Karl Emil Franzos
Das Kind der Sühne
Karl Emil Franzos

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Die Stärkeren

Der Innsbrucker Privatdozent Fritz Stockmar hatte eben Schlag zwölf auf seiner Stube das bescheidene Mittagessen aus der Wirtschaft »Zum Bierwastl« verzehrt, als er das Telegramm seiner Mutter erhielt: »Georg wird Deiner bedürfen. Bitte sofort nach Wien reisen, ihn abzuhalten, der Unwürdigen wegen sein Leben aufs Spiel zu setzen.«

Er war einen Augenblick wie betäubt, dann sehr erregt. Was war seinem Bruder, dem Advokaten, widerfahren?! Sie hatten zuletzt die üblichen Neujahrsgrüße getauscht, und nun war's Ende Mai – du lieber Gott, sie waren nie recht brüderlich zueinander gestanden, hatten sich in den letzten Jahren vollends nichts mehr zu sagen gehabt. Was konnte es nur sein?! Seine Schwägerin Gertrud?! Unmöglich! Die edle keusche Dulderin! Aber das Telegramm ließ ja kaum eine andere Deutung zu.

Eben griff er zu Hut und Stock, aufs Telegrafenamt zu gehen, als sein Freund Adolf Nürnberger eintrat, die Krawatte schief, auf dem Hemde einen großen Fleck, derangiert wie immer, nur diesmal noch etwas erhitzter als sonst. Ein größerer Gegensatz war kaum denkbar, als zwischen diesem schwarzen, dicken, redseligen Männchen und dem blonden, hageren, wortkargen Fritz, dem er kaum an die Achsel reichte, aber Freunde waren sie doch; Kastor und Jonathan, wie sie der Witzkopf der Innsbrucker Universität, der Physiker, mit feiner Anspielung auf Nürnbergers Konfession genannt hatte. Sie waren unzertrennlich, als Schulfreunde vom Nikolsburger Gymnasium her, und weil beide ganz unmoderne Menschen waren. Darum klebten sie auch nun schon zwölf Semester als Privatdozenten in Innsbruck und konnten dies voraussichtlich ihr Leben lang bleiben. Stockmar, weil er von entschieden deutscher Gesinnung und zudem Protestant war, was keinem österreichischen Privatdozenten gut ansteht, am wenigsten einem für neuere Geschichte, und Nürnberger, der Physiolog, weil er die närrische Ansicht hatte, das Taufen um der Karriere willen sei unanständig.

»Guten Tag, Fritz! Verdammt heiß heute!« Er war in sichtlicher Verlegenheit. »Wollte nur sehen . . .« Und da gewahrte er die Verstörung in den Zügen des Freundes und änderte flugs den Ton. »Du weißt es schon?! Nun, dann also ohne Brimborien. Tapfer! Ist noch lange kein Unglück! Kommt in den besten Familien vor, in solchen erst recht!«

»Nichts weiß ich«, stieß Stockmar hervor, »nichts als dies.« Und er reichte ihm das Telegramm.

»Nun«, sagte Nürnberger, nachdem er gelesen, »eben eine alte Dame, die in Nikolsburg lebt. In Nikolsburg ist man noch sentimental, romantisch. Und dort ist auch so was noch ein Gegenstand. Aber nicht in Wien! Dort –«

»Was ist geschehen?!« rief Stockmar und faßte ihn am Arm. »Meine Schwägerin Gertrud? Unmöglich!«

»Doch! Da lies!« Er zog einen Brief aus der Tasche. »Von meiner Schwester Helene. Eben gekommen, darum bin ich hier. Die Nachschrift!« Er reichte ihm das Blatt hin, und Stockmar las:

»Gerade war Clotilde hier, Du weißt doch, Clotilde von Reyher, der Du einmal bei uns die Hummernsoße aufs Kleid geschüttet hast – wie Du das zustande gebracht hast, ist mir noch immer ein Rätsel, aber Deiner gaucherie, caro mio, ist nun einmal nichts unmöglich –, also besagte Clotilde erzählte mir eben mit züchtigem Erröten, dann aber doch recht verständlich – wie es ihr ansteht, denn einerseits ist sie noch vierge oder demi-vierge oder quart-vierge oder jedenfalls unverheiratet, und andererseits doch schon eine etwas späte Jungfrau – also eine Geschichte, die ich Dir sofort erzählen muß, erstens, weil sie hochmoralisch ist, und zweitens, weil sie einen Nikolsburger betrifft, home, sweet home! – Georg Stockmar, den Bruder Deines Fritz. (Apropos, habt Ihr schon herausgebracht, wer von Euch beiden der größte Schlemihl unter Österreichs Privatdozenten ist?) Also kurz! Als der Advokat gestern nachmittags in der Dämmerung unvermutet in das Zimmer seiner Frau tritt, findet er, daß es sich in das bekannte italienische Dörfchen Flagranti verwandelt hat, in dem er sie mit einem jungen Laffen – aber das ›L‹ ist eigentlich ganz überflüssig –, der sich Dichter schimpfen läßt, einem Herrn Häufle aus Heilbronn, ertappt. Tableau! – aber diesmal ein kurzes. Der Mann schreit in rasendem Schmerz auf, faßt sich dann aber sofort, wirft zuerst den Liebhaber hinaus und dann die Frau, und reicht heute die Scheidungsklage ein.

Großartig, was? Der Mensch ist ja vor einigen Jahren urplötzlich Katholik und Halbtscheche geworden, sitzt jetzt unter den Klerikalen im Reichsrat und hat auch mehr Liebschaften gehabt, als sein prächtiger, blonder Bart Haare hat – aber großartig ist es doch. Und Meyer, der eben heimkommt, sagt, die ganze Börse ist derselben Meinung, und Clotilde, die heute mit ihrer Neuigkeit auf der ganzen Ringstraße, soweit sie christlich ist, herumkutschiert zu sein scheint (nämlich zu mir kommt sie, weil ihr Vater, der Baurat, unser Haus in der Nibelungengasse gebaut hat und jetzt die Villa in Hietzing, aber sonst hält sie sich in neuester Zeit streng unkatholisch, als wollte sie die Tugendrose haben) – also Clotilderl erzählt auch: es ist nur eine Stimme der Bewunderung für Stockmar und der Verachtung für sie. Natürlich, die spröde, magere Preußin – oder wo liegt das glückliche Wismar, das sie geboren hat? Meyer sagt gar: in Mecklenburg, aber der übertreibt immer! Die Schulmeisterin a. D. – kein Mensch hat sie gemocht. Höchstens daß sie sich nie dekolletiert hat, war ein schöner Zug von ihr, ein Zug des Mitleids und Erbarmens. Und so was findet einen Anbeter, freilich nur einen, der entsetzliche fünfaktige Trauerspiele in Versen schreibt, also an alle horreurs gewöhnt ist. Übrigens, einen sauberen Schwager hast Du: ›Meyer‹, sag' ich, ›was tätest du in einem solchen Falle?‹ – und er darauf: ›Liebe Helene, wenn man in seiner einzigen Frau hundert Kilo Liebreiz beisammen hat, kann man ruhig schlafen!‹ Unverschämt – es sind nicht einmal fünfundneunzig, mit den Kleidern!

Aber nun die Moral! Adolf, mein Bruder, danke Gott täglich auf den Knien (am liebsten in der Kirche, da würdest Du endlich auch Professor!), daß er Dir eine solche Schwester beschert hat. Als Du vor sechs Jahren die Klavierlehrerin, oder was sie war, heiraten wolltest, wer hat Dich davon abgehalten? Moi, je!, ›Adolf‹ sag' ich, ›so was heiratet man nicht! Im besten Fall wird das Ding doch den Armeleutegeruch aus den Kleidern nie los, und der Vater Schuster und der Vetter Kutscher sind eine unangenehme Zuwaage. Und im schlimmeren Fall behält es noch dazu seine eignen Moralbegriffe – von da unten.‹ Darauf Du: ›Ihr Protzen, mit Eurem Vorurteil etc.‹ – ›Trotz aller Versuchung tugendhaft etc.‹ – ›Tausendmal achtungswerter als Ihr etc.‹ – ›Selbst Georg Stockmar, der Streber, hat die Erzieherin von Bessels geheiratet, weil er sie geliebt hat.‹ Und darauf ich: ›Und wann scheiden sie sich wieder?!‹ Prophetisch! – was? Daß es mit Dir nicht soweit gekommen ist, hast Du übrigens auch nur mir zu danken – ich habe ja die Klavierstunden ohne Klavier entdeckt, die Deine Holde zuweilen auf der Wieden gegeben hat. Also Respekt! Und in dieser Gesinnung bitte ich Dich das Glas zu ergreifen und mit mir einzustimmen in den Ruf: Hoch lebe Deine Lebensretterin und treue Schwester

Helene.«

Fritz starrte wie betäubt auf das Blatt nieder und wollte es nun nochmals zu lesen beginnen. Aber Nürnberger entwand es ihm. »Nein, alter Junge, zwischen den Zeilen steht da wahrhaftig nichts. Schreibt einen sehr deutlichen Stil, meine Schwester Lene, kein Wunder, wenn man zehn Jahre mit Meyer verheiratet ist, so was färbt ab. Also – du siehst: All right! Bewunderung der Welt, Scheidungsklage, auch keine Spur von einem Duell. Natürlich bleibst du hier!«

Fritz ging erregt im Zimmer auf und nieder. Endlich blieb er vor dem Freunde stehen. »Nein, ich reise, wann geht der nächste Zug?«

»Erst in einer Stunde. Also Extrazug. Unsinn, Fritz, wenn er dich brauchen würde, so hätt' er dich gerufen. Und was willst du in Wien? Ihn bewundern helfen?!«

»Es scheint mir Pflicht. Und dann: Es ist ja unmöglich! Es muß ein Mißverständnis sein! Gertrud ist unschuldig!«

»Ah so!« sagte Nürnberger lächelnd und langgedehnt. Und als Fritz auffahren wollte: »Friß mich auf – aber dann wär's doppelt Unsinn, wenn du hingingest! Kennst du deinen Bruder nicht?! Den willst du beeinflussen – der harte, rücksichtslose Fritz Stockmar seinen weichen, verträumten Bruder Georg?! Übrigens«, er wurde sehr ernst, »du irrst, derlei ist ihm nicht zuzutrauen. Sei gerecht, Fritz. Ein Streber – ja, aber kein Schurke!«

Stockmar wurde sehr bleich; seine Lippen bebten. »Es ist mir bitter, darüber zu reden«, stieß er fast unverständlich hervor. »Selbst mit dir. Aber – aber die plötzliche Erleuchtung, die ihn vor drei Jahren zum Katholiken machte?!«

»Nun«, entgegnete Nürnberger, »wie ich darüber denke, weißt du. Natürlich vermag derlei aus äußeren Gründen nur ein erzfrivoler Bursche über sich. Aber selbst einem solchen Herrn ist eine Tat, wie du sie ihm nun ansinnst, nicht zuzutrauen. Zudem, bedenke doch, was kann sie ihm nützen?! Eben weil er nun Katholik ist, kann er ja doch keine andere heiraten!«

Fritz blickte ihn betreten an; der Grund schien auf ihn zu wirken. »Aber«, sagte er unsicher, »vielleicht ein Mißverständnis.«

»Bah! Glaubst du ja selber nicht! Georg Stockmar ist ein klarer Kopf, ein verdammt klarer. Nein, nein! Wozu erst grübeln, wo alles ohnehin so klar ist! Scheint's dir denn wirklich ein so großes Wunder, daß diese Ehe schließlich auch ihr ebenso heilig wurde, wie es ihm längst war?!«

Unschlüssig ging Fritz auf und nieder. Dann trat er dicht an den Freund heran. »Du kennst sie nicht!« sagte er hastig. »Übrigens – ich weiß ja nichts. Nur eins weiß ich: Ich muß nach Wien!« Er zog die Uhr. »In einer Stunde, sagst du? Dann verzeih!«

»Bitte, tu, als ob du zu Hause wärest!« Und Nürnberger half den Koffer herbeischaffen und packen, obwohl er dem Freunde in seiner Ungeschicklichkeit mehr eine Last als eine Hilfe war. Auch ließ er es sich nicht nehmen, ihn zum Bahnhof zu bringen.

Über den Zweck der Reise fiel kein Wort mehr. Nur ehe Fritz ins Coupé stieg, sagte der andere fast flehend: »Bleib vernünftig, Fritz! Vergiß nicht, etwas Neid deinerseits war doch immer dabei. Und namentlich in den letzten Jahren. Ich weiß, du hast es Gertrud nie gestanden, dir selber nicht – aber wahr ist's doch. Und Georg ist dein Bruder, und eure alte Mutter lebt noch« – dem dicken Manne wurden in seiner Herzensangst die Augen feucht – »in Nikolsburg, wo man noch sentimental ist . . . Leb wohl, Fritz!«

Pfeilschnell jagte der Zug nach Nordosten, das Inntal entlang. Den Dozenten litt es nicht auf seinem Platze; er trat in den Korridor, öffnete ein Fenster und ließ die Frühlingsluft um seine heiße Stirn wehen. »Sei gerecht, Fritz!« Das Wort hallte in ihm nach.

Aber war er's nicht?! Und wenn er noch so tief in das Dämmer seiner Kindheit zurückblickte, von Georg war jenen, die ihn liebten, nie Gutes geworden. Das dürftige und doch so heimelige Elternhaus im kleinen, schmutzigen mährischen Städtchen – Kostl hieß das Nest –, wo der Vater Bezirksrichter war, es kannte keine anderen Stürme, als wenn wieder einmal ein Brief vom Nikolsburger Onkel, dem Armenarzt, kam: Georg sei so roh und träge und zeige mit seinen fünfzehn Jahren schon recht bedenkliche Sitten. Dann weinte die Mutter, und der Vater, der weiche, stille Mann, seufzte bekümmert auf: »Wie kommen wir zu solchem Sohn!« Freilich, kehrte er dann zu den Ferien heim, so waren die beiden wieder selig: wie hübsch und kräftig der Junge war, wie liebenswürdig und gewandt, und wie wußte er, ohne daß sie es ahnten, ihre kleinen Schwächen auszunützen! Und mit ihnen war ganz Kostl entzückt. Nur einer nicht, der stille, scheue Fritz, der doch damals ein kaum zehnjähriger Knirps war . . .

»Was hat mir so früh den Blick geschärft?« dachte er nun. »Der Instinkt oder – der Neid?!«

Nein, nein, damals beneidete er den Bruder noch nicht. Aber später, nach des Vaters Tode, als er mit der Mutter in Nikolsburg saß und sich mühselig durchs Gymnasium darbte und schulmeisterte, während Georg in Wien, in Heidelberg, in Graz, wo's eben jeweilig am schönsten war, den flotten Korpsstudenten spielte, da hätte er ja kein Mensch sein müssen, um nicht manchmal zu denken: »Die alte Frau entbehrt, und ich muß schon als Schüler andere unterrichten, was weder ihnen noch mir frommt, nur damit Georg prassen kann – warum?!« Und was er im stillen dachte, wetterte der Onkel Doktor laut hinaus. Aber auch der knurrte nur noch leise, wenn sich Georg herbeiließ, des Sommers auf Wochen oder doch auf Tage nach Nikolsburg zu kommen. Im tiefsten Herzen war auch er stolz auf den schönen, eleganten, fröhlichen Menschen mit dem kühnen, von Terzen und Quarten durchfurchten Gesicht, so stolz, daß er sich zuweilen selbst das Nötigste versagte, um Schulden für ihn zu bezahlen. Ins Gesicht hinein warf er ihm dann freilich harte Worte: »Was hast du, deines Vaters Sohn, im Korps zu suchen, in der klerikalen, adeligen Sippe?! Dein Vater war stolz darauf, der Sohn eines braven protestantischen Bäckergesellen aus Hessen zu sein, der sich in Brünn aus eigener Kraft zum geachteten Bürger emporgearbeitet hatte! Und dein Vater war immer gut deutsch und hat lieber seine Karriere geopfert als seine Überzeugung. Wolltest du dir schon durchaus deine Visage zerhauen lassen, so war in der Burschenschaft dein Platz, unter den Deutschen, den Bürgerlichen!« Worauf Georg fröhlich: »Unter den Hochverrätern, den Bismarckknechten? Lieber Onkel, da hätt' ich dir noch weniger Freude gemacht! Ich will ja in den Staatsdienst treten, vorwärtskommen, da nützt mir vielleicht eine Beziehung aus dem Korps mehr als die beste Staatsprüfung!« – »Nun, so sei zum mindesten im Dreiteufelsnamen etwas sparsamer!« donnerte der Alte. »Schäme dich doch!« Aber hinter Georgs Rücken meinte er nur: »Eben ein anderer Mensch! Schlau, kalt, genußsüchtig, aber das liegt jetzt in der Luft. Im übrigen ein schöner, patenter Kerl, der es gewiß weit bringt. Und in seiner Art gutmütig ist er auch.« Gewiß, in seiner Art – er ließ die eckigsten Dinge rund sein, wenn sie ihn nichts angingen, aber was ihn zu stören drohte, trat er nieder. Darum war er aufs äußerste dagegen, daß Fritz Geschichte studierte, die akademische Laufbahn erstrebte, denn das ging wohl ohne Zuschüsse vom Hause nicht, und die brauchte er auch als Rechtspraktikant noch für sich. Erst als Fritz auf alles verzichtete und sich aus eigener Kraft durchbrachte, gab er sich drein.

Kein Wunder, daß die beiden auch in Wien einander nicht näherkamen. Das armselige Stübchen des Studenten in Währing und die hübsche Junggesellenwohnung des jungen Richters in der Praterstraße lagen eine Viertelmeile auseinander. Georg legte den Weg nie, Fritz kaum alle Monate einmal zurück, weil es die Mutter so wünschte. Fand er die Türe verschlossen, so kehrte er leichten Herzens heim. Verschiedene Menschen, die in verschiedenen Welten lebten – was hatten sie einander zu sagen?! Das änderte sich auch nicht, als Georg die Beamtenlaufbahn aufgab und Advokat wurde – weil er die Abhängigkeit nicht ertrage, wie er versicherte, weil er so mehr verdiente, wie sich Fritz sagte. Erstaunter war er schon, als ihm Georg als Dank für sein erstes Buch, eine Studie über Metternichs deutsche Politik, einen begeisterten Brief schrieb. Er sei stolz auf seinen ebenso gelehrten als charaktervollen Bruder, der in Zeiten, wie sie nun über Österreich gekommen, den einzig wahren und berechtigten Standpunkt, den nationalen, zu vertreten wisse. Was bedeutet dies Wort in Georgs Munde? Eine ehrliche, nach hartem Selbstkampf vollzogene Wandlung, wie dieser ihm bei der nächsten Begegnung versicherte. Fritz schwieg und dachte im stillen: ›Für einen Wiener Advokaten, der seine Klienten in bürgerlichen Kreisen sucht, ist es allerdings so besser!‹ Da aber trat ein drittes Ereignis ein, das seine Ansicht über den Charakter des Bruders über den Haufen warf: Georgs Verlobung mit Gertrud Scheibe . . .

Der Zug hatte brausend und sausend die Täler Tirols, dann die Tauern durchstürmt und hielt nun in einem großen Bahnhof, wo viele Menschen hastig durcheinanderdrängten. »Salzburg!« Da entdeckte Stockmar auch einen Bekannten, es war ein Fachkollege von der Münchener Hochschule, gleichfalls noch Dozent. Sie waren bei einer Historikerversammlung einen Abend nebeneinander gesessen, immerhin lange genug, um zu erkennen, daß sie in allem gründlich verschiedener Überzeugung waren. Darum rief er ihn nun auch nicht an, doch stieg der beleibte Mann zufällig in denselben Waggon. Sein rotes Gesicht wurde jählings blaß, als er Stockmar erkannte. Zaudernd blieb er stehen, eilte dann aber mit erhobenen Armen auf ihn zu, als wollte er ihn umarmen. »Sie – Kollege! Und auch nach Wien? Hoffentlich angenehme Veranlassung?«

»Ich will meinen Bruder besuchen.«

Der andere blickte ihn mißtrauisch an. »So mitten im Semester?!« Er räusperte sich. »Pardon, belege mir nur einen Platz.« Noch ein lauernder Blick, und er war verschwunden.

Fritz dachte nicht weiter an ihn. Vor seinen Augen stand die Stunde, da er Gertrud zuerst gesehen. Ein grauer Herbsttag. Am Morgen hatte er das Billett Georgs erhalten: »Bin seit gestern abend verlobt. Komm, daß ich Dich meiner Braut vorstellen kann.« Ohne sonderliche Erregung bürstete er seinen Bratenrock und Zylinder und fuhr zu Georg. »Irgendein Goldfisch von der Ringstraße«, dachte er. »Nun, ich gönn's ihm.« Um so verblüffter war er, als ihm der Bruder sagte: »Ein armes Mädchen, eine Norddeutsche, der Vater war Schreiber in Wismar, sie ist Erzieherin – ich lade mir schwere Sorgen auf –, und doch, wie glücklich bin ich zu preisen!«

Noch während sie im Wagen saßen, wirbelte Fritz das Hirn. »Was steckt dahinter?« dachte er. »Hat der Schlaue seine Meisterin gefunden? Muß er's tun?« Aber wie schämte er sich dieses Gedankens, als sie ihm im Wohnzimmer der Familie, deren Töchter sie erzog, entgegentrat: ein schlankes, stilles Mädchen, die Züge nicht eigentlich schön, und doch soviel Seele und Anmut im Blick, im Lächeln, im schüchternen, herzlichen Wort, mit dem sie ihn begrüßte – er glaubte nie Holderes gesehen zu haben. Und wie gut, wie tüchtig sie sein mußte, um sich soviel Liebe erworben zu haben! Der Herr des Hauses, der echte alte Wiener guten Schlages, seine derbe, kluge Frau, die Kinder, alle hingen an ihr und strahlten vor Glück, sie glücklich zu sehen. »Natürlich bleiben Sie zum Essen da!« sagte ihm Herr Bessel. Und wie er so dasaß unter den bisher fremden Menschen, wurde es ihm wohl und leicht und immer wärmer ums Herz. Es kam ihm aus tiefster Seele, als er Georg zum Abschied sagte: »Ja, du bist glücklich! Und ich habe dir viel abzubitten!« Aber dieser: »Nein, ich dir, Fritz. Nun, jetzt wirst du besser mit mir zufrieden sein. Ich muß ja sie verdienen.«

Die Worte klangen ihm noch im Ohr, er hörte sie durch das Gedröhne der Räder. War das nur Komödie gewesen?! Nein, nein! So wenig wie das ganze erste Glück dieser jungen Ehe. Wenn er so an die Sonntage dachte, wo er ihr Tischgast war, die Fahrten nach Weidlingau oder auf die Hohe Warte . . . »Etwas Neid war doch immer dabei«, hatte Nürnberger gemeint. Aber da tat er ihm unrecht, von jener Zeit galt dies nicht. Da hatte er nur eine Empfindung gehabt: die Freude an ihrem Glück, die Freude, nun auch seinen Bruder liebhaben zu dürfen, so wie er sie selbst liebte, eben wie ein Bruder . . . Immer tiefer wühlte er sich in die Erinnerung an jene Tage hinein und umklammerte dann die Stäbe des Fensters und stöhnte leise auf. Nein, es tat zu weh, daran zu denken. Nun, wo alles dahin war und im Schlamm der Straße lag, im Schlamm, wo er am tiefsten ist.

»Attnang!« Reisende stiegen ein und aus. Er mühte sich ordentlich, es zu sehen. Interesse daran zu haben, nur um seine Gedanken von dem loszureißen, was so unfaßbar und seinem Empfinden qualvoll war. Darum kaufte er sich auch einen Haufen Wiener Blätter und ging in sein Coupé zurück. Auf dem Sitz ihm gegenüber hatte der Münchener Platz genommen. Bei seinem Eintritt zuckte er zusammen. »Ah, da sind Sie ja! Also, hm! Sie reisen zu Ihrem Bruder?« Seine Züge spannten sich. »Ich wußte gar nicht, daß Sie einen Bruder in Wien haben? Was ist er denn?«

»Advokat.«

»Ein Stockmar sitzt im Reichsrat.«

»Eben mein Bruder.« Aber nun fiel ihm das kuriose Mienenspiel des Mannes doch auf. »Sie zweifeln doch nicht daran?!«

»Bewahre!« Das rote Gesicht wurde noch röter als sonst. »Darf ich vielleicht eine Ihrer Zeitungen . . .«

»Bitte!« Auch Fritz entfaltete ein Blatt. »Die Affäre Dreyfus.« Er zwang sich, den Artikel zu lesen, Zeile für Zeile. Aber dann lasen nur noch seine Augen, seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück, die kampf- und schmerzvollsten Tage seines Lebens.

Ruhigen Herzens war er vor sechs Jahren nach Innsbruck gegangen. Die beiden schienen beglückt und zufrieden. Selbstlos und rücksichtsvoll freilich war Georg nicht – aber wann hätte je ein Mensch im Handumdrehen seine innerste Natur gewandelt? Er klagte zuweilen über Geldsorgen, erzählte scheinbar spaßhaft kleine, lustige Geschichten von Millionärstöchtern, die sich ihm an den Hals geworfen, aber das war nicht schwer zu nehmen, um so weniger, als ihm der alte Christoph Bessel die glänzende Stelle eines Rechtskonsulenten an einer Bank, in deren Aufsichtsrat er saß, verschafft hatte. Und Gertrud wußte ihn so gut zu nehmen, und in der Wiege lag ein rosiger Friedensbürger. Aber schon im nächsten Jahr, als er mit den beiden einige Wochen in Gmunden verbrachte, kamen ihm schwere Sorgen. Jene kleinen Geschichten wurden immer länger und klangen gar nicht mehr spaßhaft. Dazu die ewige Mahnung, sich zu benehmen wie andere Menschen, die »Hungerleiderei« zu vergessen: »Liebes Trudchen, es gibt nun mal Frauen, deren Vater Hofrat oder Großindustrieller war und nicht Adressenschreiber!« Sie erwiderte selten und dann immer begütigend, aber die blauen Augen glänzten wie von verhaltenen Tränen, und um den weichen Mund lagen herbe Falten; wie viele schlaflose Stunden voll Qual mochten sie dem jungen Antlitz so tief eingekerbt haben!

Damals in jenen schmerzvollen Stunden, da er sie leiden sah, ohne helfen zu können, war in ihm wach geworden, was Nürnberger seinen »Neid« genannt hatte: das leidenschaftliche Mitleid mit der Guten, Edlen, der Gedanke: »Warum ist sie nicht an einen gekommen, der ihrer wert ist?!« An sich dachte er kaum und rang den Gedanken nieder, wenn er ihn übermannen wollte. Und darum war es Brutalität und Unrecht zugleich, als ihm Georg einmal, da er ihm Vorstellungen zu machen wagte, höhnisch sagte: »Nun ja, du liebst sie. Und für dich hätte sie auch besser gepaßt. Aber was tun? Sie dir abtreten?!« Noch selben Tags war er abgereist mit dem festen Vorsatz, nie wiederzukommen.

Aber anderthalb Jahre später, auf dem Rückweg aus Nikolsburg, wo er bei der Mutter die Weihnachtstage verlebt, betrat er doch wieder die Wohnung in der Weihburggasse. Die alte Frau hatte es ihm auf die Seele gebunden: »Helene Meyer schreibt ihren Eltern so sonderbare Dinge. Georg soll sich – denke nur! – mit einer anderen eingelassen haben, und Trude, meint sie, ist so unbeliebt und hindert ihn gesellschaftlich sehr.« Nun, es gehörte kein besonderer Scharfsinn dazu, um klarzustellen, daß Helene nicht gelogen hatte. Nur welche »andere« sie gemeint haben mochte, blieb im dunklen. Man hatte zwischen einem halben Dutzend die Wahl, Damen und Dirnen, und das richtigste war's wohl, es von ihnen allen zugleich gelten zu lassen. Auch war Gertrud wirklich nicht beliebt, eben eine »langweilige« Frau, die weder witzig noch boshaft war und nicht lachte, selbst wenn man ihr die saftigste Zote erzählte. Kurz, es war alles so schlimm geworden, wie Fritz nur je befürchtet, eigentlich noch schlimmer, weil Bessel, um dessentwillen Georg immer noch gewisse Rücksichten geübt, inzwischen falliert hatte. Weder die Bank noch seine eigne Stellung waren dadurch erschüttert, gleichwohl gebärdete er sich, als wäre ihm durch Gertruds Verschulden der größte Schimpf widerfahren. Fritz hatte damals Szenen mitangesehen – auch heute schlug ihm Zornröte ins Gesicht, da er daran dachte, und er zerknitterte das Blatt in seiner Hand. »Ich hätt's nicht dulden sollen!« dachte er. Aber freilich, was konnte, was durfte er tun?! Und sie selbst hatte ihn fortgeschickt.

Ein Abend im Januar. In Innsbruck hatten die Kollegien bereits begonnen, er zögerte noch immer, kam jeden Abend, obwohl es Qual war, zuzuhören, wenn Georg zu Hause war, doppelte Qual, wenn er sie allein traf und gleichgültige Gespräche mit ihr führen mußte. An diesem Abend aber fand er sie fassungslos, das Antlitz von Tränen überströmt, und da hielt er sich nicht mehr. »Das muß ein Ende nehmen!« rief er. »Du erträgst es nicht länger.« – »Welches Ende?« fragte sie. »Es gibt keins als den Tod. Und ich werd' es tragen, schon um Gretchens willen. Du aber geh, Fritz!« – »Gertrud!« rief er, »wenn du wüßtest.« Und darauf sie, so leise, daß er es kaum vernehmen konnte, und doch festen Tons: »Ich weiß alles – aber eben darum, geh! Du machst es mir nicht leichter.« Und das war das letzte Mal gewesen, wo er sie gesehen hatte.

Wieder hielt der Zug. »Ist das schon St. Valentin?« rief der Münchener erregt und stürzte in den Korridor, ans offene Fenster. Und dort wiederholte er mit bebender Stimme die Frage an den Kondukteur.

»Nein!« war die Antwort. »Erst Enns! Aber in zehn Minuten san mer in St. Valentin. Da sag' ich's Ihnen schon!«

»Nicht nötig!« murmelte der dicke Mann und kehrte hochrot vor Erregung auf seinen Platz zurück.

Stockmar sah ihn erstaunt an. »Ich dachte, Sie fahren auch nach Wien?!«

»Allerdings! Aber St. Valentin ist ja trotzdem von großer Wichtigkeit für uns. Das müssen Sie ja auch wissen, wenn Sie, wie ich wohl voraussetzen darf, gut orientiert sind.« Und als ihn Stockmar immer befremdeter anblickte: »Aber, lieber Kollege, in St. Valentin muß es sich ja entscheiden, ob Bergler morgen früh auch in Wien ist.«

»Bergler?! Wer ist das?«

Der Münchener lachte etwas gezwungen. »Oh, Sie Schlauer! Aber ich will Ihnen den Gefallen tun! Dr. Cölestin Bergler, der Privatdozent für neuere Geschichte in Graz. Er ist ja für dies Semester beurlaubt und arbeitet im Admonter Stift an seiner Geschichte der Gegenreformation in Innerösterreich. In Admont, sag' ich. Da muß er also« – er hielt das Kursbuch empor – »in St. Valentin in unseren Zug steigen, wenn er rechtzeitig da sein soll.«

Stockmar schwieg. ›Ist der Mann betrunken?‹ dachte er. ›Erhitzt genug sieht er aus.‹ Aber die Erregung seines Gegenübers wuchs zudem immer mehr, und als der Zug in St. Valentin einfuhr, stürzte er wieder in den Korridor hinaus. »Kommen Sie, Kollege«, rief er mit zitternder Stimme.

So dringlich war der Ton, daß ihm Stockmar unwillkürlich folgte. Aber kaum hatte der andere einen Blick auf den Perron geworfen, als er totenblaß zurückfuhr. »Bergler!« rief er fast jammernd und deutete auf einen kleinen, bebrillten Herrn, der eben mit seinem Köfferchen in den nächsten Waggon kletterte. »Bergler!« wiederholte er verstört.

»Möglich«, sagte Stockmar verblüfft, »ich kenne ihn nicht persönlich. Aber wie kann er Sie so erschrecken?«

»Keine Komödie mehr, Kollege!« rief der Münchener verzweiflungsvoll. »Wir haben es gegenseitig nicht mehr nötig. Mit Ihnen konnte ich es aufnehmen. Sie dozieren sechs Semester länger als ich, haben mehr geschrieben, sind ein geborener Österreicher, aber Sie sind Protestant und deutschnational. Bergler aber ist katholisch wie ich, zudem Österreicher, und darum kommt er nach Prag und nicht Sie, nicht ich!«

»Nach Prag?«

»Nochmals, wozu die Verstellung? Wir sind alle drei für morgen telegrafisch zum Minister beordert – wegen des Extraordinariats in Prag. Und es war wieder einmal nichts!«

»Ich weiß von nichts«, erwiderte Stockmar. »Ich komme derzeit für eine österreichische Universität ganz gewiß nicht in Betracht. Und für eine andere auch schwerlich!« Er hatte sich längst darein gefunden, aber nun, in dieser Stimmung, übermannte ihn die Erbitterung. ›Nichts bin ich‹, dachte er, ›nichts als ein gelehrter Proletarier, und das bleib' ich mein Leben lang. Mich selbst kann ich noch so mühselig durchbringen, aber ich kann nie daran denken, jemand anderem zu helfen.‹ Dann aber riß er seine Gedanken gewaltsam davon los. ›Wahnsinn‹, dachte er, ›Nürnberger hat recht!‹ Und er mühte sich, den Worten des Müncheners zu folgen, der ihm weitläufig sein Leid vorklagte.

Es währte lange, bis der Mann das Thema erschöpft hatte. Endlich griffen beide zu den Zeitungen und lasen ohne rechte Aufmerksamkeit, jeder mit seinen trüben Gedanken beschäftigt. Da plötzlich schien der Münchener etwas gefunden zu haben, was ihn lebhaft interessierte. Er zog die Brauen hoch, schielte zu Stockmar hinüber, las nochmals und rückte dann unruhig hin und her. Aber da war auch Stockmars Auge auf die Notiz gefallen, die gleichlautend in fast allen Blättern stand. Sie berichtete in saftigem Reporterstil von der häuslichen Katastrophe, die »einen unserer bekanntesten Advokaten und Parlamentarier, der wegen seines lauteren Charakters auch von seinen politischen Gegnern aufs höchste geachtet wird«, betroffen habe. Gertruds niedere Abkunft, Georgs selbstlose Liebe, die Szene der Entdeckung wurde kräftig ausgemalt. Häufle figurierte darin als »läppischer Dilettant, dem es gelungen ist, sich binnen wenigen Monaten in unseren literarischen Kreisen unmöglich zu machen.« Die Notiz schloß mit der Nachricht, daß der Anwalt sofort die Scheidungsklage eingereicht habe. »Selten war das Urteil unserer Gesellschaft ein so einstimmiges: Möge der gekränkte Ehrenmann in der Teilnahme und Verehrung der weitesten Kreise, im segensreichen Wirken für die Gesamtheit bald seinen Trost finden.«

Noch einmal und zum dritten- und viertenmale las Fritz diese Zeilen. Und als er dem spähenden Blick des anderen begegnete, verstand er ihn sofort. »Nur nicht darüber sprechen«, dachte er, erhob sich hastig und ging in den nächsten Waggon. Dort fand er ein leeres Coupé und ließ sich nieder. Stunde um Stunde saß er allein und starrte vor sich hin, ohne Laut, ohne Bewegung. Es waren wirre, wüste, streitende Stimmen, die in ihm riefen.

Die Nacht war längst hereingebrochen, und durch die Fenster schimmerten bereits die Lichter der Villenorte des Wiener Waldes, als er sich erhob. »Ich werde ja sehen«, sagte er laut, »mich wird er nicht täuschen!«

Endlich war der Wiener Westbahnhof erreicht. Er nahm ein Zimmer im kleinen Hotel gegenüber, trat wieder auf die Straße und winkte einen Einspänner herbei. Es war kaum elf, er wollte zum mindesten versuchen, den Bruder noch heute zu sprechen.

Im ersten Stockwerk des Hauses in der Weihburggasse, vor dem der Wagen hielt, schimmerte noch Licht. Auch öffnete sich auf sein Klingeln das Tor sofort. »G'wiß zum Herrn Doktor?« fragte der Hausmeister. »Kommt der andere Herr nit nach?«

Fritz zuckte die Achseln und stieg rasch die Treppe empor. ›Ich weiß, wie er mich empfangen wird‹, dachte er, ›er wird sie schmähen, sich selbst beweihräuchern.‹

Auch oben ward ihm sofort aufgetan. Die alte Christine, die ihn empfing, war schon in jenem Gmundener Sommer im Hause gewesen. »Grüß Gott, Tini!« Auch sie erkannte ihn, und das gutmütige, gefurchte Gesicht verzog sich zum Weinen. »Der junge Herr Doktor . . . ach!«

Aber da erschien schon Georg in der geöffneten Tür seines Arbeitszimmers. Er war sehr bleich, wirr hingen Haar und Bart um das verwüstete Antlitz.

»Fritz!« Es klang wie ein Wehruf. Im nächsten Augenblick hatte er den Bruder ins Zimmer gezogen, die Türe hinter ihm geschlossen und umklammerte ihn nun wie der Ertrinkende den Retter. Der Jüngere fühlte, wie der starke Mann bebte und schluchzte. »Fritz!« Die zitternden Lippen fanden keinen anderen Laut . . .

Endlich gab er den Bruder frei, nur seine Hand hielt er fest. »Du bist also doch gekommen?« Er hielt die Augen gesenkt, die Worte rangen sich mühsam aus der gepreßten Kehle. »Vermutlich hat dich die Mutter –? Sie weiß es seit heut morgen, nicht durch mich. Ich wagte es nicht, dich zu rufen. Erst morgen früh sollte, wenn es sein mußte, das Telegramm an dich abgehen.«

»Morgen früh?« murmelte Fritz.

»Im Notfall! Dann wärest du am Abend hier gewesen. Wer anders soll sich des Kindes annehmen, die alte Frau trösten? Häufle hat voraussichtlich den ersten Schuß.«

»Also doch ein Duell?«

»Hast du daran gezweifelt? Wie könnt' ich anders? Den Leuten hab ich's freilich nicht erzählt – mein Gott, soll ich die Polizei aufmerksam machen? Morgen früh fünf Uhr, vermutlich in den Donauauen, ich weiß noch nicht, die Sekundanten beraten eben noch. Die Verhandlungen haben sich verzögert, durch Häufle, wohl auch durch mich. Ich war wie betäubt. Bin's auch jetzt.«

Ja, so sah er aus, wie ein Mann, der einen Schlag aufs Haupt erhalten und davon zu Boden getaumelt war. Der Dozent preßte die Hand auf die Stirn, als müßte er sich auf sich selbst besinnen. Wie anders war dieser Empfang, als er sich ihn ausgemalt hatte. Aber er fand kein Wort, und Georg schien es auch nicht zu erwarten.

»Unfaßlich!« stöhnte er. »Wie ein wüster Traum. War's dir nicht auch so, Fritz?! Aber Ruhe, Ruhe!« Er biß die Zähne zusammen. »Ich hab' mich zu keinem darüber ausgesprochen, zu keinem, und nun sollt' es doch sein – morgen ist's vielleicht zu spät.«

»Sieh, Fritz«, fuhr er dann fester fort, »ich will nicht heucheln, in einer Stunde wie dieser tut man derlei nicht. Ich bin mitschuldig, wenn unsere Ehe unglücklich wurde, bin viel schuldiger als sie. Schon daß ich um sie warb, war ein Unheil für uns beide. Freilich, dafür kann ich mich nicht anklagen. Es war im Grunde tragisch: ein schwacher, makelvoller Mensch sehnt sich danach, stark und rein zu werden, und kämpft gegen seine Natur und unterliegt ihr doch, weil er ihr unterliegen muß, weil sie die Stärkere ist. Warum warb ich um Gertrud? Gewiß, ihre Anmut entzückte, ihre stille, sichere Art fesselte mich, eben weil sie mir neu war. Aber der Hauptgrund war doch jenes Sehnen nach Läuterung. Gerade weil sie arm und fremd und eine Schreiberstochter war – ich war bis dahin eitel, hochfahrend, berechnend, selbstsüchtig gewesen, das sollte nun alles mit einem Schlage anders sein. Auch nur eine Art Eitelkeit, denkst du? Möglich, aber eine verzeihliche. Und daß ich dann doch urplötzlich kein anderer Mensch wurde, ist das Schuld im gemeinen Sinne?! Richte, Fritz, ja oder nein?«

»Nein. Aber ob du ernstlich genug mit dir rangst.«

Georg nickte düster vor sich hin. »Da hast du recht, das tat ich nicht! Und darum nehme ich für jene Zeit die Hauptschuld auf mich. Aber eins darfst du nicht länger glauben: daß es nur an mir lag. Was uns auseinandertrieb, war der Widerstreit unserer Naturen, wir konnten gegenseitig unsere Fehler nicht ertragen. Sie war gegen die meinen unendlich geduldiger als ich gegen die ihren, das ist wahr, aber Fehler hatte sie auch. Sie war kleinlich, prüde, vorurteilsvoll, unfähig, sich in andere zu schicken, mit einem Wort: keine Dame. Das klingt wie eine federleichte Phrase und wiegt doch für einen Menschen meiner Art und Stellung zentnerschwer. Aber trotz alledem hätte sich vielleicht alles noch leidlich gestaltet, wenn sie nicht eine Fremde gewesen und geblieben wäre, anders als ich und jeder um sie her, in Dialekt, Gesinnung, Empfindung, Formen, ja in tiefster Seele anders. Wismar und Wien, das kann sich nicht verstehen, weit weniger als Wien und Paris oder Wien und Budapest. Ja, Fritz, so ist es! Aber wir sind ja auch Deutsche, sagt man. Ja, scheinbar, in Wahrheit sind wir's nicht oder – jene nicht! Aber das ist doch nicht Gertruds Schuld, meinst du? Nein, aber auch die meine nicht. So ward's von Jahr zu Jahr schlimmer und trostloser zwischen uns, und vollends seit ich Katholik wurde. In ihren Augen war das ein Verbrechen, ich hoffe, du urteilst verständiger. Um des Erwerbs willen tat ich's nicht, meine Kanzlei war schon damals eine der größten in Wien, und kenntest du meine adeligen Klienten, so würdest du mir glauben: die scheren sich den Teufel was um die Konfession ihres Advokaten. Oder aus politischem Ehrgeiz?! Glaubst du, ich hätte nicht auch deutsch-nationaler Abgeordneter werden können? Gehört zu dem Programm: ›Wir warten, bis uns die Preußen holen!‹ wirklich mehr Geist, als ich habe?! Aber gegen meine Überzeugung wäre es gegangen! Ich liebe dies alte Österreich, will es erhalten wissen, halte es darum für eine Pflicht unser aller, uns miteinander zu vertragen, und bin von der Wichtigkeit der Religion für unser Volk tief überzeugt. Ich halte es für keinen Zufall, daß wir päpstlich blieben, während der Norden lutherisch wurde. Wir sind weicher, mystischer, sinnlicher; der Katholizismus paßt für uns und wir für ihn. Und weil ich durch meine Geburt, meine Art, meine Überzeugungen ein Österreicher bin, so wollte ich nach keiner Hinsicht anders sein als meine Volksgenossen, am wenigsten in der wichtigsten! Eine andere Frau hätte sich gemüht, dies zu begreifen, ihrem Manne auch auf diesem Wege zu folgen, oder sie wäre doch zum mindesten ebenso duldsam gewesen wie er. Sie blieb Protestantin, noch mehr, auch das Kind blieb's, als sie widerstrebte. Konnte ich mehr tun?! Aber als der Riß trotzdem tiefer und tiefer wurde, da sah ich ein: es gab nur noch eine Rettung für uns beide, die Scheidung. Jedoch davon wollte sie nichts wissen . . .«

»Des Kindes wegen?«

»So sagte sie, aber ich glaubte ihr schon damals nicht. Ich wollte ihr ja das Kind lassen, beider Zukunft sichern, wie sie es nur immer wünschen konnte. Und daß es für die Seele des Kindes besser war, wenn es bei ihr aufwuchs als in der Luft dieser Ehe, mußte sie ja einsehen. Und so sagte ich mir schon damals: Rache ist's. Sie glaubt, daß du wieder heiraten willst, und will dich daran hindern. Freilich ist das eine unsinnige Furcht: ein Katholik darf ja bei Lebzeiten seiner geschiedenen Frau nicht wieder heiraten . . . Nun, das war's auch nicht. Etwas anderes war's, etwas Schlimmeres, aber das ahnt' ich damals noch nicht!«

Sein Gesicht wurde jählings dunkelrot. »Und wenn mir's jemand gesagt hätte, ich hätte ihn niedergeschlagen wie einen tollen Hund: ›Du lügst, Schurke!‹ Aber meinen eigenen Augen –«

Die Stimme brach sich, er schlug die Hände vors Gesicht.

»Oh, wie schmählich das war«, knirschte er, »wie gemein! Ein blutjunger Laffe. Die Mädchen und das Kind hatte sie fortgeschickt. Ich war bei einer Sitzung, kam zufällig früher heim. Wenn statt meiner die alte Tini eingetreten wäre oder – mein Gretchen!« Und er begann herzzerreißend zu schluchzen.

Fritz aber lehnte lautlos an der Wand, sein Gesicht war weiß wie das Thorwaldsen-Medaillon, an dem sein Kopf ruhte. Nun wußte er die Wahrheit, und Gertrud war tot. Was immer einst zwischen ihr und Georg vorgegangen, sie war nun tot.

In die Stille klang der kurze, schrille Schlag der Wanduhr. Ein Viertel nach zwölf. Und gleich darauf klingelte es am Telefon.

Georg fuhr empor. »Endlich! Sie sind in der Wohnung meines Sekundanten Baron Balkenhayn – du weißt, mein Fraktionsgenosse. Darum hab' ich mich für die Nacht telefonisch mit ihm verbinden lassen. Hier Stockmar. Guten Abend, Baron. Seid ihr nun fertig?!«

»Ja!« klang von drüben eine sonore Stimme, »aber vor fünf Minuten haben's erst das Protokoll unterschrieben. So a Glumpert! Nach drei Stunden Rederei!«

»Was wollten sie denn noch?!«

»Kneifen wollten sie halt! Wie die beiden Jünglinge um neun angerückt kamen, waren sie glücklich wieder im ersten Stadium, wie gestern mittags. Herr Balthasar Häufle hat der Dame nur aus seinem neuesten Trauerspiel vorgelesen, Sie haben ihn hinausgeworfen, er also ist der Beleidigte, nicht Sie. Auch ist er gegen das Duell, gegen den Krieg, kurz gegen alles Gesundheitsschädliche, eben ein Ethiker, dieser Balthasar.«

»Unglaublich! Nun und?«

»Und darauf selbstverständlich der Rittmeister von Pochwalski und ich sehr höflich: Dann müßten auch wir unsere Antwort von gestern abend wiederholen, nur etwas deutlicher. Sie würden also diesen Ethiker mit den guten Augen, die im Dunkeln lesen können, mit der Reitpeitsche begrüßen, wo immer Sie ihn träfen. Da gaben sie nach, weil Balthasar nämlich Reserveoffizier ist, wenn auch nur beim württembergischen Train, und einen Vater hat, der seine Ausstoßung aus der Armee nicht überleben würde. Aber eine Erklärung über die ganze Sachlage müßte ins Protokoll. Schönes Schriftstück, sie hatten es gleich mitgebracht, etwas lang, aber schwungvoll. ›Bon‹, sagt das Trauerspiel, ›ist uns ganz gleichgültig!‹ – Da hatt' ich doch recht?!«

»Natürlich! Aber die Bedingungen?«

»Ja, darüber ging nun das Handeln los wie unter Pferdejuden. Endlich konzedierten sie die fünfzehn Schritte Distanz, und wir ließen das Avancieren fallen – 's ging eben nicht anders. Auch das à tempo-Schießen war nicht durchzudrücken. Der Geforderte hätte den ersten Schuß, und zudem wär' er zugleich der Beleidigte – Trauerspiel etc. Was tun? Wir konnten uns doch unmöglich mit den beiden Jünglingen in nähere Details über die Situation von vorgestern abend einlassen, gaben also nach. Und es liegt ja auch nichts dran! Aber schon rein nix, Doktor! Der zitternde Ethiker schießt zuerst ein Loch in die Luft, und dann knallen Sie ihn con amore nieder.«

»Hoffentlich! Am guten Willen fehlt's nicht. – Aber wo?«

»Rendezvous Schlag fünf im Meierhof in der Krieau. Pochwalski weiß eine Wiese in der Richtung gegen die Donau, wo sich derlei ungeniert abmachen läßt. Als Unparteiischen haben wir den alten Obersten Haberl gebeten, den Pferde-Haberl, Sie kennen ihn doch? Er kommt ganz gern, so was macht ihm immer Jux, und sonst hat er ja nix mehr zu tun. Natürlich stellt er auch seine Pistolen.«

»Und ein Arzt?!«

»Menschenfreund! Sie brauchen ja morgen keinen! Aber weil Sie um den Häufle so besorgt sind – haha! –, der Pochwalski bringt seinen Regimentsarzt mit. Soll ich Sie in meinem Coupé abholen, so gegen vier?«

»Schönsten Dank! Aber, bitte, einen Augenblick.« Er wandte sich an Fritz. »Willst du dabeisein?«

»Selbstverständlich!«

Georg nickte ihm zu und sprach dann wieder in den Apparat: »Besten Dank, aber mein Bruder kommt mit.«

»Schön! Dann fahre ich mit Pochwalski und den anderen und schicke Ihnen mein Coupé. Vor vier! Servus, Doktor! Auf Wiedersehen!«

Georg trat auf den Bruder zu. »Nur noch drei Stunden, Fritz, und ich werde Mühe haben, fertig zu werden.« Er wies auf den Schreibtisch. »Die Vormundschaft mußt du dir schon gefallen lassen . . . Du bist müde, die Alte dürfte noch auf sein« – er drückte auf die Klingel – »sie soll dich ins Fremdenzimmer bringen.«

»Laß mich hier«, bat Fritz. »Schlafen werd' ich ohnehin nicht.«

»Vielleicht doch, nach der langen Reise. Und dann, du verzeihst, aber wenn ein Mensch darangeht, die Summe seines Lebens nachzuzählen. Gute Nacht, Fritz!«

So folgte der Dozent der Dienerin, die ihn den Korridor entlangführte. »Ach, Herr Doktor«, begann sie wie beim Empfang, kaum daß sie allein waren, aber sein abwehrendes Gesicht ließ sie wieder verstummen. Nur ehe sie an einer der Türen vorbeischritten, mahnte sie: »Still, junger Herr! Da schlaft unser armes Greterl! Mit Müh und Not hab' ich sie in Schlaf gebracht. Jesses nein, Herr Doktor, was das arme Hascherl jetzt weint! Immerzu weint's und ruft: ›Mama!‹ ruft's, ›ich will zur Mama!‹ ruft's, ›wo bleibt die Mama?!‹ Und unsere arme Gnädige, Herr Doktor.«

Da waren sie am Fremdenzimmer. »Gute Nacht, Tini«, sagte er kurz und nahm ihr den Leuchter aus der Hand. Mit den Dienstleuten das Unglück seines Bruders zu bereden, war er nicht gewillt.

Er trat ans Fenster und starrte lange in den Hofraum hinab und begann dann auf und nieder zu gehen. Ihm war weh, sehr weh zumut und doch, als müßte er dem Schicksal danken, das ihn hergeführt. ›Sonst hätte ich wohl noch den Toten mit solchem Verdacht beladen‹, dachte er. ›Und was immer er gefehlt hat, Stunden, wie er sie jetzt da drüben durchmacht, sühnen vieles.‹

Langsam verrann die Nacht. Einmal, als er auf dem Sofa sitzend eingenickt war, weckte ihn das Weinen eines Kindes. ›Das arme Gretchen‹, dachte er. ›Natürlich muß nun die Mutter hierher übersiedeln, nach dem Rechten sehen. Aber es wird der alten Frau sauer werden – und ob das Kind dabei recht gedeiht.‹ Und die Sorge darüber verscheuchte trotz aller Müdigkeit den Schlaf von seinen Lidern, auch nachdem das leise Weinen längst wieder verstummt war.

So fand das graue Licht des kühlen, regnerischen Frühlingsmorgens, als es die Fenster seines Zimmers erreichte, den jungen Gelehrten noch immer wach. Georg hatte nicht lange zu warten, als er kurz nach drei, auf dem Weg aus dem Badezimmer, an seine Türe pochte. Das Frühstück stand bereit, hastig schlürften sie den heißen Trank.

Als Fritz im Vorzimmer seinen Überrock anzog, trat die alte Dienerin auf ihn zu. »Herr Doktor, ein Duell?« flüsterte sie angstvoll. »Der Hausmeister hat's eh' g'sagt, aber ich hätt's nimmer geglaubt! Denn – warum denn, Jesus, Maria und Josef, warum denn?!«

Er tat, als hätte er es nicht gehört, und folgte dem Bruder die Treppe hinab in den Wagen. Ein feiner Regen strömte auf die Straßen nieder, wie ausgestorben lag die Stadt im kalten, fahlen Licht. Die wenigen Nachtschwärmer, die ihnen begegneten, eilten fröstelnd ihrem Ziele zu, Arbeiter waren noch nicht zu sehen. Erst als sie die ewig lange Landstraßer Hauptstraße hinabfuhren, begegnete ihnen ein Wagen der Pferdebahn, der einen Haufen Maurer zur Stadt brachte. Dann die ärmlichen Häuser von Erdberg, die Kaiser-Josef-Brücke, unter welcher der Strom die grauen, mächtigen Wogen langsam dahinwälzte, bis sie die Donauauen erreichten, den »unteren Prater«: triefende Bäume, geschlossene Biergärten, endlich der Wald, in dem sich nichts regte als das stöhnende Laub, das der Wind peitschte. Nur einmal tauchten einige Strolche aus dem Gebüsch auf, riefen ihnen freche Worte zu und verschwanden dann wieder im Dickicht. Das waren auf lange hinaus die letzten Menschen, die sie sahen. Ein häßlicher Morgen, als wär's Spätherbst, und eine traurige, stumme Fahrt.

Zu einigen Worten unter den Brüdern kam es nur einmal, als sie, kurz vor der Brücke, die häßliche, von armen Leuten bewohnte Dietrichgasse durchfuhren. In der offenen Türe eines der Häuschen stand ein kleines, blondes, schwarz gekleidetes Mädchen und schaute sie mit stillen, traurigen Augen an. Da mochten sie beide dasselbe denken, denn ihre Blicke fanden sich und dann ihre Hände. »Unsere Mutter und du«, sagte Georg gepreßt, »ihr müßt mir das Kind fröhlich machen.«

Fritz drückte seine Hand. »Sprich nicht so!« bat er. Aber der Anwalt: »Chi lo sa! Und Häufle hat den ersten Schuß.«

Vor der hübschen »Meierei« in der Krieau, die in Wahrheit ein vielbesuchtes Restaurant ist, in dem nicht eben viel Milch getrunken wird, trafen sie als die ersten ein. Im Gastzimmer sah's noch wüst aus, ein verschlafener Kellnerjunge fegte es eben aus.

So mußten sie trotz der Nässe und Kälte auf der Veranda auf und nieder gehen, bis der Landauer heranrollte, der Georgs Sekundanten, den Unparteiischen und den Arzt brachte.

»Piccolo, Kognak! Kellner, Kognak! Wirtschaft, Kognak!« rief Baron Balkenhayn, ein Riese mit lachendem Vollmondsgesicht, so lange mit Löwenstimme, bis der Wirt herbeieilte, die Fenster des Gastzimmers schloß und das Gewünschte schaffte. Über den frühen Besuch schien er gar nicht erstaunt, musterte vielmehr den Verbandkasten des Arztes mit verständnisvollem Lächeln. »Entschuldigen Herr Baron«, sagte er, »aber wir haben halt gestern Konzert gehabt, bis gegen eins. Auch die Wachleute aus dem Prater waren dabei. Na, die können ja heut' bis Mittag ausschlafen. Aber wir –«

Die Minuten verrannen, die Uhr zeigte ein Viertel nach fünf, von der Gegenpartei war noch nichts zu sehen.

»Geben S' acht, Doktor«, sagte Balkenhayn lachend, »mit dem Ethiker erleben wir noch was!« Und nach weiteren zehn Minuten: »Ihre Reitpeitsche is doch in gutem Stand, Doktor?!«

Endlich – die Uhr der Gaststube schlug eben halb sechs – kam ein Fiaker langsam herangetrabt, Gäule und Wagen waren schlammbedeckt.

»Sixt es! Also doch!« sagte Balkenhayn und trat neben Fritz ans Fenster. »Und nicht etwa ein Komfortabel, sondern ein Fiaker mit zwei Pferden! Hätt's nimmer gedacht!«

Die Türe öffnete sich, ein junger Mensch in verschossenem Überzieher und weichem Zylinder, mit glatt rasiertem, etwas verlebtem Gesicht, kletterte zuerst hinaus.

»Hier Theodorich Steinmann«, sagte der Baron, »der große Rezitator – leert den großen Musikvereinssaal binnen zwei Minuten. Und hier« – er deutete auf einen starken, sehr spießbürgerlich aussehenden Mann in mittleren Jahren, der als zweiter ausstieg – »Herr Franz Xaver Scholz, hiesiger Vertreter der Bijouteriewarenfabrik Christian Häufle & Co. in Heilbronn, übrigens Landwehrhauptmann und soweit ein anständiger Mensch. Nun aber – aufgepaßt, Herr Doktor. Ja, das ist der Dichter Balthasar!«

Der Dozent traute seinen Augen nicht. Der da mühsam und ungeschickt aus dem Wagen tapste, war ein kleiner, dünner, fast knabenhaft aussehender Mensch mit einer Stulpnase im plattgedrückten Gesicht, um das ein Urwald von struppigen, fahlblonden Locken starrte. Die Kleidung genial: Radmantel, Kalabreser, eine rote Krawatte, deren Riesenflügel über das Sammetjackett gebreitet waren, das unter dem Mantel sichtbar wurde. Wie die »Fliegenden Blätter« den »Dichter« zeichnen. Und um dieses Menschen willen hatte sich eine Frau, wie Gertrud einst gewesen, selbst getötet. Viel hatte er um ihretwillen gelitten, der herbste Schmerz traf ihn erst jetzt.

Die drei traten ein, Häufle auch hier zuletzt. Fast wäre er über die Schwelle gestolpert, er war offenbar sehr kurzsichtig. Der Rezitator trat auf den Baron zu und entschuldigte sich weitläufig, sie hätten erst am Nordbahnhof einen Fiaker gefunden, auch seien die Pferde einmal gestürzt. Daß er dabei die Haltung und den dröhnenden Ton des anderen nachzuahmen versuchte, machte seine Rede nicht imponierender.

Man trat ins Freie und schlug den Weg zur Wiese ein, voran Pochwalski mit dem Unparteiischen, dann der Baron mit Stockmar, hierauf die Herren der Gegenpartei mit Häufle in der Mitte, der sich auf Scholz' Arm stützte, endlich Fritz mit dem Arzte. Balkenhayns Kutscher mit den Waffen und dem Verbandkasten schloß den Zug. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind wühlte im nassen Laub und warf die Tropfen nieder.

»Abscheuliches Wetter«, knurrte der Arzt und wickelte sich fester in den Mantel, »Aber was schneiden Sie für eine Miene, Herr Doktor?! Sie fürchten doch nicht ernstlich für Ihren Herrn Bruder?«

»Nein«, erwiderte Fritz gequält. »Allerdings hat Herr Häufle den ersten Schuß.«

Der Arzt lachte. »Und wenn schon! Nein, nein, Herr Doktor, mit Ihrem Bruder ist Gott!« Und als ihn Fritz befremdet anblickte, setzte er mit seltsamem Lächeln hinzu: »Gott ist immer mit den Stärkeren.«

Die Wiese war erreicht. Pochwalski und Scholz luden die Pistolen, der Unparteiische maß die Distanz ab. Inzwischen flüsterten Steinmann und Häufle hastig miteinander, bis der Rezitator vortrat: »Herr Häufle macht zur Bedingung, daß vorher seine Erklärung verlesen wird.«

Und er griff in die Brusttasche. Da aber rief Baron Balkenhayn donnernd: »Hier wird nichts mehr bedungen und nichts mehr rezitiert, hier wird geschossen!« Und auch der Unparteiische, ein kleiner, weißhaariger, beweglicher Mann mit freundlicher Miene, zwang sich zum Ernst und erklärte mit erhobener Stimme, das gehe gegen allen Komment.

Da aber trat Häufle vor. Er war totenbleich, die erhobenen Hände zitterten. »Dann will ich's sage!« schrie er stammelnd. »Die Dame ischt unschuldig – und ich auch – 's ischt ein Komplott!«

Einen Augenblick war es still, dann aber rief der Baron: »Bitt' schön, meine Herrschaften, auch Rezitationen im Dialekt gehen gegen den Komment!« Und darüber mußte selbst der Unparteiische lachen.

»Auf die Mensur!« befahl er dann. Häufle und Georg nahmen die angewiesenen Plätze ein. »Ich zähle«, fuhr er fort, »in Zwischenräumen von fünf zu fünf Sekunden von eins bis zehn. Bis spätestens fünf hat Herr Häufle zu schießen, bis zehn steht Herrn Doktor Stockmar die Abgabe seines Schusses frei.« Und er begann: »Eins . . .«

Fritz heftete seinen Blick auf den Bruder, der seitlings, erhobenen Hauptes, wie in Erz gegossen dastand, dann auf den Schwaben, der wankend, mit zitternder Hand die Pistole vors Gesicht hielt. Das Blut drängte ihm zu Kopfe, vor Mitleid, vor Widerwillen.

»Zwei . . .«

Wie entsetzlich lang waren diese Pausen! Und das sollten fünf Sekunden sein?!

Da – ein Blitz, ein Knall. Häufle hatte geschossen. Georg blieb stehen, ein Lächeln fuhr über sein Gesicht, drei Schritte von ihm entfernt war die Kugel ins Gebüsch gegangen. Und nun erhob er die Pistole und zielte.

»Drei . . . vier . . . fünf . . .«

»Entsetzlich!« stöhnte Fritz. Und in der Tat, es war ein kaum ertragbarer Anblick, wie der knabenhafte Mensch in wachsender Todesangst immer fahler wurde, immer sichtlicher wankte.

»Sechs . . . sieben . . .«

Der Rezitator trat auf Herrn Scholz zu. »Um Gottes willen«, rief er und deutete auf den Arzt. Aber der dicke Mann schüttelte betrübt den Kopf . . . Dem Dozenten drängte das Blut so wild gegen das Hirn, daß ihn ein Schwindel überkam, er mußte die Hand um den nächsten Baumstamm legen.

»Acht . . . neun!«

Ein gurgelnder Schrei, wie aus der Kehle eines Ertrinkenden . . . wild griffen die Hände des Schwaben in der Luft umher, dann brach er ohnmächtig zusammen.

Georgs Augen blitzten, sein Antlitz färbte sich dunkelrot vor Wut, er stampfte auf, und den bebenden Lippen entfuhr ein böses Schimpfwort. Doch hatte es wohl nur Fritz gehört, Scholz und Steinmann waren zu dem Ohnmächtigen geeilt, der Arzt folgte ihnen, Balkenhayn und Pochwalski sprachen mit dem Unparteiischen laut und erregt über den kaum erhörten Fall. Es währte eine Minute, bis sich der Oberst soweit gefaßt hatte, um, wie üblich, das Ergebnis des Duells auszusprechen. Natürlich war Häufle der Besiegte.

»Und nun geben Sie mir meine Pistole wieder«, wandte sich der alte Herr dann lächelnd an Stockmar, der noch immer fassungslos vor Zorn dastand, nahm ihm sanft die Waffe aus der Hand und entlud sie in die Luft. »Warum so deprimiert?« fragte er. »Haben Sie wirklich so sehr nach dem Blut dieses – Herrn gedürstet?!«

»Nein«, erwiderte Georg. »Aber solche Erbärmlichkeit . . .«

»Eben darum können Sie zufrieden sein«, sagte der Oberst behaglich. »Der Mensch hat sich selber moralisch umgebracht, das ist auch für Sie viel angenehmer, als wenn Sie ihn totgeschossen hätten. Einige Wochen Festung hätt's Ihnen doch eingetragen, sagen wir, in Josefstadt, und das ist wirklich keine nette Sommerfrische . . . Kommen Sie, meine Herren!«

Sie gingen. »Halt – unser Doktor!« sagte Pochwalski, wandte sich nach dem Arzte um, der noch immer um Häufle beschäftigt war, und rief ihn an. Er kam denn auch herbei, aber nur um sich zu verabschieden. Die Ohnmacht werde bald behoben sein, aber er wolle doch noch bei dem »armen Teufel« bleiben.

»Und die Wunden verbinden?« fragte Pochwalski lachend.

»Pflicht, Herr Rittmeister«, sagte der Arzt leichthin. Und dann immer ernster, bis er schließlich jede Silbe wuchtig betonte: »Vierzig Sekunden auf einen Menschen zielen, dazu gehören starke Nerven, und um es zu ertragen, ebenso starke. Alles Nervensache, meine Herren. Derlei hat eigentlich verdammt wenig mit der sogenannten Ehrenhaftigkeit zu tun.« Er griff grüßend an seine Kappe und ging.

»Herr Doktor!« rief ihm Stockmar erregt nach. Da legte ihm Balkenhayn begütigend die Hand auf die Schulter.

»Ein Arzt!« sagte er verächtlich. »Eben auch so ein Ethiker!« Und sie gingen lachend dem Restaurant zu, wo sie sich abermals eine kleine Herzstärkung gönnten. Nur Georg schwieg finster, und auch Fritz fand kein Wort; wieder einmal fühlte sich der sonst so klare Mann zu seiner Pein von den widerstreitendsten Empfindungen erfüllt.

Er atmete erst auf, als nun Balkenhayn, um rascher zu Hause zu sein, selbst mit Georg sein Coupé bestieg, während er mit den beiden anderen Herren im Landauer Platz nahm, und hätte doch kaum zu sagen gewußt, warum ihm nun das Alleinsein mit dem Bruder so peinlich gewesen wäre.

»Natürlich fährst du zu mir«, sagte Georg beim Abschied. »Deine Sachen sind inzwischen aus dem Hotel geholt worden.« Und als Fritz eine abwehrende Bewegung machte: »Aber das war ja selbstverständlich.«

Sie traten die Heimfahrt an, zunächst hielten sich noch beide Wagen dicht hintereinander. Der Regen hatte nun aufgehört, aber schwere graue Wolken jagten am Himmel, gepeitscht vom kalten, scharfen Wind. So lag die Allee von der Krieau zum Lusthaus, die sonst zu dieser Stunde viele Reiter sieht, ganz verödet. Nur als sie, am Lusthaus vorbei, in die große Praterallee einbogen, trabte eine Dame, von einem Reitknecht gefolgt, an ihnen vorbei. Als sie das Coupé passierte, neigte sie freundlich das Haupt, die Herren, die darin saßen, hatten offenbar gegrüßt. Das gleiche tat Pochwalski, als sie am Landauer vorüberkam. Eine prächtig gewachsene Brünette mit kühn geschnittenen, nur etwas zu fleischigen Zügen, die ihren Rappen mit lässiger Eleganz regierte.

»Wer war das nur?« fragte der Oberst. »Das Gesicht muß ich kennen.«

»Natürlich, von den Rennen her«, erwiderte der Rittmeister. »Reyher heißt sie, Clotilde von Reyher. Der Vater ist Baurat, hat bei der Stadterweiterung Millionen verdient.«

»Richtig! Ein Prachtmädel, obwohl nicht mehr ganz jung. Übrigens eine komische Passion, bei dem Hundewetter auszureiten. Und nun gar bis in die Krieau!«

»Oh, das hat seine guten Gründe!« erwiderte der Rittmeister mit listigem Lächeln und suchte mit Fritz einen Blick des Einverständnisses zu tauschen. Als ihn dieser jedoch befremdet anblickte, wurde er etwas verlegen und verwickelte dann den »Pferde-Haberl« rasch in ein Sportgespräch.

Der Dozent nahm keinen Teil daran. Also diese Dame, dachte er, hat, obwohl alles erst nach Mitternacht vereinbart war, doch schon heute im Morgengrauen gewußt, wann und wo das Duell stattfinden würde, dieselbe Clotilde, die auch rechtzeitig »der ganzen Ringstraße, soweit sie christlich ist«, Georgs herrliches Betragen rühmen konnte. Und da hörte er plötzlich die heiseren, stammelnden Worte wieder: »'s ischt ein Komplott.«

»Unsinn«, dachte er dann und fuhr sich über die Stirne. »Unsinn!« Und er zwang sich, dem Gespräch der anderen zu folgen, so gleichgültig es ihm war.

Aber da nahm dieses plötzlich eine Wendung, die ihn nur allzu sehr interessierte.

»Also der kleine Stojkovics ist nun auch ruiniert?« fragte der Oberst. »Apropos, hat man sich nicht vor einigen Jahren erzählt, daß seine Frau unsern Teufelskerl, den Doktor, gern gesehen hat?! Freilich, von wie vielen erzählt man das! Wenn er nun die alle heiraten müßte! Es ist vielleicht ein Glück für ihn, daß er überhaupt nicht heiraten kann, auch wenn seine Ehe geschieden ist – als Katholik.«

»Pardon, Herr Oberst«, sagte der Rittmeister eifrig, »das ist ein Irrtum. Darüber bin ich ganz genau orientiert. Eine geschiedene Ehe mit einer Protestantin, die nur protestantisch eingesegnet war – da bekäme wohl auch ein anderer den Dispens nicht allzu schwer. Und nun gar erst Stockmar mit seinen Verbindungen!«

Er wandte sich an Fritz. »Nicht wahr, Herr Doktor?!«

Der Dozent war sehr bleich geworden. »Ich, ich weiß nicht . . .« murmelte er.

Der Offizier blickte ihn erstaunt an. »Sind Sie nicht wohl?«

»Doch! Danke!«

Eine halbe Stunde später stieg er mit mühsam gewonnener Fassung die Treppe des Hauses in der Weihburggasse empor.

Der Anwalt war bereits in voller Tätigkeit. Auf dem Tische lag ein Haufen geöffneter Briefe, er selbst stand am Telefon und in ein so lebhaftes Gespräch vertieft, daß er das Eintreten des Bruders überhörte.

»Ich dachte sofort, daß Sie die Sache führen«, sprach er in den Apparat. »Natürlich, als Freund von Christian Bessel! Was ist der Alte nun? So, Buchhalter? Und hat sie bei sich aufgenommen? Nein, Kollege, ich hab's gar nicht anders erwartet! Nun, wie gesagt, ich möchte die Sache mit Ihnen besprechen. Vielleicht läßt sich der schlimmste Skandal doch noch verhüten. Der könnte ohnehin nicht schlimmer werden? O doch, verlassen Sie sich darauf. Kein Mandat zum Ausgleich? So schaffen Sie sich's oder hören Sie mich zunächst ohne Mandat an! Es fällt mir wahrhaftig nicht leicht, aber was tut man nicht als Vater – das arme Hascherl weint sich ja tot. In einer Viertelstunde schon? Mir auch recht. Auf Wiedersehen, Kollege.«

Als er sich umwandte und den Bruder gewahrte, schien er einen Augenblick verlegen. »Nun, endlich da?« fragte er dann und streckte ihm die Hand entgegen. »Der Baron hat mich schon vor einer halben Stunde heimgebracht. Und das war gut. Sieh her« – und er wies auf den Haufen Briefe –, »das will beantwortet sein! Beteuerungen der Freundschaft, der Teilnahme, sogar richtige Gratulationen! Und auf zwölf hat sich eine Abordnung meines Klubs angemeldet, die Herren wollen mich in ihren Vorstand wählen. Und es ist der angesehenste Klub der Stadt! Kurz, ich werde behandelt, als ob mir ein Glück, eine Ehre widerfahren wäre, und ich weiß doch: es ist Schmach und Unglück, freilich unverdiente Schmach, schuldloses Unglück. Aber mir ist deshalb doch bitter zumut, und ich weiß mir kaum mehr zu helfen.« Er legte die Hand auf die Stirne. »Rate du mir«, sagte er dann fast flehend und ergriff wieder die Hand des Bruders. »Denke du für mich! Da bestürmt mich eben der Vertreter meiner – der Gegenpartei um einen Ausgleich. Was soll ich tun?»

Der Dozent zog unwillkürlich seine Hand zurück. Die Wahrheit darüber hatte er ja eben selbst gehört. Dann zwang er sich zur Ruhe. »Ein Ausgleich? Zu welchen Bedingungen?«

»Natürlich baldigste Scheidung ohne Prozeß, aus gegenseitiger Abneigung, wie ich es schon im vorigen Jahre vorschlug. Zur Bedingung würde ich nur machen, daß sie meinen Namen ablegt. Kannst du mir dazu raten?« Und als der andere nicht sogleich eine Antwort fand, fuhr er fort: »Es spricht ja vieles dagegen. Nicht etwa meine Rachsucht, das liegt nicht in mir, aber auf die Genugtuung, die Ehebrecherin durch das Urteil nach Gebühr gezüchtigt zu sehen, würde ich schwer verzichten. Indes – um des Kindes willen würde ich mich darein finden. Wie beurteilt die Welt ein Mädchen? Nach der Mutter! Und Gretchen ist in zehn, zwölf Jahren heiratsfähig. Wer weiß, welcher entsetzliche Skandal da noch aufgerührt wird, wenn das Gericht erst die Dienstboten eidlich vernimmt. Ich war ja im eignen Hause verraten und verkauft.«

Fritz zuckte die Achseln. »Nun«, erwiderte er scheinbar ruhig, doch zitterte die Stimme unmerklich, »noch Schlimmeres als gestern in den Zeitungen stand, kann unmöglich herauskommen. Und Gretchen ist ja erst sechs Jahre alt. Aber weiterer Skandal wäre allerdings lieber zu vermeiden. Und ich meine: auch du hast es mit dem sechsten Gebot nicht allzu schwer genommen.«

»Da irrst du!« wehrte der Anwalt scharf ab. »Das heißt«, fügte er fast im selben Atemzuge lächelnd hinzu, »ich spreche mit meinem Bruder, und ein Heuchler bin ich ja überhaupt nicht – ich meine: nachweisen werden sie mir nichts können, nicht das geringste. Aber davon abgesehen: auch du rätst mir also zu einem Ausgleich?«

Der Dozent nickte. »Aber das Kind?« fragte er dann. »Ich denke, es bleibt nichts anderes übrig, als daß die Mutter zu dir zieht. Es wird ja der alten Frau schwerfallen, aber fremden Händen wirst du es doch nicht ganz anvertrauen wollen.«

Georg seufzte tief auf. »Da bin ich vollends ratlos!« rief er. »Die Mutter, eine fast siebzigjährige Frau, wo denkst du hin?! Die Großstadt, eine neue Zeit. Selbst wenn sie mir das Opfer bringen wollte, ich dürfte es um Gretchens willen nicht tun. Und eine Fremde« – er rang die Hände –, »mein einziges Kind in fremden Händen!«

»Aber zu einem von beiden wirst du dich doch entschließen müssen.«

»Es ist beides unmöglich!« rief Georg verzweiflungsvoll. »Wenn du das arme Kind gesehen hättest – aber du mußt es sehen –, es hat sich ja in den wenigen Tagen zum Schatten abgehärmt. Es ißt nicht mehr, schläft nicht mehr, weint nur immer und antwortet auf jede Frage: ›Wo bleibt die Mama! Ich will zur Mama!‹ Es ist herzzerreißend, Fritz, und ich gestehe dir offen, auch dieser Jammer macht mich einem Ausgleich geneigt. Ein schlechtes Weib, der Fluch meines Lebens, aber als Mutter war sie immer tadellos und wird es hoffentlich bleiben.«

»Georg!« Bleich, mit entsetzten Augen starrte der Dozent den Bruder an. »Du willst dein Kind, ein Mädchen, der Frau überlassen, von der du mir gestern erzähltest.« Die Stimme brach sich, dann aber stieß er fast schreiend hervor: »Da stimmt etwas nicht! Entweder ist dies Weib nicht schlecht, oder du selbst bist gewissenlos!«

Auch der Anwalt wechselte die Farbe, die Brauen zogen sich drohend zusammen. »Unsinn!« rief er rauh, aber dann wandelte sich jählings wieder Stimme und Ausdruck. »Nein, Fritz, nicht gewissenlos, nur ein hilfloser Mann, ein Vater. Du hast ja recht, es geht nicht. Aber was.«

Da trat der Bürodiener ein und meldete den Advokaten Dr. Sterzinger.

»Die Sache will reiflich erwogen sein«, sagte Georg zum Bruder. »Ich hoffe, du ruhst dich jetzt einige Stunden auf deinem Zimmer aus. Jedenfalls tue ich nichts ohne deinen Rat! Guten Morgen, Kollege!« Ein kleiner, schwarzbärtiger Herr mit klugen, scharfgeschnittenen Zügen trat eben ein.

Fritz ging auf sein Zimmer. Seine Pulse hämmerten schmerzhaft. »Ruhe! Schlafen!« murmelte er. Er streckte sich auf das Sofa hin und schloß die Augen, aber der Schlaf wollte lange nicht kommen, und dann breitete er sich auch nur wie ein Spinngewebe über das fiebernde Hirn. Als er aus dem quälenden Halbschlaf auffuhr, war's kaum halb zehn. Einmal, zweimal durchmaß er das Zimmer, dann war ihm die Ruhe eines Entschlusses wiedergekommen. Hastig kleidete er sich um, brachte seinen Koffer in Ordnung und ging die Treppe hinab. Im nächsten Café sah er das Adreßbuch ein und nahm dann einen Wagen. »Uhlandgasse 3.« Der Fiaker sah ihn mit einem verlegenen Lächeln an. »Wo is denn dös?« Aber auch der Dozent wußte es nicht, und so mußte der nächste Wachmann aus seinem Büchlein Bescheid geben. Es war ein Gäßchen im Stadtbezirk Favoriten, nahe dem Güterbahnhof der Staatsbahn. »Uhlandgasse«, murmelte der Fiaker, indem er seine Rosse in Trab brachte. »Da is g'wiß noch kein Mensch im Fiaker hing'fahren!«

Als der Wagen im Rollen war, schienen dem Dozenten wieder Bedenken zu kommen; er hob die Hand nach der Gummipfeife. Dann ließ er sie wieder sinken. »Nein«, murmelte er, »ich muß volle Gewißheit haben.«

Im schärfsten Trabe jagte der Fiaker dahin. Es war eine Fahrt von kaum zwanzig Minuten. Ihm dünkte sie unerträglich lang. Endlich hielt der Wagen in der armseligen Straße. Das Haus war zweistöckig, offenbar eine Mietskaserne. Im Torweg hing eine Reihe von Zetteln, die möblierte Zimmer, auch Schlafstellen ankündigten. Offenbar ein Haus, dessen Bewohner tatsächlich nicht viele Besuche im Zweispänner empfingen, aber daß der Fiaker unrecht gehabt, war sofort ersichtlich, denn vor dem Hause hielt bereits ein anderes solches Gefährt. Der Hausmeister, ein Schuster, stand im Torweg und sah den neuen Ankömmling mit forschendem Lächeln an. »Auch zum Herrn Bessel?« nahm er die Frage vorweg. Und als der Dozent erstaunt bejahte: »Zweiter Stock links, Tür II.« Und hinter sich her hörte Fritz den Mann brummen: »Was da wieder los is?!«

Langsam stieg er die halbdunkle Treppe empor, das Herz pochte ihm ungestüm. Auf dem Treppenabsatz des zweiten Stockwerkes kam ihm der kleine bärtige Mann entgegen, den er vorhin bei seinem Bruder gesehen hatte, stutzte sichtlich bei seinem Anblick und ging dann zögernd weiter. Der Anwalt hatte also nicht versäumt, seiner Klientin zu berichten. Vielleicht war die Sache bereits geordnet.

Oben stand der Dozent vor der Wohnungstür still und holte tief Atem, noch immer wollte sich sein Herzschlag nicht beruhigen. Ein breites Schild aus schwarzem Marmor wies in prunkenden Goldbuchstaben den Namen des Mieters: »Christoph Bessel«. Das Schild erinnerte ihn an jene Stunde, wo er Gertrud kennengelernt. Es hatte schon an der geschnitzten Eichentüre in der Kantgasse geprangt. Dort war es an seiner Stelle gewesen, zu dieser armseligen Umgebung, dem Eisenstab, der als Glockenzug diente, paßte es schlecht.

Eben wollte er die Glocke ziehen, als sich die Tür auftat, und ein weißhaariger Mann heraustrat. Es war Christoph Bessel. An anderer Stelle hätte ihn Fritz vielleicht nicht erkannt, obwohl er ihn vor kaum vier Jahren zuletzt gesehen hatte, so sehr war er inzwischen gealtert. Bessel aber erkannte ihn sofort, fuhr zusammen und sah ihn finster, ja feindselig an. »Sie wünschen?«

»Ich wollte«, begann Fritz und stockte wieder, es kam ihm nun erst, wo er es aussprechen sollte, ganz klar zum Bewußtsein, wie seltsam sein Vorhaben war, eine Frau zu befragen, ob sie sich selbst entehrt habe.

»Meine Schwägerin«, fuhr er fast stammelnd fort. »Ich höre, sie ist in Ihrem Hause.«

Der alte Mann nickte, »Sie kommen im Auftrag Ihres Bruders?«

»Nein«, sagte Fritz. »Im Gegenteil.« Und als ihn Bessel fragend ansah, fuhr er nun fest fort: »Ich wünsche meine Schwägerin eben deshalb zu sprechen, weil ich immer die höchste Achtung für sie empfunden habe.«

Noch stand Bessel unschlüssig, dann öffnete er die Tür mit dem Drücker und ließ Fritz in den kleinen, dunklen Korridor treten. »Einen Augenblick.« Er verschwand, es währte einige Minuten, bis er in einer geöffneten Zimmertür wieder auftauchte. »Bitte, Herr Doktor!«

Fritz trat in die peinlich saubere, aber dürftig eingerichtete Stube, offenbar das Speise- und Wohnzimmer der verarmten Familie. »Entschuldigen Sie, wenn nur ich Sie empfange«, sagte Bessel, rückte einen der Stühle vom Speisetisch ab, blieb aber selbst stehen. »Gertrud ist sehr erschüttert. Es ist meine Pflicht, ihr jede weitere Aufregung, soweit möglich, fernzuhalten. Und darum bitte ich, mir kurz zu sagen, was Sie von ihr wünschen. Verzeihen Sie, wenn ich auch um Kürze bitte. Aber ich stehe nun in fremden Diensten und sollte längst im Kontor sein.«

Der Dozent wurde wieder verlegen. »In wenigen Worten läßt sich's kaum sagen. Ich war wie betäubt, als ich es gestern zufällig erfuhr, und eilte hierher, weil ich ein Mißverständnis vermute. Und das kann es ja auch nur sein!«

»Natürlich!« sagte der alte Mann bitter. »Mißverständnis – gut, sehr gut!« Er lachte auf. Dann fuhr er ruhiger fort: »Nein, Herr Doktor, es war kein Mißverständnis. Ihr Bruder hatte eine Ehe aus Spekulation geschlossen und wollte nun wieder frei sein, um durch eine zweite Ehe ein noch besseres Geschäft zu machen. Wenigstens glaubt er das. Und da Gertrud nichts von einer Scheidung wissen wollte, so half er sich eben auf andere Weise. Es war nicht sein Wille, daß er dabei nur blieb, was er immer war: ein Schurke, und nicht auch zum Mörder wurde. Nicht sein Wille, Herr Doktor.«

Fritz war sehr bleich geworden. Ähnliches hatte er ja zu hören befürchtet, nun traf es ihn doch mit zermalmender Wucht.

»Ist das nicht zu hart?« fragte er murmelnd.

»Nein«, sagte der alte Mann. »Wort für Wort ist es wahr und gerecht. Warum warb er um Gertrud? Gewiß gefiel sie ihm auch, kein Wunder! Ein solches Mädchen. Aber er hielt doch erst um sie an, als ich ihm sagte: ›Dann mache ich Sie zum Rechtskonsulenten der Wienerbank.‹ Sechstausend Gulden jährlich Fixum, Gelegenheit zu größerer Klientel, eine schöne, gute, bescheidene Frau, dazu der Ruhm der Selbstlosigkeit; sagen Sie selbst, war das für einen jungen Advokaten in einer Stadt, wo es fünfhundert Advokaten gibt und davon ein Drittel ohne Brot, nicht ein gutes Geschäft?! Aber Sie fragen vielleicht, warum ich es getan habe? Weil er ein Blender ist, und weil Gertrud ihn liebte. Dann, als ich sah, was hinter der Pose steckte, war es eben zu spät. Übrigens habe auch ich seine volle Niedertracht erst dann erkannt, als ich durch den Zusammenbruch meines Cousins Hinterstoißner – ›Hinterstoißner & Mayr‹, Sie werden davon gehört haben, Herr Doktor – selbst ein ruinierter Mann wurde. Wie er sich damals gegen mich und die Meinen benahm – aber wozu auch noch darüber reden?! Und was Gertrud litt, haben Sie ja selbst mitangesehen. Dennoch ließ sie nicht von ihm. Und da Fräulein von Reyher nicht länger warten wollte – oder konnte, was weiß ich?! –, so setzte er eben das Mißverständnis in Szene.«

Dem alten Manne versagte die Stimme, seine Fäuste ballten sich. Und als er fortfuhr, rangen sich die Worte mühsam von seinen Lippen. »Geschickt gemacht war's, das muß man ihm lassen. Der Häufle – natürlich hatte er ihn selbst ins Haus gezogen –, allerdings ist er ja als Verführer etwas unwahrscheinlich, aber dafür ein lächerlicher, verschüchterter Mensch. Dabei Reserveoffizier, der sich stellen muß, und doch ohne jede Gefahr niederzuknallen. Und Tote können vor Gericht nicht zeugen. Ein Mord, ein Meineid, und man kann endlich Hochzeit halten.«

Totenfahl, schwer atmend stand Fritz da. »Aber Häufle lebt ja . . .«, stieß er endlich hervor.

»Freilich, das ist eben das bißchen Unglück in dem vielen Glück. Kostet aber doch nur Geld. Die Hauptsache ist trotzdem erreicht. Dann schlägt man eben einen Ausgleich vor und tut es als geschickter Mensch sofort, ehe die dummen Proleten, die Bessels und die unglückliche Frau, vom Ausgange des ›Ehrenhandels‹ etwas wissen können. Freilich ahnte unser Doktor, der Sterzinger, als er ihm jede Auskunft über das Duell verweigerte, sofort die Wahrheit, erklärte, nur unter sehr günstigen Bedingungen vermitteln zu können, und fuhr darauf zuerst zu Häufle, dann hierher. Aber das sind ja bloß Geldfragen!«

»Der Ausgleich ist angenommen?«

»Ja. Gertrud hat es so gewollt, auch unser Doktor war nicht dagegen. Bessere materielle Bedingungen kann sie allerdings auch im Prozeß nicht ersiegen. Stockmar begibt sich jeden Rechtes auf das Kind, sichert ihm ein anständiges Vermögen, Gertrud eine standesgemäße Rente. Was er sich ausbedingt: daß sie seinen Namen ablege, ihren Wohnort außerhalb Wiens nehme, ist ja selbstverständlich. Natürlich geht sie nach Deutschland. Das täte sie schon um ihretwillen auf alle Fälle!«

»Und Sie, Herr Bessel?« rief Fritz. »Sie dulden das? Mein Gott, dann bleibt ja die Schmach auf ihr haften! Es darf nicht sein!«

Der alte Mann blickte ihn durchdringend an.

»Und das sagen Sie, Herr Doktor?!«

»Ja, ich!« rief der Dozent. »Soll ich mich in dieser Sache als Georgs Bruder fühlen?! Dann wäre ich seiner wert! Ich wiederhole: Es darf nicht sein!«

Bessel war sehr erregt. »Darf nit sein!« rief er, plötzlich in den Dialekt fallend, als hätte er das Hochdeutsche nur wie eine Fessel getragen. »Sie hab'n gut reden! Die Weiber woll'n ja nix hören! Die Kehl' hab' ich mir heiser g'redt!« Unschlüssig durchmaß er das Zimmer.

»Es wird doch gut sein«, sagte er endlich ruhiger, indem er stehenblieb, »wenn Sie mit Gertrud sprechen. Ich weiß, sie hat immer viel von Ihnen gehalten. Bitte, einen Augenblick.«

Er ging. Wieder währte es lange, bis er zurückkam. Hinter ihm trat Gertrud ein. Dem Gelehrten krampfte sich das Herz zusammen, als er in die hageren, verhärmten Züge blickte. Was mußte sie in diesem Jahre, was in den letzten Tagen gelitten haben!

Sie trat auf ihn zu und bot ihm die Hand. Eine feine Röte breitete sich über ihr Antlitz. »Ich danke dir, Fritz, daß du gekommen bist«, sagte sie, wies auf einen Stuhl und ließ sich ihm gegenüber nieder. »Ich weiß es nach seinem vollen Wert zu schätzen. Freilich, deinen und Herrn Bessels Rat kann ich nicht befolgen.«

Sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. War ihm je unklar gewesen, was ihm diese Frau war, jetzt wußte er es. Alle Kraft seines Willens mußte er aufbieten, um äußerlich gelassen zu bleiben. »Warum?« fragte er. »Für wen willst du das furchtbare Opfer bringen?«

»Für mein Kind«, erwiderte sie. »Auch Dr. Sterzinger meint: der Prozeß kann lange Monate, im schlimmsten Falle Jahre dauern. Und während dieser Zeit verkommt mir mein Kind. So aber habe ich es binnen einer Stunde hier. Frau Bessel macht sich eben bereit, es zu holen.«

»Die alte Tini ist ja bei ihm«, sagte Bessel, »und die gibt er schon aus Bequemlichkeit nicht fort. Eine treue Seele, sie tut, was sie kann.«

»Das ist's eben«, fiel sie ein, »was sie kann; die Mutter wird sie Gretchen nicht ersetzen. Übrigens, dieser Grund wäre ja genügend, aber es ist nicht mein einziger. Ich bin müde, so sehr müde und muß gesund bleiben. Unter den Aufregungen dieses Prozesses würde ich wohl zusammenbrechen. Ich kenne ihn, er ist furchtbar, wenn ihm jemand im Wege steht.«

»Liebes Kind«, sagte Bessel, »das weißt du längst, und es hat dich nicht gehindert, seinem Vorschlag im vorigen Jahr dein Nein entgegenzusetzen. Gegen meinen Rat, aber du bliebst immer dabei: ›Das geht vorbei, an mir liegt nichts, ich will dem Kinde den Vater, das Vermögen erhalten.‹ Nun wohl, wie stehen die Dinge heute? Diesen Vater kannst du ihm gottlob nicht mehr erhalten, aber den unbefleckten Namen seiner Mutter!«

»So denke auch ich«, fiel Fritz ein. »Was soll deine Tochter einst denken.«

Wieder schlugen ihr die Flammen ins verhärmte Antlitz. »Auch dies ist erwogen«, erwiderte sie dann fest. »Meine Tochter wird nie schlecht von mir denken. Dafür werde ich sorgen, nicht durch Reden über diese Dinge, sondern durch mein Leben. Auch irrst du, wenn du dem Prozeß gar so viel Einfluß auf das Urteil der Welt beimißt. Dies Urteil steht fest, und nichts kann es ändern. Er und jene Dame haben die Gesellschaft für sich, die Zeitungen, alles. Und Volkes Stimme ist ja Gottes Stimme, sagt man, die beiden haben gesiegt, kein Wunder – sie sind die Stärkeren.«

Da hörte Fritz heute zum zweiten Male denselben Gedanken, und wieder rüttelte er ihm das Innerste auf, obwohl er ihm, dem Historiker, wahrlich nicht neu war. Aber wie dem Arzte, wußte er auch ihr nichts darauf zu entgegnen. Denn was er sich als Trost dafür errungen hatte, gehörte zu jenen innersten Überzeugungen der Seele, von denen eine keusche Natur anderen nicht sprechen kann.

»Und nun genug von mir«, sagte sie. »Wie ist es dir in all den Jahren ergangen? Hoffentlich gut, denn du hast viel gearbeitet. Nur eine Freude hast du mir noch nicht gemacht.« Ein leises Lächeln stahl sich um ihre Mundwinkel und verschönte wundersam das blasse Antlitz. »Und ich habe dich vor sechs Jahren schon so darum gebeten!«

Er errötete bis ans Stirnhaar und schüttelte dann leise den Kopf.

»Warum nicht?« fragte sie. »Wer so liebevoll ist wie du, Fritz, ist auch liebebedürftig. Und wie würde sich deine alte Mutter darüber freuen.«

Dann erhob sie sich und bot ihm die Hand. »Leb wohl, und tausend Dank, ich vergesse es dir niemals. Jetzt aber, verzeih, ich habe heute noch soviel zu ordnen, morgen reisen wir, Gretchen und ich. Wann willst du nach Innsbruck zurück?«

»Mit dem nächsten Zug, halb eins. Wo willst du dich niederlassen?«

»In einer kleinen Stadt«, erwiderte sie, »wo mich nichts von der einzigen Aufgabe meines Lebens ablenkt, der Erziehung meines Kindes.«

Voll und klar blickte sie ihm ins Auge, und er verstand diese Antwort. So standen sie einen Atemzug lang Hand in Hand und Aug in Auge einander gegenüber und wußten beide: es war ein Abschied fürs Leben.

»Leb wohl, Fritz.« Und sie ging.

Als der Dozent eine halbe Stunde später wieder den Torweg in der Weihburggasse betrat, blieb er einen Augenblick nachsinnend stehen. »Nein«, murmelte er dann vor sich hin, »kein Wort mehr an den Menschen – kein Wort.«

Im Vorzimmer traf er drei sehr elegant gekleidete Herren, die eben ihre Überzieher ablegten. Offenbar die Abordnung des Klubs, von der Georg gesprochen hatte. Rasch ging er an ihnen vorbei, den Korridor entlang, seinen Koffer zu holen.

Als er eine Minute später wieder das Vorzimmer passierte, hatte der Sprecher der Deputation drinnen bereits seine Rede begonnen. Ein Herr mit kräftiger Stimme. Trotz der verschlossenen Türe vernahm Fritz Stockmar einzelne Worte:

»Ehrenmann . . . gerade in diesem Augenblicke . . . allgemeine Hochachtung . . .«

 


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