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Wer jemals in Barnow gewesen ist, der hat gewiß auch die alte Frau Hanna, des Vorstehers Mutter, kennengelernt und sich ehrlich gefreut an ihrer feinfühligen, grundgütigen Art, und wer nicht dort war, dem ist kaum eine Vorstellung davon zu geben, wie lieb und klug die Greisin war. »Babele« (Großmütterchen) nannten sie alle Leute des Städtchens, nicht bloß ihre eigenen Enkelkinder, und mit gutem Grund, denn sie stand allen bei mit Rat und Tat, unermüdlich ihr ganzes langes, gesegnetes Leben hindurch. Auch jene, die weder ihr Geld noch ihren Beirat brauchten, suchten sie gerne auf, um sich eine leere Stunde mit einer hübschen Geschichte ausfüllen zu lassen. Sie war als Erzählerin ebenso geschätzt und geliebt wie als Helferin, und wer an einem Sabbat- Nachmittag im Sommer gegen die dritte Stunde an der alten Synagoge, der »Judenburg«, vorüberging, konnte mit eigenen Augen sehen, wie viele ihr gerne lauschten, und zugleich mit eigenen Ohren vernehmen, wie sehr sie dies verdiente. Da saß die Greisin auf dem Treppchen im Schatten, und um sie her wohl an die fünfzig Männer und Frauen, dicht geschart und lautlos, um kein Wort aus diesem Mund zu verlieren. Was sie erzählte, ist bald gesagt: Geschichten aus dem Leben der Gemeinde, die sie gehört oder mit angesehen. Wie sie erzählte, wäre kaum zu schildern. Wenn ich es dennoch unternehme, ihr eine dieser Geschichten nachzuerzählen, so habe ich nur eine Ermutigung für dies Wagnis: es ist jene Geschichte, die sie am häufigsten zu berichten pflegte, und ich selbst habe sie oft genug mit angehört, um sie, soweit dies eben in hochdeutschen Worten möglich ist, treulich wiedergeben zu können, wie ich sie vernommen habe.
»Wer ist groß«, begann Frau Hanna, »und wer ist klein? Wer ist mächtig, und wer ist schwach? Unsere armen kurzsichtigen Menschenaugen können das selten richtig entscheiden! Uns ist der Reiche und Starke mächtig und groß, der Arme und Hinfällige schwach und klein. Aber in Wahrheit ist es anders, nicht der Reichtum entscheidet, nicht die Kraft in den Armen, sondern der starke Wille und das gute Herz. Und zuweilen, Ihr Leute, zuweilen läßt uns Gott dies deutlich erkennen, und wir Barnower wissen etwas davon zu erzählen. Zwei Male ist unsere Gemeinde in Not und Jammer gewesen, in Bedrängnis und Todesgefahr, und zwei Male sind Retter unter uns erstanden und haben die Not abgewehrt und den Jammerschrei in Dankgebet gewandelt. Und wer waren diese Retter? Etwa die Stärksten und Reichsten unter uns?! Höret, was ich erzähle, genauso, wie es geschehen ist.
Wenn Ihr über den Marktplatz geht, so seht Ihr gerade vor dem Kloster der Dominikaner einen dicken, großen Holzblock aus dem Boden emporragen. Er ist morsch und verwittert, und längst hätte man ihn weggeschafft, wenn er nicht eine Erinnerung wäre an eine furchtbar drangvolle Zeit. Ihr wißt nichts von dieser alten Zeit – freut Euch dieses Glückes! Ich will es Euch nicht nehmen. Was ich erzählen will, ist eine schöne Tat aus jener häßlichen Zeit. An dieser Tat möget Ihr Euch freuen, denn sie war eine Heldentat, so hell, so stolz, so groß, wie nur jemals eine auf Erden vollbracht worden ist. Ein einfach jüdisch Weib hat sie vollbracht; der Drang der Zeit hat ihr weiches Herz gestählt und sie zu einer Heldin gemacht. Lea hieß sie und war die Gattin des reichen, frommen Samuel – das Geschlecht ist später, als die kaiserliche Herrschaft ins Land kam und deutsche Namen für unsere Familien festgesetzt wurden, Beermann genannt worden, denn zur Zeit, wo diese Geschichte sich begeben hat, da hatten wir noch keine solchen Namen. Das war vor mehr als hundert Jahren, und wir lebten unter dem polnischen Adler.
Oh, das war ein grimmiger Raubvogel, dieser einköpfige weiße Adler! Als noch sein Gefieder unversehrt war und sein Auge klar und seine Fänge fest und scharf, da war er ein edles, stolzes Tier, das scharf um sich hieb und großmütig alles schützte, was unter seine Flügel flüchtete. Auch wir wohnten dadurch lange drei Jahrhunderte in Licht und Freiheit. Aber als der Adler alt und schwach wurde und die anderen Raubvögel ringsum ihm eine Feder nach der andern ausrupften, da wurde er feig, heimtückisch und schlecht, und weil er sich nicht traute, den Schnabel gegen die Dränger zu gebrauchen, so hieb er auf die wehrlosen Juden los. Der Könige Macht war zum Kinderspott und mit ihr die Freiheitsbriefe, die sie uns gegeben hatten. Die Adligen wurden unsere Herren und quälten uns und schalteten und walteten über unserem Gut und Leben, wie es ihnen beliebte. Oh, es war eine unsagbare Bedrückung!
Unser Städtchen gehörte schon damals dem adligen Geschlecht der Bortynski, denen später der gute Kaiser Joseph den Grafentitel geschenkt hat. In jenem Jahr hatte gerade der junge Joseph Bortynski das Besitztum angetreten, ein stiller, frommer, demütiger Mensch. Er war in einem Kloster erzogen worden. Seine Art war nicht wie die der anderen jungen Herren, er haßte den Wein, die Karten und die Weiber, stand selbst der Wirtschaft vor und betete täglich vier Stunden. Gegen seine Untertanen war er gerecht und liebreich. Wir freilich bekamen wenig davon zu spüren, gegen uns war er hart und grausam, und selbst wenn sich sein Herz regen wollte, so wußte dies sein Erzieher zu verhindern, der jetzt sein Schloßkaplan war und großen Einfluß auf ihn hatte. Sein Name ist nicht auf uns gekommen, man pflegte ihn immer nur den ›schwarzen Herrn‹ zu nennen.
Wir Juden hielten uns damals sehr ängstlich geduckt, und selbst die Bösen unter uns hüteten sich vor jedem Unrecht. ›Ihr habt mir meinen Gott gekreuzigt‹, hatte ja der Graf zu Samuel gesagt und zürnend hinzugefügt: ›Wehe Euch, wenn ich einen Frevel unter Euch entdecke, ich lasse Euer Nest ausbrennen, wie es einst Euer Gott mit Sodom und Gomorrha getan hat.‹ Da könnt Ihr denken, wie uns zumute war. So kam der Frühling des Jahres 1773 heran. Das Osterfest stand vor der Tür, und es ging das Gerücht, die Kaiserin in Wien wolle den Polen alles Gebiet wegnehmen und ihre Schreiber darüber setzen; aber vorläufig war nichts davon zu sehen.
In demselben alten Hause, das noch heute am Marktplatz steht, im ›Gelben Hause‹, wohnten damals der Vorsteher Samuel und sein Weib Lea. Sie waren beide sehr geachtet in der Gemeinde, der Mann wegen seines Reichtums, seiner Klugheit und Frömmigkeit, und sein junges, schönes Weib wegen ihrer Milde und Wohltätigkeit. Sie waren gerade zur Osterzeit in schwerer Betrübnis: ihr einziges Kind, ein Knäblein von anderthalb Jahren, war wenige Tage vorher plötzlich gestorben, und die Eltern konnten den Schmerz kaum überwinden. So saßen sie auch eines Sonntags, des Abends spät, in stummer Trauer nebeneinander. Am nächsten Abend sollte das Osterfest beginnen, es war den ganzen Tag über im Hause gereinigt und gescheuert worden, und die Frau fühlte sich sehr müde, da schreckte sie plötzlich ein Pochen am Haustor empor. Samuel ging zum Fenster, öffnete und blickte hinaus. Vor dem Tor stand mit einem Bündel auf dem Rücken ein altes Bauernweib, das kläglich wimmerte und stöhnte und um Einlaß bat. Sie sei zu schwach, um heute noch in ihr Dorf heimzukehren, klagte sie, und bitte daher um ein Nachtlager. ›Hier ist kein Wirtshaus‹, erwiderte ihr Samuel kurz und schlug das Fenster zu. – ›Das arme Weib‹, meinte Lea, ›sollen wir sie von unserer Schwelle weisen?‹ – ›Es ist eine böse Zeit‹, erwiderte Samuel, ›ich mag keine Fremde in meinem Hause dulden!‹ – ›Aber sie ist ja krank und schwach‹, bat Lea, und da das Weib draußen noch immer flehte und stöhnte, willfahrte er ihr und ließ es ein. Da die Dienerinnen bereits schliefen, geleitete Lea selbst den späten Gast herbei und entfernte sich mit freundlichem Gruß.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich das fremde Weib schon sehr früh unter tausend Dank- und Segensworten. Lea hatte den Tag über sehr viel für den Feiertag zu rüsten, und erst am späten Nachmittag kam sie dazu, in jener Bodenkammer nachzusehen, denn vor Beginn des Festes wollte die Hausfrau in allen Räumen Umschau halten, ob sich nicht irgendwo noch gesäuertes Brot vorfinde. In der Kammer war alles in Ordnung, nur die Luft war von einem sehr widrigen Geruch erfüllt. Er verlor sich nicht, auch als Lea das Fenster öffnete. Sie konnte nicht entdecken, woher der abscheuliche Geruch kam, sie forschte in allen Ecken und sah endlich unter der Bettstatt nach. Da gerann ihr das Blut, ihr Haar sträubte sich vor Entsetzen, unter der Bettstatt lag der nackte, abgezehrte Leichnam eines Kindes mit breiten Wunden an Hals und Brust. Mit Blitzesschnelle durchschaute das Weib den Frevel und kämpfte mit allen Seelenkräften gegen die Ohnmacht. Die Fremde hatte den Leichnam ins Haus geschleppt, damit man das alte, furchtbare Märchen, die Juden schlachteten Christenkinder zu dem Osterfest, wieder einmal glaubhaft machen und grausam rächen könne. Mit Blitzesschnelle erkannte sie auch die furchtbaren Folgen, sie gedachte der Worte, die der Graf zu ihrem Mann gesprochen. Das arme Weib brach fast zusammen unter der Wucht dieser entsetzlichen Gedanken. Ach, sie, sie allein hatte den Jammer, die Verfolgung und den Tod über ihr Haus, über die ganze Gemeinde heraufbeschworen, denn sie war ja die Ursache, daß jenes Weib eingelassen worden. Und während sie so in Todesängsten dasaß, klang von der Straße wildes Rufen und Schreien und Jammern zu ihr empor. Dazwischen klang das Klirren von Waffen. ›Sie kommen schon‹, flüsterte sie, und in diesem Augenblick durchzuckte sie ein Gedanke, so seltsam und gräßlich, wie er vielleicht noch nie vorher in eines Weibes Hirn entstanden war, und doch wieder edel und opfermutig, wie ihn nur ein Weib zu fassen vermag. ›Ich habe die Schuld‹, rief es in ihr, ›ich muß sie büßen.‹ Sie richtete sich hoch auf und preßte die Lippen aufeinander und überwand ihr Grauen. Dann griff sie nach dem Leichnam des Kindes, hüllte ihn in ein Linnen und nahm ihn auf den Schoß. Sie horchte . . . furchtbar langsam verrannen die Minuten. Dann hörte sie, wie draußen der junge Graf mit ihrem Gatten und dem zweiten Vorsteher heftig sprach, wie er sagte: ›Das Weib hat das Todesröcheln ganz deutlich gehört. Keinen Stein lasse ich auf dem andern, wenn ich den Leichnam finde.‹ Sie hörte, wie die Männer alle Gemächer durchsuchten. Als sie sich der Kammer näherten, erhob sie sich und trat ans offene Fenster. Das Dach fiel steil ab, unten in der Tiefe dehnte sich der Steinhof des Hauses.
Die Tür ward aufgerissen, der Graf trat mit den beiden Vorstehern ein, hinter ihm seine Trabanten. Mit gellendem Lachen stürzte ihnen Lea entgegen, wies ihnen den Leichnam und schleuderte ihn dann durch das Fenster, daß er auf den Steinen des Hofes zerschellte. ›Ich bin eine Mörderin‹, rief sie dem Grafen entgegen, ›ja, ja, nehmt mich, bindet mich, tötet mich, ich hab' heute Nacht mein eigen Kind getötet, ich leugne es nicht!‹
Die Männer standen starr. Dann wildes Rufen, Schreien und Fragen. Samuel, der starke, kluge Mann verlor die Besinnung. Die anderen Juden durchschauten schnell den Sachverhalt und unterstützten Lea in ihrer Notlüge; so allein ersahen sie sich Rettung aus sicherem Untergang. Lea blieb fest bei ihrer Aussage. Der Graf sah sie durchdringend an, sie hielt seinen Blick ruhig aus. ›Höre, Weib‹, sagte er, ›ist es wahr, was du sagst, so sollst du den furchtbarsten Martertod erleiden, den je ein Mensch gestorben ist, haben aber andere das Kind geschlachtet, um sein Blut beim Fest zu trinken, so sollst du und dein Mann straflos ausgehen, nur die anderen sollen es büßen. Das schwöre ich dir! Und nun – entscheide dich!‹ Lea schwankte keinen Augenblick. ›Es war mein Kind!‹ erwiderte sie. Der Graf ließ das Weib allein in den Kerker führen. Er sah wohl ein, wie unwahrscheinlich ihre Angabe war, aber er glaubte an keine Seelengröße bei unserem Volke. ›Wenn es nicht wahr wäre‹, dachte er, ›wie käme das Weib dazu, sich zu opfern?‹
Die Untersuchung brachte nicht die Wahrheit an den Tag. Alle jüdischen Zeugen belasteten die Lea. Der eine erzählte, wie sie ihr Kind gehaßt, der andere, wie sie gedroht habe, es zu töten. Die Todesangst legte ihnen diese Lügen auf die Zunge. Die einzige christliche Zeugin aber war – die Haushälterin des ›schwarzen Herrn‹. Als Bäuerin vermummt, war sie an jenem Abend vor das Haus gekommen, um die Gemeinde zu verderben. Sie habe in der Nacht das Kind röcheln hören, erzählte sie. Das allein konnte sie vorbringen, ohne sich zu verraten, und das paßte zu Leas Erzählung. Der ›schwarze Herr‹ selbst schien sich um die Untersuchung gar nicht zu kümmern, er fürchtete wohl die zufällige Entdeckung seines Frevels.
Des Grafen Richter sprachen das Urteil. Lea sollte auf dem Marktplatz gerädert, dann enthauptet werden. Jener Holzblock wurde dazu aufgerichtet.
Aber Lea starb nicht auf der Richtstätte, sie starb, eine hochbetagte Greisin, umgeben von Kindern und Enkeln, vierzig Jahre später friedlich in ihrem Hause. Die kaiserliche Militärregierung war im Sommer jenes Jahres ins Land gekommen, ein Auditor übernahm alle peinlichen Fälle, ihm entdeckte der verzweifelte Samuel die Wahrheit, er ließ Lea frei.
Der Holzblock steht noch heute. Er mahnt an dunkle Zeiten, aber auch an eine lichte, heldenmütige Tat. Und ein Weib war's, das sie vollbracht hat, ein schwaches Weib hat die Gemeinde gerettet.
Und siebzig Jahre später, Ihr Leute, siebzig Jahre später waren wir in gleicher Bedrängnis und Todesangst, und wer hat uns da gerettet?! Nicht ein Weib, aber doch nur ein kleines, zittriges Männlein, dessen Namen ich bloß zu nennen brauche, um Euch zum Lachen zu bringen, es war Klein-Mendele. Ei seht, wie Ihr schmunzelt! Nun, 's ist aber auch ein närrisch Männlein, denn erstens steckt er voll von lustigen Schnurren und weiß sie auch prächtig zu erzählen, und dann ist er selber so komisch, der grauhaarige Mann mit der Gestalt und dem Wesen eines Kindes. Er geht nicht durch die Straßen, er hüpft; er spricht nicht seine Reden, er singt sie, und seine Hände scheint er nur dazu zu haben, um auf den Tisch zu trommeln oder den Takt zu schlagen. Aber, was tut das?! Lieber ein lustiger Mensch als ein Kopfhänger. Mendele Abendstern ist ein braver und ein großer Sänger, und wir können stolz darauf sein, daß er unser Vorbeter ist. Freilich trällert er manchmal ein rührendes Gebet herunter, als wär's ein Walzer, und springt vor der Thora von einem Bein aufs andere, als wär' er ein Tänzer auf dem Theater, aber unsere Andacht stört das nicht, wir sind an Klein-Mendele gewöhnt seit vierzig Jahren, und wenn einer sich mit Recht über ihn ärgert, so darf er es ihm nicht nachtragen, denn der muß daran denken, wie Klein-Mendele auch ernst sein kann und wie er einstmals als armer ›Chasen‹ der Stadt durch seinen Gesang einen größeren Dienst erwiesen hat als alle ihre Weisen und Reichen durch ihren Rat und durch ihr Geld. Ich will Euch erzählen, wie das kam.
Ihr wißt, daß jetzt der Jude ein Mensch ist, so gut wie jeder andere. Und wenn jetzt ein Edelmann oder ein Bauer einen Juden schlägt oder bedrückt, so braucht er nur in das Haus zu gehen, wo der große Adler über dem Tor hängt, und der kaiserliche Bezirksrichter, unser Herr Negrusz, verschafft ihm schon sein Recht. Aber vor dem großen Jahr, wo der Kaiser alle Menschen gleichgemacht hat, da war das nicht, da hat der Gutsherr das Recht geübt durch seinen Mandatar, aber dieses Recht war meistens ein großes Unrecht. Ach, Kinder, das war eine sehr schwere Zeit! Dem Gutsherrn hat der Grund und Boden gehört, dem Gutsherrn die Menschen, dem Gutsherrn das Mark in den Knochen, sogar die Luft und das Wasser haben dem Gutsherrn gehört. Unser Herr, der Graf Bortynski, hat immer in Paris gelebt und sich gar nicht um sein Besitztum gekümmert. Alle Vollmachten hat sein Mandatar gehabt, und so haben wir immer beten müssen, daß dieser ein guter Mensch sei, denn nur so haben wir ruhig leben können. Zuerst ist unsere Bitte von Gott erhört worden, und der dicke Herr Stephan Grudza war ein Mandatar, wie wir Juden ihn nicht besser wünschen konnten. Betrunken war er freilich vom Morgen bis zum Abend, aber wenn er betrunken war, so war er lustig, und wenn er lustig war, so hat er nicht gern andere Menschen traurig gemacht. Aber einmal war er bei der Mittagstafel besonders lustig, und nach der Tafel hat ihn der Schlag getroffen. Als er begraben wurde, war große Betrübnis in unserer Gemeinde. Denn erstens war dieser Herr Grudza wirklich ein guter Mensch und dann – konnte man wissen, wie sein Nachfolger sein würde?!
Diese Betrübnis war auch sehr begründet. Der neue Mandatar hieß Friedrich Wollmann und war ein Deutscher. Sonst sind die Deutschen milder gegen uns als die Polen, aber er war eine Ausnahme. Er war ein großer, magerer Mann mit schwarzen Haaren und dunklen, blitzenden Augen. Sein Gesicht war finster und traurig – immer, immer –, er hat nie gelächelt. Auf die Wirtschaft und auf die Menschen hat er sich ausgezeichnet verstanden, die Mörder und Gauner hat er zum Geständnis zu bringen gewußt wie kein anderer, und bezüglich der Steuern hat ihn gewiß niemand um einen Heller betrogen. Aber uns Juden hat er furchtbar gehaßt und uns jeden Tag brennendes Leid angetan. Unsere Abgaben hat er verdreifacht, unsere Söhne hat er ins Militär gesteckt, unsere Feste hat er gestört, und hatten wir Rechtshändel mit den Christen, so war unser Wort nichts und des Christen Wort alles. Auch die Bauern hat er gewiß streng gehalten, erbarmungslos streng, und die Robot hat seit Menschengedenken kein Mandatar in Barnow so durchgeführt wie er, jedoch darin war noch immer eine gewisse Gerechtigkeit, aber sobald es sich um Juden handelte, hörte aller Verstand auf und alles Recht.
Und warum verfolgte er uns so? Man wußte es nicht, aber man ahnte es. Man erzählte sich, er habe früher Froim Wollmann geheißen und sei ein getaufter Jude aus Posen. Er habe aus Liebe zu einem Christenmädchen seinen Glauben gewechselt, aber die Juden seiner Heimat hätten ihn aus Zorn und Empörung darüber so verfolgt und verleumdet, daß ihm die Eltern das Mädchen doch nicht gegeben. Wer die Kunde unter uns gebracht hat, weiß ich nicht, aber wenn man sein Gesicht sah, so klang es nicht unwahrscheinlich und besonders, wenn man sein Benehmen gegen uns sah. So haben wir damals traurige Tage gehabt, und Wollmann hat uns gedrückt, gleichviel, ob wir etwas verschuldet hatten oder nicht. War aber wirklich ein Grund da, so gab es kein Entrinnen aus seiner Hand. Und so war es im Herbst vor dem großen Jahr.
Bei uns Soldat zu sein, ist nichts Angenehmes, aber in Rußland gar ist es ärger als der Tod, und wenn ein jüdisch Kind dort zum Militär abgestellt wird, so ist es verloren für Gott, für seine Eltern und für sich selbst. Kann man sich da wundern, wenn die Juden in Rußland alles tun, um ihre Kinder loszukaufen, oder wenn ein Jüngling, den das Unglück trifft, zu entfliehen sucht?! Viele solche Fälle kommen vor; manche Flüchtlinge werden eingefangen, und denen wäre besser, sie wären nie geboren; manchen aber glückt es auch, sie entkommen über die Grenze, nach der Moldau oder zu uns. So ein Fall ereignete sich auch in jener Zeit. Ein jüdischer Soldat – er war aus Berdiczow – kam bei Hussiatyn über die Grenze herein und wurde von da nach Barnow gebracht. Die Gemeinde tat für ihn, was sie konnte, und ein reicher, mildtätiger Mann, Chaim Grünstein, der Schwiegervater von Moses Freudenthal, nahm ihn als Pferdeknecht in seinen Dienst.
Die russische Regierung forschte natürlich nach dem Flüchtling, und alle unsere Ämter erhielten den Befehl, nach ihm zu suchen. Auch unser Mandatar bekam eine solche Schrift. Sogleich ließ er die Vorsteher der Gemeinde zu sich entbieten und fragte sie aus. Sie erschraken sehr, dann aber faßten sie sich und leugneten, von dem Fremdling zu wissen. Es war gerade am Vortage des ›Versöhnungstages‹, wie hätten sie am Abend vor Gott treten können, wenn sie den Ärmsten verraten hätten?! Darum blieben sie fest, ob auch der Mandatar drohte und wütete. Als er sah, daß sie entweder nichts zu sagen wußten oder nichts sagen wollten, entließ er sie und sagte nur finster: ›Weh Euch, wenn der Bursche doch in Barnow ist! Ihr kennt mich noch nicht, aber dann, bei Gott, dann sollt Ihr mich kennenlernen!‹
Die Männer gingen, und es ist kaum zu sagen, welche Trauer, Furcht und Betrübnis diese Kunde in der Stadt hervorrief. Der Bursche, um den es sich handelte, war ein braver, fleißiger Mensch, man durfte ihn nicht in seiner Not verlassen. Wenn er in Barnow blieb, so war das sehr gefährlich, denn Wollmann fand ihn doch, früher oder später, diesem Menschen konnte nichts verborgen bleiben. Wenn man ihn aber fortschickte, so ohne Paß, ohne alle Ausweise, so fingen sie ihn gewiß einige Meilen weiter. Man beriet lange hin und her, endlich kam Chaim Grünstein auf einen Einfall. Er hatte einen Verwandten, welcher Gutspächter in der Marmaros war in Ungarn. Dorthin sollte der Bursche gleich in der Nacht nach dem Versöhnungstage abreisen und nur die Nächte zur Fahrt benutzen. So konnte er seinen Drängern am sichersten entgehen. Alle stimmten bei, und erleichterten Herzens nahmen sie die große Mahlzeit ein, welche für das Durchfasten des Versöhnungstages stärken soll. Dann brach die Dämmerung herein, in der Betschul wurden die vielen, vielen Wachslichter angezündet, und die ganze Gemeinde eilte dorthin, bangen und zerknirschten Herzens, voll Demut und Reue. Denn das sind ja die schweren Stunden, wo wir zu unser aller Richter flehen, daß er uns gnädig sei und unsere Schuld vergebe. In weißem Gewande gingen die Frauen, in weißem Sterbekleide die Männer. Auch Chaim Grünstein und sein Haus gingen dahin, sich vor Gott zu beugen, darunter auch der arme Bursche, der vor Angst an allen Gliedern zitterte.
Als alle versammelt waren und der Gottesdienst beginnen sollte und Klein-Mendele die Hand flach an die Kehle setzte, um die ersten Töne der ›Kol-Nidra‹ recht beweglich und zitternd hervorzubringen, entstand eine Bewegung an der Tür, gräfliche Trabanten besetzten den Ausgang, und an den Sitzreihen vorüber schritt langsam Herr Wollmann vor, bis er an der Thora-Lade stand, hart neben Klein-Mendele. Dieser wich zitternd zur Seite, die Gemeindevorsteher aber traten demütig heran, ›Ich weiß, daß der Bursche unter Euch ist‹, sagte Wollmann. ›Wollt Ihr ihn jetzt herausgeben?‹ Die Männer schwiegen. ›Nun‹, fuhr der Mandatar fort, ›so werd' ich ihn denn fassen lassen, wenn Ihr das Bethaus verlasset. Und nicht nur er, Ihr alle werdet des Abends gedenken, das versichere ich Euch. Doch nun laßt Euch nicht stören, betet nur immer zu. Ich habe Zeit, ich will zuhören.‹ Totenstille folgte, nur von oben aus der Frauenschul hörte man den schrillen Angstruf eines Weibes. Alle waren wie gelähmt vor Entsetzen, dann aber faßten sie sich und erhoben die Blicke zu Gott. Stumm kehrten sie auf ihre Sitze zurück.
Klein-Mendele zitterte an allen Gliedern. Dann aber richtete er sich auf und begann die Töne der ›Kol-Nidra‹, jener uralten, einfachen Weise, die niemand vergessen kann, der sie einmal gehört hat. Zitternd und unsicher klang anfangs seine Stimme, dann aber ward sie immer mächtiger, klar und voll und herzbewegend klang sie durch den Raum und über die Beter hin und empor zu Gott. So hat Klein-Mendele nie wieder gesungen wie an jenem Abend. Eine wundersame Weihe war über den Menschen gekommen. Wie er so sang, war er kein trällernd Männlein mehr, sondern ein gewaltiger Priester, der für sein Volk zu Gott die Stimme erhebt. Er dachte an die einstige Herrlichkeit und dann an die vielen Jahrhunderte der Schmach und der Verfolgung, und in seiner Stimme klang es, wie wir ruhelos gehetzt worden sind über die Erde, die Ärmsten unter den Armen, die Unglücklichsten unter den Unglücklichen. Und wie die Verfolgung noch nicht geendet hat, wie immer neue Dränger gegen uns den Arm erheben und wie immer neue Schwerter in unserem Fleisch wühlen, all unser Leid klang in seiner Stimme, unser unsägliches Leid, unsere unzähligen Tränen.
Aber noch etwas anderes klang darin, unser Stolz, unsere Zuversicht, unser Gottvertrauen. Oh, es ist nicht zu sagen, wie Klein-Mendele sang in jener schweren Stunde, weinen, weinen, weinen mußte jeder, und doch mußte er wieder stolz sein Haupt erheben . . .
Die Weiber weinten laut, als er geendet. Die Männer schluchzten. Klein-Mendele aber barg sein Antlitz in den Händen und brach zusammen.
Wollmann hatte sein Gesicht während des Gesanges der Thora-Lade zugekehrt, dann aber wendete er sich um. Er war entsetzlich blaß, seine Knie zitterten, der starke Mann konnte sich kaum aufrecht erhalten. In seinen Augen flimmerte es wie von Tränen. Wankenden Schrittes, gebeugten Hauptes schritt er an Mendele vorüber und durch die Reihen gegen den Ausgang. Dort gab er den Trabanten einen Wink, ihm zu folgen.
Was über ihn gekommen war, ahnte man wohl, man sprach es aber nicht aus.
Am Tage nach dem Fest ließ er Chaim Grünstein zu sich rufen und gab ihm einen unausgefüllten Paß und sagte nichts dazu als: ›Ihr könnt's vielleicht brauchen.‹ Von da ab war er milder gegen uns. Es dauerte aber nicht lange. Im Frühling des ›großen Jahres‹ haben ihn die Bauern, die er einst sehr gequält, erschlagen . . . Seht, Ihr Leute, das ist die Geschichte von unseren Rettern. Und nun überdenket noch einmal, wer groß ist und wer klein, wer schwach und wer mächtig!«