielt um sie an.«

»Wie nahm sie dein Geständnis auf?«

Er räusperte sich. »Offen gesagt, ich habe ihr eigentlich nichts gestanden. Ich kam um zwölf hin, und da war sie zufällig allein im Salon. Als ich eintrat, wurde sie, soviel ich sehen konnte, sehr verlegen und fragte dann: ›Warum im Frack, Herr Professor?‹ Darauf wollte ich etwas sagen, konnte aber nicht, und wie wir so dastanden, traten ihre Eltern ein und segneten uns.«

»Und du bist zufrieden?«

»Ja!« sagte er. »Denn es ist eine für mich durchaus passende Partie. In fast allen Beziehungen sind meine Wünsche erfüllt, in einer sogar übertroffen.«

Damit schieden wir. Er ging in die Rasumowskijgasse und ich heim, mich umzukleiden. Allzugern tat ich's nicht, in der Komödie mitzuspielen, machte mir geringes Vergnügen. Denn es schien mir auch jetzt eine recht, recht traurige Komödie . . . Ich mußte immer – kaum wußte ich selbst warum – an meinen alten Lehrer Wenzel Purscht denken, und wie ich zuletzt sein Antlitz verklärt im Sarge gesehen. ›Was deine Züge leuchtend gemacht, armer alter Schulmeister‹, dachte ich, ›war der Gedanke an das Glück deines Sohnes, aber du hast dabei an ein andres Glück gedacht, als ihm nun wird, das stille, echte Glück, das uns nur dann zufällt, wenn wir allzeit redlich tun, was unser Herz uns gebietet. Wer weiß, ob es gar so zu bedauern ist, daß du die Verlobung deines Matthias nicht erlebt hast. In fast allen Beziehungen sind seine Wünsche erfüllt und in einer sogar übertroffen, aber du, armer alter Schulmeister, wärest darüber vielleicht doch nicht entzückt gewesen.‹

Als ich um drei Uhr vor dem Hause der Rasumowskijgasse aus dem Wagen stieg, empfingen mich freundliche Zurufe einer ebenso stattlichen als erlesenen Gesellschaft, die sich vor dem Haustor versammelt hatte. »Der is noch nöt recht ausg'füttert!« riefen die einen. »San S' auch a Fleischhacker?« fragten die andern. »Aber na, er hat ja Glasaugen (Brille), der is nur a Lehrer!« riefen die dritten. Es war die liebenswürdige Jugend der Gasse, die ihrer Teilnahme an dem Kratochwilschen Feste Ausdruck gab. »Nur a Lehrer« schien auch der Lohndiener im Vorzimmer zu denken, denn er musterte mich fast mitleidigen Blicks. Dieser Blick und die Zurufe des freiwilligen Empfangskomitees wurden mir verständlich, als ich den Salon betrat. Verblüfft, verschüchtert blieb ich stehen. Alle Wetter, eine so wohlgenährte Festgesellschaft hatte ich noch nie beisammen gesehen. Etwa zwanzig ältere Damen und Herren, von denen keiner unter drei Zentner wog, daneben einige junge Herrschaften beiderlei Geschlechts, die eine mindestens ebenso gedeihliche Entwicklung für die Zukunft verbürgten. Kein Wunder, daß der Raum eng war und ich nicht hätte vorwärts kommen können, selbst wenn ich nicht durch die Ehrfurcht vor solchen Massen von Frauenschönheit und Manneswürde an der Tür festgebannt geblieben wäre.

Da gewahrte mich ein etwa sechzehnjähriger Jüngling, der gleichfalls wie ein überfütterter junger Bacchus aussah, und drängte sich zu mir durch. »San Sö der Herr«, fragte er, »der die Red' halten soll? Der Freund von mein' Schwagern?« Also der Sohn des Hauses. »Schieben S' nur mir nach!« Und er geleitete mich zu Herrn und Frau Kratochwil. »Muatta, der Schurnalist!«

Sie empfingen mich herablassend, aber nicht ohne Wohlwollen. »Ja, ja!« erwiderte der Herr Kommissär mit liebenswürdigem Humor auf meinen Glückwunsch. »Das hätte mir bei ›Alte Stroblkopf‹ nicht gedacht. Aber solche Malhör is bald g'schehn. Denn warum? Wo Zucker is, seins auch gleich Fliegen da. Kummte da fremde Mensch, nimmte mir meine Paulitschka weg!« Frau Kratochwil aber sagte: »Zu gratulieren is eigentlich mehr Ihrem Freund als wie uns! Aber wann sich a Madel verliebt, was will man machen?! Was lachst, du Mistbub?« fuhr sie den Sohn an.

»Verliebt?!« grinste der Jüngling. »Was hab'n der Vater und der Roithner in sie hineing'redt, bis sie –«

»Halt's Maul!« rief sie heftig, »sonst –« Sie erhob die beringte Hand. »So a freche Lug'! Wissen S', die andern kennen unsern Schurschl schon, aber Ihnen muß ich's sagen: halt a kecker Schnabel!«

»Natürlich! Der junge Herr ist noch Gymnasiast?«

»Nein! An Kopf fehlt's nöt, aber er hat halt nöt g'wollt. Jetzt ist er bei mein'n Bruder Weißkappel in der Lehr'.«

»Oh«, sagte ich, »das ist ein sehr nahrhafter Beruf. Aber wo ist das Brautpaar?«

Sie blickte sich um. »Richtig! Da sind s' wieder ausg'rückt und schmatzen sich irgendwo ab. Wahrscheinlich da.«

Sie deutete auf das Nebenzimmer und schob mich, als ich zögernd stehenblieb, mit kräftigem Ruck in die Richtung. »Stören Sie sie nur! Und essen gehn mir noch lang nöt! Wir erwarten noch die Herren Kollegen von meinem Mann, den Herrn Hofrat Nawratil und den Herrn Oberkommissär Pritschkowski.«

»Oh!« murmelte ich ehrfürchtig und trat dann in das nächste Zimmer. Es war aber nicht ganz so, wie sie vermutet hatte, das junge Paar hielt nur Blick in Blick versenkt, saß aber auf fünf Schritte Distanz voneinander. Gleichwohl schnellten beide bei meinem Eintritt errötend auf. Er blieb auch verlegen, während sie mich unbefangen begrüßte. So glückte es denn, ein gleichgültiges Gespräch in Gang zu bringen.

Da riß Frau Kratochwil die Tür auf. »Kinder!« rief sie befehlend. Die beiden Würdenträger waren eingetroffen, und das junge Paar wurde ihnen vorgestellt. Herr Nawratil war klein und grau, Herr Pritschkowski war groß und blond, trotzdem sahen beide Herren Kratochwil ähnlich. Unmittelbar darauf ergriff die Hausfrau den Arm des Hofrats, auch die andern Paare formierten sich.

Auf mich trat eine schlanke, nicht mehr ganz junge Dame mit klugem, angenehmem Gesicht zu. »Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle«, sagte sie lächelnd. »Marie Kratochwil, städtische Lehrerin. Ich bin eine Cousine der Braut, ich weiß zufällig, daß Sie mein Tischherr sind.«

Die Tafel war überreich mit schwerem Silbergerät geschmückt. »Der Hausschatz der Weißkappels«, sagte meine Nachbarin. In derselben Tonart nannte sie mir auf meine Bitte – ich war ja niemand vorgestellt worden – die Gäste: »Fünf Weißkappel mit Gemahlinnen, neun junge Weißkappel, ferner vier geborene Weißkappel mit ihren Gatten. Aber Schriftsteller sind immer auf Studien aus – wünschen Sie auch Vornamen und Adressen?«

Ich dankte. »Von Ihrer Familie?« sagte ich dann zögernd.

»Bin nur ich geladen«, erwiderte sie lächelnd. »Meine Eltern nicht. Mein Vater, der Bruder des Hausherrn, ist Schustermeister in der Alservorstadt, meine Mutter war Köchin. So etwas darf man einer Runde von Weißkappels nicht bieten!«

»Aber sie haben ja sonst gleichfalls mit Fellen zu tun«, wandte ich ein, »und mit –«

»Mit Köchinnen auch«, ergänzte sie lachend. »Aber eben darum.« Dann wurde sie ernst. »Sie wundern sich wohl, warum dann ich gekommen bin? Es fiel mir nicht leicht, aber Pauline bat mich darum, und ich bin nicht bloß ihre Cousine, sondern auch ihre beste Freundin. Derlei muß man eben tun, wenn es gewünscht wird. Sie sind ja in gleicher Lage.«

»Ich?!« rief ich verlegen und wollte abwehren. Aber diesen klugen, klaren Augen war nicht standzuhalten. »Sie haben recht«, sagte ich ernst.

Sie nickte. »Das ist ja auch so natürlich. Herr Purscht ist Ihr Jugendfreund, und darum freut es Sie nicht, daß er nach einigem Zögern einzig um der Mitgift willen ein unhübsches Mädchen nimmt. Und mich freut's nicht, daß sich meine brave, kluge Pauline schließlich doch zu der ›Versorgung‹ hat überreden lassen. Nun, unser Trost ist nur: das Unsre haben wir getan, es zu hindern . . .«

Ich mußte lächeln. »Wir führen da ein seltsames Gespräch für ein Brautdiner.«

»Lieber seltsam als unehrlich«, erwiderte sie. »Und wollen Sie mir nun ebenso ehrlich sagen, was Sie von Herrn Purscht wissen?«

Ich tat es und bat dann um das gleiche bezüglich der Braut.

»Wie gesagt«, war die Antwort, »ein braves, kluges Mädchen. Auch ist es in keiner Weise ihre Schuld, daß es nun so gekommen ist. Ich bin neunundzwanzig, sie zwei Jahre jünger. Als ich vor zehn Jahren beschloß, Lehrerin zu werden, bestürmte sie ihre Eltern, mir darin folgen zu dürfen, und aus den gleichen Gründen. Ich wählte einen Lebensberuf, um des entsetzlichen Wartens auf einen Mann überhoben zu sein, und weil ich mir sagte, daß ich vermutlich umsonst warten würde. Ein gebildeter Mann nimmt eine arme Schusterstochter nur aus aufrichtiger Liebe, und wie sollte ich in meinen Kreisen einen solchen Mann kennenlernen?! Für einen Handwerker taugte aber leider ich nicht mehr, dazu hatte ich schon zu viel gelernt. Pauline aber sagte sich: ›Auch ich will selbst was sein. Ich bin zu unhübsch, um eine Neigung einzuflößen, und um meines Geldes willen mag ich nicht genommen werden.‹ Es war umsonst. Der Vater war dagegen, und nun gar die Mutter! Sie sehen, sie kann nichts dafür. Übrigens, wir wollen das Beste hoffen. Es kann ja auch gut ausgehen. Aber gegen die Verwerflichkeit solcher Vernunftehen spräche dies wahrlich nicht! Warum sollte ein Mädchen wie Pauline nicht einen Mann finden, dem sie sympathisch ist und er ihr? Warum Ihr Freund nicht ein solches Mädchen?! Hier aber ist die Grundlage des Glücks die Zungenfertigkeit eines Agenten. Eine schwankende Grundlage!«

Ich füllte unsre Gläser. »Da stimmen Sie gewiß einem kleinen Privattoast zu: Pereat die Roithnerei!«

»Pereat!« stimmte sie lachend ein.

Gleich darauf erhob sich Herr Hofrat Nawratil zu seinem Toast auf das Brautpaar. Er würdigte zuerst die Verdienste, die sich sein alter Freund Kratochwil in vierzigjähriger Dienstzeit namentlich auf dem Gebiet der Fleischbeschau und des Markthallenverkehrs um Österreich erworben. Schon dieser historische Teil der Rede fand vielen Beifall, noch mehr die Würdigung des Brautpaares. »Wie ich höre«, schloß er, »hat ein Zufall, die Begegnung bei dem Stück eines Dichters, den berufene Literaten einen unsterblichen Briten genannt haben, den Bund geknüpft. Liebe und Poesie haben seine Wiege gekrönt, dies ist leider heutzutage eine Seltenheit, um so lauter wollen wir rufen: Hoch das Brautpaar!«

Stürmisch fiel das Geschlecht der Weißkappel ein, nach seiner Auffassung war also eine Liebesheirat äußerst selten. Doch vernahm ich auch einen scharfen Tadel gegen die Rede. »A alter Hofrat«, sagte die dicke Frau zu meiner Linken, »sollt' besser wissen, was sich g'hört. Bei einer Hochzeit darf man von einer Wiegen reden, aber bei einer Verlobung noch lang nöt.«

Diese Kritik, noch mehr das ernste Gespräch mit meiner Nachbarin lähmten meine Schwingen. Ich hatte vorgehabt, die Geschlechter der Kratochwil und Weißkappel mit Enthusiasmus zu feiern, aber das durfte ich nun der armen Braut nicht antun. Ich begnügte mich mit einigen kurzen Sätzen und machte geringen Effekt. »A Schurnalist«, sagte die Kritikerin von vorhin, »sollt' schon schöner reden. Dem kann's ja auf a Lug' mehr oder weniger nöt ankommen!«

Im übrigen verlief das Mittagessen glänzend. Die Fleischberge verschwanden im Nu, der Vöslauer, dann der Champagner flossen in Strömen. Die Unterhaltung wurde immer geräuschvoller und schließlich sehr laut. Das einzige Paar, das schweigend dasaß, waren die Brautleute. Es dunkelte schon, als man sich erhob. Ich drückte mich, so bald ich konnte.

In der nächsten Zeit ließ Matthias nichts von sich hören. Bei dem Dankbesuch, den ich am Sonntag darauf bei Kratochwils machte, waren weder er noch die Braut sichtbar. Wohl aber erfuhr ich bei der Gelegenheit des genaueren, wie sich die Verlobung eigentlich gefügt hatte. Gleichzeitig mit mir war auch eine Dame aus der Nachbarschaft mit ihrer Tochter zur Gratulation erschienen. Auf ihre Frage erzählte meine dicke Gönnerin mit liebenswürdiger Offenheit:

»Das kann ich Ihnen sagen, das darf a jeder wissen! Wir sitzen im Burgtheater bei ›Romeo und Julia‹, Sie wissen, Frau von Kreutinger, das traurige Stuck, wo die Bognar so gut is, und da fallt uns ein junger Mann im Parkett auf, der meine Paulin' immer anschaut, als wollt er sie fressen. Wie wir aus'n Theater gehn zum ›Alten Stroblkopf‹, merken wir, er geht mit noch einem Herrn hinter uns her. Mir war das unangenehm, obwohl's ja nöt das erste Mal war, aber was laßt sich dagegen machen?! Wir setzen uns beim ›Stroblkopf‹ hin, und richtig – in fünf Minuten sind die zwei da, setzen sich zu uns, stellen sich vor. Ein Wort gibt's andere, drei Tag darauf läßt er sich bei uns einführen, acht Tag drauf hält er um die Paulin an. Ordentlich romantisch – daß so was heutzutag noch passiert!«

Frau Kreutinger lächelte süß-säuerlich. »Das muß ich aber gleich der Frau von Hinterpfoitner erzählen – wissen S', was die sagt?!«

»Da bin ich neugierig! Bitte – was?!«

»Aber Sie werden sich ärgern, Frau von Kratochwil!«

»Ich ärger' mich nöt so leicht – also bitte!«

»Sie sagt – aber das is wirklich nicht recht von der Frau von Hinterpfoitner, sonst keine üble Frau, aber das ist nicht recht. Na, sie wird's halt g'hört haben!«

»Na, also – bitte!«

»Sie sagt – aber wie gesagt, 's is gewiß nöt bös gemeint: das hätt' der Roithner gemacht!«

Frau Kratochwil saß starr vor Staunen. »Der Roithner – wer und was is das? Wir kennen kein Roithner!«

»Der Vermittler.«

»Ein Vermittler!« rief Frau Kratochwil. »Ein Mädchen wie meine Paulin und ein Vermittler! Das is unerhört von der Hinterpfoitner! Nein, was die Welt bös is! Aber gottlob, da hab' ich einen Zeugen! Das is von unserm Matthi der Freund, der damals mit war. Bitte, bestätigen Sie's mir. Waren Sie an jenem Abend mit ihm im Burgtheater?«

»Ja!«

»Und dann beim ›Alten Stroblkopf‹?«

»Ja!«

»Na, also! Nein, was die Leut' schlecht sind!«

Die einzigen Nachrichten, die mir seither vom Bräutigam zukamen, erhielt ich durch Roithner. An unseren Tisch setzte er sich nun nicht mehr – es hatte ja nun keinen Zweck – doch flüsterte er mir zuweilen zu: »Es geht alles famos!« Und einmal sagte er mir geradezu: »Sie lieben sich schon! Wenn Sie diese Zärtlichkeit sehen könnten!«

»Danke«, sagte ich. »Ich muß nicht von allem haben. Wann ist die Hochzeit?«

»Sobald er zum Gymnasiallehrer ernannt ist, also hoffentlich Ende Juli. Das arme junge Paar – sie zählen schon die Tage.«

Endlich stand die Ernennung in den Zeitungen, Purscht kam an ein mährisches Gymnasium. Aus diesem freudigen Anlaß gaben Kratochwils ein Abendfest und luden auch mich ein. Ich lehnte unter einem Vorwand ab, machte ihnen aber wieder einen Dankbesuch.

Ganz wie bei dem Verlobungsfest wies mich Frau Kratochwil auch nun ins Nebenzimmer: »Sie tun mir nur einen Gefallen, wenn Sie die ewige Schmatzerei unterbrechen!« Aber diesmal lag Julia wirklich in Romeos Armen, und als sie sich ihnen entwand, geschah es ohne allzu große Hast. Auch »Großvater« war gefaßter, als ich dies in solcher Situation bei ihm je für möglich gehalten hätte.

Kein Zweifel, sie waren das Gestörtwerden gewohnt. Ich glaube, ich war verlegener als die beiden und empfahl mich rasch wieder. Nur soviel bemerkte ich in den wenigen Augenblicken: eine verschönernde Wirkung übte die Liebe nicht auf sie, nein, wahrhaftig nicht!

Einige Wochen darauf war die Hochzeit. Ich war nicht in Wien und erfuhr nur durch Roithner, wie schön das Fest gewesen. Aber auch er wußte es nur von den alten Kratochwils. »Ich war nicht geladen«, sagte er mit elegischem Lächeln. »Nicht einmal in die Kirche durfte ich kommen und mich an dem Glück erfreuen. Wie der alte Ovid sagt: ›Sic vos, non vobis.‹«

»Es ist Vergil«, berichtigte ich. »Aber woher haben Sie den Brocken?«

»Erlauben Sie«, sagte er liebenswürdig wie immer, »ich bin ja ein verdorbener Jurist! Nach einigen Semestern habe ich mich verbummelt. Lange hat's mich gereut, jetzt bin ich froh darüber. Was ist ein schönerer Beruf: als Richter Ehen zu scheiden oder sie als Vermittler zu stiften?! Notabene: so glückliche Ehen, wie ich sie zu stiften pflege! Fragen Sie, wenn Sie mir nicht glauben wollen, Kratochwils, wie glücklich die beiden sind. Nur jetzt noch etwas zu zärtlich, zu stürmisch, aber das wird sich ja geben . . . Nun, mein Herr«, er steckte die Hand in den Westenausschnitt und sah mich triumphierend an, »wie denken Sie heute über mein Geschäft?«

»Nicht anders als früher«, erwiderte ich. »Was gegen die Menschenwürde geht, kann nicht gut sein und ist es auch nicht. Sie stiften mehr Unheil als Heil, das sagt die Vernunft. Und wenn auch der Handel einmal glücklich ausgeht, schön ist es doch nicht . . . Mit welchen Empfindungen mag Purscht Ihre Quittung über die vierhundert Gulden österreichischer Währung betrachten?!«

Er lachte. »Da können Sie ruhig sein! Er hat keine solche Quittung! Er gab mir das Geld und ich ihm seinen Provisionsbrief. Den hat er natürlich zerrissen, und damit ist die Geschichte aus. Ganz aus! Wenn Sie wüßten, wie rasch die Menschen mich vergessen!«

Kurz darauf ging ich nach Italien und habe Roithner nie wieder gesehen. Nur einmal noch las ich seinen Namen in den Zeitungen, anläßlich eines argen Prozesses. Er hatte einen Aristokraten, der den Provisionsbrief nicht eingelöst hatte, auf Zahlung verklagt. Der antwortete mit einer Betrugsanzeige, und die Untersuchung brachte unschöne Dinge an den Tag. Der Mann, der nach seiner Versicherung so viele glücklich gemacht hatte, endete recht schlimm.

Was aber Purscht betrifft, so kam er mir ganz aus den Augen, freilich nicht ganz aus dem Sinn. Wie wäre dies auch möglich gewesen?! Der eignen Jugend gedenkt man ja immer wieder. Aber irgendeine Kunde kam mir nicht zu.

Da erhielt ich im vorigen Jahr neben anderen Einladungen zu Vorlesungen in Österreich auch eine aus einer Mittelstadt, der ich sonst – der Ort lag etwas abseits vom Wege – schwerlich entsprochen hätte. Aber unter dem Brief stand im Namen der »Ressource«: »Matthias Purscht, Kaiserlich Königlicher Gymnasial-Direktor.« Und auf eine Visitenkarte hatte er in den wohlbekannten Zügen, die in dem Vierteljahrhundert noch knabenhafter und noch verschnörkelter geworden waren, geschrieben: »Hoffentlich kannst Du mir und meiner Gattin die Freude des Wiedersehens bereiten. Oft erinnern wir uns des alten Freundes, der einst meinen Liebesklagen ein geduldiges Ohr geliehen und dann den endlich Vereinigten den ersten Gruß dargebracht hat.« Ich las es staunend, aber so stand es auf der Karte geschrieben.

Ich sagte zu, und da Purscht nun darum bat, richtete ich es so ein, daß ich schon mit dem Mittagszug eintraf. Auf dem Perron stand ein kleiner, sehr runder Herr mit langem, graublondem Haar, und um ihn, wie der Sterne Chor um die Sonne sich stellt, drei Buben mit Stumpfnasen und Karpfenmündchen und langen Armen. Den Herrn hätte ich kaum erkannt – aber die Buben! Mir wurde ordentlich traumhaft zumute, als wären die vierzig Jahre ein Tag gewesen und ich säße wieder auf der Schulbank und sähe das unheimliche Lineal die Hand Wenzel Purschts regieren, wie ihm beliebte.

Dann fuhren wir ins Hotel und von da ins Gymnasium, wo mein glücklicher Freund seine Amtswohnung innehatte. Auf dem Wege grüßte alt und jung, und Matthias erwiderte gemessen, aber huldvoll. »Ja«, sagte er auf eine Bemerkung, die ich darüber machte, »ich habe mir allerdings das Vertrauen meiner Mitbürger erworben, aber auch das meiner Vorgesetzten. Auch haben mir Seine Majestät den Franz-Josephs-Orden verliehen. Aber das beste Glück meines Lebens ist doch das häusliche.« Dann streckte er sanft und traurig, wie es seines Vaters Art gewesen, die Hand aus und gab dem jüngsten seiner Buben eine ungeheure Maulschelle. »Du hast dem Schusterjungen die Zunge entgegengestreckt, und dies schickt sich nicht. Meine Paulitschka nun, du wirst ja sehen.«

Im Wohnzimmer begrüßte mich eine andere alte Bekannte, deren ich mich freilich erst entsann, als sie mir ihren Namen nannte: »Marie Kratochwil«. Sie war Direktorin der höheren Töchterschule des Orts. »Noch immer Fräulein!« sagte die muntere Dame lachend, als ich in der Anrede stockte. »Selbst Paulinens Beispiel«, fügte sie bei, als sich Matthias empfahl, um noch vor Tische einige Amtsgeschäfte zu erledigen, »hat mich nicht verlockt, mich unter Roithners Schutz zu stellen.«

»Also die Ehe ist gut geworden?«

»Vortrefflich! Freilich war hier die Frau sehr klug und der Mann sehr gutmütig. Auch haben sie äußerlich erreicht, was sie anstrebten, haben Kinder, die ihnen Freude machen, das wiegt sehr schwer.«

Da trat Frau Pauline ein. Auch an ihr war nichts dünn geblieben, etwa die Stimme ausgenommen, und der Ausdruck heiteren Staunens paßte nun zu den runden Wangen.

Wir gingen zu Tische, und welche Gespräche wir dabei führten, soll hier nicht verzeichnet sein, da ja ohnehin niemand daran zweifeln wird, daß mein Matthias ein guter Pädagoge und ein begeisterter Patriot ist. Aber was er dann beim schwarzen Kaffee sagte, wo die Kinder nicht mehr dabei waren, muß ich hierher setzen: »Du hast eben ›Großvater‹ zu mir gesagt – du darfst es sagen! Denn du warst es auch, der mir damals, am Abend nach der Vorstellung von ›Romeo und Julia‹, wo ich meine Paulitschka zuerst gesehen hatte, den Rat gab, daß wir ihr eben nachgehen sollten: ›Warum sollten wir nicht im selben Wirtshaus zu Abend essen!‹ Haha! Und du warst es, der sich zuerst an ihren Tisch setzte, und du warst es, der mir dann im Café Troidl Mut einsprach. Du weißt doch noch, was ich damals sagte?!«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Ja«, sagte ich dann doppelt eifrig.

»Nun, dann wiederhole es! Meine Paulitschka soll es auch einmal von dir selbst hören.«

Ich war arg verlegen. »Du sagtest«, begann ich unsicher, »daß dir das Fräulein einen guten Eindruck –«

»Was nicht noch!« rief mein Matthias mit behaglichem Lachen. »So zahm habe ich mich damals nicht ausgedrückt. ›Die oder keine!‹, sagte ich. Du mußt dich ja noch erinnern.«

»Ja, allerdings!«

Frau Pauline lächelte liebenswürdig, gutmütig, aber es war doch ein eigentümliches Lächeln. Dann zog sie sich einen Augenblick zurück, um das Abdecken der Tafel zu überwachen, auch mein Matthias stahl sich ins nächste Zimmer zum Mittagsschläfchen. So blieb ich mit meiner Tischdame von einst allein. Wir sprachen über allerlei Gleichgültiges, bis sie scheinbar ohne jede Beziehung sagte: »Glücklich ist, wer Unangenehmes vergessen kann. Glücklich, wer eine Notlüge, nachdem er sie hundertmal gebraucht hat, schließlich felsenfest selber glaubt. Ich kenne sehr ehrliche Menschen, denen dies Glück gegönnt ist.«

»Sie haben recht, aber –«

»Kein aber!« fiel mir die liebenswürdige alte Dame ins Wort. »Ich habe immer recht, und nun muß ich obendrein zu meinen Mädeln! Meine Zeit reicht nur noch knapp zu einem kleinen Toast. Natürlich etwas Unlogisches – wär' ich sonst ein Frauenzimmer? Also, bitte, ergreifen Sie Ihr Glas« – sie schwenkte ihre Kaffeetasse und hielt sie mir entgegen –, »und stimmen Sie mit mir ein in den Ruf: Vivat das Glück unsrer Freunde!«

»Vivat!«

»Und pereat die Roithnerei!«

»Pereat!« rief ich lachend und ließ meine Kaffeetasse an der ihrigen anklingen.

 


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