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Wir saßen im Klub, unser fünf, lauter reife, zwei von uns alte Männer, und sprachen doch, was sonst nur die ganz Grünen tun, über die Frauen im allgemeinen. Weiß der Himmel, wie wir in diese Geschmacklosigkeit geraten waren, aber nun hatten wir uns darein verrannt. Die Scherze, gut und schlecht, meist schlecht, die Aphorismen, eigene und fremde, meist fremde, flogen nur so durch die dicke Luft des Rauchzimmers.
Nur einer schwieg, gerade der berufenste Mann; freilich sah man ihm den Fachmann in solchen Fragen eigentlich nicht an. Mit seinem ernsten, scharf geschnittenen Gesichte, dem klaren, raschen Blick der dunklen Augen, der schlanken, beweglichen Gestalt freilich ein schöner, aber dabei doch, wie seine Freunde von der Börse sagten, ein sehr gediegener Mann. So nennt man dort nur die Zielbewußten und Erfolgreichen; wirklich hatte auch er immer dem Einen nachgestrebt, auf reinlichen Wegen reich und berühmt zu werden, bis es ihm gelungen war. Er war nun Direktor und Alleinherrscher der größten Bank im Staat, Abgeordneter, Volkswirt und in allem ein Erster.
Wie er trotzdem die Zeit fand, immer und auch heute noch seine Studien über die Frauen zu machen, war eigentlich ein Rätsel, aber es glückte ihm. Jeden Winter hörte man von ihm mindestens eine große Geschichte; auch in dieser Saison hatte er bereits durch seine Tatkraft nicht bloß die Stadt mit billiger Kohle, sondern auch die Klatschmäuler mit einem Leckerbissen versorgt: eine junge, schöne Frau ließ sich seinetwegen scheiden; zu welchem Zweck, verstanden die Leute nicht, denn der Gatte schien duldsam, und der Direktor heiratete sie gewiß nicht. Sie nicht und keine andere; er war auch nun zu alt dazu, Ende der vierzig.
Wer ihn so sah, tüchtig und rastlos, gütig und gewissenhaft, hätte an diesen Teil seiner Lebensarbeit gar nicht glauben mögen. Auch sah er für seine Jahre frisch genug aus; selbst das braune Haar war noch voll. Nur der weiche Mund und ein jähes Licht, das in seinen braunen Augen aufblitzte und erlosch wie Wetterleuchten, verriet dem Kundigen, daß er auch hier wie in allem Ernste nur tat, was ihm der Zwang seiner Natur gebot. Gewissenlos war er trotzdem auch darin eigentlich nicht; er nickte nur eben ja, wenn ihn Frauenaugen um Antwort fragten. Schlimmeres wurde ihm nur von Leuten nachgesagt, die nie eine solche Frage in schönen Augen lesen durften.
Dieser Mann also war's, der unserem Disput als einziger schweigend mit einem leisen Lächeln um die Lippen folgte. Ob einer den Frauen Schlimmes oder Gutes nachsagte, ob er klug oder minder klug redete – und namentlich einer, ein schönbärtiger Anwalt, dozierte wirklich minder klug –, unser Fachmann hörte nur immer zu.
Aber gerade dieser Demosthenes sollte ihm endlich ein Wort entlocken, sogar eines der Zustimmung. Mit einer Wichtigkeit, als hätte er eben das erlösende Wort gefunden, zitierte der Anwalt den Gemeinplatz: »So schlecht wie ein schlechtes Weib kann kein Mann sein, aber so gut wie ein gutes auch keiner! Hab' ich nicht recht, meine Herren?« Und er sah sich triumphierend um. »Das ist noch die Frage«, erwiderte ihm der alte, sarkastische Sanitätsrat, »obwohl man's seit einigen Jahrhunderten sagt.« Und da war's, wo der Direktor einfiel: »Nein! Neu ist's nicht, aber wahr. Das ethische Empfinden geht bei den Frauen ins Extrem. Und dies gehört zugleich zu dem wenigen, was von allen gilt und sich in Worten ausdrücken läßt!«
»Nun«, meinte der Arzt, »wir – nicht alle, aber zum Beispiel Sie – wissen doch recht viel von den Frauen, und was homo sapiens weiß, kann er doch auch sagen.«
Der Direktor schüttelte den Kopf.
»Die Sache liegt, glaub' ich, nicht so einfach«, meinte er. »Seit es Menschen auf Erden gibt, treiben sie, Männer und Frauen, Psychologie des anderen Geschlechts, in der Jugend Einzel-, mit kühlerem Blut Massenpsychologie. Das muß ja so sein! Mann und Frau fühlen: ›Das ist ein Mensch wie ich und doch anders als ich, auch seelisch anders.‹ Aber wo steckt nun diese seelische Verschiedenheit? In allem. Aber fassen können wir sie nicht, eben weil sie so ungeheuer ist, und – weil wir nicht aus unserer Haut heraus können. Nur was man ganz versteht, kann man gerecht beurteilen. Wir sind ja eben – ich ein Mann und die da ein Weib, und weil wir's sind, sind wir so verschieden, im Tiefsten, im Geheimsten dem anderen rätselhaft. Und eben weil es sich um Tiefstes, um Geheimstes handelt, läßt uns nur selten, nur auf Augenblicke der Instinkt hellsehend werden; wo gibt's dafür Worte?! So helfen sich Männer und Frauen in ihrer Massenpsychologie mit der Zusammenfassung von Beobachtungen über das, was sich eben beobachten läßt! Und das gibt nur ein ganz grobes, äußerliches Bild, das in wenigem wahr ist. Nur eben im Allergröbsten. Das starke, das schwache Geschlecht, beides vom Körper gemeint, das ist wahr. Aber das schöne Geschlecht? Schon das ist nur vom Standpunkt des Mannes richtig und gilt nur deshalb seit Jahrtausenden, weil die Frauen aus Eitelkeit zustimmen; in Wahrheit sind wir in ihren Augen das schönere Geschlecht; die Natur gebietet's ihnen so. Eitel, erbarmend, kleinlich, geduldig, schlau, schwatzhaft?! Das sind die Männer auch, nur zum Teil in anderen Formen. Kurz, was wir von den Frauen wissen, können wir nicht sagen, und was wir sagen können, ist zumeist so schief, daß es nicht der Mühe wert ist, gesagt zu werden. Da ist Ihr Zitat« – er wandte sich an den Anwalt – »noch ein weißer Rabe. Das Wort schöpft das Tiefste nicht aus, aber es rührt doch ans Tiefste . . .«
»Aber ob es wahr ist?« meinte der Arzt.
»Ja, das ist wahr«, erwiderte er sehr ernst. »Weiß der Himmel, ja! Machen Sie doch nur die Augen auf, und Sie müssen es sehen, natürlich nicht immer grell, im großen, aber wahrlich deutlich genug – alles im Übermaß, das Gute, das Schlechte. Welches mehr?! Ich weiß es nicht, ich hab' beides erfahren. Schon als junger Mann beides.«
Und seine Stimme klang fast bewegt, als er fortfuhr: »Leider auch das Schlechte . . . weniges, was mir widerfahren ist, beklage ich so, als daß mir eben das Schlechteste so früh ins Leben eingriff. Freilich danke ich meinem Schicksal, daß dann auch in einigen Jahren das Beste folgte! Das eine wurde mir zum Fluch und das andere zum mindesten so weit zum Segen, als mir überhaupt noch etwas Rettung sein konnte. Ganz bin ich nicht mehr zu retten gewesen.«
Das klang so ernst, daß niemand etwas sagte. Und vollends fiel keinem bei, zu drängen: »Erzählen Sie!« Wir wußten alle, das tat er nicht. Niemals hatte jemand auch nur das harmloseste Abenteuer von ihm selbst gehört. Und nun gar heute – so bewegt hatten wir ihn kaum je gesehen.
Aber eben daran lag es wohl, daß er jetzt plötzlich in die Stille hinein sagte: »Nun, ich will's Ihnen erzählen, es spricht eigentlich nichts dagegen. Zu rühmen habe ich mich beider Geschichten nicht – das wäre ein Hinderungsgrund. Aber zu schämen eigentlich auch nicht, denn das wäre auch einer. Ich bin in beiden nur eben das Objekt gewesen. In der ersten nun gar, da wollte und handelte ich wirklich nicht viel.
An Geschichten, wie diese erste, denkt man nicht gern zurück; ich will's so kurz machen wie möglich.
Ich bin der Sohn eines Weimarer Anwalts; ich habe keine Erinnerung an ihn; er starb, als ich zwei Jahre alt war. Um so deutlicher steht mir das Bild meiner Mutter vor Augen; eine tüchtige Frau, brav und tapfer, freilich nicht eben mild; Not macht hart. Sie hatte sich und ihre drei Kinder – ich hatte zwei ältere Schwestern – in Ehren durchzubringen, durch Musikunterricht, Kostschüler, Häkelarbeit, und faßte mich weichen, verträumten Jungen etwas rauh an.
Gleichviel – ihr danke ich's, daß ich glatt, sogar als Musterschüler durchs Gymnasium kam; mein Brot hab' ich mir durch Stundengeben früh selbst verdient. Kein Wunder, daß ich in dem düsteren Licht, in der dünnen, scharfen Luft einer solchen Jugend ein reiner Knabe blieb, noch als Achtzehnjähriger, als ich zur Universität abging, von keinem unkeuschen Gedanken berührt.
Ich sollte nach Jena. Da erklärte sich – meine Mutter hatte ihm geschrieben – ein Jugendfreund meines Vaters bereit, mich als Lehrer für seinen Knaben ins Haus zu nehmen; er war Anwalt in einer anderen, bedeutenderen Universitätsstadt. Ein großes Glück; meine Mutter ließ mich freudig ziehen.
Ein Glück schien's mir auch, als ich dort war. Ein reiches, behagliches Haus, treffliche Menschen. Den Herrn des Hauses sah ich, wenn überhaupt, nur bei den Mahlzeiten, er war sehr überlastet, zudem oft in Geschäften verreist. Ein stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, wortkarg, aber freundlich, die verkörperte Ehrbarkeit. Nach dem Tode seiner ersten Frau hatte er vor vier Jahren ein Mädchen geheiratet, das dem Alter nach seine Tochter hätte sein können. Das wunderte niemand; sie war jung und schön, aber auch sehr ernst und gefestet, keine Frömmlerin, aber gleich ihrem Vater, einem Superintendenten, sehr fromm.
Auch durfte nun alle Welt mit Grund überzeugt sein, daß die Ehe glücklich war; Frau – sagen wir – Klara lebte nur für ihren Gatten, ihr Haus; der Anwalt kannte nur ein Glück, sie zufrieden zu sehen; gleich innig liebte er wohl nur das Kind, das sie ihm geschenkt hatte, ein holdes dreijähriges Mädchen. Aber auch seinen beiden Söhnen erster Ehe – der eine, Martin, mein Alters- und Studiengenosse, der jüngere, der elfjährige Fritz, mein Schüler – war der Justizrat ein Vater, wie er sein soll. Und Frau Klara war ihnen vollends die beste Stiefmutter der Welt. Aber wie vergalten sie ihr das auch!
Kurz, ein ideales Familienleben. Gleich reine Luft hatte auch bei mir daheim geweht; nur so weiche Güte war dort nicht zu finden gewesen. Täglich von neuem pries ich mich glücklich, hergekommen zu sein, denn auch mir begegneten alle freundlich, Frau Klara wahrhaft mütterlich, trotz ihrer neunundzwanzig Jahre. Sie machte zwischen Martin und mir keinen Unterschied, duzte mich sogar von Anbeginn – und ich war ja doch nur der Hauslehrer. Erwägen Sie, wie diese tausend Beweise von Zartgefühl und Wohlwollen auf mich wirken mußten. Zudem war sie schön; herrliches aschblondes Haar, ein feines, belebtes Antlitz, die Gestalt schlank und doch weich.
Ich blickte zu ihr auf wie etwa ein junger schwärmerischer Sizilianer zur Madonna; sie ist ihm eine Heilige, der Inbegriff aller Reinheit und doch zugleich die Verkörperung holdester Weiblichkeit. Für sie wär' ich mit Freuden durchs Feuer gegangen, dazu bot sich keine Gelegenheit, wohl aber konnt' ich ihr bald – im Mai schon, zu Ostern war ich ins Haus gekommen – zum mindesten einen kleinen Dienst erweisen.
Er betraf ihren Sohn Martin. Ein nervöser, linkischer, unbegabter, aber guter Junge; er hatte sich seit dem ersten Tage innig an mich geschlossen; mir allein zeigte er seine Gedichte, in denen er Bismarck, Luther und drei junge Damen – mehr kannte er nicht – in schauerlichen Reimen besang. Dann besang er auch mich, zumeist als Apoll, denn Verse machte auch ich, und ihm wenigstens gefiel ich.
Das heißt – es gehört ja zu meiner Geschichte, daß ich's sage – nicht ihm allein. Damals zuerst, in der großen Stadt, merkte ich, daß ich auf die Frauen wirkte; es war mir nicht unangenehm und machte mir doch bange; das war alles. Mein Blut schlummerte noch.
Mit Martin schien's anders. So wenigstens deutete ich's, als ich ihn eines Abends in furchtbarer Verstörung traf: ›Geh!‹ schrie er auf, als ich in sein Zimmer trat, ›ich muß allein sein!‹ Auch in den nächsten Tagen erschien er nur zu den Mahlzeiten, ein scheuer, jählings verdüsterter Mensch. Am schlimmsten war's, wenn ihn die Stiefmutter ansprach; er zuckte zusammen, wurde noch fahler, als er ohnehin war, und gab mühsam Antwort.
Sie zog, ihr Gatte war auf Wochen verreist, mich ins Vertrauen. Was Martin fehlte? Es bedrückte ihr Gemüt. Purpurrot wagte ich meine Vermutung zu stammeln, er sei wohl sehr verliebt. Sie lächelte mild und ruhig: das sei es nicht, ich möge die Wahrheit herausbringen. Aber er wies mich finster ab oder sagte weich: ›Laß mich, Heinz, das sagt man niemand!‹
Dabei verfiel er zusehends; des Nachts sah ich Licht in seiner Stube brennen und hörte ihn auf und nieder gehen, die Kollegien besuchte er nicht mehr. Da fand ich eines Tages, als ich in seiner Abwesenheit sein Zimmer betrat, die Lösung des Rätsels auf seinem Tische liegen: ein Manuskript, mit zitternder, kaum lesbarer Hand geschrieben, ein Drama. Rasch überflog ich die wenigen Blätter. Ein junger Florentiner des Cinquecento entdeckt, daß seine Mutter den angebeteten Vater schmählich hintergeht; das Ganze war eigentlich nur ein Monolog, in dem der Held verzweiflungsvoll erwägt, ob und wie er dem Vater das Furchtbare offenbaren solle.
Ich atmete auf, also nur furor poeticus war's, und beeilte mich, es Frau Klara mitzuteilen. Sie wandte sich ab; ich sah, wie ihr die dunkle Röte ins Gesicht schlug und dann fahler Blässe wich; es schmerzte sie offenbar, daß der geliebte Sohn seine Phantasie mit derlei wüstem Zeug beschmutze. Dann jedoch lächelte sie mild und ruhig wie immer: ›Gottlob, daß es nichts weiter ist! Aber sprechen will ich doch morgen mit ihm darüber. Dichten mag er in Gottes Namen – ich glaube, er hat Talent – aber doch nicht des Nachts!‹
Am nächsten Tage rief sie ihn wirklich auf ihr Zimmer und mußte ihm wohl ernstlich ins Gewissen geredet haben, nicht so auf seine Gesundheit einzustürmen, denn die Unterredung dauerte über eine Stunde, aber welchen Erfolg hatte sie auch! Mit leuchtenden Augen, von freudiger Erregung bebend, stürzte er in mein Zimmer und warf sich an meine Brust: ›Heinz, welch ein Tor war ich, welch ein Verbrecher! Und welchen Dienst hast du mir geleistet, indem du das Manuskript lasest und es der Mutter verrietest! Sie ist die herrlichste der Frauen!‹ Der Jubel schien mir zwar ein wenig überschwenglich wie früher das poetische Fieber, aber seinen letzten Worten wenigstens konnte ich beistimmen. Die herrlichste der Frauen war sie ja wirklich.
Und das war sie auch noch vier Wochen später in meinen Augen, aber nun galt ich mir bereits selber als ein Verruchter. Da stand ich eben schon in Flammen, daß ich glaubte vergehen zu müssen vor körperlicher, vor seelischer Qual.
Wie es gekommen war?! Natürlich ohne ihr Verschulden, kein Engel war je reiner. Ich hatte auf dem Gymnasium nicht allzuviel gelesen; der Kampf ums Brot behinderte mich. Nun faßte mich die Lesewut, ich saß allabendlich im Bibliothekszimmer und verschlang einen Band nach dem anderen. Sie hatte es mir gütig gestattet und nur lächelnd gemeint: ›Nicht zu viel, Heinz, hörst du – und nur gute Bücher!‹ Nun, sittlich schlechte, oder was wenigstens der Philister so nennt, gab's da überhaupt nicht – aber bis weit über Mitternacht saß ich immer da, und oft genug trieb mich erst das frühe Licht des Junimorgens ins Bett. Und wie ich eines Abends so sitze, in den Don Quichotte versunken, und vor den Fenstern lauert die schwüle, dunkle Frühlingsnacht, fühle ich plötzlich, wie sich eine weiche, warme Gestalt an meine Schulter lehnt, daß es mich glühheiß überläuft, während mir der leise Duft des gelösten Haares den Atem benimmt, und sie ist's; mit ihrem milden, mütterlichen Lächeln greift sie nach meinem Buch, entwendet es mir und drückt mir mit ihrer weichen, heißen Hand, an der die Pulse jagen, scherzhaft die Augen zu: ›Nun aber ins Bett, Heinz, es geht auf eins.‹ Und dann, mit der Hand meine Stirn streifend: ›Du fieberst ja, Heinz!‹
Ja, ich fieberte, der Funke war mir ins Blut gefallen.
Sie ging, ruhig wie immer, mit der weichen wiegenden Bewegung, die ihren Schritt fast unhörbar machte . . . Ich aber saß noch eine Stunde da, bis ich auf mein Zimmer taumelte.
Die erste schlaflose Nacht meines Lebens und eine meiner qualvollsten. Was mir alles durchs Gehirn tobte: das Entsetzen über den Trieb, der urplötzlich, übermächtig in mir wach geworden war, die Zerknirschung, diese Heilige, diese Mutter mit solchen Gedanken zu beflecken, und dabei trotzdem das Begehren, das sinnlose, sinnlose Begehren . . . Nein, nein, Worte sagen's nicht . . . Denken Sie, wie jedem von Ihnen in ähnlichen Augenblicken zumut war, und denken Sie: ich war nun achtzehn, ein junger Riese und – ich rühre sonst nie daran, weil es mich ja nicht entschuldigen kann, aber hier muß es gesagt sein – eben mit meinem Blut in den Adern . . .
Wie's nun kam – ach, was brauche ich es erst zu erzählen! Mein Fieber wurde immer toller, ich sah sie ja täglich . . . Aber ich war doch daneben auch meiner Mutter Sohn, und so peinigte mich gleichzeitig die Sünde meiner Gedanken, die Qual meines Gewissens, daß sich mir zuweilen die Sinne verwirrten. Richtete sie das Wort an mich, so fuhr ich zusammen, und wich ihr aus, wo ich konnte.
Meine Veränderung fiel ihr auf, sie benahm sich nun zu mir wie in gleicher Lage zu Martin: doppelt gütig und mütterlich, nahm bei kleinen Ausflügen meinen Arm, fuhr oft mit der Hand über meine Stirn. ›Die Reine‹, knirschte ich heimlich, ›sie ahnt nicht, welch ein Elender ich bin, und gießt nur Öl ins Feuer!‹
So auch, als ich eines Abends allein auf dem Balkon nach dem Garten zu saß. Da stand sie plötzlich neben mir, sie ging unhörbar, sagte ich schon, und auch ihre weichen Gewänder rauschten nie – wie ein Engel naht, dachte ich damals, aber auch Katzen gehen unhörbar.
›Heinz‹, sagte sie mit ihrer dunklen, etwas umflorten Stimme und faßte meine Hand, ›was ist's mit dir?! Bist du nicht wohl, oder was bedrückt dich?! Sieh mir in die Augen, Heinz‹ – sie legte mir die Hand auf die Stirn und drückte mein Haupt zurück, zu sich empor – ›und beichte!‹
Ich saß wie gelähmt, dann hoben sich meine Arme, als müßt' ich sie an mich reißen, einige Atemzüge lang flimmerte es mir vor den Augen. Schon hatte meine Hand den weichen, vollen Arm berührt, da sprang ich auf und taumelte zurück bis an die Wand.
›Nun, Heinz!‹ fragte sie nochmals und trat abermals nahe an mich heran, daß ich den Duft ihres Leibes einsaugen mußte, und ihr Atem ging über mein Gesicht. ›Bedenke‹ – ihre Stimme zitterte – ›du bist uns anvertraut!‹
Da trug ich's nicht länger und stürzte zu ihren Füßen nieder und umklammerte ihre Knie, aus schamvoller Zerknirschung, aus wahnwitzigem Begehren.
Sie ließ mich gewähren, dann aber beugte sie sich zu mir nieder.
›Mein armer Junge‹, sagte sie, ›du dauerst mich sehr. Wir sprechen darüber, wenn du ruhiger bist.‹
Sie küßte mich auf die Stirne, mir war's, als hätte mich Feuer berührt, so brennend war ihr Mund. Dann machte sie sich sanft frei und war verschwunden.
Seit dieser Szene habe ich in den nächsten Wochen nur noch auf Stunden Schlaf gefunden, und selbst dann spann sich der Schlaf nur wie ein Spinnennetz über mein zermartertes Hirn und zerriß immer wieder, und die Qual brannte und stach weiter in diesem armen Hirn und meinen Gliedern. Der Anwalt war abermals seit Wochen in Geschäften abwesend – ich mußte trotzdem immer an ihn denken, wie dankte ich ihm sein väterliches Wohlwollen! Mich rüttelte ein tiefes Grauen vor mir selbst, eine Todesangst, ich wußte nicht mehr, wo aus noch ein. Ich dachte nur immer: ›Fort, hier gehe ich zugrunde‹ – und zugleich im selben Atemzuge: ›Lieber sterben, lieber wahnsinnig werden, als sie nicht mehr sehen!‹
Und zudem: wie kurze Zeit konnte ich sie noch sehen! Sie sollte schon am sechsten Juli, zu Beginn der Schulferien, mit Fritz und ihrem kleinen Mädchen nach Kösen, dann mit ihrem Mann in die Schweiz, während für Martin und mich eine Fußreise an den Rhein geplant war; ich sah sie dann wohl erst im Herbste wieder.
Dieser sechste Juli – es gab ja auch Sekunden, wo ich mir sagte: ›Das ist der Tag, der dich errettet!‹ Aber dann kamen wieder die langen, entsetzlich langen Stunden, wo ich mit kochendem Blut, mit wirren Gedanken in meiner Stube auf und nieder taumelte und stöhnte: ›Ich ertrag's ja nicht, ich muß sie sehen, ich brauche sie, wie ich die Luft brauche, ich ersticke sonst.‹
So hatte ich die Nacht vom vierten auf den fünften Juli zugebracht. Als ich des Morgens zufällig in den Spiegel blickte, erschrak ich – da sah mir das Gesicht eines Verschmachtenden entgegen, aus dessen Augen die sinnlose Gier nach der Quelle sprüht und die Verzweiflung, sie nie erreichen zu können. Ich raffte meine Kollegienhefte zusammen und ging zur Universität – vor dem Portal kehrte ich um, ich verstand ja ohnehin seit Wochen kaum mehr, was ich nachschrieb, mir war's, als müßten mich die Mauern erdrücken.
In die Anlagen rannte ich hinaus und sank auf eine Bank und saß da in wüsten Gedanken, bis die Mittagsglocken klangen. Ich raffte mich auf: ›Nun mußt du heim!‹ – und zögerte wieder. ›Wenn du sie jetzt siehst‹, dachte ich, ›so reißest du sie in deine Arme und bist verloren!‹
Dann bezwang ich mich doch und eilte heim. Die Jungfer, die mir öffnete – Agnes hieß sie und war eine kleine, blonde Person mit einem scheuen, unhübschen Gesicht, die immer mit niedergeschlagenen Augen sprach – wich zurück, als sie mich sah. ›Die Herrschaft ist schon beim Speisen‹, erwiderte sie auf meine Frage und sah mich dann seltsam an, wie mitleidsvoll. ›Wenn Sie unwohl sind‹, fügte sie leise bei, ›so können Sie ja auf Ihrem Zimmer speisen.‹
Ich schüttelte den Kopf und trat ein, auf die Hausfrau zu, mich zu entschuldigen. Sie sah mir lächelnd entgegen, und eine Sekunde, nein einen unmeßbar kurzen Moment lang schien es mir, als stünde in ihren Augen dasselbe unheimliche Licht, das mich heute Morgen in den meinen erschreckt hatte. Nur wie ein Blitz war's und ging wieder, oder vielleicht auch war's nur eine Täuschung meiner Sinne. Denn nun sagte sie, etwas strenger als sonst, aber doch noch freundlich: ›Du hast dich verspätet, Heinz. Nun – einmal ist keinmal.‹
Ich setzte mich auf meinen Platz zwischen Fritz und Martin und vermied es, sie anzusehen. Auch sie richtete gegen ihre Gewohnheit kein Wort an mich.
Ich ging auf mein Zimmer und saß da in dumpfem Brüten. ›Morgen ist sie fort‹, das war alles, was ich denken konnte, wie ja auch einer, der zum Tode verurteilt ist, nur denkt: ›Morgen wirst du hingerichtet!‹ Als Martin kam, mir seine neuesten Verse vorzulesen, schickte ich ihn fort.
Da klopfte es nach einigen Stunden wieder – es war die Jungfer; die Frau Justizrat wünsche mich auf ihrem Zimmer zu sprechen. Und als ich mich mühsam aufrichtete, murmelte sie: ›Sie scheinen krank, Sie könnten sich ja entschuldigen!‹
Ich aber ging zu ihr.
Sie empfing mich in ihrem Boudoir, neben dem großen, gemeinsamen Schlafzimmer; ich hatte den kleinen, mit weichen Teppichen, Vorhängen und Sitzen ausgestatteten Raum noch nie betreten. Auch dämmerte es schon. Das Herz klopfte mir zum Zerspringen.
›Setz dich, Heinz‹, begann sie und wies auf den Fauteuil heben dem Sofa, auf dem sie saß.
Ich gehorchte. ›Mein Herr und Gott‹, dachte ich, ›erhalte mir meinen Verstand, laß mich nichts Wahnwitziges tun!‹
›Du weißt, ich reise morgen‹, fuhr sie halblaut fort, stockend, als fiele auch ihr das Reden schwer. ›Und da ist's meine Pflicht zu wissen, wie's um dich steht. Schlimm, fürcht' ich. Was ist's?‹
Da stürzte ich wieder zu ihren Füßen nieder, wie eine Woche zuvor auf dem Balkon, und begann zu weinen, zu weinen, ich glaube, ich habe nie vorher noch nachher im Leben so geweint.
Sie schien sehr bewegt. ›Ich errate‹, murmelte sie, ›o mein armer Junge, was fangen wir nun mit dir an!‹
›Schicken Sie mich nicht fort‹, schrie ich auf und umfaßte ihre Knie, ›um Gottes Erbarmung willen, nur das nicht!‹
›Und doch wird es sein müssen‹, fuhr sie fort. ›Dir geht's wirklich, wie du es mit Martin falsch vermutetest, da muß etwas geschehen! Du bist ja der einzige Sohn deiner Mutter, auch mein Mann hat dich sehr lieb! . . . Ich will nicht fragen, wen du so wahnsinnig liebst – das ist gleichgültig – jedenfalls lebt sie hier, und es gibt nur eine Rettung für dich, sie einige Zeit nicht zu sehen.‹
›Erbarmen!‹ schrie ich auf. ›Ich bin ja ein Verruchter, aber es belästigt Sie ja nicht!‹
Durch ihre dunkle, vibrierende Stimme klang ein leises Lachen.
›Nicht mich, aber dich. Wir wollen's nicht so tragisch nehmen, Heinz! Du gehst morgen mit mir nach Kösen, damit basta! Dann hast du deine Sirene aus den Augen, und Fritzchen bleibt nicht ganz ohne Unterricht. Die Kollegien besuchst du ja ohnehin nicht mehr!‹
Mir wirbelte das Hirn . . . mit ihr nach Kösen! Diese Heilige war ahnungslos – natürlich beurteilte sie alles aus ihrer eigenen Reinheit heraus.
›Du bist wohl sehr unglücklich?‹ fragte sie und strich mir das Haar aus der Stirne. ›Aber es muß sein, und wenn du willst, so hör' ich in Kösen deine Klagen geduldig an.‹
Ihre glühenden Lippen streiften meine Stirne. ›Und nun geh und pack deinen Koffer.‹
Sie verschwand im Schlafzimmer, ich aber taumelte auf meine Stube.«
»Alle Wetter!« sagte der Sanitätsrat, »die Sorte ist auch mir unter die Finger gekommen, aber in solcher Qualität doch noch nicht!«
»Mir auch nie wieder«, sagte der Erzähler. »Ja, wenn der Mensch Glück hat, so kommt er gleich mit seiner ersten Liebe an die Rechte.
Nun, und in der Sommerfrische kam dann alles, wie es kommen mußte. Aber es ist doch des Erzählens wert, weil es, wie Sie sagten, für die Qualität bezeichnend ist.
In Kösen bezogen wir am nächsten Tage eine Villa am Ufer der Saale, nahe der ›Wilhelmsburg‹, hoch über dem Städtchen; ein sonderbar gebautes Haus mit einem Turm, rings ein schöner, großer Garten. Das Turmzimmer war mir eingeräumt. Aus meinen Fenstern öffnete sich eine herrliche Aussicht ins Saaletal, auf die Rudelsburg hin.
Ich warf kaum einen Blick darauf. Wie daheim saß ich nun hier an meinem Tische, mit geschlossenen Augen, die Fäuste geballt, daß mir die Nägel schmerzhaft ins Fleisch drangen, und dachte und fühlte und begehrte sie, nur sie.
So traf mich die Jungfer, die mich zum Abendessen rief. Ihr Blick streifte den noch geschlossenen Koffer, und dann mich, wieder, wie mir's schien, mitleidig. Das machte mich verlegen; erriet sie, was in mir vorging?! ›Ich bin noch nicht zum Auspacken gekommen‹, murmelte ich. Sie erbot sich, es für mich zu besorgen, und reichte mir eine Bürste, ich steckte noch in den Reisekleidern.
Hastig machte ich mich zurecht und trat ins Speisezimmer.
Sie saß bereits mit Fritz bei Tische und drohte mir lächelnd mit dem Finger. ›Zweimal ist einmal, Heinz. Aber du warst wohl eben im besten Dichten?! ›An die Entfernte‹ – nun, ich will's noch einmal verzeihen!‹
Ich stammelte eine Entschuldigung, sie versuchte ein gleichgültiges Gespräch, erzählte unter anderem, sie habe ein Telegramm ihres Mannes aus Köln; er komme erst am zwölften Juli heim; der Ärmste würde sich dann über einen Monat in der Fremde herumgequält haben; ich gab eine zerstreute Antwort. Essen konnte ich vollends nichts, um so mehr trank ich von dem roten, schweren Ungar, der, gegen den Brauch des Hauses, diesmal auf dem Tisch stand.
Als Fritzchen ins Bett geschickt war, lud sie mich zu einem Spaziergang im Garten ein.
Es war ein schwüler Abend, der Mond schien matt durchs dichte Geäst; in meinen Adern tobte das Begehren und der ungewohnte Wein. Als sie sich auf eine Bank setzte und mild, aber entschieden befahl: ›Nun beichte, Heinz‹, da tat ich's. In der Haltung, die ich ihr gegenüber einnehmen mußte, auf den Knien, das Haupt in die weichen, duftenden Falten ihres Gewandes gepreßt, stammelte ich ihr zu, was an Glut und Qual in mir war.
Sie hörte schwer atmend zu, ich fühlte auch sie beben, aber sie stieß mich nicht zurück. Erst als ich, meiner nicht mehr mächtig, sie an mich riß und mein Mund den ihren suchte, entrang sie sich mir.
›Um Himmels willen, Heinz. Laß uns gut, laß uns rein bleiben! Bedenke, ich wußte nicht, wie es um dich stand. Und wie's um mich steht, weiß ich auch erst seit diesem Augenblick. Sei barmherzig, Heinz. Wir wollen morgen darüber reden.‹
Und sie entwich ins Haus.
Am nächsten Abend hatte ich Klarheit: die Herrliche liebte auch mich. Sie hatte es nicht geahnt und für mütterliches Wohlwollen gehalten, was sie zu mir zog.
Und nun sie's wußte – was nun?!
Todesbang saßen wir im Garten, Hand in Hand – zwei arme, reine, hilflos der Leidenschaft preisgegebene Menschen, und stammelten einander zu, was uns erfüllte – jetzt den Entschluß zu entsagen, im nächsten Augenblick die Erkenntnis, daß dies für uns beide schlimmer sei als der Tod.
›Ich bin älter als du‹, sagte sie endlich, ›schuldiger als du – laß mir die Entscheidung. Morgen, Heinz, auf morgen.‹
Aber diesmal konnte sie nicht hindern, daß ich zum Abschied ihren Mund, ihr Antlitz mit Küssen bedeckte.
Jedoch auch am Tage darauf hatte sie sich natürlich noch keine Klarheit erkämpft. Das mußte selbst ich in meinem Fieberwahn verstehen. Welche Entscheidung für eine keusche Frau! Ein achtzehnjähriger Jüngling, der Schützling ihres Gatten! Und sie liebte diesen Jüngling wie er sie. Ich freilich wußte einen Ausweg: einige Stunden des Glücks und dann der gemeinsame Tod in der Saale. Aber das verwarf sie um meinetwillen, nur um meinetwillen.
Etwas anderes schlug sie vor: eine Trennung, wenn auch nur für wenige Tage. Es war Mittwoch, der neunte Juli, ich solle für einige Tage zu Mutter und Schwestern gehen, einen Besuch schuldete ich ihnen ja ohnehin.
Ich sträubte mich, ich konnte sie nicht verlassen; ich sagte schon, ich hatte dabei immer die Vorstellung, als müßte ich fern von ihr ersticken. Aber sie bestand darauf, ich müsse; schon am Montag, dem vierzehnten Juli, dürfe ich wiederkommen, aber diese kurze Frist des Besinnens verlange sie in einer Frage, die über unser beider Leben entscheide. Da gab ich nach.
Aber ich hatte mehr versprochen, als ich halten konnte. Zwei Tage war ich in Weimar, da ertrug ich's kaum mehr. Denn fast ebensosehr wie die Sehnsucht nach ihr quälte mich der prüfende, traurige Blick meiner Mutter. Sie fragte mich nur einmal, gleich nach meiner Ankunft: ›Du siehst übel aus, Heinz, bist du unwohl?‹ Ich stotterte etwas von Kopfweh und Ermüdung; es fiel mir entsetzlich schwer; gelogen hatte ich bisher nie im Leben, nun mußte es sein – ach, es war nicht das Schlimmste, was ich tat, ich Elender, der ich danach brannte, das Glück meines Wohltäters zu vernichten . . .
Von Stunde zu Stunde steigerte sich meine Qual – und doch, ihr mußte ich gehorchen.
Da kam Sonnabend morgens ein Telegramm. Ich öffnete es bebend und hatte Mühe, nicht umzusinken. Vom Justizrat: ›Bin morgen in Kösen, erwarte dich mittags dort.‹
Mein Hirn wirbelte; er war ja erst heute daheim eingetroffen; offenbar hatte er einen Brief von ihr vorgefunden, in dem sie ihm alles gestand; nun eilte er nach Kösen und befahl mich hin, Gericht über mich zu halten.
Wohl eine Stunde saß ich in verzweifeltem Brüten, dann raffte ich mich auf; ich mußte sofort zu ihr, da hatte ich mindestens noch heute Gewißheit.
Als ich meiner Mutter das Telegramm vorwies, atmete sie erleichtert auf, sagte dann aber doch in einem Ton so weicher, zittriger Sorge, wie ich ihn nie von ihr vernommen hatte: ›Heinz, denk' immer daran, daß du braver Eltern Kind bist und meine einzige Hoffnung!‹
Die Ärmste, wenn sie geahnt hätte, wie leicht dies rührende Wort jetzt wog! Ich fühlte, ich dachte nur eins: ich überleb's nicht, von der Geliebten zu lassen, überlebe die Schmach nicht, vor ihrem Mann zu stehen wie ein ertappter Dieb.
Auf dem Weg zum Bahnhof kam ich an einer Waffenhandlung vorbei, trat ein und kaufte mir einen Revolver samt Munition.
Gegen sechs Uhr war ich in Kösen. Auf der Saalebrücke kam mir Fritzchen entgegengelaufen, ein Papier in der Hand.
›Da bist du ja wieder!‹ rief er fröhlich. ›Morgen kommt auch Papa, ich soll ihm eben telegraphieren.‹
Und er reichte mir das Papier. ›Innigsten Dank, daß du meinen sehnsüchtigen Wunsch erfüllst. Ich erwarte dich also morgen zehn Uhr vormittags am Bahnhof. Hoffentlich kannst du erst montags zurückreisen; wo nicht, so danke ich dir schon für die wenigen Stunden. Herzensgruß von deiner Klara.‹
Es war also, wie ich vermutet hatte; er kam auf ihren Wunsch! Ich starrte auf das Blatt. Die Buchstaben änderten sich nicht: mein Todesurteil . . . Dann gab ich das Blatt dem Knaben und eilte nach der Villa. Sie war auf ihrem Zimmer; ich ließ mich sofort bei ihr melden.
›Warum schon heute?‹ rief sie mir mit erstickter Stimme entgegen; ihr Gesicht war blaß vor Zorn.
Ich reichte ihr das Telegramm des Justizrats.
›So – o!‹ sagte sie langgedehnt. ›Dann bist du freilich unschuldig. Und die Angst hat dich schon heute hergejagt?! Sei ruhig, er will über Martin oder Fritz mit dir reden! Nun, es ist mir peinlich genug, daß ihr morgen hier zusammentrefft, aber das muß nun getragen sein! Ich könnt' ihm doch den Besuch nicht verbieten.‹
›Keine Lüge!‹ rief ich verzweiflungsvoll und sagte ihr, woher ich die Wahrheit wüßte.
Sie aber: ›Nun wohl, dann sollst du auch alles wissen! Ja, ich habe ihn gebeten, morgen zu kommen, nicht um ihm etwas zu gestehen – um deinetwillen, Heinz, muß ich schweigen, denn mir würde er verzeihen und dich aus dem Hause jagen –, sondern um vor der schwersten Entscheidung meines Lebens noch einmal mein Herz zu prüfen, was es für ihn empfindet. Das bin ich meinem Kinde schuldig, nach mir frage ich nicht mehr. Ich bleibe unselig, wie immer ich mich entscheide, unseliger noch, wenn ich dir entsage!‹
Und dann wild ausbrechend: ›Ich habe all die schlaflosen Nächte zu Gott gefleht, daß er mich vor dir errette, aber ich hoffe es nicht mehr!‹
Sie warf sich in meine Arme und küßte mich toll, dann stieß sie mich zurück: ›Und nun geh, und heute will ich dich nicht mehr sehen.‹
Ich gehorchte; welche Nacht ich in meinem Turmzimmer verbrachte, nein, das läßt sich nicht erzählen.
Am Morgen brachte mir die Jungfer das Frühstück. Die Frau Justizrat gehe mit Fritzchen zum Bahnhof; sie bitte mich, die Herrschaften dann vor der Villa zu erwarten.
Kurz nach zehn sah ich sie am Arm ihres Mannes herankommen, sie blickte in zärtlichem Geplauder zu ihm auf. Aber verzweifelter, als ich ohnehin war, konnte mich auch dieser Anblick nicht mehr machen.
Ich muß übel ausgesehen haben; der Justizrat schüttelte den Kopf, als er mich erblickte, reichte mir dann jedoch, nur sehr ernst, aber nicht unfreundlich, die Hand.
›Da hast du dir in deinem Leichtsinn eine böse Geschichte eingebrockt‹, sagte er. ›Komm um zwölf zu mir; die Forderung muß sich mindestens auf Säbel ändern lassen, nötigenfalls mit Hilfe des Offizierskorps!‹
Ich starrte ihn fassungslos an und wollte fragen; da sah ich einen Wink ihrer Augen und verstummte.
Einige Minuten später – ich war in den Garten gegangen – kam sie mir fliegenden Schritts nachgeeilt. ›Deine Mutter hat ihm geschrieben, daß du so verstört bist. Darum rief er dich her. Ich mußte also einen triftigen Grund erfinden. Du erinnerst dich an den Leutnant von Prillwitz?!‹
Ich mußte mich besinnen; erst als sie mir darauf half, fiel mir bei: ich hatte ihn kurz, nachdem ich ins Haus gekommen war, bei einer Soiree dort getroffen: ein blutjunger Mensch mit einem hübschen frischen Gesicht.
›Nun denn, er steht jetzt in Garnison in Weißenfels. Du hast ihn hier am Abend nach unserer Ankunft im Gasthof ›Zum mutigen Ritter‹ getroffen, ihr seid, beide etwas angezecht, in Streit gekommen, du hast ihn auf Pistolen gefordert . . .!‹
›Aber wenn der Leutnant gefragt wird?‹ rief ich.
›Er wird nicht gefragt; du tust, wie ich's wünsche!‹
Nun, ich tat's. Zum Glück brauchte ich nur immer ja zu sagen; der Justizrat kannte die ganze Geschichte auf das genaueste. Natürlich hielt er mir auch eine kräftige Strafpredigt. Dann jedoch schloß er: ›Nun aber, Kopf auf, Heinz! Meine Frau wird dem Leutnant schreiben, sie kennt ihn und seine Familie näher, noch, von ihrem Elternhause her. Ob sie das Duell verhindert, bleibt abzuwarten. Aber daß du heil bleibst, verbürgt sie. Und nun geh, schreib deiner armen Mutter und laß mich nie wieder solche betrunkenen Geschichten von dir hören.‹
Nach dem Mittagessen zogen sich die Gatten zurück. Ich saß auf meinem Zimmer, las die gedruckte Gebrauchsanweisung des Revolvers und versuchte die Läufe danach zu laden. Noch war ich nicht damit zustande gekommen, als Fritzchen zu mir kam: Mama habe ihm versprochen, daß ich ihm die Rudelsburg zeigen würde.
Da zeigte ich ihm denn die Rudelsburg. Kinder sind scharfsichtige Beobachter; der Junge war all die Stunden gedrückt; auf dem Rückweg blieb er plötzlich stehen und brach in Tränen aus. ›Was hast du, Junge?‹ – ›Du hast heute andere Augen bekommen – ich fürchte mich vor deinen Augen!‹
Das Abendessen nahmen wir wieder gemeinsam ein. Hätte ich bisher zweifeln können, wie sich das Herz der wahnsinnig geliebten Frau entschieden hatte, nun mußte ich es erkennen. Auch der Justizrat war zärtlicher, als ich ihn je gesehen hatte.
Nach dem Abendessen nahm er von mir Abschied; er wollte noch heute, kurz vor elf zurückreisen. ›Also‹, sagte er, ›du überläßt alles meiner Frau!‹ Dann gingen die beiden noch in den Garten, ich auf meine Stube.
Ich zog wieder den Revolver und die Anweisung hervor und versuchte nochmals das Laden. Es schien zu glücken; ob es richtig war, wußte ich freilich nicht.
Das mußte vor allem probiert sein. Ich schlich mich aus dem Hause, die Höhe des Hügels empor, an dessen Abhang die Villa lag. Die Nacht war mondhell; auf der Höhe stand eine alte Linde; ich trat auf einige Schritte an den Stamm heran und drückte los.
Die Kugel fuhr tief in den Stamm; ich konnte die Stelle deutlich sehen, betastete sie auch. Die Waffe war also in Ordnung.
Dann wollte ich wieder auf meine Stube zurück; nun waren noch die Briefe zu schreiben, an meine Mutter, an sie, vielleicht auch an den Justizrat. Ja, auch an ihn, meine Schuld an ihn zahlte ich ja mit dem Leben, jedoch meinen Dank mußte ich ihm sagen. Aber vor dem Hause hielt der Wagen, der ihn zum Bahnhof bringen sollte, er stand am Schlage und wartete nur auf seine Frau.
›Du bist's?‹ fragte er erstaunt. ›Wo warst du?! Hast du den Schuß gehört?! Meine Frau ist sehr darüber erschrocken. Hier gibt's ja keine Jagd!‹
Ich murmelte etwas vor mich hin und ging. Aber auf dem Flur kam sie mir entgegen.
›Gottlob!‹ schluchzte sie auf, als sie mich erblickte, ›du lebst! Ich weiß, was du vorhast. Ich ahne, wozu du den Schuß im Freien abgegeben hast! Erwarte mich gegen Mitternacht, wir gehen zusammen!‹
Kurz vor zwölf trat sie bei mir ein. Als sie im Morgengrauen schied, nahm sie den Revolver mit.«
Der Erzähler verstummte und strich sich über die heiße Stirn. Es währte wohl eine Minute, bis er fortfuhr: »Ich weiß, Ähnliches hat sich zuweilen begeben. Das ist immer ein Unglück für einen jungen Menschen, wie ich damals war. Auch hat jeder nach solcher Erfahrung das Recht zu klagen, daß er an eine Schlechte gekommen sei, jedoch es geht vorbei und wirkt nicht nach. Mit dieser Frau aber war's doch noch was Besonderes, was Ungewöhnliches. Sie war wirklich eine Schlechteste. Und das werden Sie nun erst erkennen.
Sie hatte ihr Ziel erreicht, aber sie wollte auch ferner behaglich dahinleben, ohne alle Furcht vor tragischen Geschichten. Der Revolver ging ihr nicht aus dem Sinne; den einen hatte sie mir genommen, es gab andere zu kaufen. Und ewig konnte die Historie mit dem dummen Jungen nicht dauern, keinesfalls über die Kösener Wochen hinaus; variatio delectat, und selbst davon abgesehen, schon aus Klugheit ging's nicht länger. Er konnte sich ja nicht verstellen; kam er zum Herbst wieder ins Haus, so verriet er sich und sie in der ersten Stunde. Es galt also das Scheiden vorzubereiten, ein Scheiden ohne Lärmen, ohne Aufregung.
Sie dachte sich's wohl auch diesmal zunächst so leicht wie sonst. Auf den Rausch folgt der Katzenjammer; man ist eben einander satt geworden und scheidet mit einer wehmütigen Phrase, aber innerlich sehr vergnügt.
Nun, dazu war hier keine Aussicht, das sagte ihr ihre Schlauheit sehr bald. Ich war jung und unerfahren wie keiner meiner Vorgänger, schon das erschwerte die Sache; vor allem aber: mein Gemüt war noch so unverderbt. Ich war ihr Sklave, aber ich empfand noch wie früher. Sie war mir keine Heilige mehr, aber ein reines Weib, von demselben Blitzstrahl der Leidenschaft getroffen wie ich, zu demselben Schicksal verdammt wie ich. Wir waren schuldig geworden, ja, aber nur eben, weil wir Menschen waren. Und es gab ja eine Buße dafür, ob heute, ob in Wochen, das blieb sich gleich. Es gab eine Buße, und wir wollten sie zahlen.
Sie sah ein: dagegen war nichts zu machen, solange sie auf ihrem Piedestal blieb. Was mich an sie band, mich zu dieser unheimlichen Auffassung zwang, war ja nicht bloß mein Blut, sondern auch meine Verehrung für sie, meine Meinung, daß unsere Schuld eine ungeheure sei. Das mußte sie mir benehmen, mußte also selbst hinabsteigen und dabei mich hinabziehen, so tief, bis wir beide im Kot waren und uns da endlich richtig verstanden.
Das aber fiel ihr nicht leicht; es kostete sie einen bitteren Kampf zwischen ihrer Klugheit und ihrem – ich finde kein anderes Wort – ihrem Künstlerstolz. Ich habe nie einen Menschen gefunden, der auch nur fast ebenso gut heucheln konnte, und dabei so stolz darauf war, es zu können.
Darum heuchelte sie auch weit mehr als nötig und immer und gegen jedermann. Es gibt ähnliche, nur minder schlechte Frauen, denen es zuweilen ein ungestümes Bedürfnis ist, sich gehenzulassen, mindestens einen Menschen zu haben, dem sie sich in ihrer ganzen Verderbtheit offenbaren können; ihr fehlte jede Ehrlichkeit, selbst die des Zynismus. Sogar ihrer Zofe, die doch ihr Leben kannte, deren Hilfe sie nicht entbehren konnte, spielte sie immerzu Lustspiele und Tragödien vor, ohne jede Nötigung; das arme Geschöpf war durch einen Makel seiner Vergangenheit völlig in ihrer Hand. Und nun zwang sie das Bangen vor diesem täppischen Jungen und seiner Seele, sich zu zeigen, wie sie war. Es mußte sein, die Klugheit siegte über den Künstlerstolz.
Natürlich ging's sachte, Schritt für Schritt. Ich mag nicht alles erzählen; nur so einige Proben. Erster Tag: Sie hatte, erfuhr ich, ihren Gatten nur der Versorgung wegen genommen, obwohl er ihr immer gleichgültig gewesen sei. Zweiter Tag: nicht bloß gleichgültig war er ihr schon damals, sondern unausstehlich wie jetzt; auch liebte sie einen anderen, dessen Weib sie nie werden konnte. Dritter Tag: nur um dieses anderen willen hatte sie den Justizrat geheiratet, um dem Manne ihrer Neigung angehören zu dürfen. Er hatte sie aber bald verlassen, der Schurke.
Nun eine kurze Schonzeit, dann eine zweite Geschichte. Sie habe sich nach diesem Erlebnis all die Jahre so entsetzlich einsam gefühlt, bis vor wenigen Monaten, im Frühling, eine neue Leidenschaft in ihr Leben getreten sei. Leider wieder für einen Unwürdigen . . . Auch sonst sei viel Unglück dabei gewesen: Martin habe zufällig Verdacht geschöpft, und sie habe, durch meine Entdeckung auf seinem Schreibtisch gewarnt, mit Mühe die Gefahr abgewehrt.
Wie das auf mich wirkte? Natürlich litt ich entsetzlich, vielleicht mehr als je nachher im Leben, ich glaube wirklich, es war meine schwerste Zeit. Solange ich irgend konnte, verteidigte ich sie vor mir selbst, suchte sie noch immer zu sehen wie bisher. Sie war gut und rein, aber über ihr Blut, über die Leidenschaft hatte sie eben keine Macht. Wie vollends durfte ich sie anklagen?! Sie betrog ihren Gatten, ich meinen väterlichen Freund! Freilich, verantwortlich waren wir doch für unser Handeln, Gott und unserem Gewissen und den anderen Menschen, wir mußten eben für unser Blut mit unserem Blut zahlen. Nur soweit also änderten sich zunächst meine tragischen Gedanken, daß ich nun dachte: ›So wird denn die Buße, die sie für mich zahlt, auch für die anderen gelten!‹
Aber dabei konnte es ja nicht bleiben; meine Gedanken mußten sich weiter spinnen. Die Liebe, die Leidenschaft, was waren sie im Grunde, wenn sie Menschen wie uns, ein Weib wie sie zu Verbrechern machten?! Mir begann vor dem Rausch der Sinne zu grauen – ich trank nicht mehr wie ein Verschmachtender, ohne zu denken, ich begann zu grübeln. Nein! Das war nicht allen Menschen auferlegt, andere waren eben stärker, reiner als ich, auch als sie. Dann aber wieder: stärker als sie vielleicht, aber nicht reiner! Was konnte sie dafür, daß jene beiden ersten Menschen, die sie umworben hatten, Schurken waren, daß sie meinem sündigen Begehren unterlegen war?! Dies alles stammelte ich ihr in wirren Worten zu und trank dann neuen Rausch von ihren Lippen.
Natürlich erschreckten sie diese Bekenntnisse. Der dumme Junge nahm's noch immer so schwer. So oft ich von der ›Buße‹ sprach, lachte sie gezwungen auf: ›Das findet sich, mein Junge!‹, blieb aber für einige Minuten verstimmt. Immerhin war ein kleiner Fortschritt zum Besseren wahrnehmbar: ich machte mir nun schon Gedanken über ihren Charakter. Sie mußte nur eben noch weiter hinabsteigen.
Nun nahm sie aber gleich einige Stufen auf einmal – die Zeit drängte ja, es war der achte August, in einer Woche sollte sie mit ihrem Manne in die Schweiz. Da kam nämlich die Jungfer zu mir, mich ganz aufzuklären. Das Geschöpf übernahm die Aufgabe vermutlich nicht ungern, aus Haß gegen die Herrin, aus Mitleid für mich. Ich glaubte ihr nicht, als sie mir sagte: sie habe auf meinem Schreibtisch die Briefe meiner Mutter an mich gelesen; ich dürfe schon um der armen Frau willen nicht zugrunde gehen – obwohl es wohl die Wahrheit war. Und als sie nun mit ihrem Dekameron beginnen wollte, wies ich ihr die Türe und eilte in heller Entrüstung zu der Geliebten, es ihr zu melden.
Sie hatte gerade Besuch: jenen Leutnant von Prillwitz, dem sie ihrem Manne gegenüber eine Rolle in der Komödie zugewiesen hatte. In der Besorgnis, daß sich der Justizrat an ihn wenden könnte, hatte sie ihm, wie sie mir den Tag zuvor gesagt hatte, geschrieben, ihn für heute hierher bestellt. Er war auch gehorsam aus Weißenfels herübergekommen.
Als ich nach kurzem Klopfen eintrat, unterbrach ich sie offenbar in einem erregten Gespräch. Beider Wangen flammten; besonders der junge Offizier schien vor Unwillen außer sich. Ich konnte es ihm nicht verargen; sich so in einen fingierten Ehrenhandel hineingezogen zu sehen, war niemand angenehm, am wenigsten einem Offizier.
Indes lief das Gespräch glimpflicher ab, als ich gedacht hatte.
›Es ist ja nichts weiter dabei‹, sagte sie, lachend. ›Es erfährt's ja außer uns vieren keine Seele. Meinem Manne habe ich schon geschrieben, daß die Sache durch eine Abbitte von Heinz ausgeglichen ist. Fragt er Sie danach, so brauchen Sie's nur eben zu bestätigen.‹
Er lachte verlegen auf und drehte an seinem Schnurrbärtchen. ›Na, in Gottes Namen, auf Ihren Befehl! Aber . . . ‹ Er warf einen Blick auf mich und räusperte sich.
›Richtig‹, sagte sie, ›Sie haben ja noch einen Auftrag Ihrer Schwester! Wenn du die Güte haben willst, Heinz. Ich lasse dich dann rufen.‹
Und ich ging.«
»Das war durchsichtig!« meinte einer der Zuhörer. »Und Sie ahnten nichts?!«
»Nein! Wie auch?! Eher hätte ich daran glauben mögen, daß die Saale bergauf fließen könne, als ihr derlei zuzumuten. Und eine Stunde später, als der Offizier endlich gegangen war, glaubte ich vollends wieder felsenfest an sie. Denn als ich ihr nun mein Gespräch mit Agnes erzählte, da siegte der Künstlerstolz über die Klugheit. Sie war in heller Entrüstung: das niedrige Geschöpf, das sie verleumdete, müsse sofort aus dem Hause. Aber beim Abendessen wartete Agnes auf, als wäre nichts geschehen, und zwei Stunden später hatte die Klugheit gesiegt.
Da kam Klara zu mir, schöner als je, und beichtete, abwechselnd totenblaß und errötend – das nämlich konnte sie nach Belieben, wie sie es technisch machte, weiß ich nicht; auch weinen konnte sie, wenn es ihr paßte –, sie sei ein schlechtes Weib, leichtfertig, meiner reinen Glut nicht würdig, aber eine Heuchlerin sei sie nicht. Sie wolle mir selbst alles erzählen. Und so erfuhr ich zu den zwei Geschichten, die ich schon kannte, drei neue. Der künstlerische Stil war nun ein anderer; leicht umrissene Novelletten, in denen von der verzehrenden Macht der Leidenschaft nicht mehr viel die Rede war.
Was ich dabei litt – aber das malen Sie sich selbst aus! Nur was mir das furchtbarste war, muß ich sagen, das war die tolle Glut in meinen Adern, während sie so dicht vor mir saß und alles besudelte, woran ich hing, vor allem sich selbst. O das Blut, das verdammte Blut.
Sie aber sagte sich, während ich so unter ihrem Blick erbebte: ›Nun verachtet er mich, das ist gleichgültig. Aber er beginnt jetzt auch sich selbst zu verachten, daß er mich dennoch begehrt, und das ist nützlich. Nur muß er das noch gründlicher tun; wer bis an die Ohren im Schlamm steckt, drückt keinen Revolver mehr los!‹
Und darum fuhr sie nun fort: ›Ich weiß, Heinz, du bist ebenso gut, wie ich schlecht bin, und darum wirst du vielleicht schon nach dem, was du jetzt von mir weißt, für immer von mir gehen. Und vollends wirst du es tun, wenn du erfährst, wie ich von Anbeginn gegen dich war, sonst wärest du nicht besser als ich. Du bist es, und weil ich dich rasend liebe, so ist's mir schlimmer als der Tod, auch dies über die Lippen zu bringen. Aber ich darf dir gegenüber nicht mehr lügen, das läßt mein Gewissen nicht zu.‹
Und nun beschmutzte sie mir jedes Wort, jeden Blick, jeden Kuß, den sie mir geschenkt hatte. Ich hatte ihr eben von Anbeginn gefallen, und sie war der Schüchternheit meiner achtzehn Jahre zu Hilfe gekommen. Das war alles!
Nun aber noch der Schlußeffekt. Wie ein dumpfes, stumpfes Weh hatten immer die Erinnerungen an den Tag, wo sie mein geworden, in einem Winkel meines Bewußtseins gelauert; ich konnte, ich wollte mir nicht erklären, warum sie ihren Mann gerufen hatte. Nun erklärte sie mir auch dies.«
Die Stimme des Erzählers brach sich, auch in der Erinnerung ging es ihm noch sichtlich nahe.
»Nun – und?« fragte der Schönbärtige. »Nun wußten Sie endlich, woran Sie waren, und sagten es ihr?!«
»Bewahre«, meinte der alte Arzt. »Nun blieb er zwei Stunden auf seiner Stube wie vernichtet sitzen, dann schlich er an ihre Türe und bettelte, bis sie ihm auftat!«
»Ja«, sagte der Direktor. »So war's. Nun hatte sie mich so tief herabgebracht, wie sie wollte.«
»So kommt's meistens«, sagte der alte Herr. »Zuweilen freilich geht in derlei Geschichten doch schließlich ein Revolver los. Eine Tragödie aus ähnlichen Beweggründen ist mir sogar aus meiner eigenen Erfahrung bekannt. Der junge Mensch war auch nicht viel älter als Sie, und aus der Liebe war eben Haß geworden. Haß gegen seine Verderberin.«
Der Erzähler nickte.
»Das kann niemand besser verstehen als ich. Und auch in meiner Geschichte ging schließlich etwas los, freilich kein Revolver, sondern – ein Säbel! Und ob es dieses Säbels bedurft hätte, um der Geschichte einen blutigen Abschluß zu geben, weiß ich auch nicht. Vielleicht hätte er trotzdem nicht gefehlt. Vielleicht, sag' ich. Denn es liegt mir wie ein Schleier über den nächsten Tagen. Ich kann nur sagen: dachte ich nicht an ihre Küsse, so dachte ich an den Revolver.
Aber da sauste der Säbel auf mich nieder und hieb alles entzwei: den Kampf in meiner Seele und die Marter im Hirn.
Es war am Sonntag, dem vierzehnten August, ihre Koffer wurden schon gepackt. Da schickte sie mich gleich nach dem Speisen mit Fritzchen nach Naumburg; ein Bürgerverein führte dort die ›Hussiten vor Naumburg‹ auf, und es war dem Knaben lange vorher versprochen worden, daß er hin dürfe. In Naumburg kreuzten sich damals die Züge aus und nach Thüringen.
In einem der Coupés nach Kösen nun sehe ich, als wir aussteigen, den Leutnant von Prillwitz; als er mich erblickt, fährt ein befriedigtes Lächeln über sein Gesicht. Er fährt davon. Ich war nie eifersüchtig auf ihn gewesen, selbst in den letzten Tagen nicht. Aber nun zuckt mir's durchs Hirn: ›Sie hat ihn zu sich bestellt – selbst diese Schmach tut sie sich und dir an!‹ Mir flimmert's vor den Augen; ich fasse die Hand des Knaben fester, wie um mich zu halten, und trete mit ihm aus dem Bahnhof.
Da aber übermannt's mich: ›Nein, das duldest du nicht, sie müssen beide sterben!‹ Ich lasse die Hand des Knaben fahren und eile, während er bestürzt zu weinen anfängt, durch die Stadt, die Chaussee nach Kösen hin. Ein glühheißer Tag und weit über eine Meile, aber in kaum einer Stunde bin ich in Kösen. Erst nah der Villa fällt mir bei, daß ich keine Waffe habe, nicht einmal einen Stock. Gleichviel, das muß sich finden.
Ich klingle, die Jungfer, die mir öffnet, schreit auf und will mir den Weg vertreten, ich schiebe sie beiseite und stürme die Treppe empor. Im Ständer des Korridors steht mein Ziegenhainer, ich reiße ihn hervor und stürze an ihre Türe. Sie ist verschlossen. Ich rüttle und rüttle, die Agnes steht heulend hinter mir, offenbar um sie zu warnen.
Von drinnen kein Laut. Da werfe ich mich gegen die Türe, einmal, zweimal, bis das Holz entzweikracht.
Im Zimmer steht der Leutnant, den blanken Säbel in der Hand, er allein; sie ist nicht sichtbar. ›Zurück!‹ ruft er. Ich dringe mit dem Ziegenhainer auf ihn ein. Da saust ein Hieb auf meinen Schädel nieder, und ich sinke hin. Mein letztes Gefühl ist das eines Stroms, der sich über meine Haare ergießt.
Als ich wieder halb zur Besinnung kam, lag ich in meinem Bette im Turmzimmer. An meinem Kopfende stand meine Mutter und half einem kleinen bebrillten Manne den Verband auf meinem Schädel erneuern. Es wunderte mich zunächst nicht, als ich die beiden erblickte; mir war, als hätte ich sie in den letzten Tagen schon um mich bemüht gesehen. So schloß ich denn die Augen wieder, ich fühlte mich so entsetzlich matt.
Erst am nächsten Tage fragte ich meine Mutter, was mir geschehen sei; ich wußte nun, es war etwas Furchtbares; was es war, konnte ich nicht ergrübeln, der Kopf schmerzte mich zu sehr. Da erfuhr ich denn, daß ich mich am Sonntag vor drei Wochen hier mit einem Jenenser Studenten auf Säbel geschlagen hätte und schwer verwundet worden sei. Die Frau Justizrat habe mich ins Haus schaffen lassen, für einen Arzt gesorgt und sie zur Pflege herbeigerufen. Nun sei die edle Frau mit ihrem Manne in der Schweiz.
Eine Woche später konnte ich mit meiner Mutter nach Weimar zurück. Dort pflegten sie und die Schwestern mich ganz gesund. Ihre Fragen, ihre Vorwürfe ließ ich schweigend über mich ergehen. Und als auf die Mitteilung meiner Mutter an den Justizrat, daß ich genesen sei, ein Brief von ihm eintraf, die Nachricht freue ihn, aber in sein Haus könne ich nicht zurückkehren, denn für einen Raufbold, der binnen wenigen Wochen zuerst mit einem Offizier, dann mit einem Studenten angebunden, sei darin kein Platz, beantwortete ich diesen Brief nur mit einigen Zeilen des Dankes für alles Gute, das er mir erwiesen hatte.«
Der Erzähler verstummte.
»Sie haben die Frau nie wiedergesehen?« fragte einer.
»Doch, erst im vorigen Winter, bei einem Diner im Hause des Handelsministers. Als der Justizrat, etwa zwei Jahre nach jener Kösener Geschichte, gestorben war, heiratete sie einen der reichsten und mächtigsten Schlotbarone des Westens. Sie ist noch heute eine ebenso glückliche wie allgemein verehrte Frau, namentlich um die Verbreitung des Christentums unter den Heiden hat sie sich sehr verdient gemacht. Meine Tischnachbarin war sie ja zufällig nicht, aber natürlich wurde ich auch ihr vorgestellt. Sie freute sich sehr, den Volkswirt und Parlamentarier, von dem sie schon viel gehört hatte, endlich auch persönlich kennenzulernen . . .«
Er füllte sein Glas und stürzte es rasch hinab, als wollte er die Bitterkeit mit hinunterspülen.
»Und nun von der Besten«, sagte der Arzt. »Und da bin ich eigentlich noch neugieriger.«
»Mit Unrecht«, erwiderte der Erzähler, »auch solche gibt's, und auch die häufiger, als man glaubt. Freilich, so urteile ich heute und dank dieser Erfahrung. Damals hätt' ich's auch nicht für möglich gehalten. Denn wie ich war, als ich mich nach jenem Erlebnis mühselig ins Leben zurückfand, brauche ich kundigen Männern kaum zu sagen. Jeder junge Mensch muß seine Erfahrungen verallgemeinern, und nun gar die mit dem Weibe; seine Mutter, seine Schwestern bleiben dabei immer außer Spiel; daß sie brav sind, ist selbstverständlich. So also waren die Weiber, und das war die Liebe, die Leidenschaft, welche die Dichter besingen. Nun, entbehren konnte man sie nicht, aber man mußte sie eben richtig einschätzen. Rechnen Sie hinzu, daß ich ein stattlicher Mensch war, auch bald leidlich gewandt.
Kurz: ich habe es einige Jahre wüst und toll getrieben und viel Unheil angerichtet. Und da ich nun einmal davon spreche: ja, es bedrückt mir das Gewissen, und ich gäbe viel darum, wenn ich es aus meinem Leben streichen könnte. Zwang des Bluts, Unfreiheit des Willens, das sind keine Phrasen, sondern Wahrheiten, aber die Macht des Gewissens über unser Handeln ist auch eine Wahrheit. Ich nehme also alles auf meine Kappe, will mich hinter nichts verschanzen. Aber soviel ist mir gewiß: ohne diese ›erste Liebe‹ wäre ich ein anderer, besserer Mensch geworden. Und daß ich mich dann wandelte, scheint mir vollends nicht mein Verdienst, sondern das dieser ›Besten‹. Freilich – ich wandelte mich nur, soweit es eben noch möglich war. Auch von da ab habe ich mir von der Tafel des Lebens genommen, was ich erlangen konnte, aber ich habe kein Weib betrogen und keinem Manne geraubt, was er noch in Wahrheit besaß.
Die Schlechteste war eine Frau, die damals zu den obersten Zehntausend gehörte und seither gar unter die obersten Fünfhundert aufgerückt ist. Und die Beste ein armes Ding, nur eben eine Magd. Natürlich hätte ich es auch umgekehrt treffen können, aber ich traf eben beides so.
Auch damals noch war ich jung, kaum dreiundzwanzig Jahre alt. Ich hatte ein Jahr zuvor in Leipzig meinen juristischen Doktor gemacht, dann meine Dissertation zu einer Habilitierungsschrift erweitert. Durchgeschlagen hatte ich mich bis dahin als Hofmeister, zuletzt in einer adligen Familie bei Dresden.
Da schrieb mir mein Professor der Nationalökonomie, er sei durch einen glücklichen Zufall in der Lage, mir sofort eine aussichtsreiche Dozentur zu verschaffen und eine sorgenlose Stellung dazu. Freilich nur an einer kleineren österreichischen Universität, in Graz.
Ich besprach mit ihm sofort alles Nähere und griff zu. Die Grazer juristische Fakultät wünschte eine junge Kraft, weil der Ordinarius für Nationalökonomie ein alter, bequemer Herr war; gleichzeitig suchte einer der reichsten Aristokraten der Stadt einen jungen Doktor, der seinen Sohn für die Rigorosen einpauken sollte. Acht Tage später, zu Anfang Oktober, war ich in Graz.
Ich hatte aber meinen raschen Entschluß mindestens nach einer Richtung zu bereuen. Der alte Herr ärgerte sich über das ›Buberl‹, das sie ihm vor die Nase gesetzt hatten, und erklärte, ich sei ›a schlimmer Herr‹ und meine ›Büchel‹ so gefährlich wie das ›Büchel vom Marx oder das vom anderen Juden mit dem französischen Namen‹. Das war ja nicht so ernst gemeint, denn er hatte weder meine kleine Schrift, noch das allerdings riesige ›Büchel‹ von Marx, noch die Schriften von Lassalle gelesen, aber die anderen Herren, der Statthalter und die Professoren, leider auch nicht. Auch hatte man zwar des lieben Scheines wegen einen jungen, nach dem neuesten Stand der Wissenschaft geschulten Dozenten gewünscht, aber im Ernst wollte man weder ›sozialistische Irrlehre‹ verbreitet sehen noch dem Ehrengreis wehetun.
So machte die Wahl eines Kollegs große Schwierigkeiten. Die Statistik, die man mir überlassen wollte, weil der Ordinarius noch immer die Ziffern von 1850 ablas, konnte ich nicht übernehmen, weil ich nicht Statistiker von Beruf war und mir namentlich die auf Österreich bezüglichen Ziffern erst hätte schaffen müssen. Ein anderes Hauptfach durfte ich mit Rücksicht auf den alten Herrn nicht lesen. Und so fand sich schließlich nur mühselig ein Ausweg: ein zweistündiges Kolleg über ›Geschichte der Volkswirtschaft‹, weil die Herren meinten, das sei doch gottlob nur ›historisch‹; Irrlehren von heute könnte ich da zum mindesten nicht verbreiten.
Nun, die Gefahr war auch sonst nicht so groß. Ein Kolleg zu belegen, das man für kein Examen brauchte, war, damals wenigstens, in Graz nicht Sitte. Freiwillig meldete sich ein Hörer. Dann schrieb sich aus Höflichkeit der junge Herr ein, den ich einpauken sollte, aber ›tres faciunt collegium‹ – wo den dritten hernehmen?! Endlich fand sich gegen Geld und gute Worte ein armer Kärntner dazu bereit. Es war zum Glück ein ehrlicher Junge, der den geschlossenen Pakt redlich einhielt; er mindestens kam ganz regelmäßig, und ich brauchte also nur einmal drei Wochen lang auszusetzen, als er krank war.
Hingegen gestaltete sich meine Stellung in jenem aristokratischen Hause sehr angenehm. Ich erhielt drei Zimmer angewiesen, ein Luxus, den der Graf – sagen wir Wartegg – sich und mir gönnen konnte. Denn das alte schöne Palais in der ›Räubergasse‹, ein Renaissancebau aus dem sechzehnten Jahrhundert, hatte sehr viele Räume. Die drei Stunden abgerechnet, die ich meinem Schüler widmen mußte, war ich Herr meiner Zeit, hatte meinen eigenen Diener und durfte nach meiner Wahl in meiner Wohnung oder an der gräflichen Tafel speisen.
Ich zog das letztere vor, weil mir die Herrschaften sympathisch waren. Gütige, auch innerlich vornehme Menschen. Der Graf, ein Herr um die Sechzig, früher Militär, nun eifriger Landwirt und pflichttreues Mitglied des Herrenhauses, klerikal, konservativ, aber durchaus duldsam und verständig; die Gräfin eine zehn Jahre jüngere kränkliche Dame von ungewöhnlicher Belesenheit, namentlich in der französischen Literatur, deren sie sich freilich nun, wo auch sie fromm wurde, zu schämen begann; der Sohn – zwei ältere Brüder dienten in der Armee – ein netter, nicht unbegabter junger Herr, der nur bis dahin arg gefaulenzt hatte.
Kurz, feine Menschen, in die ich mich leicht fand, wenn ich sie nur erst verstand, denn ihr Deutsch – das richtige Wiener Fiakerdeutsch – war mir zu schlecht, und ihr Französisch – ein höchst elegantes Pariserisch – leider damals noch zu gut. Nun, nach einiger Zeit sprach ich das Französische besser, das Deutsche schlechter, und das Hindernis war beseitigt.
Nur mein Herz war noch unbeschäftigt, wenn ich für jene Zeit den Ausdruck von mir gebrauchen darf. Das war teils meine Schuld, teils die der Verhältnisse. Mein gütiger Lehrer, der mich sehr genau kannte, hatte mir vor dem Scheiden gesagt: ›Noch eins, Liebster! Die Weiberhistorien hören in Graz auf. Wenn ein Ordinarius Anstoß erregt, so schafft ihm das Verdruß, aber keinen Schaden; ein deutscher Privatdozent aber, der vorwärtskommen will, muß sittlich sein. Verstehen Sie, sittlich!‹ Nun – und ich wollte vorwärtskommen. Und darum nützte es mir nichts, daß es auch hier nicht an Frauen fehlte, die mir gefielen und denen ich vielleicht nicht mißfallen hätte.
Von einer glaubte ich es sogar gewiß zu wissen. Aber von der schied mich noch obendrein die Rücksicht auf das Haus, das mich so vertrauensvoll aufgenommen hatte, und – eine Ähnlichkeit. Das war Mademoiselle Adèle, die Gesellschafterin der Gräfin, eine Belgierin, etwa siebenundzwanzig Jahre alt, eine hohe, schlanke und doch üppige Gestalt, aschblondes Haar, graue halbverschleierte Augen. Als ich sie zum ersten Male sah – es war in der frühen Dämmerung eines Oktobertags – schrak ich zusammen: das war ja Klara. Nun, unheimlich war die Ähnlichkeit trotzdem, bei hellem Licht nicht, aber immerhin groß genug, um mich stets von neuem zu bedrücken; namentlich der Blick dieser scheinbar milden oder müden Augen, der doch zuweilen so wild aufglühte, mahnte mich peinigend an jenes Weib. Mademoiselle, übrigens eine ebenso elegante wie gebildete Dame, war früher fünf Jahre Erzieherin in einem rumänischen Fürstenhause gewesen und erzählte oft von der schrecklichen geistigen Öde, in der sie dort hatte dahinleben müssen; jener Blick verriet mir, daß sie sich auch in Rumänien nicht immer gelangweilt hatte.
In den ersten Wochen bekam ich diesen Blick oft zu sehen. Und als wir eines Abends im November aus dem Landschaftlichen Theater heimfuhren, verwechselte sie meinen Fuß mit einem Schemel. Ich hielt eine Weile geduldig still, da sie aber immer heftiger drückte und ich dünne Lackstiefel trug, so zog ich endlich sachte den Fuß zurück.
Von dieser Stunde ab begegnete sie mir ebenso höflich und gemessen wie ich ihr. Aber daß sie mir nun nicht eben freundlich gesinnt war, konnte ich getrost annehmen. Ich sollte das auch in der Folge noch recht deutlich zu fühlen bekommen.
Zunächst bekümmerte es mich herzlich wenig, da ich mich schon einige Tage nach jener stummen Szene ernstlich verliebte, das heißt natürlich in der Art, die mir damals geläufig war. Die Historie ließ sich anfangs wie ein flüchtiges, aber nicht eben feines Abenteuer an, aber welche Folgen sollte sie für mein Leben haben!
Zu den kleinen Dingen, an die ich mich in Graz gewöhnen mußte, gehörte auch die Einrichtung, daß ein Portier des Nachts das Haustor öffnete und schloß; einen Torschlüssel bekam ich nicht. Als ich nun eines Abends, Ende November, kurz nach zehn, noch ins Café wollte, trat auf mein Klingeln an der Wohnung des Portiers statt des alten gichtbrüchigen Mannes ein Mädchen in den Torweg. Flüchtig glitt mein Blick über sie hin, blieb dann aber gründlich an ihr haften.
Alle Wetter, was war das für ein reizendes Ding! Kaum mittelgroß, braunhaarig und braunäugig, mit stumpfem Näschen und kirschrotem, herzförmigem Mund, Grübchen in den Wangen, und doch keine bloße Zofenschönheit. Wie fein war das Gesichtchen bei aller Fülle der Wangen, wie trug die Kleine den Kopf auf den Schultern, mit welcher Anmut ging sie vor mir her –, ›diese glücklichen Österreicher‹, dachte ich, und nicht zum ersten Male, ›hier verstehen die Mägde zu gehen wie bei uns die Geheimratstöchter nicht! Aber nun möchte ich auch die Stimme hören.‹ Und so fragte ich, ob der Grabmayr, der Portier, krank sei.
›I wo!‹ lachte sie – es klang so kindlich – ›schlafen tut er; zum Aufmachen bin ja jetzt ich da!‹
Das helle Stimmchen, der weiche Dialekt – es war zu hübsch, ich wollte mehr hören. Ob sie bei ihm diene?
Sie rümpfte das Näschen.
›Aber nein: Ich bin ja's Geschwisterkind von der Frau!‹
Das hätte ich nicht wissen können, entschuldigte ich mich; ich sei erst kurze Zeit hier.
›Weiß ich eh!‹ sagte sie: ›Sie sein ja der Herr Professor!‹ Und dann wieder lachend und zugleich redlich erstaunt: ›Aber so a junger Professor!‹
Das sei ich auch noch nicht, entgegnete ich, sondern nur Doktor.
Sie lachte wieder. ›Na, na, das weiß ich ja! Die Frau Tant' hat mir's ekschpliziert: A Doktor kuriert die Leut' oder sitzt beim Advokaten, aber bei Ihnen tun die Studenten lernen, also sind Sie a Professor! Freili, 's Geschäft geht noch net recht.‹
Aber da schlug sie sich auf den Mund und errötete; mehr war nicht aus ihr herauszubringen. Nur den Namen und das Alter erfuhr ich noch: Kathi, achtzehn Jahre.
›Also Fräulein Kathi‹, sagte ich, ›und wie weiter?‹
Sie lachte laut auf.
›Ich bin doch kein Fräul'n. Und weiter – was meinen S' da?! Ah so, wie mir uns schreiben tun? Sturzenegger!‹ Sie schüttelte den Kopf. ›Nein, was so a Preuß fragen tut!‹
Aber nun wurde sie vollends puterrot und bat um Vergebung.
Ich lachte, sie mit, und ich trat auf die Straße.
Wie schade, dachte ich, daß dieses reizende Geschöpf just meine Hausgenossin sein und zur gräflichen Dienerschaft gehören muß. Aber als ich nach einer Stunde heimging, freute ich mich doch, sie wiederzusehen.
Sie kam auch sehr rasch; die blanken, braunen Augen blinzelten schlaftrunken, das arme, junge Ding nickte wohl so in den Kleidern die ganze Nacht vor sich hin. Ich bedauerte sie, das fiele ihr wohl hart.
›I wo!‹ sagte sie. ›Und das dauert ja nur noch ein paar Monat'. Im März heirat' ich!‹
Wer denn der Bräutigam wäre, fragte ich.
›Ein sehr ein ordentlicher Mensch‹, erwiderte sie etwas gedrückt und zwar plötzlich in ihrem schönsten Hochdeutsch. ›Der Leiblakai beim Herrn Baron.‹ Den wirklichen Namen – es ist der eines ungarischen Geschlechts, kann ich Ihnen nicht nennen; sagen wir: ›Nery‹.
Ich gratulierte und ging auf mein Zimmer. Also verlobt war sie noch obendrein!
Am nächsten Tage speiste ich, da ich eine Arbeit über das englische Schecksystem für ein Fachblatt beenden mußte, auf meinem Zimmer. Mein Diener – Franz hieß er und war sonst sehr brauchbar – ließ mich eine Stunde warten, wie er mir denn auch schon des Morgens Grund zu einer Rüge gegeben hatte.
›Was haben Sie plötzlich?‹ fragte ich, und da er mich mit wirren Augen anblickte, so fuhr ich fort: ›Sind Sie krank?‹
Er schüttelte den Kopf und bat dann demütig, Geduld, mit ihm zu haben, er werde sich schon wieder ›z'sammrappeln‹. Aber gegen Abend vergaß er mir meinen Aufsatz einzuschreiben und gab ihn unfrankiert auf, und als ich ihn nun derb anfuhr, brach der junge rotbackige Mensch, der bereits seine Militärzeit hinter sich hatte, in Schluchzen aus wie ein hysterisches Frauenzimmer: er habe wohl gewußt, er werde gehen müssen, wenn die Kathi wieder zurück sei, weil er dann zu nichts mehr tauge, und so komme es nun; er wolle noch heute als ehrlicher Mensch dem Herrn Bräuer, dem Haushofmeister, kündigen.
Das habe noch Zeit, erwiderte ich, nun wieder besänftigt, aber ein ordentlicher Mensch müsse seine Pflicht tun, auch wenn er dumm genug gewesen sei, sich in die Braut eines anderen zu verlieben. Worauf er: damals sei sie ja noch nicht die Braut des Halunken, des Jean, gewesen; sie sei ja im Frühling gleichzeitig mit ihm ins Haus gekommen, ›und wie ich sie g'sehn hab, hab i mir gleich gedenkt: Die oder keine nicht!‹ Und weil ich ihn nicht unterbrach, so erzählte mir der arme Mensch in seiner Herzensnot die ganze kurze Geschichte seiner Leidenschaft.
Die Kathi könne nichts dafür. ›Sie war immer freundlich zu mir, und da hab ich Trottel mir einbild't, sie hat mich auch gern, aber sie is ja zu jedem freundlich, weil sie ja noch a halbs Kind is, und so gut und so lieb; sie lacht jeden an, wie die Sonn' jeden anlacht, und wenn sich einer an der Sonn' verbrennt, so kann ja die Sonn' nix dafür und die Kathi auch net!‹ Aber die anderen seien an seinem Unglück schuld, und die arme Kathi werde es erst recht büßen müssen ihr ganzes Leben lang. ›Nämlich der Jean von unserem Herrn Kusäng, dem Baron Nery – das heißt, unser Kusäng is ja der alte Sünder gar net, aber seine Frau is eine Cousine zu unserer Gräfin – was ist das für a Mensch! Ein Fallott is er, ein Gauner is er, und bei was für Sachen er sein' Herrn geholfen hat – pfui Teufel.‹
Aber das Schlimmste kam noch. ›Und wissen Sie, woher er is?! Aus Czaslau is er, Jan Wodliczka heißt er, kurz: a Tschech!‹ Aber freilich, Geld genug habe er sich in den dreißig Jahren, wo er seinem sauberen Herrn diene, zusammengescharrt, und nun kaufe sich der ›alte Kracher, der keine Haar mehr am Kopf hat‹, die Kathi zur Frau. Zuerst habe er ihre Tante, die alte Närrin, herumgebracht, und dann den Grabmayr durch ›tausend Pfiffe Gespritzten‹ (Gläschen Landwein mit Sodawasser vermischt), und dann die Eltern, die ja arme Winzersleute in Radkersburg seien, und endlich mit Hilfe der vier Alten auch die Junge. ›No ja, so a Kind – die weiß viel, was heiraten is!‹ Natürlich sei aber der Jean ›eifersüchtig wie's böse Gewissen‹, und darum habe die Kathi im September für die Zeit seiner Abwesenheit zu den Eltern müssen, der Jean sei nämlich mit seiner Herrschaft in ein Bad gegangen, – unten bei die ›Katzelmacher‹ (der Spitzname, mit dem die Österreicher die Italiener belegen); ›Battaglia tut sich das Bad schreiben, und soll alte Leut' wieder jung machen, daß sie wieder springen können, aber wenn der alte Sünder, der Nery, springen kann, wenn er zurückkommt, dann will ich den ganzen Schloßberg auffressen, als wenn er ein Engelkopf wär'. Der springt nimmer, Herr Professor, der bleibt sein Leben im Rollstuhl, so daß ihn seine schöne Frau bequem betrügen kann!‹ In einer Woche kämen sie wieder, die Kathi aber habe schon jetzt aus Radkersburg zurück müssen, weil sich's der Grabmayr gern bequem mache. ›Aber damit is auch mein bissel Verstand wieder zum Teufel!‹
Und er begann abermals zu lamentieren, und unterbrach sich nur, um mich anzuflehen, seine bösen Worte über ›unseren Herrn Kusäng‹ zu vergessen. ›Er hat ja auch seinem Jean beim Grabmayr das Wort gered't‹, entschuldigte er sich, ›und da is es mir herausgerutscht.‹ Und über die Frau Baronin habe er ja nichts Böses gesagt. ›Wenn S' erst den Herrn Baron Nery sehn – so einen Mann darf man betrügen!‹
Ich war am Abend zu einer Gesellschaft beim Dekan meiner Fakultät geladen und kam nach Mitternacht halbtot vor Langeweile heim. Als ich die Klingel des Palais zog, nahm ich mir vor, mich mit der Kleinen, so gut sie mir auch gefiel, in kein Gespräch mehr einzulassen. Es hatte keinen Sinn, von allem übrigen abgesehen, konnte ich doch auch nicht gut der Rivale meines eigenen Bedienten werden.
Auch blieb ich standhaft, obwohl sie mir heute noch reizender erschien als gestern. Vielleicht weil sie blasser war und die Augen feucht schimmerten; sie mußte wohl geweint haben. Aber da trippelte sie zögernd mit ihrem Laternchen bis zur Treppe neben mir her und begann dann stockend: ›Bitt' schön, Herr Professor . . . aber net bös sein . . . net bös sein.‹
Ich blieb stehen: was sie wünsche?
›Wünschen?! O du mein Gott! Zu wünschen hab' ich doch nix, bitten möcht' ich nur, weil ich mir gar net mehr z'helfen weiß. Ach, Herr Professor!‹ Und sie brach in Tränen aus.
Ich suchte sie zu beruhigen, sie möge mir's nur getrost sagen, es sei gewiß nichts Unrechtes.
›A wo!‹ schluchzte sie, ›was Rechtes is es g'wiß! Aber ich trau mich halt net! Und jetzt schon gar net! Ich kann Sie doch nicht jetzt mitten in der Nacht eine halbe Stund' anlamentieren. Morgen komm' ich zu Ihnen und sag's. Aber das is ja auch net möglich‹, fuhr sie fort und schluchzte noch stärker. ›Da is ja der Franz im Vorzimmer.‹
Also das war's! Ich sollte ihr den stürmischen Werber zähmen helfen. Nun, warum nicht?! Da sie Braut war, so war das eine ebenso sittliche wie humane Mission. Und so strich ich ihr tröstend über das dichte, seidenweiche, hellbraune Haar und versprach, den Franz morgen um zehn auf eine Stunde fortzuschicken.
Sie haschte nach meiner Hand und hätte sie geküßt, wenn ich sie nicht hastig hinweggezogen hätte. ›Ich dank' Ihnen!‹ rief sie, ›der Franz hat recht, Sie sein a guter Herr!‹
Meine Zusage reute mich, kaum daß ich sie gegeben hatte, und nun erst am nächsten Morgen! Gerade weil mir das liebe Ding so gut gefiel und weil ich mich kannte. Indes, sein Wort muß man halten.
Um zehn war Franz mit einem Haufen Bücherzettel zur Universitätsbibliothek getrabt. Und eine Viertelstunde später trat die Kathi bei mir ein, in demselben dunkelblauen, etwas zu engen Leinenkleidchen, in dem sie nachts ihren Dienst versah. Aber weiß Gott, hübsch genug war sie auch so. Abwechselnd tiefblaß und dann dunkelrot stammelte sie schon an der Türe ihre Entschuldigungen, kam nur zögernd näher und schlug den angebotenen Stuhl aus. ›Um Gott's will'n, unsereins setzt sich net vor der Herrschaft hin!‹ wehrte sie ab und trug dann endlich ihre Bitte vor.
Natürlich handelte es sich wirklich um den armen, närrischen, schrecklichen Menschen, den Franz. Er habe ihr ja schon im Sommer oft gedroht, es werde ein schlimmes Ende nehmen, wenn sie sich mit dem Jean verlobe – sie sagte immer: ›Herr Jean‹ –, aber seit sie zurück sei, führe er vollends ›grausliche‹ Reden. Bald wolle er ihren Bräutigam erwürgen und sich aufhängen, dann zum mindesten sich selber erschießen – und ›ich kann doch gar nix tun, ich fürcht' mich halt und zitter' nur immer, aber das nützt ja net viel!‹ Wenn sie es ihrem Onkel sage, so komme der Franz sofort aus dem Hause, das wisse sie, aber dann werde er seine Drohungen erst recht ausführen. Und da habe sie, da der Franz mich so lobe, in ihrer Verzweiflung den Mut gefaßt, meine Hilfe zu erbitten. ›Er hat erst gestern abend g'sagt, Ihnen zulieb ging er durchs Feuer, und da hab' ich mir halt gedenkt, vielleicht hängt er sich auch Ihnen zu lieb net auf und tut auch dem Herrn Jean nix an.‹
Ich wolle gern das Meine tun, versprach ich, aber der Franz sei eben leider sehr verliebt.
›Ja, sehr‹, bestätigte sie treuherzig mit einem tiefen Seufzer, ›es is ganz schrecklich, wie verliebt er in mich is.‹
Ich mußte lächeln; ob sie denn aber keine Schuld daran trage, indem sie ihm Hoffnungen gemacht habe.
›Nein‹, beteuerte sie und beschwor es bei der heiligen Jungfrau und allen Heiligen des Kalenders. ›Wie hätt' ich es denn tun sollen?‹ rief sie. ›Er hat mir ja gar nie g'fallen, das wär' also a Lug gewesen, und gelogen hab' ich noch niemals nicht!‹ Und wie sie so dastand und mich mit den braunen, klaren Augen anguckte, da kam mir diese Beteuerung sehr überflüssig vor, der hätt' ich und jeder auf diesen Blick hin alles geglaubt.
›Hm‹, sagte ich, ›dann ist also auch ein anderer Ausweg schwer möglich, der mir vorgeschwebt hat. Der Franz hat mir gesagt, Ihr Bräutigam sei ein älterer Mann, mit dem Sie sich nur auf Zureden Ihrer Verwandten verlobt hätten. Ist das wahr?!‹
Sie wurde rot, das Blut schlug ihr bis über die Stirn.
›Ja‹, sagte sie dann leise, aber fest. ›Das is wahr!‹
›Und haben Sie ihn während Ihres Brautstandes liebgewonnen?‹
Die Röte wich tiefer Blässe, dann schüttelte sie den Kopf.
›Verzeihen Sie‹, sagte ich unwillkürlich, ›aber ich meine es gut‹, – und in diesem Augenblicke wenigstens meinte ich es wirklich so. ›Nun denn, ließe sich diese Verlobung nicht aufheben? Der Franz liebt Sie wirklich und ist ein tüchtiger Mensch, auch wird er immer sein Brot haben und Sie anständig ernähren können.‹
›Nein!‹ sagte sie. ›Das sagt ja auch er selber immer, aber das kann net sein! Der Herr Jean – wie er is, so is er – aber mein Wort muß ich ihm jetzt halten . . . Wie ich das dem Franz gesagt hab‹, fuhr sie stockend fort, nun wieder abwechselnd errötend und erbleichend, ›da hat er was Schlechtes von mir geglaubt, aber das is net wahr! Net wahr!‹ wiederholte sie nun totenbleich, doch fest, und blickte mich voll an. ›Aber der Herr Jean hat meinem Vater fünfhundert Gulden auf sein Häusel geliehen, und mein Vater kann sie nie zurückzahlen – und darum muß es sein! . . . Und Ihnen‹, fuhr sie fort, ›will ich auch was sagen, was ich dem Franz gestern net hab' sagen wollen, obwohl er mich so gekränkt hat, denn er is ja so gach (jähzornig), und ich hab' Mitleid mit ihm und will ihn net ins Unglück bringen. Also: selbst wenn ich vom Herrn Jean loskäm', den Franz nähm' ich nimmer. Denn früher hab' ich dummes Mädel das net so gewußt, aber jetzt weiß ich's: verloben darf man sich nur mit einem, den man gern hat. Und den Franz hab' ich net gern!‹
Ich kann Ihnen ja nur erzählen, was sie sagte, nicht, wie sie's sagte, sonst würden Sie mir's glauben, daß ich, trotz meiner jungen Jahre kein weicher Mensch, aufrichtig gerührt war. Es war keine Phrase, als ich ihr versprach, ich wolle in der Sache tun, was ich irgend könne. Sie dankte unter Tränen und ging.
Ich machte mich denn auch sofort ans Werk, aber viel erreichte ich nicht. Als ich dem Franz einige Stunden später kräftig ins Gewissen redete – natürlich verhehlte ich ihm mein Gespräch mit der Kathi nicht – war er sehr zerknirscht, versprach auch, sich zusammenzunehmen, ›aber‹, fügte er verzweifelt bei, ›ich fürcht' nur: wenn ich den Hund seh', fahr' ich ihm doch an die Gurgel, und das Unglück is fertig!‹
Immerhin konnte ich die Kleine des Abends beruhigen.
›Weiß ich schon!‹ unterbrach sie mich fröhlich und faßte zutraulich meine Hand. ›Der Franz sagt, Ihnen zulieb will er sich z'sammnehmen. Ach, Herr Professor, was sein Sie für a guter Mensch! Als ob Sie ein richtiger Christ wär'n!‹
›Das bin ich ja auch!‹
›I wo!‹ Sie lachte über das ganze Gesichtchen, alles lachte mit: die braunen Augen, die runden Wangen, das Näschen, die Grübchen, nicht bloß der kleine, rote Mund. ›A Luthrischer sein S'! In die Höll' kommen S'!‹
Aber dann würde sie wieder glührot und bat demütig um Entschuldigung.
›Nein, so a Frechheit von mir!‹ hörte ich sie noch ganz erschreckt hinter mir her sagen.
Und ähnliche Sächelchen könnt' ich Ihnen weiß Gott wie viele erzählen. Wie ein Kind, dachte ich zuweilen, oder auch: Ist das alles auch echt? Aber das kam nur davon, weil ich eben ein ›Preuß‹, ein ›Luthrischer‹ und zum ersten Male in Österreich war.
Die Kathi war kein Kind, im Gegenteil, trotz ihrer achtzehn Jahre auch seelisch reif, und nun vollends kein geziertes Geschöpf, sondern nur eben das richtige österreichische Mädel aus dem Volke. Ach, was ist das für eine reizende Gattung: gut und fröhlich, dankbar und selbstlos, warm an Leib und Seele – und die Kathi war nur eben ein Prachtstück der Gattung. Mir aber, der ich diese nicht kannte, erschien sie vollends wie ein liebes Wunder, und nach zwei oder drei Tagen war ich über Hals und Kopf in sie verliebt. Zudem waren wir ja durch ihre Bekenntnisse von Anbeginn in eine gewisse vertraute Beziehung gekommen: die Art, wie sie zu mir aufsah, schmeichelte mir, und daß ich sie immer nur nachts und unter vier Augen sprach, konnte mein Blut auch nicht eben beruhigen.
Dennoch hielt ich an mich und gab mir nur insoweit nach, daß ich sie allnächtlich zweimal sprach. Ich ging erst nach Zehn, wo das Tor geschlossen wurde, ins Kaffee, kehrte gegen Mitternacht wieder und plauderte jedesmal ein Viertelstündchen mit ihr. Worüber? Eben über nichts, es war schon Stoff genug, daß sie ein anderes Bändchen im Haar trug, oder daß der Herr Bräuer den Grabmayr heute scharf abgekanzelt habe, und vor allem, daß der Franz zwar noch immer seufze und die Augen verdrehe, sooft er sie erblicke, aber keine schlimmen Reden mehr führe.
Das war so der Hauptspaß. ›Wie macht er's denn jetzt?‹ fragte ich, und dann spielte sie's mir vor und sah dabei zum Küssen hübsch und neckisch aus.
Nun – und endlich kam's auch einmal zu einem Kuß, so fest ich mir auch vorgenommen hatte, standhaft zu bleiben.
Es war vier Tage, nachdem ich den Franz und sie ›gerettet‹ hatte, und ich war am Vormittag sehr mißmutig aus dem Kolleg heimgekommen: mein braver Kärntner war erkrankt, und ich mußte meine Weisheit für mich behalten. Auch im Palais wußte man davon durch den jungen Herrn, und das Mitgefühl, mit dem beim Abendessen Graf und Gräfin, am wärmsten aber meine Freundin, Mademoiselle Adèle, diese Unterbrechung meiner glorreichen Dozentenlaufbahn mit mir besprachen, konnte mich nicht eben aufheitern. In dieser Stimmung wechselte ich auch mit der Kleinen, als sie mir das Tor öffnete, nur wenige Worte, und erst bei der Heimkehr fragte ich wieder, um mich aus meinem Mißmut zu reißen: ›Nun, wie hat's der Franz heute gemacht?‹
Sie sah mich teilnahmsvoll an. ›Ja, das fragen S' so aus Gütigkeit. Ach, Herr Professor, ich hab' ja g'hört, was für Verdruß Sie heut im G'schäft g'habt haben! Ich versteh's nimmer, so a Herr wie Sie und die Studenten kommen net! Ihnen sieht man's doch an, daß Sie Ihre Sach' verstehn!‹
Ich mußte laut auflachen.
›Ja, Kathi, das wird nicht eher besser, bis Sie sich ins Zeug legen. Sie lassen sich bei mir einschreiben, und dann kommen die Leute schon!‹
Sie stimmte munter ein: ›Ja, so wird's gehn! Ich mach's Kraut fett!‹ – fragte dann aber gleich darauf bekümmert: ›Was könnt' da aber wirklich g'schehn?! Verzeihn S', wenn's a Dummheit is, aber könnten S' denn nicht in die »Tagespost« setzen: »A junger Professor« – und so und so. Na ja, aus nix wird nix!‹
Natürlich mußte ich über dies Mittel, mein Dozententum in Schwung zu bringen, erst recht lachen. Aber wie sie so vor mir stand, und auf dem lieben Gesichtchen wechselte die Sorge um mich mit dem Anreiz, in meine Heiterkeit mit einzustimmen, da hielt ich mich nicht länger und sagte: ›Nein, Kathi, wenn Sie mir schon auf die Strümpfe helfen wollen, so gibt's ein besseres Mittel. Geben Sie mir einen Kuß, und ich bin kreuzfidel!‹
Sie wurde purpurrot. ›Das wär' grad's Rechte‹, lachte sie verlegen, fragte dann aber ganz ernst: ›Darf denn das eine Braut?‹
›Selbstverständlich! Einen Kuß in Ehren.‹
›Na, dann in Gott's Namen!‹
Und sie hielt mir den Mund hin. Ich umfaßte sie, es sollte nur ein Augenblick sein, aber dann kam's wie ein Rausch über mich, als ich den heißen Gegendruck ihrer Lippen fühlte, und einige Minuten hielt ich sie in den Armen. Sie begann zu zittern, hing mir aber willenlos am Halse. Erst, als ich sie endlich ließ, sah ich, wie blaß sie nun war.
›Kathi‹, fragte ich, ›sind Sie mir böse?‹
Sie schüttelte den Kopf.
›Nein, aber . . . o Gott, mein Gott! . . . So is das also, so . . . ‹
Und jählings überströmten die Tränen ihr Gesicht, und sie rannte davon; das Laternchen ließ sie stehen.
Kopfschüttelnd ging ich auf mein Zimmer und konnte lange nicht den Schlaf finden. Stolz war ich wirklich nicht auf mich.
Noch weniger stolz aber war ich am nächsten Abend, wo ich erkannte, was ich in dem armen Kinde wachgeküßt hatte.
Als ich aus einer Gesellschaft heimkam, blieb sie bei meinem Anblick erschauernd stehen und ließ das Köpfchen hängen, so traurig, daß sich mir das Herz rührte. Ich suchte sie zu beruhigen; ich wollte sie nie wieder küssen.
Wieder begann sie zu weinen.
›Das dürfen S' auch net‹, stieß sie schluchzend hervor, ›mir is auch so bitter genug! Ich weiß ja net mehr, wo aus, wo ein! Und erst seit gestern.‹
Da brach sie ab und preßte die Lippen zusammen. Ich wollte nicht weiter fragen, wozu auch, da mir ohnehin alles verständlich war – aber nun öffnete sich die Türe der Portiersloge: ›Kathi!‹ rief eine scharfe Stimme, ›mit wem plauschst denn schon wieder?‹ Der alte Grabmayr.
Als ich zu Bette ging, versprach ich mir: ›Derlei soll dir nie wieder passieren.‹ Aber das half mir über die Scham nicht hinweg.
Darum wies ich auch den Franz zunächst kurz ab, als er am Nachmittag darauf mit dem seltsamen Anliegen bei mir erschien, ich möge doch um Himmels willen gestatten, daß die Kathi wieder zu mir komme und mir ihr Herz ausschütte. ›Das arme Hascherl geht ja so zugrund!‹ jammerte er und erzählte dann erregt: sie habe heut morgens von dem ›Herrn Schurken‹ – er nannte den Jean immer so, als wäre das der Amtstitel des Mannes – einen Brief bekommen und sei seitdem ganz verzweifelt. Ihm wolle sie nicht sagen, was der Herr Schurke geschrieben habe, aber es müsse wohl etwas Schreckliches sein, und jemand müsse doch der Verzweifelten beistehen, das sei ja Christenpflicht. Da habe er ihr selbst angeboten, ihr eine Unterredung mit mir zu erwirken, denn auf mich halte sie ja ebenso große Stücke wie er selbst, und ich würde ihr vielleicht Rat wissen.
Wie gesagt, ich lehnte zunächst ab und ließ mich dann doch durch seine flehentlichen Bitten erweichen. Wieweit mich dabei meine Verliebtheit mitbestimmte oder der Wunsch, gutzumachen, was mein Kuß angestiftet hatte, war mir selbst nicht klar. Auch ganz gewöhnlich neugierig mag ich gewesen sein.
Nun, diese Neugier fand bei dem Gespräch mit dem armen Kinde jedenfalls bessere Befriedigung als mein Wunsch, ihr behilflich zu sein. Schon der Brief, den sie nach langem Zögern – ›ich schäm' mich zu Tod!‹ rief sie unter bitteren Tränen immer wieder – in meine Hände legte, war ein seltsames ›document humain‹. So also schrieb ein fünfzigjähriger Mann dieses Standes an seine achtzehnjährige Braut, ein braves Mädchen, das ihm bisher nur Küsse gestattet hatte. Und neben diesen wüsten, widerlichen Äußerungen seiner ›Liebe‹ standen die fürchterlichsten Drohungen, wenn sie ihn mit dem Franz betrüge. Veranlaßt war der Brief durch die Nachricht, daß sie vor ihm nach Graz zurückgekehrt sei; er selbst, schloß er, komme nächstens.
Ein abscheulicher Brief also, und ich konnte es dem armen Kinde nachfühlen, wenn es schaudernd ausrief: ›Und den soll ich heiraten!‹ Ich suchte sie zu trösten: der Mann liebe sie ja in seiner Art, worauf aber sie: das sei ihr eben das Furchtbare. ›Ich hab' bisher geglaubt‹, stieß sie zitternd hervor, ›es is immer schrecklich, wenn man einen Mann küßt, aber das glaub' ich jetzt nimmer!‹ Sie sagte es so leise, daß ich es kaum verstehen konnte, aber mir klang es dröhnend ins Ohr.
Es währte lange, bis ich mich so weit gefaßt hatte, um ihr einen Rat geben zu können. Viel war nicht davon zu erwarten, aber es war das einzige, was mir möglich schien.
Die Gräfin war eine feine, gütige Frau, die erst kürzlich bei Tische geäußert hatte, die Kathi sei ›frisch, stark und rein wie eine Feldblume‹, ich riet dem Mädchen, ihre Hilfe anzurufen. Sie schüttelte traurig den Kopf, ließ sich schließlich aber doch dazu überreden. Und weil sie ein echtes Kind ihres Stammes, also leicht beweglichen Gemüts war, so glomm, als sie von mir ging, in den braunen Augen wieder ein lichter Strahl auf.
Was mich betrifft, so tat ich mir, nachdem sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, in aller Stille einen Schwur. Der Kuß ließ sich nicht ungeschehen machen, aber durch mehr und anderes wollte ich die Ruhe meines Gewissens und meine Stellung im Hause nicht erschüttern. Denn ich will mich nicht besser machen, als ich damals war, auch an dies dachte ich, und zwar recht lebhaft.
Nun, diesen Schwur mindestens habe ich gehalten. Es fiel mir auch nur in den ersten Tagen schwer; da ging ich sogar, die Versuchung zu vermeiden, des Abends nicht aus. Sah ich die Kathi tagsüber, so nickte sie mir fröhlich zu, wurde allerdings auch etwas rot dabei. Die Wolke, die über ihr hing, hatte sich so weit verzogen, daß sie den Himmel für immer blau glaubte. Es war nicht das Verdienst der Gräfin, denn noch ehe das Mädchen den Mut gefunden hatte, meinen Rat zu befolgen, war die Nachricht eingetroffen, daß Jean schwerlich vor dem Frühjahr heimkommen werde. Baron Nery war auf der Rückreise wieder an Ischias erkrankt, lag nun in Bozen fest, schlimmer als vor der Kur in Battaglia, und sein Leiblakai war ihm, nach den Reden bei Tische zu schließen, schwerer entbehrlich als seine Gattin. Denn den Jean brauchte er zur Pflege und die Baronin nur, um sie zu quälen. Namentlich die Gräfin Wartegg war so sehr gegen ihn erbittert, wie es ihr sanftes Gemüt irgend zuließ, und beklagte ihre Cousine der traurigen Weihnachten wegen, die sie in der Fremde werde verbringen müssen. ›Freilich‹, fügte sie seufzend bei, ›ihr ganzes Leben ist ja traurig.‹
Aus ihren Reden wie aus dem, was ich ohnehin aus der Geschichte Österreichs über ihn wußte, gewann ich von Nery ein nicht eben günstiges Bild. Er war zuletzt Feldzeugmeister gewesen, nun an Siebzig und längst außer Dienst, schon seit 1859, wo er mit zwei oder drei anderen Heerführern seines Schlages den Verlust der Lombardei verschuldet hatte. Unfähigkeit war übrigens noch das Geringste, was man ihm nachsagte; sein Name war auch durch die grausame Härte befleckt, die er nicht bloß in Italien, sondern 1849 bei der ›Pazifizierung‹ seiner eigenen Landsleute erwiesen hatte, und damit nicht genug: er wurde recht unverblümt schmutziger Geldgeschäfte mit Armeelieferanten beschuldigt. In Graz pflegte man ihn den ›kleinen Haynau‹ und noch häufiger ›die fünf G‹ zu nennen: ›Gamaschentum‹, ›Geldgier‹, ›Grausamkeit‹, ›Gemeinheit‹, ›Geiz‹. Geheiratet hatte der Graf erst vor zwölf Jahren, also nach seiner Verabschiedung und als grauhaariger Fünfziger; seine Gattin, die Baronin Irma, war an vierzig Jahre jünger als er und entstammte einem der berühmtesten Geschlechter Innerösterreichs, ihr Vater, nun längst tot, war der Oheim der Gräfin Wartegg, der jüngste Bruder von deren Vater. Da das Geschlecht zudem nicht bloß an Ruhm, sondern auch an Besitz viel bedeutete, so schien es rätselhaft, wie das junge Blut an den alten Sünder, der in jeder Hinsicht ein schmähliches Leben hinter sich hatte, gekommen war. ›Traurige Geschichten‹, sagte mir der junge Wartegg, als die Rede darauf kam, ›die Ärmste büßt für ihre Eltern‹. Er schwärmte von ihrer Schönheit und Güte, der Tapferkeit, mit der sie sich in ihr schweres Los gefunden habe. Ähnlich urteilte seine Mutter.
So gewann ich aus den Gesprächen über sie das Bild einer sanften, edlen Dulderin, für deren Schicksal ich mich unwillkürlich interessierte. Was mir Franz gesagt hatte, war offenbar häßlicher Dienstbotentratsch.
Da sollte ich früher als vermutet selbst über sie urteilen können. Wir saßen – etwa eine Woche vor Weihnachten war's – eben bei Tische, als ein Telegramm von ihr aus Bozen eintraf, sie komme am nächsten Morgen; ihr Mann folge ihr erst in einiger Zeit. Die Gräfin war ehrlich erfreut. ›Wie mag sie sich das durchgesetzt haben?‹ fragte sie, worauf der Graf lächelnd: ›Vermutlich auf dieselbe Weise wie früher manches andere auch!‹
Am Tage darauf wurde ich ihr vor der Mahlzeit vorgestellt. Es war ein grauer, düsterer Tag: der Salon lag im Zwielicht, in diesem ungewissen Schein sah sie ungünstig aus. Eine tiefbrünette Dame von etwa dreißig Jahren, sehr groß, aber selbst für diese Größe etwas zu stark, in der Bewegung schwer und langsam, mit nicht unhübschen, aber sehr fleischigen Zügen; der fahle Teint, von dem sich die vollen, blutroten Lippen grell abhoben, die buschigen, zusammengewachsenen Brauen, die Starrheit der Züge wirkten fast unheimlich; zudem lag in der Art, wie sie meine tiefe Verbeugung aufnahm, ein Hochmut, der mir kaum je begegnet war, am wenigsten in diesem Lebenskreise voll formaler Höflichkeit.
Anders freilich urteilte ich über ihr Äußeres, als wir im erleuchteten Speisezimmer saßen. Im Schein der Lampen erschien der Teint noch immer bleich, aber nicht mehr fahl; es lag ein eigentümlicher, sehr matter Schimmer über der Haut, wie man ihn etwa an der Birkenrinde im Frühling findet, und das tiefschwarze Haar von einer Üppigkeit, wie ich es kaum je gesehen hatte, war von einem bläulichen Hauch überflutet; wandte sie das Haupt, so flimmerte es in dem mächtigen, welligen Knoten auf, in den dies märchenhafte Haar über der niedrigen Stirn auf dem Scheitel gebändigt war. Auch nun noch erschienen mir ihre Bewegungen langsam, aber nicht ungraziös mehr; es war in der Art, wie sie jetzt in ihrem Sessel lehnte oder den Kopf wandte, etwas Lässiges, aber die Lässigkeit ungewöhnlicher Kraft; die große, muskulöse, herrlich modellierte Hand sah aus, als könne sie einen Felsblock schleudern, und wäre doch das Entzücken jedes Bildhauers gewesen.
Ähnlich wie sie sich bewegte, sprach sie auch; langsam, mit tiefer, aber weicher, leicht vibrierender Stimme, daß man unwillkürlich lauschte; auch in ihrem Dialekt, so hart er klang, lag ein gewisser Reiz; allerdings sprach sie kein tadelloses Deutsch – ihre Muttersprache war das Ungarische – aber auch ihr Französisch war so unelegant, daß es selbst mir auffiel. Sie sprach wenig, fast nur auf Fragen; es war etwas Gedämpftes in ihrem Wesen, aber nicht die elegische Trauer, die ich nach ihrem Geschick vorausgesetzt hatte; es machte vielmehr den Eindruck mühsam verhaltener Kraft und Leidenschaft.
Schon die Art ihres Atemholens hatte etwas Aufregendes; langsam, mit halbgeöffneten Lippen, einem feineren Ohr hörbar, und tief, tief zog sie die Luft ein, daß sich der Busen sehr merklich hob, dann schloß sie die Lippen und atmete durch die Nase aus, daß die Flügel dieser starken, scharf und kühn geschnittenen Nase vibrierten. Dies konnte ich sehen, weil der junge Graf, der zwischen ihr und mir saß, sich zuweilen zurückbog; von ihren Augen bemerkte ich nur, daß sie groß und hell waren, was zu den düsteren, pechschwarzen, hart aneinanderstoßenden Brauen seltsam genug paßte. Erst als wir im Salon saßen, konnte ich diese merkwürdigen Augen studieren, die fast von Minute zu Minute anders erschienen, grau, grün, dann wieder fast dunkel.
Ich sollte aber noch an demselben Abend erfahren, was diese Augen vermochten. Meine Arbeit über das Schecksystem war nun erschienen und wurde, weil die Einrichtung damals in Österreich noch wenig bekannt war, in den Zeitungen besprochen. Der Graf sagte mir ein freundliches Wort darüber und ließ sich dann die Sache näher erklären. Während ich eifrig sprach, hatte ich plötzlich eine seltsame Empfindung; nie vorher noch nachher habe ich Ähnliches erlebt. Mir war's, als wehe mich ein schwüler Hauch an – aber nein, es war stärker: als striche mir eine heiße, schwere Hand über Stirn und Wangen und als fühlte ich an den Lidern, den Schläfen die spitzen Nägel dieser Hand . . . Ich stockte, fühlte mir das Blut jäh ins Gesicht schießen und sah die Baronin Irma an: ja es waren ihre Augen, die ich so fühlte, der Ausdruck kaum zu beschreiben; starre, nun ganz helle, grüne Augen, und wie loderte es in ihnen – als sähe man Feuer hinter einer Glaswand aufzucken . . . Von ›einem Blick der Schlange‹ pflegen da die Dichter zu reden . . . aber das sind Worte, Worte . . . erlebt, gefühlt muß man's haben . . . Auch währte es nur einige Sekunden, aber nun wußte ich genug von ihr . . .«
Er hielt inne.
Der alte Arzt lächelte. »Und nach vierzehn Tagen kannten Sie sie ganz genau!«
Der Direktor schüttelte den Kopf, sein Gesicht war ernst, ja finster.
»Nach drei Tagen«, sagte er. »Es ist nicht klug, derlei zu erzählen, aber tut man's, so soll man nicht lügen wollen, und vollends darf man nicht schönfärben. Weichmütige, phantasievolle Menschen werden das immer tun, weil sie müssen, weil sie die Wahrheit nicht ertragen können, weil sie sich sonst vor sich selber zu Tode schämen müßten. Weh ihnen, daß sie müssen; dieser Zwang ihrer Seele macht ihnen solche Erlebnisse erst recht gefährlich, denn das innerste Wesen solcher Bündnisse bleibt doch auch für sie dasselbe; das wärmste Gemüt, die kräftigste Phantasie vermag sie auf die Dauer nicht zu adeln. Da sind die Härteren und Verständigeren besser daran; gewiß, aber das müßte kein Mensch sein, der nicht, und sei er so leichtfertig wie damals ich, zuweilen doch empfände, daß solche Beziehungen immer ihre Strafe in sich tragen. Immer – es bedarf gar nicht äußerer Katastrophen, nicht des Strafgerichts der Welt – in jeder solchen Blüte sitzt, mit ihr zugleich geboren und mit ihr wachsend, der Wurm, der sie zernagt.
Immer, sag' ich, so auch hier. Wenigstens, von mir darf ich dies versichern. Ich war sehr rasch der Versuchung erlegen, aber welche Rolle ich dabei spielte, namentlich dem Grafen Wartegg und seiner Frau gegenüber, vergaß ich doch niemals. Ich log nicht einmal Irma vor, daß ich sie liebte, geschweige denn mir selbst; auch sie heuchelte mir nicht, was sie nicht empfand. Was ich mir also sagen konnte, war nur: ›Sie ist ein schönes Weib, und hättest du dich besonnen, so wäre sie eben an einen anderen gekommen‹ – und das ist doch eigentlich, wenn man halbwegs Ehre im Leibe hat, schrecklich wenig. So wenig, daß ich mich vielleicht aus eigener Kraft aus dieser anscheinend so heißen, in Wahrheit so kalten und leeren Beziehung gerissen hätte, wenn mich nicht doch wieder einiges festgehalten hätte.
Ich meine nicht das heiße Blut der Baronin, obwohl ich auch seine Macht über mich nicht leugnen will, sondern im Gegenteil ihr kühle Auffassung unserer Beziehung. Ich habe Ihnen von ihrem Äußeren gesprochen, weil es merkwürdig war und schließlich auch diese Episode meines Lebens bestimmte, von ihrer Seele wüßte ich Ihnen nicht so viel zu sagen. Im Grunde eine Dutzendseele, nicht gut noch schlecht, dann freilich durch ihre Schicksale zum Schlechten bestimmt.
Ihr Unglück war, daß sie von Anbeginn niemand hatte achten können, die Eltern schon gar nicht. Der Vater ein Schwächling, ein Knecht seiner Leidenschaften, die Mutter nicht ohne zähe Kraft, aber ein schlechtes Weib.
Er war Rittmeister bei den Husaren gewesen, in einer kleinen Garnison im tiefen Alföld; die Zeit schlug er mit Karten und Pferden, bei der Flasche und mit Weibern tot. Das tun Hunderte seinesgleichen und kommen doch schließlich äußerlich heil davon, wenn sie nur körperlich kräftig genug sind; ihm ging's übel, weil er's nicht war; zuerst verwüstete er seine Nerven, dann sein Vermögen und schließlich auch seine Ehre; er heiratete seine Mätresse, eine Schusterstochter, weil sie es so wollte.
Natürlich mußte er nun seinen Abschied nehmen, auch seine Familie sagte sich von ihm los, und so saß er schließlich in Debreczin mit seinem Weibe in einem armseligen Häuslein fest und zehrte die Reste seines Vermögens auf. Das Elend voll zu machen, kam nun das Kind zur Welt. Da versuchte er es sogar, wieder zu arbeiten, er gab, da er nichts anderes gelernt hatte, Fechtunterricht, schrieb dann, als er immer mehr verfiel, Akten bei einem Notar ab und quälte sich durch, bis der Tod ihn erlöste.
Nun versuchte die Witwe die Teilnahme der Familie für das damals fünfjährige Kind zu gewinnen und reiste mit ihm nach Wien und Graz; die Verwandten wollten sich auch Irmas annehmen, aber natürlich unter der Bedingung, daß die Mutter ihren Rechten entsage, und davon wollte diese Frau nichts wissen; so schlecht sie sonst war, an dem Kinde hing sie. Sie lehnte die Rente ab, die man ihr als Kaufpreis bot, und kehrte mit ihrem Kinde nach Debreczin zurück. Dort schlug sie sich einige Jahre unsauber genug durch, und das Ende wäre wohl für Mutter und Kind das gleiche und entsetzliche gewesen, wenn nicht schließlich auf Betreiben der Verwandten die Gerichte eingegriffen hätten; das Kind wurde der Mutter abgesprochen und zur Erziehung in ein Kloster gebracht; die Frau kämpfte verzweiflungsvoll dagegen an, bis sie starb.
Das waren die Eltern der Baronin Nery – und ihr Gatte?! Nun der ›kleine Haynau‹, für ›fünf G‹! Als das schöne, achtzehnjährige Mädchen in die Welt trat, war sie, trotz der bösen Erbschaft im Blut, an sich nicht schlechter als jede ihrer Mitschülerinnen und hätte vielleicht einem braven, jungen Manne ein ordentliches Weib werden können – vielleicht – je älter ich werde, je mehr ich vom Leben sehe und erkenne, desto grausamer und unbezwingbarer erscheint mir die Macht der Vererbung . . . Nun kam sie aber zudem an diesen Menschen, der sie nahm, weil er ein junges, schönes Mädchen aus alter Familie suchte, und dem man sie gab, weil sie eben ihrer Eltern Kind war. Und so wurde diese Ehe nach zwei oder drei Jahren, was sie nun war: es war schwer zu entscheiden, ob er sie mehr haßte und verachtete oder sie ihn. Natürlich hatte sie zunächst Schlimmes von ihm erduldet, war wirklich die Märtyrerin gewesen, wofür sie ihre Verwandten noch heute hielten oder doch – sie klagte niemals und heuchelte überhaupt nur, soweit wie sie mußte – zu halten vorgaben, aber das war längst vorbei.
Jetzt hatte sie sich, wie sie mir gleich in den ersten Tagen sagte, ›ihre Stellung ihm gegenüber gemacht‹. Wie ihr dies gelungen sei, würde sie mir schwerlich gesagt haben, wenn ich sie darum bestürmt hätte; nun hütete ich mich aber, daran zu rühren; mir sagte mein Instinkt: das waren unheimliche Geschichten; vermutlich wußte sie von ihm noch Schlimmeres als die anderen Menschen, und er fürchtete sie vielleicht mehr als sie ihn. So hatten sie ihren Pakt gemacht: sie blieb in seinem Hause, repräsentierte als Wirtin; damit mußte er zufrieden sein. Sie war mit ihm nach Battaglia gegangen, weil sich das so schickte, und war nun allein zurückgekommen, weil's ihr in Bozen zu langweilig geworden. ›Daß mein Leben verpatzt (verpfuscht) ist‹, sagte sie zu mir, ›dafür kann ich nichts; ich such's mir nun wenigstens so angenehm einzurichten, wie es noch möglich ist.‹ Und dazu gehört eben auch eine Beziehung, wie nun die zu mir. ›Das ist das einzige‹, sagte sie zu mir, ›was ich vor ihm verbergen muß. Er weiß, daß ich ihn verabscheue, und er trägt es; daß ich einem anderen angehöre, würde er nicht ertragen, das würde ihn rasend machen. Ich muß also sehr vorsichtig sein, und weil ich's sein muß, so bin ich's eben. Er hat bisher nichts gemerkt und wird es auch diesmal nicht.‹
Sie sehen, allzuviel Romantik war nicht dabei; sie erzählte niemals von meinen Vorgängern in ihrer Gunst, aber sie leugnete nie, daß es deren gegeben hatte. ›Lieber Freund‹, pflegte sie mir immer wieder in ihrer langsamen, gleichmütigen Art des Redens zu sagen, ›nur keine Dummheiten! Und Illusionen sind für Menschen in unserer Lage die gefährlichsten Dummheiten. Ich habe Sie gewählt, weil Sie mir gefallen und weil Ihre Stellung bei Warteggs jede Indiskretion Ihrerseits ausschließt. Und Sie mich, weil ich Ihnen gefallen und weil ich Sie nie kompromittieren werde.‹
Man kann wirklich nicht vernünftiger sein. Auch beim Sie blieben wir aus dem gleichen Grunde. Wir mußten ja fast täglich in anderer Beisein miteinander reden, wie leicht hätten wir uns da versprechen können . . . Und so ging es Woche um Woche fort, nie eine Szene, nie ein unangenehmes Wort.
Ich sagte schon: vielleicht hielt mich, wie ich damals war, gerade diese nüchterne Art an sie gekettet. Mein Gemüt war nicht aufgeflammt und konnte nicht erkalten, und daß der Rausch der Sinne fortwährte, dafür sorgte ihre Schönheit. Zudem hielt sie uns beide immer in gewissen Schranken und sorgte dafür, daß wir nie allzutief in den Schlamm gerieten. Kurz, in jeder Hinsicht ein verständiges und in seiner Art ehrliches Weib.
Trotzdem war's eine häßliche Zeit in meinem Leben; ich denke nicht einmal an die Abende in ihrer Villa am Rosenberg gern zurück, geschweige denn an die Tage auf meinem Zimmer. Ich fühlte mich nicht gerade unglücklich, aber wohl war mir in meiner Haut wahrhaftig nicht. Niemand im Hause schien etwas von der Beziehung zu ahnen; nur einmal, im Januar, machte es mich unruhig, als ich während eines flüchtigen Gesprächs mit Irma die Augen von Mademoiselle Adèle scharf und prüfend auf uns gerichtet fühlte, aber ich tröstete mich: viel las sie mir nicht vom Gesichte ab und der Baronin vollends nicht. Aber auch, wenn's niemand wußte, ich konnte meinem Schüler und namentlich seinen Eltern gegenüber ein unbehagliches Gefühl nicht loswerden.
Dazu mein Fiasko als Dozent, der Kärntner war ja nun hergestellt, und ich langweilte ihn wieder zwei Stunden wöchentlich; erhebend war die Tätigkeit gerade nicht. Mein Leipziger Gönner, dem ich's klagte, tröstete, das sei ja ein unverschuldetes Fiasko; ich hätte wirklich was gelernt und spräche auch nicht schlechter als die meisten – aber das war mir ein karger Trost, und sein Rat, auszuharren, behagte mir nun schon gar nicht. Bis zum Herbst konnte ich ja bei Warteggs bleiben, aber sollte ich dies?! In Graz kam ich als Dozent nie vorwärts, das war klar – ob anderwärts, ob ich überhaupt zum Gelehrten taugte?! Es wurde mir immer zweifelhafter; was mich zumeist fesselte, war doch nicht die Theorie, sondern die Praxis. Ich hatte infolge meiner Arbeit über das Schecksystem den Direktor des ›Steirischen Bankvereins‹ kennengelernt und volontierte nun zwei Stunden täglich auf seinem Büro; sie waren mir die interessantesten des Tages. Und als ich wieder die Feder ansetzte, wurde es keine Abhandlung für ein Archiv, sondern ein Aufsatz über das Wesen der Arbitrage für ein großes Wiener Blatt. Es wurde sofort gedruckt und blieb nicht unbemerkt, gleichwohl wurde ich das Gefühl nicht los: ›Du regst in deinem Kahn ab und zu die Arme, um zu rudern – und weißt nicht wohin!‹
Aber nicht diese große Frage, etwas anderes schuf mir in jenen Zeiten die schlimmste Pein: die arme, schöne, gute Kathi! – Sooft ich an sie dachte, regte sich das bißchen, was noch gut in mir war, und ich schämte mich. Und der schwerste Augenblick in jenen Zeiten war es wohl, wenn ich, in tiefer Nachtstunde vom Rosenberg heimkehrend, die Klingel des Palais in der Raubergasse zog. Sie machte es mir nicht schwer; behende wie immer kam sie in ihren klappernden Stiefelchen herangetrabt und öffnete mir mit freundlichem Gruß das Tor. Auch mühte sie sich immer, mir ein heiteres Gesicht zu zeigen. Ich aber mußte mir sagen, daß es auch meine Schuld war, wenn diese hellen Kinderaugen nun trüber blickten als sonst. Auch glaubte ich zuweilen in diesen Augen eine stille Sorge zu lesen, die mich beschämte. Die Kathi wußte nicht, von wem ich kam, aber auf welchen Wegen ich wandelte, mochte sie wohl ahnen . . . Gesprochen wurde zwischen uns seit Wochen nur noch das Notwendigste. Da traf ich sie, es war Mitte Februar, eines Nachts so blaß, so verweint, daß ich bei ihrem Anblick erschrak und unwillkürlich fragte: ›Was gibt's, Kathi?‹
Sie schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen; nur die lieben Augen füllten sich wieder mit Tränen. Erst, als ich nochmals fragte, stieß sie schluchzend hervor: ›Nix Besonderes, Herr Professor! Der Herr Jean hat mir geschrieben, er kommt nächstens zurück – es is jetzt mit sein' Herrn soweit wieder gut.‹ Und dann mit mühsam errungener Fassung: ›No ja, ewig kann er doch net in Bozen bleiben. Das hab' ich ja gewußt‹ – aber dabei schüttelte ein Schauer den jungen Leib.
Ich fühlte mich erblassen: das wußte Irma noch nicht, und wie sollte es nun zwischen uns werden?! Dann aber dachte ich auch an das arme Kind vor mir und seinen großen, großen Jammer und suchte es zu trösten: es werde wohl nicht so schlimm werden; zudem könne sie ja nun die Hilfe ihrer Herrin, der Gräfin, anrufen. Sie hörte mich gesenkten Hauptes an. ›Nein, nein‹, sagte sie dann, ›wie Gott will . . . Ich tu' nix dagegen!‹
Und sie schlich auf ihre Kammer zurück.
Am nächsten Abend empfing mich die Baronin gleichmütig wie sonst.
›Hat Ihnen Ihr Mann nicht geschrieben?‹ fragte ich erregt und erzählte ihr, was ich von Kathi wußte.
›Der Brief kam heute.‹ erwiderte sie ruhig. ›Er ist nächsten Sonntag hier. Warum sind Sie so bestürzt? Das kann uns beiden ganz gleichgültig sein. Durch sein Kommen ändert sich nur so viel an meiner Lebensweise, daß ich nun, statt bei Warteggs oder allein, des Mittags mit ihm speise. Im übrigen bleibe ich hier in meinem Flügel, er drüben in dem seinigen. Abends gehe ich, wie bisher, ins Theater oder in Gesellschaft. Alles wie sonst.‹
›Und ich?!‹
›Sie kommen eben, sooft es uns paßt. Die einzige Änderung, um die ich Sie bitten muß, ist nur, daß Sie etwas später, kurz vor Mitternacht, kommen, und nicht mehr durch den Haupteingang, sondern durch den Garten, die Seitentür links, die direkt in meine Zimmer führt. Der Baron ist nachts oft schlaflos und könnte Sie sonst kommen hören.‹
›Und die Dienerschaft . . .‹
›Lieber Freund‹, unterbrach sie mich, ›bürden Sie sich nicht meine Sorgen auf! Ich weiß nicht‹, fuhr sie lächelnd fort und tippte mit dem Finger an meine Stirn, ›welche Gedanken hinter der Wand da über mich zu finden sind. Sie sind zwar, gottlob, ein recht verständiger, weltläufiger junger Mann, aber anderseits sind Sie ein deutscher Privatdozent, der früher viel Verse gemacht hat, man kann das also nicht so genau wissen. Aber wie immer Sie mich beurteilen: für unvorsichtig haben Sie mich bisher gewiß nicht gehalten; tun Sie es auch ferner nicht.‹ Dann aber erklärte sie mir noch näher: auf die vier Leute, die sie jetzt im Hause habe, könne sie sich nach dieser Hinsicht unbedingt verlassen; ›sie haben mich gern, sind zu gescheit, ihre angenehme Stellung zu riskieren, und hassen den Baron.‹ Ihr Mann bringe drei Leute mit: den Jean, einen Riesen von Neger, den er als Masseur habe ausbilden lassen, und einen jungen Lakaien; von ihnen komme nur der Jean in Betracht, und das sei ein Mensch, von dem nichts zu befürchten sei, wenn man ihn zu behandeln wisse.
›Er soll‹, wandte ich trotzdem ein, ›seinem Herrn sehr anhänglich sein.‹
Sie machte eine ungeduldige Bewegung, sagte dann aber lachend: ›Lieber Doktor, Sie sind heute wirklich unangenehm! Sie zwingen mich, Ihnen zu sagen, was man doch einem deutschen Jüngling nicht gern gesteht: daß Jean sich bei einem ähnlichen Anlaß gegen ein anständiges Taggeld durchaus korrekt gegen mich benommen hat. Seinem Herrn anhänglich?! Nur soweit es dem Schurken paßt.‹
Da war ich denn beruhigt. Und in der Tat ereignete sich in den nächsten vierzehn Tagen nichts, was auf eine Gefahr hätte schließen lassen. Ich war während der Zeit vier- oder fünfmal in der Villa, zu deren Gartentür ich nun den Schlüssel hatte. Die Baronin empfing mich unbefangen wie immer.
Des Barons wurde nur einmal erwähnt. Sie fragte mich, ob ich keinen Vorleser für ihn wüßte; der Mann müsse Deutsch und Französisch können.
Ich versprach, Umfrage zu halten.
›Es eilt nicht‹, sagte sie. ›Zudem hat sich Mademoiselle Adèle erboten, zwei Stunden täglich auszuhelfen, bis der Richtige gefunden ist. Ich würde das aber ungern annehmen, die Person ist mir antipathisch,‹ und dann: ›les ennemis de nos amis sont nos ennemis‹ – ›sie haßt Sie tödlich.‹
›So?!‹ fragte ich möglichst gleichmütig. ›Warum eigentlich?!‹
Die Baronin lachte. ›Tun Sie nicht so erstaunt! Das wissen Sie besser als ich und ebenso den Grund, ich kann ihn nur erraten . . . Näheres interessiert mich nicht‹, fuhr sie lustig fort, als ich sprechen wollte, ›ich möchte nicht eitel werden. Aber lassen wir das! Es ist ganz gleichgültig, ob sie Sie haßt.‹
Dieser Meinung war auch ich. Und darum nahm ich's sehr ruhig auf, als ich nach einigen Tagen erfuhr, daß sie dem Baron Nery nun ab und zu aus französischen Romanen vorlese.
Kurz darauf bekam ich diesen Herrn zufällig zu sehen. Als ich eines Vormittags mit dem jungen Wartegg an seiner Villa vorüberritt – es war ein ungewöhnlich milder Februartag, und die Sonne schien fast warm –, saß er in Pelze gehüllt in seinem Rollstuhl auf der Veranda der Villa; hinter ihm stand, gleichfalls wohl eingehüllt, der Neger, ein herkulisch gebauter Mann mit stumpfem, tierischem Gesicht. Als der Baron uns erblickte, winkte er den jungen Herrn heran; ich stieg mit ab und wurde vorgestellt. Es war mir ein peinlicher Augenblick. Scheu sah ich in das wüste Greisenantlitz mit den zerwühlten Zügen; namentlich die unsteten Augen ließen mich erschauern.
Auch seine Reden machten den Eindruck, als hätte der alte Sünder die Gewalt über sich verloren.
›Also Sö san der Herr Instruktor!‹ sagte er kichernd. ›Aber dazu taugen S' eigentlich net! So a hübscher, starker Kerl! So a schöne, grade Nasen! Beichtvater sollten S' werden, für Damen natürlich, hihi! Dies wär 's richtige Geschäft für Sie!‹ Und sooft er grinste, tat's auch der unheimliche Mensch, der Neger.
Ich war froh, als wir gehen konnten.
Natürlich steigerte diese Begegnung mein inneres Behagen nicht. Von Tag zu Tag empfand ich die Lage, in die ich mich gebracht hatte, peinlicher. Und dann tat mir das liebe Mädel, die Kathi, so sehr, sehr leid.
Ich sah sie nur einmal, des Vormittags. Blaß und verstört saß das arme, junge Blut am Fenster der Portierswohnung und starrte in eine Schüssel Schoten, die sie aushülsen sollte, die Lider gesenkt, die Mundwinkel tief herabgezogen, ein Bild tiefsten Grams. Seit der Rückkehr ihres Bräutigams versah wieder der alte Grabmayr sein Amt, unter Stöhnen und Fluchen. ›Der grausliche Mensch, der Jean, is ja verrückt vor Eifersucht‹, klagte er mir, ›er leid't net mehr, daß die Kathi aufmacht!‹
Auch den ›Herrn Schurken‹, wie ihn Franz nun grimmiger als je nannte, sah ich einmal, als er mit einer Botschaft seiner Herrin beim jungen Grafen eintrat: ein widriger, verlebter Kerl mit brutalem Gesicht. Mich streifte sein Blick mit einem Ausdruck hämischer Vertraulichkeit – die Quittung über das ›anständige Taggeld‹ stand darin geschrieben – wahrlich, ich hatte Grund, stolz auf mich zu sein . . .
Übrigens sollte der Mensch noch lange an diesen Besuch im Palais denken. Als er die Treppe hinabging, stieß er mit dem Franz zusammen, und dieser prügelte ihn weidlich durch und hätte ihn erwürgt, wenn nicht die anderen Lakaien hinzugesprungen wären. Natürlich mußte nun Franz aus dem Hause; der Graf, ein milder Herr, schickte ihn auf seinen Sommersitz in Obersteier; unter Tränen nahm er von mir Abschied. ›Geben S' auf die Kathi acht‹, bat er schluchzend, ›sonst geschieht ein Unglück!‹ Aber was konnte ich da machen?
So lebte ich die nächsten Tage unfroh und gequält dahin, in einer dumpfen, stumpfen Leere des Herzens und des Hirns, und alles peinigte mich: auch das Verflackern der Sinnenglut, und daß ich nicht ernstlich arbeiten konnte, und am meisten die Unfähigkeit, mich frei zu machen. Ich war entschlossen gewesen, nach dem ersten Rigorosum meines Zöglings zu gehen; nun bestand er es am ersten März, und es war gleichgültig, wer ihn für das zweite vorbereitete, dennoch blieb ich. ›Fort muß ich‹, sagte ich mir täglich, ›ich muß mit dem Grafen sprechen‹ – und täglich blieb's beim Vorsatz.
Da griff das Schicksal ein und riß mich empor und begnadete mich gegen Recht und Verdienst mit dem Segen eines inneren Erlebnisses, das mich so weit wandeln und veredeln sollte, wie dies überhaupt noch möglich war.
Ich weiß noch heute das Datum: Montag, den 5. März 1875. Ein heller, sonniger Vorfrühlingstag. Licht und Wärme und Heiterkeit, wohin das Auge blickte. Ich aber stand seufzend auf und dachte beim Ankleiden ohne Freude daran, daß ich heute kurz vor Mitternacht in der Villa am Rosenberg erwartet wurde.
Dann ging ich ins Kolleg und bewies meinem armen Mietling, welch ein bedeutender Mann Friedrich List gewesen sei. Er hielt geduldig stille, aber als ich schloß: ›Über die weitere Entwicklung der Listschen Theorie der produktiven Kräfte wollen wir, meine Herren, das nächste Mal sprechen!‹, da trat er mit dem Mut des gekrümmten Wurms auf mich zu und bat, ob ich ihn nicht für den Rest des Semesters dispensieren könne. Er wolle heimgehen und für die Staatsprüfung arbeiten. Aber wenn mir daran liege: sein Vetter, ein Theologe, sei bereit, ihn zu vertreten. Darauf verzichtete ich edelmütig und ging heim. Jener Satz aber, mit dem ich schloß, ist mir aus guten Gründen in Erinnerung geblieben; es ist der letzte, den ich im Leben von einem Katheder herab gesprochen.
Damals ahnt' ich's noch nicht, trotz des erhebenden Abschlusses, und obwohl mir mein Freund, der Bankdirektor, mittags sagte, eine große Wiener Bank, zu deren Gruppen sein Institut gehöre, suche einen Direktionssekretär; er sei bereit, mich für den glänzend bezahlten, sehr aussichtsreichen Posten zu empfehlen. Dieser Posten und ich – wir seien füreinander geschaffen. Ich dankte ihm, erbat Bedenkzeit und dachte zunächst nicht weiter daran. Ein lachendes Tal, ich aber starrte nur immer in den Nebel vor mir.
Träg schlichen die Stunden dahin; ich mochte trotz des herrlichen Tages nicht ins Freie. Trübselig saß ich auch des Abends allein auf meinem Zimmer und lauschte auf die Stimmen der eigenen Brust. Ach, sie klangen schrill und traurig genug. Von allem, was ich mir hier zu erringen gehofft hatte, war mir nichts geblieben als ein bißchen Sinnenglut, auch diese im Verflackern und von trübem Qualm umschwelt.
Gleichviel, ich durfte Irma nicht warten lassen. Als es elf Uhr schlug, schloß ich die Fenster, durch die bisher die noch immer milde Luft eingeströmt war, nahm Mantel und Hut und wollte die Treppe hinabgehen. Bei dem ungewissen Schein des Deckenlämpchens am Korridor sah ich am Pfeiler neben der Treppe eine Gestalt lehnen.
Erstaunt sah ich schärfer hin. Da regte sie sich, daß der Lichtschein auf ihr Antlitz fiel, ein erregtes, totenblasses Antlitz.
›Kathi!‹ rief ich.
Sie trat wankenden Schritts vor; das arme Kind hielt sich sichtlich mühsam aufrecht.
›Herr Professor‹, stammelte sie, ›ich hab' auf Ihnen g'wartet! Ich muß Ihnen was sagen.‹
Ich sah sie fragend an.
›Sie dürfen net hin!‹ rief sie und hob die zitternden Hände empor. Im Klange ihrer Stimme, in ihrer Gebärde lag ein Ausdruck so dringlichen Flehens, so hilfloser Herzensnot, daß ich sie zunächst fassunglos anstarrte.
›Sie dürfen net!‹ wiederholte sie. ›Um Christi Barmherzigkeit willen! – Es wär' Ihr Ende!‹
Sie stieß es schrill hervor, es klang wie ein Schrei durch die Stille der Nacht.
›Pst!‹ machte ich unwillkürlich; die Treppe mündete dicht neben der Portiersloge.
›Jesus Maria!‹ murmelte sie, ›wenn mich der Onkel g'hört hätt! Er glaubt, ich schlaf. Herr Professor, machen S' Ihre Tür wieder auf und lassen S' mich zu sich ins Zimmer. Sie müssen alles wissen.‹
Ich hatte mich gefaßt. ›Liebe Kathi‹, sagte ich, ›Sie meinen es gut, aber muß es heute sein?! Ich weiß nicht, was Sie zu wissen glauben, aber dort, wohin ich gehe, erwartet mich keine Gefahr!‹
›Das größte Unglück‹, rief sie und umfaßte meine Rechte mit ihren beiden fieberheißen, zitternden Händen.
›Der Hassan, der Schwarze! Machen S' Ihre Tür auf – Sie müssen alles wissen!‹
Da tat ich, wie sie wünschte, zündete die Lampe an und ließ sie eintreten.
Nun erst, im helleren Licht, sah ich, wie verwüstet die Züge des armen Kindes waren. Ich bat sie, sich zu setzen.
Sie schüttelte den Kopf. ›Nein, kurz. Also . . . !‹
Aber da stockte sie wieder und schlug die Hände vors Gesicht. ›Mein Herr und Gott, wie soll ich das sagen!‹
Dann begann sie wieder stammelnd, von Purpurröte übergossen: ›Ich weiß schon seit vorgestern, mit wem Sie . . . wohin Sie jetzt abends so oft gehen. Der Herr Jean hat's mir g'sagt. Nämlich jeden Samstag führt er mich jetzt aus, zum Wein. Ich muß ja mit, ich bin ja seine Braut.‹
Ihre Stimme klang heiser und sank zum Flüstern herab. ›Er hofft immer, wenn ich trink' . . . aber . . . lieber sterben. Aber er selbst hat sich dann nimmer in der Hand und red't gar viel. Und da prahlt er also am Samstag: jetzt hat er auch von seiner Baronin täglich fünf Gulden extra . . . und wofür sie's ihm gibt.‹
Sie rang nach Worten: ›Mir . . . mir war sehr bitter, wie ich das gehört hab'. Net meinetwegen . . . nein, was dürfen Sie mich angehen?! Aber Ihretwegen! Sie, Sie . . . ‹
Sie verstummte und schlug die Hände vors Gesicht.
Ich verstand wohl, was sie sagen wollte: ›Sie sind zu gut dazu!‹
Ich stand am Fenster und preßte die heiße Stirn gegen die Scheiben. ›Weiter!‹ sagte ich endlich . . .
›Ja, ja!‹ Sie strich sich mit der Hand über die Stirne. Sie lerne jetzt vormittags auf Wunsch des Herrn Jean bei der Theres' von Nerys das Kochen, esse dort und bessere nachmittags in der Stube der Mizzi, der Zofe, seine Wäsche aus. Der Herr Jean wolle zwar, daß sie das auf seinem Zimmer besorge, aber das tue sie nicht . . . ›Heut nach vier, wie's schon dunkel wird – er is grad' beim alten Herrn – geh' ich in sein Zimmer, die Wäsch' einzulegen. Da hör' ich ihn plötzlich kommen. In meiner Angst versteck' ich mich hinter ein' Vorhang. Er kommt mit dem Schwarzen, und da muß ich hören, was sie reden.‹
Wieder versagte ihr die Stimme. Ich mußte zureden, auch wiederholt fragen, bis ich über den Inhalt des Gesprächs im klaren war.
Der ›Herr Jean‹ habe den Hassan im Auftrage des Barons gedungen, einen jungen Herrn, der kurz vor Mitternacht durch den Garteneingang eintreten werde, vor der Pforte zu überfallen und halbtot zu prügeln. ›Ganz hin darf er net wer'n, aber mindestens die Nasen mußt du ihm entzweischlagen. Hörst?! – die Nasen! Das will der Herr Baron. Dafür kriegst hundert Gulden!‹ Und der Hassan hatte es in seinem gebrochenen Deutsch zugesagt: ›Ja, ich tun Nasen weg!‹ Und darauf seien beide wieder aus dem Zimmer gegangen, und sie sei heimgestürzt, mich sogleich zu warnen.
Aber da habe ihr doch der Mut gefehlt. Dann habe sie sich hingesetzt, mir zu schreiben. ›Aber ich kann ja so schlecht schreiben. Und dann hat mich die Angst gepackt: vielleicht geht er doch hin. Und da hab' ich auf Sie gewartet.‹
Ich ging, während sie dies stammelte, im Zimmer auf und nieder. Wirr genug war mir im Gemüt, noch wirrer im Hirn. Ich schämte mich vor dem lieben, armen Ding, schämte mich, wie ich's kaum sagen kann. Aber wie immer ich war, ein Feigling war ich bisher nie gewesen und durfte es auch jetzt nicht sein. Freilich nützte ich vermutlich der Baronin nichts, brachte nur mich selbst in Gefahr, aber es mußte sein.
Mein Entschluß war gefaßt. Ich trat zur Kathi, ergriff ihre Hand und dankte ihr herzlich. Sie möge nun schlafen gehen.
›Und Sie!‹ schrie sie auf. ›Sie gehen doch hin!‹
Ich schwieg.
›Bei allen Heiligen‹, drängte sie. ›Antworten S' mir!‹
›Ich muß, Kathi! Ich nehme meinen Revolver mit, da geschieht mir nichts!‹
›Es darf net sein!‹ Sie stürmte zu meinen Füßen nieder und umklammerte meine Knie.
Ich hob sie sanft empor, blieb aber fest. Und da . . .«
Der Erzähler hielt inne. Als er fortfuhr, zitterte seine Stimme.
»Und da, meine Herren, da erlebte ich, was mich dies Mädchen die Beste ihres Geschlechts nennen läßt.
Sie erhebt sich und wankt nach der Tür. Da bleibt sie stehen und wird glühendrot, dann totenbleich und tritt endlich wieder an mich heran. Und so, zwei Schritte von mir, die Arme schlaff herabhängend, murmelt sie: ›Herr Professor, Sie dürfen net hingehen. Die Baronin ist eine große Dame, und ich bin nur an armes Mädel. Aber lieber wie sie hab' ich Sie. Ich hätt's nimmer g'sagt, jetzt wissen S's! Lieber wie mein Leben hab' ich Sie! Und ich . . . ich hab' Ihnen ja auch amal g'fallen. Sehr g'fallen, sonst hätten S' mich net so geküßt. Und Sie haben's nur aus Erbarmen mit mir net wieder getan. Herr Professor, geküßt hat mich auch der Herr Jean, aber mehr net, bei Gott, mehr net! Wenn eins von uns beiden zugrund' gehen soll, so will ich's sein. Denn der Herr Jean schlagt mich dann gewiß tot, aber daran liegt nix. Herr Professor, hier bin ich . . . ich will mich net wehren. Aber Sie gehen net hin!‹
Ich starrte sie an, dann wich ich zurück.
So standen wir wohl eine Minute, beide zitternd, einander gegenüber.
›Gehen Sie‹, rief ich endlich. ›Ich bleibe zu Hause! Ich danke Ihnen. Gehen Sie!‹
Darauf sie: ›Herr Gott, ich dank' dir!‹ Noch einen Augenblick stand sie schwer atmend da, dann verließ sie, das Antlitz plötzlich von Tränen überströmt, aber aufrechten Hauptes, mein Zimmer.«
Wieder verstummte der Direktor, in seinen Augen war ein feuchter Schimmer. Aber als er fortfuhr, klang seine Stimme wieder ruhig wie sonst: »Sie werden mir gerne glauben, daß ich in dieser Nacht kein Auge schloß. Und das Gelöbnis, das ich mir in den qualvollen Stunden ablegte, habe ich zu halten versucht.
Am nächsten Morgen um acht Uhr brachte mir ein Knabe ein Billett von mir unbekannter, ungelenker Frauenhand: ›Seien Sie heute um zehn im Museum in der Herrengasse.‹ Nach der Beschreibung, die mir der Bote von der Frau gab, war es die Mizzi, die Zofe der Baronin. Ich ging hin; es war wirklich die Mizzi. Lachend erzählte sie mir, sie habe gestern nacht von elf bis zwei vergeblich einige tausend Schritte von der Villa auf mich gewartet, um mich heimzuschicken, wenn ich käme. Mademoiselle Adèle habe dem Baron Nery die Ohren voll gewispert und dieser darauf den Schergen gedungen, mir aufzulauern. Zum Glück habe Jean davon Wind bekommen und die Baronin rechtzeitig gewarnt. Sie habe eben ihrem Mann eine furchtbare Szene gemacht und ihm erst nach langen Bitten wieder vergeben. Natürlich dürfe ich nun zunächst nicht wiederkommen, etwa drei Wochen lang.
Ich erwiderte, daß ich überhaupt darauf verzichten müßte, da ich noch heute nach Wien abreise. Ob ich der Baronin durch ihre Vermittlung schreiben dürfe. ›Lieber nicht‹, war die Antwort. ›Sie is keine Freundin von Briefen, das dürfen S' mir glauben.‹
Und ich glaubte es ihr.
Dann ging ich zum Bankdirektor und bat, meine Bewerbung in Wien anzumelden; hierauf zum Grafen Wartegg, der meine Bitte um sofortige Entlassung gütig gewährte. Nach einem Brief an den Dekan der Fakultät, in dem ich auf die Dozentur verzichtete, blieb mir in Graz nur noch eines zu tun übrig. Ich besaß etwa tausend Gulden; das Notwendigste behielt ich davon zurück, das übrige gab ich einem Grazer Anwalt mit dem Auftrage, sich mit dem Winzer Sturzenegger in Radkersburg in Verbindung zu setzen und ihm das Geld auszuzahlen an dem Tage, wo das Verlöbnis seiner Tochter Kathi mit dem Jean Wodliczka gelöst sei.
Dies ist geschehen. Daß die Kathi ahnte, von wem das Geld komme, konnte ich nicht verhindern; sie dankte mir brieflich. Ich habe nie wieder von ihr gehört.
So – das ist alles!«
Er zog die Uhr.
»Alle Wetter, halb zwei. Gute Nacht, meine Herren!«