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Es sind nun viele Jahre her, seit die arme Esther zu ihres Vaters Füßen verschieden ist, und auch Moses Freudenthal ist lange tot. Aber das große, weiße Haus an der Heerstraße, das nun dem Rabbi von Sadagóra zugehört, steht noch heute so stolz und stattlich da wie zur Zeit, da der harte, unglückliche Mann darin hauste. Über dem Tor hängt jetzt ein eirundes Blechschild, da ist auf gelbem Grund ein schwarzer Adler gemalt, und rings steht die Umschrift: »K. K. Bezirksgericht«. Denn da, wo einst Moses um seine Tochter getrauert, werden jetzt die ruthenischen Diebe verhört, die polnischen Betrüger und die jüdischen Wucherer. Das ist im Erdgeschoß zur Rechten, zur Linken aber besteht noch der Laden, den Moses geführt, nur zeigt das Schild einen anderen Namen: »Nathan Silbersteins Spezereiwaren- und Weinhandlung«. Das »W« in »Wein« ist klein, und in »Spezerei« steht statt des »z« ein »s«, das ist aber nur die Schuld des kleinen, buckligen Janko, der das Schild gemalt hat.
Im ersten Stockwerk hat sich unter dem neuen Besitzer fast gar nichts geändert, da wohnen, wie bei Moses, der Bezirksarzt zur Miete und der Bezirksrichter. Nur daß der Bezirksrichter ein anderer geworden ist, nicht mehr der gelbe, magere Herr Hippolyt Lozinski, sondern Herr Julko von Negrusz. Er ist der Amtsnachfolger des Herrn von Lozinski, aber in allen Stücken anders als dieser. Herrn Lozinskis ewige Zielscheibe waren die Juden, arm und reich – nicht ihre Herzen, aber ihre Geldbeutel. Und was er von den reichen Juden erpreßte, dafür fütterte er die armen Christen: die Adligen, die Beamten, die Leutnants. Seine Frau Kasimira aus dem hochadligen Haus derer von Cybulski, was zu deutsch »von Zwiebel« bedeutet, glänzte auf fünf Meilen in der Runde vor allen anderen Frauen durch drei treffliche Eigenschaften des Herzens: durch die meisten Schulden, die glänzendste Toilette, die rasendste Tanzsucht. Und Hörner setzte sie ihrem Eheherrn auf, so groß, daß man kaum begriff, wie er darüber den Zylinder stülpen konnte auf seinen gelben, mageren Kopf.
Aber das ist nun alles anders geworden.
Herr von Negrusz erpreßt nichts von den Juden und verpraßt nichts mit den Christen. Er lebt nur seinem Amt und seiner Familie, zwei lieben Bübchen und seiner schönen jungen Gattin. Diese Frau ist schön, sehr schön. Die Gestalt schlank und doch üppig, biegsam und doch königlich stolz, das Antlitz blaß, edel, scharf geschnitten, die Augen dunkel und träumerisch und tief, abgrundtief. Aber das Merkwürdigste an all dieser Schönheit ist die Farbe der Haut, das mattmilde, gelbliche Weiß, Bernsteinweiß könnte man es nennen, über dem die Röte der Gesundheit nur wie ein leiser Hauch liegt. Die Gestalt und dieses Antlitz – sie mahnen an die Sulamith und Suleika, an die holden Schönheitszauber des Orients. Aber die Frau Bezirksrichter trägt ein Kreuzchen am Hals, und auf ihren Visitenkarten steht: »Christine von Negrusz«.
Es ist eigentlich rätselhaft und sonderbar, aber durch diese Karten allein verkehrt diese Frau mit den übrigen Menschen. Sie empfängt keine Besuche, sie macht keine; zwischen ihr und den verehrlichen Honoratioren von Barnow ist eine Schranke aufgerichtet, die keiner der beiden Teile überschreitet. Wird ein verheirateter Beamter nach Barnow versetzt, so wird er von seinen Kollegen sorgsam instruiert. Er leiht sich vom Herrn von Wolanski die alte Karosse mit den alten Schimmeln und fährt mit seiner Ehehälfte vor das große, weiße Haus. Da schickt er die beiden Karten in den ersten Stock und empfängt die Antwort: die Herrschaften bedauerten, aber der Herr Bezirksrichter sei verhindert und die gnädige Frau unwohl. Und eine Woche später kommt Herr von Negrusz in ganz demselben Wagen mit seiner Frau vor die Wohnung des neuen Amtsgenossen gefahren, und dann vollzieht sich dieselbe Komödie mit vertauschten Rollen. Damit schließt zugleich jeder weitere Verkehr. Das ist so der Gebrauch, der schließlich zum Gesetz geworden ist.
Und dann noch etwas. Frau Christine geht nie allein aus, sie verläßt das Haus nur einige Male in der Woche zu einem Spaziergang an der Seite ihres Gatten. Alle übrigen Leute im Städtchen machen ihre Promenade im neuen, gräflichen Park, im Park um das Schloß der Gräfin Jadwiga Bortynska, geborenen Polanska. Aber der Bezirksrichter und seine Gattin gehen regelmäßig in den einsamen, schlecht erhaltenen Anlagen spazieren, die – jenseits des Flusses – um das alte Schloß liegen. Der gerade Weg dahin führt durch die Judenstadt, aber den vermeidet dieses menschenscheue Paar. Sie gehen rings um das Städtchen herum. Man könnte glauben, das geschehe darum, um den Staub und die Gerüche der Judengasse zu vermeiden. Aber nein, als sie einmal ein Gewitter überraschte, machten sie im strömenden Regen gleichfalls den großen Umweg. Warum? Herr von Negrusz sieht jedermann frank und frei ins Auge und vermeidet niemandes Begegnung, wenn er allein ist. Welcher Bann scheidet also gerade seine schöne Frau von den übrigen Menschen?
Ihr braucht nur den Neuigkeitenanzeiger von Barnow und Umgegend zu fragen, die hübsche und üppige Frau Emilie, die Gattin des neuen Aktuars. Er ist schon zehn Jahre im Städtchen, aber er heißt noch immer der »neue« Aktuar, im Gegensatz zu seinem Kollegen, der schon zwanzig Jahre in Barnow ist. Nun, Frau Emilie wird euch eine Visitenkarte zeigen und dazu sagen: »Ich bitte Sie, wie kann man mit einer solchen Frau Umgang haben? Sehen Sie sich nur die Karte an – warum hat sie nicht auch darauf setzen lassen, was für eine ›Geborene‹ sie ist? Weil es sich sehr schlecht machen würde: ›Christine von Negrusz, geborene Bilkes, geschiedene Silberstein‹. Denn sie heißt eigentlich Chane, und der Nathan Bilkes in dem kleinen Hüttchen neben der Judenschule ist ihr Vater und ein anderer Nathan, der Nathan Silberstein, ihr erster Mann. Dieser Negrusz ist nämlich ein ganz überspannter Mensch. Zuerst hat er die Tochter eines Millionärs heiraten wollen, eines armenischen Barons, und als man ihm die natürlich nicht gegeben hat, ist er plötzlich sehr genügsam geworden und hat sich in das passabel hübsche Judenweib verliebt und hat sie ihrem Mann abgekauft.«
»Abgekauft?« werdet ihr erstaunt fragen. »Um Geld, um bares Geld?«
»Natürlich – um was sonst?« wird der Anzeiger versichern. »Und das wundert Sie im Ernst? Ich bitte Sie, so einem Juden ist alles feil, sogar sein Weib. Man sagt sogar, wieviel es den Negrusz gekostet hat: tausend Gulden. Wenn Sie übrigens mir allein nicht glauben wollen, so fragen Sie die ganze Stadt, oder fragen Sie am besten den Silberstein selbst. Er ist ein Weinhändler, wenn er auch sonst das ganze Jahr herumreist, so ist er doch zu den großen Feiertagen immer hier. Er wird Ihnen bestätigen: ›Ich habe sie dem Bezirksrichter friedlich abgetreten.‹ Nun, und da frage ich Sie: Kann man mit einem solchen Weib verkehren?!«
Die üppige Emilie hat recht, sie hat in allem recht. Frau Christine hat wirklich früher Chane geheißen, zuerst Chane Bilkes, dann Chane Silberstein, und der Weinhändler hat sie dem Bezirksrichter wirklich friedlich abgetreten. Auch darin hat sie recht, daß sie, Emilie, mit einem solchen Weib unmöglich verkehren kann. Aber bezüglich des Kaufpreises ist sie im Irrtum. Der Kaufpreis war nicht eine Geldnote, sondern ein Menschenherz.
Die alte Betschul ist ein graues, verwittertes Gebäude, in fernen Zeiten erbaut, wohl gar im Mittelalter. Die Bauern nennen sie die »Judenburg«, weil sich hier einmal die Juden verborgen und verschanzt, als sie ein Fürst Czartoryski totschlagen und ausrauben wollte. Er wollte dies aus doppeltem Grund: erstens war es gerade Jagdzeit, aber wenig Füchse und Eber auf der Heide, zweitens brauchte er Geld. Aber die Juden bargen ihr Gut und Blut hinter den Mauern und Eisenriegeln der Betschul und hielten hier so lange aus, bis des jagellonischen Königs Mannen aus der nahen Veste Jagiellnica herbeieilten und die Geängstigten befreiten. Damals waren die Mauern stark und die Eisenriegel fest, jetzt ist von den Riegeln nichts mehr zu sehen, und halb geborsten, halb in die Erde gesunken sind die Mauern. Aber wie um die einstige Bedeutung dieses Gottes- und Schutzhauses anzudeuten, drängen sich hier an drei Seiten desselben am dichtesten die dürftigen Häuser und Hütten der Judenstadt.
An der vierten Seite hat der nahe Fluß, der träge, schleichende Sered, nur für zwei Häuser Raum gelassen, ein großes neues Haus, das – eine Seltenheit in dieser Gegend – mit gelber Ölfarbe bemalt ist, und für ein schmutziges, baufälliges Hüttchen, das trübselig am Ufer klebt. Es ist, als dränge das gelbe Haus seinen ärmlichen Nachbar in den Fluß, so stark neigen sich die modrigen Wände der Hütte über die trüben, langsamen Wasser. Im gelben Haus wohnte einst der reiche Weinhändler Manasse Silberstein mit seinem Sohn Nathan, und in dem Hüttlein wohnte und wohnt noch heute Nathan Bilkes, ein armer, sehr armer Mann.
Nathan war ein »Dorfgeher«, so lange seine Kräfte es erlaubten, und lebt jetzt, ein schwacher, einsamer Greis, von seinen sauer erworbenen Pfennigen und, wo diese nicht reichen, von der Unterstützung der Gemeinde. Er ist früh schwach und alt geworden wie alle Leute seines Berufes, denn es ist ein überaus harter, mühsamer Beruf. Ein »Dorfgeher« heißt in der Sprache seiner Glaubensgenossen derjenige Mann, der die Bauern in den umliegenden Dörfern mit dem Nötigen versieht und sich dabei sein Brot herausschlägt. Er zieht Sonntag am frühen Morgen aus dem Städtchen, den Rücken gebeugt von einem riesigen Pack Waren. Da drin ist alles enthalten, wonach nur ein ruthenisches Bauernherz verlangen mag, bis auf das eine, wonach ein solches Herz am meisten verlangt: Schnaps verkauft der »Dorfgeher« nicht. Aber sonst verkauft er wirklich alles: Strohhüte, Ledergurte, Stiefel, Taschenmesser für die Burschen; Blumen, Bänder, Korallen, Liebestränke, Kleiderstoffe, Spindeln für die Mädchen; Leinwand, Talg, Geschirre, Heiligenbilder, Zaubermittel, Wachslichter, Nadel und Zwirn für das Haus, Gebetbücher, alte Hosen und Kaftane, neue »Teffilim« und »Mesusas« für die vereinzelt wohnenden Glaubensgenossen; Schnupftabak, Kalender, die Zeitungen der verflossenen Woche, feine Stoffe und Stickereien für die Pfarr- und Edelhöfe; Liköre, Spielkarten, geschmuggelte Zigarren und andere Dinge für die Kavallerieoffiziere – kurzum alles, alles! So zieht er die Woche über, jahraus, jahrein, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, immer und immer, trotz Winterkälte, trotz Sommerglut. Er kennt alle Leute, und alle Leute kennen ihn. Bedürfen sie seiner, so gestatten sie, daß er ihre Schwelle betrete; brauchen sie nichts, so jagen sie ihn fort und hetzen, wenn er besonders hartnäckig ist, ihre Hunde auf ihn. Der Bauer und der Edelmann, der Kadett und der Kaplan prüfen ihren Witz an ihm oder, wenn sie nicht gerade geistreich aufgelegt sind, ihre Gerte und ihre Sporen. Er aber wird nicht müde, vom frühen Morgen bis zum späten Abend seinen heiseren Ruf zu erheben, zu feilschen und zu überlisten, wo er nur immer kann. Ist kein Bargeld im Hause, so läßt er sich mit Fellen bezahlen oder mit Getreide oder mit Hühnern und Enten oder mit Eiern. Am Freitagnachmittag aber kehrt er in die Stadt zurück und ist einen Tag lang ein Mensch und wird erst am Sonntag wieder zum »Dorfgeher«.
Solch ein Dorfgeher war auch Nathan Bilkes, und damit ist sein Leben beschrieben, es ist sonst nichts Besonderes darüber zu berichten. Sein Vater hatte ein Mädchen für ihn ausgesucht, das wurde sein braves Weib, gebar ihm zwei Kinder und starb früh. Die Kinder aber, ein Knabe und ein Mädchen, wuchsen herrlich heran in der düsteren, dumpfigen Hütte, wie ja auch zuweilen in Schutt und Moder schöne Blumen gedeihen. Aber »an ihrer Schönheit und Stärke sind sie mir gestorben«, klagt der Vater. Für ihn sind sie beide tot und begraben. Der Sohn mußte Soldat werden, weil er so trefflich dazu taugte und weil Nathan die fünfzig Gulden nicht aufbrachte, welche die Assentierungskommission für die Freigebung forderte. Wenigstens behauptete Blitzer, der Makler, es sei mit fünfzig Gulden zu richten. Aber die fünfzig Gulden waren nicht da. So ward denn der Bursche nach Italien geschickt, dann kam der Krieg, und nach Magenta stand sein Name unter den offiziell »Vermißten«.
Ach, ganz anders noch vermißte ihn sein alter Vater! Der wartete und wartete, aber der Sohn ist nie wieder gekommen, und seine Tochter ist nun auch tot. »Meine Chane«, pflegt der Greis zu sagen, »war ein ehrlich jüdisch Weib; die Frau Christine da oben, die »Goje« (Heidin), kenn' ich nicht.«
Der Dorfgeher hatte sich nicht versehen, daß ihm sein Kind so herben Schmerz bereiten werde. Seine Chane war ebenso schön wie gehorsam, ebenso züchtig wie fleißig. Nicht allein ihr Vater liebte sie, sie war bei allen Leuten wohl gelitten. Man gönnte ihr allgemein das Glück, als der alte Manasse Silberstein für seinen einzigen Sohn Nathan um ihre Hand warb. Das war ein großes, unerwartetes Glück, denn die Schranken sind sonst eng gezogen unter diesen Leuten, nur reich und reich gesellt sich, arm und arm. Es ist dies auch so natürlich bei dem Volk, dem man den Gelderwerb als einzige Beschäftigung, den Geldbesitz als einziges Glück gegönnt durch lange Jahrhunderte. Der arme Dorfgeher konnte es anfangs kaum glauben – der alte Manasse war ja reich, so reich. Er hatte einen großen Spezereiwarenladen und betrieb einen sehr schwunghaften Weinhandel mit Ungarn und der Moldau. Es war das schönste Ehrenzeugnis für des armen Dorfgehers Tochter, als die Wahl des Nachbars auf sie fiel, denn auch Nathan Silberstein war ohne Makel. Er war ein braver, klarer, verständiger junger Mensch, gesund und wohlgebaut und kannte sich im Talmud ebenso gut aus wie in Geldgeschäften. Und weil er kein Gelehrter werden sollte, sondern ein Kaufmann, so hatte der Vater ihm einen Lehrer für das Hochdeutsche genommen. Nathan hatte das Schreiben und Lesen erlernt, dann arbeitete er einen »Briefsteller für alle Stände« durch und das »Allgemeine österreichische bürgerliche Gesetzbuch«. Aus diesen beiden Büchern bestand auch offiziell und vor des Vaters Augen seine deutsche Bibliothek. In Wahrheit aber stand in seinem Bücherschrank, unter den mächtigen hebräischen Folianten versteckt, noch ein kleines deutsches Büchlein. Am Samstagnachmittag, wenn er im Festgewand mit den anderen in den gräflichen Park ging, steckte er das Büchlein zu sich, sonderte sich dann ab und las es an einer stillen, heimlichen Stelle, wo sich das Laub um ihn nur leise bewegte. Dabei fühlte er, wie sich auch etwas in ihm leise bewegte, was er sonst an den Wochentagen nie verspürte. Vielleicht war dieses Etwas das Herz. Auf dem Rücken des kleinen Büchleins stand in Golddruck: »Schillers Gedichte«. Als sein Vater ihm sagte, daß er eine Braut für ihn erwählt und wer das sei, da regte sich dieses Etwas nicht. Er sagte gehorsam: »Wie Ihr wollt, Vater!« und wurde vielleicht einen Augenblick lang etwas blasser als gewöhnlich. Und ebenso gleichmütig fügte sich die Braut in den Willen ihres Vaters, nur daß sie vielleicht dabei etwas röter wurde. Und dann ward die Verlobung gefeiert und zwei Monate darauf die Hochzeit. In der Zwischenzeit schenkte Nathan seiner Braut hübsche Perlen und kostbares Geschmeide und das arme Mädchen ihm einen Gebetmantel, auf den es kunstvoll mit Gold- und Silberfäden die Verzierungen gestickt hatte. Auch sprachen sie während der Zeit einige Male miteinander, über ganz Gleichgültiges, von ihnen selber und ihrer Zukunft sprachen sie nicht. Auch für die Vergangenheit fand sich kein herzliches Wort. Sie hatten, obwohl Nachbarskinder, keine gemeinsamen Erinnerungen.
Mit großem Aufwand ward die Hochzeit gefeiert, der Wein floß in Strömen, ganze Berge von Fleisch und Backwerk wurden vertilgt, die besten Spielleute und die besten Lustigmacher erheiterten die Gäste. Dann zogen die jungen Eheleute in das große, stattliche Hauswesen, das Manasse seinem Sohn gegenüber den Dominikanern gegründet. Sie hatten sehr viel Arbeit, sie mußten sich den Tag über schwer mühen und lebten still und friedlich miteinander. Sie waren beide gute, ehrliche Herzen, und da sie von den Tagen ihrer Ehe kaum im voraus geträumt oder sich ein paradiesisches Glück ausgemalt, so wurden sie auch in nichts enttäuscht. Die Sitte band sie, das gemeinsame Schaffen, die gegenseitige Achtung und darum auch die gegenseitige Treue. So ging alles im ruhigen, hergebrachten Geleis, und als Chane ihrem Gatten nach Jahresfrist ein Kind gebar, da fühlte dieser in seinem Innern sogar wieder jenes geheimnisvolle Etwas sich regen, das solange geschwiegen. Das Kind starb nach wenigen Wochen, aber die große Trauer brachte die Gatten nur einander näher. Dann mußten sie den guten, hochbetagten Manasse begraben, und nun lastete auch die Leitung des ganzen großen Geschäftes allein auf ihren Schultern. Nathan mußte nun viel auswärts sein, Chane war die getreueste Verwalterin des großen Hauswesens. Sie lernte deutsch schreiben und lesen, um ihrem Gatten im Geschäft helfen zu können, und sorgte insbesondere mit rührender Umsicht für alle seine persönlichen Bedürfnisse. Auch er hielt sie hoch und wert und bekleidete ihren holden Leib mit den schwersten Seidenstoffen und dem massivsten Goldschmuck aus den Läden von Lemberg und Czernowitz. Sie waren zufrieden miteinander, wohl auch glücklich, denn was fehlte zu ihrem Glück?
Sie liebten einander nicht, aber sie wußten von der Liebe nur, das sei eine Mode der Christen, bevor sie sich verheiraten. Wozu braucht ein jüdisch Kind christliche Moden mitzumachen?
Sie waren glücklich, und das Haus ihrer Ehe stand stark und fest gefügt auf dem Boden der Achtung und der Arbeit und der Gewohnheit, bis der Sturm der Leidenschaft herangebraust kam und das Haus zu Boden warf wie ein Kartenhaus und sie ohne Erbarmen in seinen Bann nahm und hinausstieß in Kampf und Schmerz . . . !
Das Städtchen Barnow ist sehr klein, ein ödes, schmutziges Nest in einem gottverlassenen Winkel der Erde, und der große Strom des Lebens und der Bildung wirft kaum das Atom einer Welle hierher, aber – ein »Kasino« hat Barnow doch. Es sieht freilich bescheiden genug aus. Hinten im Hof, hinter Nathans Laden liegt es, ein kleines Zimmer, in dem zwei Tische stehen und mehrere Stühle. Das hat Nathan für seine Stammgäste eingerichtet. Hier trinken die Beamten und sonstigen Honoratioren von Barnow ihren Frühschoppen und politisieren dabei, und wenn es ihre Frauen erlauben, so politisieren sie auch hier des Abends und trinken ihren Abendschoppen dazu. Der hochgeborene Florian von Bolwinski, ein Gutsbesitzer ohne Gut, der keine Frau hat, trinkt hier seinen Morgen-, Vormittags-, Mittags-, Nachmittags-, Abend- und Nachtschoppen und unterbricht sich nur zuweilen, um einen Spaziergang zu machen, einer Köchin seine Liebe zu erklären, einen Juden anzupumpen oder sonst ein wichtiges Geschäft zu verrichten. Auch der frühere Bezirksrichter, Herr Hippolyt Lozinski, war hier Stammgast, und ein Verdienst dieses Zimmerchens war es, daß mindestens die Nase rot wurde in seinem gelben, magern Gesicht. Aber eben, als sie durch fortgesetzte Bemühungen zum leuchtenden Rubin geworden, starb der Wackere, zur ziemlichen Freude des Bezirks, zum unaussprechlichen Schmerz seiner überaus zahlreichen Gläubiger. Frau Kasimira zog sich auf die Güter derer von Cybulski zurück, einen kleinen, überschuldeten Meierhof bei Tarnopol, und in das erste Stockwerk des weißen Hauses zog der neue Bezirksrichter, Herr Julko von Negrusz. Er nahm auch den Platz des Verewigten im »Kasino« ein, freilich ohne ihn so häufig und so ausgiebig zu benützen wie dieser.
Herr von Negrusz war ein junger Mann, etwa im Anfang der Dreißig. Man achtete ihn gleich von Anfang an als ausgezeichneten Juristen und bald auch als guten Menschen. Ein Bezirksrichter in Podolien ist ein Halbgott und kann zum Fluch oder zum Segen seines Bezirkes werden. Herr von Negrusz übte seine Macht nur zum Guten. Was sein Äußeres anbelangt, so läßt sich nicht viel darüber sagen: er war ein schlanker Mann, und stille braune Augen standen in einem Gesicht, das man weder schön noch häßlich nennen könnte. Die drei grünlichen, überaus erwachsenen Töchter des Herrn Steueramtsvorstehers behaupteten, er sei ein Barbar und gegen Frauenreize ganz unempfindlich. In der Tat liebte er Damengesellschaft nicht sonderlich.
Also, auch Herr von Negrusz wurde, wie erwähnt, Stammgast in der kleinen Weinstube. Er pflegte sich dort täglich, nachdem er aus dem Amt gekommen, eine halbe Stunde aufzuhalten und die Zeitung zu lesen, ehe er in seine Wohnung zum Mittagessen hinaufging, das ihm seine alte Wirtschafterin bereitete. Und da der Zugang durch den Hof so unbequem und schmutzig war, so ging auch er, wie die meisten Gäste, durch den Laden, wo die schöne Frau des Kaufmanns immer selbst das Geschäft beaufsichtigte. Doch begnügte er sich, sie im Vorbeigehen stumm zu grüßen und sprach und scherzte nie mit ihr, wie es wohl die anderen älteren Herren zu tun pflegten oder die jungen Offiziere. Er unterließ dies nicht etwa aus besonderen Gründen, sondern weil Lachen und Scherzen einfach nicht in seiner Natur lag. Auch mochte er glauben, daß das, was die anderen da an Huldigungen aufwendeten, für die Frau ohnehin lästig genug sei. Da irrte er aber, Chane war in der Beziehung sehr gleichmütig und nahm alles das so auf wie die anderen kleinen Unannehmlichkeiten, die das Verweilen im Laden mit sich brachte, so zum Beispiel die scharfe Zugluft. Diese Frau hatte eine merkwürdig sichere Manier, sich jeden Vorwitz, wenn auch nur in Worten, vom Leibe zu halten; erwiderte sie auch den ältlichen Herren meist so munter, wie sie angesprochen wurde, die Offiziere erhielten nur sehr kärglichen und oft recht sonderbaren Bescheid. Spöttisch und lustig bis zur Ausgelassenheit konnte sie insbesondere werden, wenn man ihr von Liebe sprach. Dieses Gefühl war ihr nicht allein rätselhaft, weil sie es nicht kannte, es war ihr allmählich überaus komisch und verächtlich geworden. Wer ihr also zwischen dem ersten und zweiten Seidel sagte: »Ich liebe Sie!«, der ward nur öffentlich ausgelacht und insgeheim verachtet, wer sie aber dabei auch um die Hüfte zu fassen suchte . . . fragt nur den kleinen Oberleutnant Albert Sturm, das ekelhafte, zudringliche, heimtückische Subjekt, warum einmal acht Tage lang seine rechte Wange voller und röter war als die linke.
Nun, dem Bezirksrichter gegenüber hatte sie weder in Worten, noch in Taten eine Abwehr nötig. Die beiden sprachen während der ersten drei Monate auch nicht eine Silbe miteinander. Und da dies etwas Auffälliges war in einem so kleinen Städtchen, wo jedermann mit jedermann verkehrt, und doppelt auffällig, da sie zugleich Hausgenossen waren, so sprach Chane einmal mit ihrem Gatten darüber, ganz zufällig und ganz unbefangen. Nathan war mit dem Bezirksrichter und mit Seiner Hochgeboren, dem Herrn Florian von Bolwinski, lange in eifrigem Gespräch vor dem Laden gestanden, dann war Negrusz aufs Amt gegangen, während Florian mit dem Kaufmann in den Laden trat, um heute ausnahmsweise zwischen dem Mittags- und Nachmittagsschoppen noch einen besonderen Verdauungsschoppen in Versorgung zu bringen. »Nathan«, sagte die Frau, »mit dem Bezirksrichter ist es ein eigen Ding. Ist er so stolz? Er hat noch nie ein Wort mit mir gesprochen.« – »Stolz ist er nicht«, erwiderte Nathan, »im Gegenteil, er ist der beste, hilfreichste Mensch von der Welt, aber wortkarg ist er, wer weiß, warum? Vielleicht ist er unglücklich.« – »Hoho!« grölten Seine Hochgeboren, »was für eine eitle Frau Sie haben, Pani Nathan! Wir machen ihr alle auf Tod und Leben die Cour, aber sie hat noch immer nicht genug. Jetzt sticht ihr dieser junge Herr Julko in die Augen. Hohoho! Aber da ist alle Mühe umsonst, hoho! Der ist schon verliebt, ernstlich verliebt, ja! Das ist Gottes Strafe!« Die schöne Frau hörte das alte Weinfaß geduldig an, sie war seine Witze schon gewohnt. »Es hat nicht jeder eine so glückliche Natur wie Sie«, erwiderte sie darauf, »dieser Mann scheint mir zu ernst und zu tüchtig, als daß er sich verlieben könnte!« Herr Florian stemmte die Arme in die Seiten und lachte einige Minuten lang sein wieherndstes, lustigstes Gelächter. »Hohoho!« keuchte er, »da muß ich schon bitten . . . hat man je so etwas gehört? Hohoho! Als ob sich nur dumme Leute verlieben könnten . . . zum Beispiel ich, bin ich dumm? Und . . . Pani Nathan, werden Sie nicht eifersüchtig –, ich bin doch in Sie verliebt. Aber dafür muß ich Ihnen doch zur Strafe sagen: bei dem Negrusz ist alle Mühe umsonst, der ist vergeben . . . hohoho! Fest vergeben, er liebt eine Tote! Hohoho!«
»Unsinn«, murmelte die Frau unmutig, indes der Hochgeborene in Nathans Begleitung ins »Kasino« torkelte. Es ging ihr aber doch nicht aus dem Kopf; denn am späten Abend, als sie neben ihrem Gatten im Wohnzimmer saß und ihm, da er am nächsten Tag in aller Frühe verreisen mußte, die Geschäftsbriefe schreiben half, fragte sie plötzlich: »Was hat denn heute der Bolwinski nur mit der Toten gemeint, in die der Bezirksrichter verliebt sein soll?«
»Was weiß ich«, erwiderte Nathan, »man spricht so hie und da. Er war in ein Mädchen verliebt, und wie das gestorben ist, hat er beschlossen, ledig zu bleiben. Vielleicht ist es wahr. Die Christen treiben viel Unsinn mit der Liebe.«
»So, so«, erwiderte die Frau und starrte sinnend in die Flamme des Lichtes. Dann aber griff sie zur Feder und schrieb den Brief an Moses Rosenzweig in Czernowitz zu Ende, in welchem sie ein Faß Heringe bestellte und fünf Zentner Zucker.
Am nächsten Tag geschah etwas Seltsames.
Der Herr Florian von Bolwinski ist nicht bloß ein dicker Mann, er ist auch ein braver Mann. Und weil er noch niemand unrecht getan hat, so fürchtet er sich auch vor niemand, ausgenommen vor seiner Wirtschafterin, obwohl er auch dieser niemals unrecht getan hat. Ein braver Mann, aber er hat einen großen Fehler: er erzählt alles, was er in Erfahrung bringt, und noch einiges dazu. Das kommt teils von der natürlichen Phantasie, teils vom vielen Weintrinken. Und so erfuhr denn der Bezirksrichter am nächsten Vormittag, als er mit Herrn Florian zufällig allein im »Kasino« war, wie Frau Chane gestern dem hochgeborenen Herrn unter einem Strom siedender Tränen ihr Herz geoffenbart und in diesem Herzen eine wahnsinnige Liebe für Herrn von Negrusz, und wie es sie fast zum Selbstmord treibe, daß der so übermenschlich Geliebte und Begehrte nichts von ihr wissen, ja, sogar kein Sterbenswörtchen an sie verschwenden wolle. Und zwar erzählte Herr Florian diese ergreifende Geschichte nicht so kurz und bündig, wie sie hier berichtet wird, sondern mit saftiger Ausmalung aller Einzelheiten, unterbrochen von zahlreichen »Hohoho!« und »Verstehen Sie mich!« Diese Selbstunterbrechung war notwendig, damit der Hochgeborene bei Atem bleibe, denn der Bezirksrichter unterbrach ihn nicht. Er saß stumm und ernst da wie immer, nur zuweilen spielte ein stilles Lächeln um seine Lippen. Dieses Lächeln war Herrn Florian unangenehm, und sooft es sich zeigte, wurde er etwas verlegen und bemühte sich, diese Verlegenheit durch doppelt saftige Einzelmalerei zu verbergen. »Und was sagen Sie dazu?« fragte er endlich tief aufatmend.
»Was ich dazu sage?« meinte der Bezirksrichter, »nichts, ich bewundere nur Ihr poetisches Talent, Adam Mickiewicz ist gegen Sie ein Stümper!«
»Wie? Was? Hohoho! Ich glaube gar, Sie glauben mir nicht! Oh, verehrter Herr von Negrusz, oh, verehrter Herr Wohltäter, wodurch verdiene ich das? Haben Sie mich je auf einer Lüge ertappt? Und dann, was hätte ich davon? Nein, auf Ehre, es ist Wahrheit, heilige Wahrheit. Ich versichere Sie, ich habe Mitleid mit dem Weib gehabt . . . ganz weg ist sie, ganz weg aus Liebe zu Ihnen. Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen, ich, der ich doch . . . hohoho, Sie verstehen mich, die Weiber kenne! Ganz weg, ganz weg! Und jetzt frage ich Sie, was soll ich ihr sagen? Der Nathan verreist – verstehen Sie mich? –, auf drei Wochen verreist, hohoho! Das Weib . . .«
»Herr von Bolwinski«, unterbrach ihn der Bezirksrichter, legte die Zeitung zusammen, in die er bisher ab und zu geblickt hatte, und richtete sich hoch auf, »was Sie, der katholische Edelmann, der Ehegattin des Juden Silberstein in seiner Abwesenheit sagen wollen, muß ich in Ihr Belieben stellen, aber ich für mein Teil, ich hätte Ihnen etwas zu sagen. Wüßte ich nicht, daß der ganze Roman, den Sie mir da erzählt haben, erlogen ist vom ersten bis zum letzten Wort . . .«
»Herr von Negrusz!«
»Ich wiederhole es: erlogen vom ersten bis zum letzten Wort, hätten Sie sich mir in Wahrheit als Vermittler eines Ehebruchs angetragen, ich würde von dieser Stunde ab Ihre Gesellschaft nicht mehr dulden. Aber Sie haben nur Spaß gemacht in Ihrer Art, die freilich nicht die meine ist. Ich erlaube mir keinen Spaß mit der Ehre so achtungswerter Leute, wie es dieses Ehepaar ist. Und darum ersuche ich Sie ernstlichst, den Scherz nicht fortzuspinnen und wenn Sie sich anderen gegenüber dazu veranlaßt finden, sich einen andern Akteur wider Willen auszusuchen als mich!«
Herr Florian ist außer sich. Erstlich glaubt ihm dieser merkwürdige Mensch da nicht und verdirbt ihm einen prächtigen Spaß. Aber das wäre noch zu verwinden, Herr Florian ist in diesem Punkt ein geprüfter Dulder, es glauben ihm auch andere Leute nichts. Aber dieser Mann da geht soweit, die ganze Sache ernst zu nehmen, fast tragisch! Er macht seine Hochgeboren herunter wie einen Schulbuben. Das kann man nicht dulden, das geht gegen die Ehre. Hier ist auch ein Einlenken unmöglich. Und darum richtet er sich auf und stemmt die Arme in die Seiten und ruft in jenem Ton, in dem er sonst nur die hartnäckigsten Gläubiger anzurufen pflegt: »Ich frage Sie, mit wem Sie sprechen, hohoho! Verstehen Sie mich? Mit wem Sie sprechen, frage ich Sie! Also, Sie sprechen mit mir, Florian von Bolwinski. Also, Respekt, ich muß sehr bitten, gebührenden Respekt! Hat man schon so etwas gehört?! Ein Lügner, ein Kuppler, ich, hohoho! Also, verstehen Sie mich? Respekt! Bleiben Sie tugendhaft, wenn Sie wollen, aber was ich gesagt habe, ist wahr. Diese Chane ist eine verliebte, leichtsinnige.«
»Still!« Zischend wie ein Pfeil kommt der Laut geflogen, und haarscharf schneidet er die imponierende Rede entzwei. Der Hochgeborene blickt zur Tür und läßt blitzschnell die aufgestemmten Arme niedersinken und wird sehr blaß. Aber dem Bezirksrichter steigt die helle Röte ins Antlitz. »Still!« befiehlt die schöne Frau noch einmal und streckt die Hand gebieterisch aus gegen den dicken, zitternden Niding. Hoch aufgerichtet steht sie da in der geöffneten Tür, totenbleich, aber königlich stolz und königlich schön. Seine Hochgeboren haben das Haupt tief herabgebeugt und lassen die Unterlippe hängen wie das Schaf vor dem Gewitter. Die Frau schließt die Tür hinter sich und tritt auf die beiden Herren zu. »Sie . . . haben . . . gehorcht!« stammelt der alte Sünder und macht den Versuch zu lächeln.
»Ich habe nicht gehorcht!« erwidert Frau Chane sehr entschieden. »Gott ist mein Zeuge – ich habe sonst nicht die Gewohnheit, zuzuhören, was die Herren hier untereinander sprechen, es geht mich auch nichts an. Aber ich habe gerade im Laden hier neben der Tür bei den Gewürzen zu tun gehabt, und da habe ich jedes Wort hören müssen. Es war mir bitter genug und noch bitterer« – eine heiße Röte flammt ihr über Stirn und Wangen –, »noch bitterer ist es mir, daß ich selbst sprechen muß in dieser Sache. Aber mein Nathan ist nicht zu Hause. Also muß ich selbst Ihnen, Herr von Bolwinski, ins Gesicht hinein sagen, daß Sie ein ganz schlechter Lügner sind. Ich habe bloß gestern meinen Mann gefragt, ob . . . ob der Herr Bezirksrichter stolz ist, weil er niemals mit mir spricht, und die anderen Herren tun es alle. Ich habe nichts Böses dabei gedacht. Und darum, Herr von Bolwinski, schämen Sie sich!« Herr von Bolwinski tut, wie ihm befohlen wird: er schämt sich. Die Unterlippe hängt sehr tief herab, und er erhebt die Augen nicht vom Boden. Herr von Negrusz aber sieht die Frau starr an und wendet keinen Blick von ihr. Es ist vielleicht nicht gut, daß er diese stolze, lebendige Schönheit so in sich aufnimmt, er, der doch nur »eine Tote liebt« . . .
»Dem Herrn Bezirksrichter«, fährt Frau Chane fort und stockt gleich nach den ersten Worten, und als sie dennoch weiter spricht, flammt die Röte noch viel heller auf, »dem Herrn Bezirksrichter danke ich schön, daß er sich um uns so angenommen hat, um meinen Nathan und um mich. Und wenn auch der Herr Bezirksrichter . . . nicht mit mir sprechen will, so sprech' ich doch zu ihm und sag' ihm: Sie sind ein guter, braver Mann, und die Leute haben recht, wenn sie Sie loben, und ich dank' Ihnen . . .«
Auch der Bezirksrichter findet kein Wort der Erwiderung gerade wie der Herr Florian, und fast so wie dieser schlägt auch er jetzt den Blick zu Boden. Dann greift er nach dem Hut und macht der Frau eine stumme und sehr, sehr respektvolle Verbeugung und geht in seine Wohnung hinauf.
Seine alte Wirtschafterin, die ihn auch liebt wie alle Welt, ist heute untröstlich. Er ist sonst bei gutem Appetit, aber heute rührt er sein Mittagessen kaum an, und selbst seine Lieblingsspeise, die Käspiroggen, kommen fast so vom Tisch, wie sie aufgetragen worden. Und dazu blickt er so sonderbar drein, so ganz anders als gewöhnlich . . .
Und die Tage kamen und gingen, leise und unvermerkt spannen sie zwischen zwei reinen und guten Herzen ein Band, das sündhaft und verbrecherisch war vor Gott und den Menschen.
Äußerlich hatte jener sonderbare Auftritt in der kleinen Weinstube freilich keinerlei Folgen gehabt, höchstens, daß Herr Florian von Bolwinski an jenem Tag seinen Nachmittags-, Abend- und Nachtschoppen in seinen vier Wänden trank, natürlich in doppelter Quantität, um die so unverdient erlittene Kränkung zu vergessen. Aber am nächsten Tag schon erschien er zum Frühschoppen wieder am gewohnten Platz und nahm auch wieder den gewohnten Weg dahin, durch den Laden und an der Frau des Kaufmanns vorüber. Und auch Herr von Negrusz erschien um die Mittagsstunde pünktlich wie immer. Nun, das war weiter nicht verwunderlich. Aber fast unerklärlich war es, daß auch in dem Benehmen der beiden gegen Chane scheinbar keinerlei Änderung eintrat. Herr von Bolwinski fuhr fort, sie mit seinen gewohnten Witzen und Schmeichelreden zu beglücken, und wenn sie nichts erwiderte, so sagte er höchstens:
»Hohoho! Wie stolz! Deshalb bleib ich doch in Sie verliebt, hohoho!« Und Herr von Negrusz fuhr fort, mit stummem Gruß an ihr vorbeizugehen.
Warum? Wenn sich jemand selbst belügen will, so gelingt es ihm bald. »Ich tue es nicht«, sagte er sich, »um nicht dem alten Schwätzer Gelegenheit zu Stichelreden oder neuen Verleumdungen zu geben.« Aber er fühlte dabei sehr wohl, daß dies nicht der wahre Grund sei, und zuweilen war er sogar so kindisch, der schönen Frau zu zürnen, weil sie sein ehrliches Herz veranlasse, unwahr gegen sich selbst zu sein. Was aber war der wahre Grund? Nicht die »Schüchternheit«, die ihm die üppige Emilie nachsagte, weil er einmal nach einem sehr verständnisinnigen Händedruck ihrerseits aufgehört hatte, ihr bei Begegnungen überhaupt die Hand zu reichen, auch nicht seine »Unempfindlichkeit gegen weibliche Reize«, über welche sich die drei grünlichen Grazien des Herrn Steueramtsvorstehers beklagten. Er war nicht schüchtern, weil das ein tüchtiger und begabter Mann niemand gegenüber ist, und was seine »Unempfindlichkeit« betrifft – ach, das Bild der schönen, in ihrer Entrüstung und Verlegenheit doppelt schönen Frau hatte tiefern Eindruck auf ihn gemacht, als ihm lieb war. Aber die Erbärmlichkeit des hochgeborenen Herrn hatte ihn in so eigentümliche Beziehung zu dem ihm bisher fremden Weib gebracht, und, um nun das rechte Wort und den rechten Ton für den Verkehr mit ihr finden zu können, hätte er unbefangen sein müssen. Und das war er ihr gegenüber nicht, obwohl er es sich hoch und teuer zuschwor. Und mochte er sich noch so häufig sagen: »Ich sprech' nicht mit ihr, damit das alte boshafte Weib in Schnürrock und Stiefelhosen nicht wieder etwas zu schwatzen hat – und übrigens, was hab' ich denn mit ihr zu reden, oder ist es gar eine Notwendigkeit, daß ich mit ihr rede?!« – er fühlte doch, daß er sich da nur selbst belog und wie unpassend es war, daß er schwieg. Und als Woche auf Woche verstrich und damit die Unmöglichkeit wuchs, seinen Fehler zu verbessern, da wurde ihm auch dieses tägliche stumme Vorbeigehen immer peinlicher. Und doch konnte er es nicht lassen! Und um sein Leben gern hätte er gewußt, was sie dazu sage.
Was sagte sie dazu? Zu anderen nichts, gar nichts, auch zu Nathan sprach sie kein Wort darüber. Vor jener Szene hätte sie ihm sehr ruhig, sogar in Gegenwart eines Fremden, darüber berichten können, jetzt hätte sie es nicht mehr vermocht. Sogar die Heldentat des Herrn von Bolwinski verschwieg sie ihm, als er endlich nach mehr als einmonatiger Abwesenheit von seinen Geschäftsreisen heimkehrte. »Wozu soll er sich ärgern?« entschuldigte sie sich vor sich selbst, aber in Wahrheit fühlte sie, daß sie es nur darum unterließ, um nicht zugleich des Bezirksrichters erwähnen zu müssen. Eine unerklärliche Scheu hielt sie davon ab. Gerade, weil sie soviel über ihn und sein Benehmen nachdenken mußte, darum konnte sie nicht davon sprechen. Und sie dachte so viel und so verschiedenes darüber – fast jeden Tag etwas anderes. »Es ist gar nicht schön von ihm, daß er nicht einmal ein Wort an mich wenden will, jetzt, da wir doch bekannt sind.« Oder: »Glaubt dieser hochmütige Christ vielleicht im Ernst, daß ich in ihn verliebt bin, und will er mir so beweisen, daß ich ihm gar nichts bin? Das ist nicht nötig, er ist mir auch gar nichts.« Aber dann gleich wieder: »Er ist ein braver Mensch, wie er sich um mich angenommen hat! Er spricht gewiß nur deshalb nicht mit mir, um diesem dicken, häßlichen Bolwinski allen Grund zu weiteren Lügen zu nehmen.« Ihr häufigster Gedanke aber war: »Das von der Toten muß wahr sein. Er liebt sie so, daß er mit einem lebendigen Weib gar nicht sprechen will. Er spricht ja sogar mit der Frau Bezirksaktuarin nicht. Wie kann man eine Tote lieben? Was ist denn diese Liebe überhaupt?«
Die Macht, die über unser aller Leben waltet, gebraucht oft seltsame Mittel. Hier brachte sie zwei Menschen dadurch einander nahe, daß sie nicht miteinander sprachen. Sie schwiegen und sahen einander täglich und schwiegen fort durch lange drei Monate. Der Hochsommer neigte dem Ende zu, von den Bäumen im Klostergarten fielen die ersten gelben Blätter zur Erde, die Zeit der Weinlese rückte heran, und Nathan trat seine große Reise in die Weinländer an, nach Ungarn und der Moldau. Am Sabbat vor den großen Feiertagen wollte er wiederkommen. »Bleib gesund und schau, daß wir aus dem verdorbenen Most einen guten Weinessig erzielen!« Das waren seine Abschiedsworte. Dann schloß er sein Weib wie gewöhnlich fest und ruhig in die Arme und küßte sie auf die Stirn. Er ahnte nicht, daß sie da zum letzten Mal in seinen Armen geruht. –
Es war ein Tag im September, ein schöner, klarer, sonniger Herbsttag. Im Laden stand Frau Chane und wog den Kunden Kaffee und Zucker zu, im »Kasino« drinnen saßen Herr von Bolwinski und der Herr Steueramtsvorsteher und sprachen über den Liberalismus. Alles wie gewöhnlich. Und wie gewöhnlich trat auch Herr von Negrusz in den Laden. Er lüftete schweigend den Hut, sie nickte schweigend den Gegengruß, und dann wollte er vorüber. Aber er konnte nicht, denn ein großes Faß mit Heringen stand mitten im Weg. »Sie müssen hier herum kommen«, sagte die Frau und wies auf den Weg hinter dem Ladentisch.
»Ich danke«, sagte er leise und ging an ihr vorbei. Dann aber blieb er doch stehen. »Sie machen hier neue Ordnung?« fragte er, um irgend etwas zu sagen.
»Ja, für den Herbst, da kommen die Früchte.«
»Das war ein gesegneter Herbst . . .«
»Ja, besonders die Äpfel . . .«
»Auch der Wein, sagt man. Wo ist denn der Herr Nathan jetzt?«
»Jetzt wird er wohl in der Hegyallja sein. Ich weiß es nicht gewiß, er hat während der Reise selten Zeit zu schreiben, aber er wird wohl schon in Tokay sein.« Und dann siegte der Stolz der Kaufmannsfrau über die Befangenheit, und sie fügte hinzu: »Seit diesem Frühjahr sind alle Potocki und Czartoryski unsere Kunden, da müssen wir natürlich echten Tokayer führen. Auch vom Rhein beziehen wir jetzt alles direkt.«
»So, so, ich gratuliere.« Damit ging er ins Kasino. Das war ihr erstes Gespräch. Sogar Herr Florian von Bolwinski hätte selbst nach dem dreißigsten Seidel nicht behaupten können, daß es ein Liebesgespräch gewesen, aber das Eis war gebrochen, und an dieses Gespräch knüpfte sich eine Reihe ähnlicher Gespräche. Sie sprachen über das Wetter, über die Geschäfte, über die kleinen, alltäglichen Vorkommnisse. Und seltsam, während sie im Schweigen sehr befangen gewesen und schließlich nur noch errötend einander zu gedenken vermocht, löste sich während dieser ruhigen, freundlichen Gespräche die Befangenheit, und sie wurden fest und sicher im Verkehr. Damals mochten die beiden an einem Scheideweg stehen: entweder machten diese einfachen, ruhigen Unterredungen der sonderbaren Beziehung, in die sie durch jene Szene und durch ihr Schweigen geraten waren, gänzlich ein Ende, oder aus diesem Verkehr baute sich jene Beziehung erst recht auf, viel tiefer, viel gefährlicher als früher, weil sie nun wirklich in gegenseitiger Vertrautheit wurzelte und nicht mehr in blauen Träumen. Sie ahnten nicht, daß sie an jenem Scheideweg standen, und als sie so allmählich immer vertrauter wurden und immer länger miteinander sprachen und immer mehr Gefallen aneinander fanden, da ahnten sie auch nicht, daß sie nun gewählt und einen Weg betreten hatten, der nach den Verhältnissen zu Weh und Entsagung führen mußte oder tief zur Schande.
Sie ahnten es nicht. Wie hätten sie sonst so unbefangen Dinge besprechen können, an die sich leicht ein glühendes Wort knüpfen konnte, eine unbedachte Aufwallung des Herzens?! Da erzählte sie ihm zum Beispiel einmal, was ihr Herr von Bolwinski von seiner Leidenschaft für eine Verstorbene mitgeteilt. Sie sprach fast scherzhaft darüber, aber sie bereute es sehr, als sie sah, wie sich sein Antlitz bei der Erwähnung verdüsterte. »Ich hab' Ihnen weh getan?« fragte sie besorgt. – »Nein, nein«, erwiderte er. »Ich muß Ihnen wohl auch einmal davon sprechen, nachdem es schon andere getan haben. Es ist an der Sache nichts, was ich verbergen müßte.« Und darauf erzählte er ihr die Geschichte seines Herzens, eine einfache, traurige, alltägliche Geschichte. Er hatte als Student ein Mädchen geliebt, das er unterrichtete, die Tochter vornehmer, adliger Eltern. Die junge Baronesse hatte seine Liebe erwidert, aber die Welt war stärker gewesen als ihre Herzen. Sie ward einem andern vermählt und starb nach kurzer Ehe. Die Judenfrau hörte die ganze Geschichte an wie eine Wundermär, es war etwas darin, was sie vor wenigen Monaten gar nicht verstanden hätte und was sie noch jetzt nicht ganz klar verstand. Vielleicht faßte sie das in die Frage zusammen, die sie nach langer Pause an ihn stellte: »Und – und Sie lieben sie noch?« – »Sie ist tot«, erwiderte er, »und ich liebe sie nicht mehr mit jener Liebe, mit der ich die Lebende umfaßt habe. Aber ihr Andenken bleibt mir teuer und lebendig, bis ich sterbe. Ich werde sie nie vergessen.« –
Die Frau sah lange sinnend vor sich hin. »Die Liebe muß etwas Großes sein«, flüsterte sie. Er erwiderte nichts, vielleicht hatte er die leisen Worte nicht vernommen.
Woche um Woche verstrich, die großen Feiertage rückten immer näher. Nathan sollte wiederkehren. Die beiden sprachen über ihn häufig, sehr häufig und lobten seine Tüchtigkeit, seine Ehrlichkeit, sein braves, gutes Herz. Das war sonderbar – immer wieder kamen sie auf ihn zu sprechen. Vielleicht fühlten sie es instinktmäßig, daß es notwendig sei, sich gegenseitig in der Achtung für diesen Mann zu bestärken, denn diese Achtung war ja die Schranke zwischen ihnen und zugleich der letzte Halt, an den sich ihr Ehr- und Rechtsbewußtsein klammerte.
So kam der Freitag vor dem jüdischen Neujahr heran, der Tag von Nathans Ankunft. Noch war das entscheidende Wort zwischen beiden nicht gesprochen. Da brachte der Zufall dieses Wort auf ihre Lippen, und sie erkannten, unendliche Seligkeit und unendliches Weh im Herzen, den Abgrund, vor dem sie standen.
Das war an einem trüben, nassen Oktobertag. Die Nacht über hatte es gestürmt, unablässig war der Regen niedergegangen über das öde Gelände und über das düstere Städtchen. Dann hatte ihn der Herbstwind weggepeitscht und jagte nun ruhelos hinter den einzelnen Wolken her, durchstöhnte die winkligen Gassen und warf von den Pappelbäumen der Mönche drüben die letzten roten, zitternden Blätter nieder in den Schlamm. Es war ein trauriger, trauriger Tag, und wen Kummer oder Einsamkeit drückte, dem mußte es heute doppelt bang ums Herz sein.
Im Laden saß Frau Chane allein, heute ließen sich keine Käufer blicken. Sie sah zu, wie der Wind mit den Blättern sein Spiel trieb. Sie hatte gerade keine bestimmte Sorge, oder sie empfand sie nicht deutlich, und doch war's ihr schwer ums Herz, so schwer.
Dann kam die Rosel Juster in den Laden, ein armes Mädchen, aber schön und üppig. Sie machte große Einkäufe an Zucker und Mandeln und Rosinen und allerlei Gewürz.
»Das ist zum Gebäck bei deiner Verlobung?« fragte Frau Chane freundlich. »Ich habe davon gehört und wünsch' dir viel Glück. Er soll ein braver Mann sein.«
»Ich dank Euch«, erwiderte das Mädchen. »Am Dienstag ist die Verlobung und schon am zweiten Dienstag darauf die Hochzeit. Es ist wegen seiner kleinen Kinder, er ist Witwer.«
»Da wirst du wohl viel Arbeit haben?«
»Ach, wenn es nur die Arbeit wär'! Aber er hat auch eine Schwester im Haus, und dann – er ist ein alter Mann, aber was nützt da das Reden!«
»Also ist es nicht mit deinem Willen?«
Die Rosel sah erstaunt auf. Dann erwiderte sie finster: »Seit wann fragt man bei uns nach dem Willen?! Ich bin ein armes Mädel, und er nimmt mich und versorgt mich – das ist alles.« Sie zuckte die Achseln, fuhr sich über die Augen und fügte rasch hinzu: »Und dann brauch' ich noch zwei Lot Ingwer.«
Frau Chane sagte nichts mehr und wog ihr das Gewünschte zu. Aber ihre Hand zitterte, als sie die Tüte zudrehte, und auch in den Gewichten vergriff sie sich einige Male und mußte mehrmals nachwiegen.
»Mir scheint, Euch ist nicht wohl«, sagte die Rosel, als sie fortging. »Ihr seht so bleich.«
»Ich bin müde«, erwiderte die Frau und sank auf einen Stuhl. Als sich die Tür hinter der Käuferin geschlossen hatte, schlug sie die Hände vors Antlitz und saß so lange, lange. Es waren wilde, wüste Stimmen, die in ihr kämpften und riefen . . . »Wann hat man je bei uns nach dem Willen gefragt? Ich war ein armes Mädel, und er hat mich genommen und hat mich versorgt. Mein Gott, das ist alles – alles!« Sie hielt die Augen krampfhaft geschlossen, aber sie sah dennoch klar in jenem Augenblick, klarer als je vorher, o fürchterlich klar! Ihr ganzes Leben lag vor ihr und die große Lüge dieses Lebens. »Alles gehört ihm, mein Leib und meine Seele, nicht, weil ich so will, nicht, weil er so will, nein! Weil unsere Väter es so für weise befunden haben. Und jetzt, wo ich fühle, daß ich auch ein Mensch bin, der seinen Willen hat und sein Herz, jetzt, wo ich einen anderen liebe, jetzt bleib' ich elend, oder ich muß . . .«
Sie dachte den Gedanken nicht aus, ihre Sinne begannen sich zu verwirren. Unendliches Mitleid mit sich selber überkam sie, und brennend heiß quollen ihr die Tränen aus den Augen. Sie bedachte nicht, wo sie war, sie bedachte nicht, daß der, den sie liebte und dessen Anblick sie gerade darum jetzt am meisten fürchtete, jeden Augenblick eintreten mußte. Sie dachte erst daran, als die Mittagsglocke der Dominikaner erklang, und raffte sich auf. Aber es war zu spät, da stand er schon in der geöffneten Tür.
Und nun geschah etwas Seltsames zwischen den beiden. Sie hatten bisher nie von ihrer Liebe gesprochen, sie hatten wohl auch nichts davon gewußt, aber wie er auf sie zutrat und ihre Hand faßte und in ihre Augen blickte, die großen, braunen, tränenerfüllten Augen, die mit so unsäglich rührendem Ausdruck auf seinen Zügen hafteten, da erriet er alle ihre Gedanken, ihren Kampf, ihren Schmerz, ihre Liebe. Und als er ihr die Hände drückte und ihr dann leise und zärtlich wie einem kranken Kind das Haar aus der Stirn strich, da wußte sie, daß sein Herz ihr gehöre und daß sie auf ihn bauen dürfe bis in den Tod. Dann ließ er ihre Hände los und trat zurück. »Wir werden viel zu leiden haben«, sagte er, als verstünde sich ihre Liebe und alles Erringen von selbst. »Aber ich werde fest sein und Sie auch. Ich habe Ihnen viel zu sagen. Aber hier ist nicht der rechte Ort und heute abend« – er stockte und fuhr dann mit fester Stimme fort –, »heute abend kommt schon Ihr Mann zurück, und ich mag Sie nicht zu einer heimlichen Zusammenkunft hinter seinem Rücken bewegen. Ich werde Ihnen also schreiben, was ich für gut halte.«
Er drückte nochmals ihre Hand, dann ging er in seine Wohnung. Die Frau erhob sich, schickte den Lehrling, der bisher draußen das Silber- und Messinggeschirr für die Festtage geputzt hatte, in den Laden und blieb selbst in der Küche, für den Sabbat zu rüsten und für den Empfang ihres Mannes. Sie tat alles pünktlich, aber doch in anderer Art als sonst. »Schmerzt Euch der Kopf, Frau?« fragte ihre Magd, als sie plötzlich stehenblieb und die Hände flach an die Schläfen drückte, als müßte sie sich selbst besinnen. Ihr war's wirr und wüst und doch wieder, als müßte sie jubeln. So verging der Tag.
Gegen Abend brachte ihr der Amtsdiener einen Brief. »Vom Bezirksgericht für Ihren Mann«, sagte er, aber als sie den Umschlag entfernte, lag ein Brief an sie darin. Sie öffnete ihn nicht, sie zitterte vor dem Inhalt.
Die Dämmerung brach an, die Lichter wurden angezündet, und sie sprach den schönen uralten Segensspruch über sie, wie es Pflicht der Hausfrau ist, daß Licht und Friede im Hause wohne, daß Gottes Erbarmung jeden Kummer fernhalte, jede Not, jede Schmach . . . Es sind nur wenige Worte, sie kannte die Formel sehr gut, und doch kam sie ihr heute nur zögernd und unsicher über die Lippen. Ach, war sie noch wert, zu Gott zu beten, sie, ein jüdisch Weib, das den Brief ihres christlichen – Geliebten bei sich trug?! Todesmatt sank sie auf einen Sitz und stöhnte auf in herbem Seelenkampf. Dann zog sie den Brief hervor und besah ihn. Er war versiegelt, ein Siegel darf man am Sabbat nicht brechen. »Es ist nicht meine größte Sünde«, sagte sie dumpf, als sie es dennoch tat. Sie las. Er schrieb, wie sehr er sie liebe, wie er ohne sie sterben müsse oder wahnsinnig werden. »Werde Christin, werde mein Weib! Die Sünde an Deinem Gatten ist nicht so groß wie die Sünde an uns beiden, wenn Du es nicht tust. Daß Du mich liebst, weiß ich – nun sage mir nur noch Deinen Entschluß, mit mir zu gehen. Alles übrige ist meine Sorge.«
Sie ballte den Brief zusammen und schleuderte ihn von sich und hob ihn dann doch wieder auf und glättete ihn und las ihn wieder. Dann ließ sie die Hände auf den Tisch sinken, ihre Finger schlangen sich krampfhaft ineinander, die Tränen strömten ihr wie Bäche über die Wangen, und schluchzend stammelte sie: »Mein Herr und Gott, hilf mir, erleuchte mich, laß mich nicht werden wie die Esther Freudenthal, laß mich nicht enden in Schmach und Verachtung! Mein Herr und Gott, verlaß mich nicht! Ich bin ein ehrlich Weib gewesen bisher, mein Mann ist gut, ich kann keine Ehebrecherin werden, aber ich liebe ihn, ich kann nicht leben ohne ihn . . . Er ist ein braver Mann, aber sogar, wenn er so schlecht wäre wie jener Husar, der die Esther unglücklich gemacht hat. Mein Herr und mein Gott, ich werde wahnsinnig, hilf mir, hilf mir!«
Und wie sie also aufschrie aus den Tiefen ihrer gequälten Seele, hörte sie nicht, wie die Tür geöffnet wurde und ein Mannesschritt hinter ihr klang. Da berührte eine, Hand ihre Schulter, sie zuckte empor – ihr Gatte stand vor ihr.
»Gott zum Gruß«, rief er fröhlich. »Endlich bin ich da. Der Sturm heut nacht hat die Straßen . . .« Er sah sie an, er stockte. »Chane«, schrie er angstvoll auf, »wie du aussiehst, Chane, was ist dir?«
Sie antwortete nicht. Da fiel sein Blick auf den Brief. Er langte darnach, sie ließ es ruhig geschehen. Er las die Überschrift und wurde totenbleich. »An dich – und so!« Darauf überflog er die ersten Zeilen und blickte hastig nach der Unterschrift. »Also der!« murmelte er, »den hätte ich nicht vermutet.« Dann las er weiter. Die Augen drangen fast aus ihren Höhlen, die Hand, die den Brief hielt, zitterte, man sah dem Mann an, wie sehr er litt. »Was?« schrie er an einer Stelle auf, mit entsetzter, heiserer Stimme, »was – ist das wahr?« Er fügte nichts Näheres hinzu. Sie glitt auf den Boden nieder und umklammerte seine Knie. So las er den Brief zu Ende. Dann warf er ihn auf den Tisch und beugte sich zu ihr hinab. »Steh auf!« befahl er, »setze dich!« Sie gehorchte. »Nur eines«, sprach er und trat vor sie hin, »ich will nur eines wissen: Der Christ schreibt, du liebst ihn auch . . . nicht wahr, da lügt er?! Chane, der Christ lügt?!«
Sie senkte ihr Haupt tief, tief. »Töte mich«, sagte sie leise aber fest, »töte mich, wenn ich es verdiene, aber er hat die Wahrheit geschrieben.«
Nathan zuckte wild auf. Es war eine gräßliche Verwüstung in seinen sonst so milden, ruhigen Zügen. »Die Wahrheit?« zischte er, »und du bleibst in meinem Hause, Ehebrecherin?«
Sie richtete sich hoch auf. Sie war furchtbar blaß, die Augen blitzten. »Nathan!« rief sie, »ich schwör' dir bei meiner toten Mutter, er hat heute zum ersten Mal meine Hand berührt!«
Er lachte gellend auf. »Und wenn ich dir glaube, was tut es?! Sollen wir uns in dich teilen, mir den Körper, ihm die Seele?! Ist mir nicht auch deine Seele angetraut, und wenn du mir nur deinen Körper geben konntest, warum nahmst du mich zum Mann?«
Sie trat näher auf ihn zu und ließ die Hände, die sie beteuernd erhoben hatte, schlaff niedersinken. Es war etwas Unheimliches in dem Blick ihrer Augen, und unheimlich klang es, als sie leise, dumpf, drohend sagte: »Nathan, sei nicht so hart. Über meinen Körper habe ich den Willen und wahre dir dein Recht, aber über meine Seele habe ich keine Macht. Mann, reize mich nicht zum Äußersten, ich leide ja ohnehin entsetzlich! Warum ich dann dein Weib geworden bin, fragst du! Ach, habt ihr mich denn je nach meinem Willen gefragt?!«
Das Wort mußte ihn hart getroffen haben, sehr hart. Er sah sie an, trat einen Schritt zurück und verstummte. Dann war eine lange Stille zwischen den beiden. Sie war nach jenen Worten gebrochen zusammengesunken und barg ihr Haupt in den Kissen des Ruhebettes, er ging hastig auf und ab. Dann blieb er plötzlich vor ihr stehen und sagte leise: »Geh, wir werden morgen darüber sprechen!«
Sie wankte aus dem Zimmer.
Er verriegelte die Tür und begann wieder in der Stube auf und ab zu gehen. Eine alte Dienerin kam und klopfte, sie bringe das Nachtessen. Er wies sie ab. Sie ging murrend fort, und er hörte, wie sie zur Köchin sagte: »Das schreit ja zu Gott, was für eine Verwirrung jetzt im Hause ist. Der Herr riegelt sich in die Weinstube ein und die Frau in die Schlafstube. Beide wollen nichts essen.« Dem Mann stieg die heiße Röte der Scham in die Wangen. »Die Dienstleute merken es schon«, dachte er, »bald wird es alle Welt merken! Oh, unsere alte Jütta hat recht, das schreit zu Gott, was für eine Verwirrung über mein Haus gekommen ist. Und nur Gott kann helfen, nur Gott allein, ich weiß keinen Ausweg.«
Er warf sich auf das Ruhebett und schloß die Augen und überdachte, wie alles so gekommen. Es trieb ihn auf, er konnte nicht ruhen, während es so wild in ihm stürmte. »Nur Gott kann helfen?« fragte er sich und ging wieder unablässig auf und ab in der einsamen, lichterfüllten Stube. »Das ist ein törichtes Wort gewesen. Gott hat nicht die Pflicht, immer ein Wunder für uns zu tun. Was kann Gott tun? Er kann ihn sterben lassen oder mich, ist das eine Lösung?!«
Er preßte die glühende Stirn an die Fensterscheiben und starrte in die wüste, regnerische Nacht hinaus. »Ich habe den Schatz besessen«, sagte er leise, »ich habe ihn besessen und nicht geahnt, daß es ein Schatz ist, bis ein anderer gekommen ist, der sich besser darauf verstand. Mir – mir ist vielleicht recht geschehen.«
»Recht?« schrie er dann wild auf. »Nein, nein! Ist sie nicht mein Weib? Hat sie mir nicht Treue gelobt? Mein – mein ist sie, mein Eigentum, und wer sie mir stiehlt, ist ein feiger Dieb!«
Ein feiger Dieb – er! Er ist sonst ein so braver Mann, wacker und tüchtig. Ihm kann ich kaum etwas Schlechtes zumuten. Also ihr, nur ihr. Sie ist die Frevlerin. Aber war sie denn wirklich mein, mein Eigentum?! Ist denn ein Weib eine Sache, die man besitzt wie einen Schmuck oder ein Haus? Hat sie nicht einen freien Willen? Und haben wir sie denn damals nach ihrem Willen gefragt?
»Damals ist ein Verbrechen begangen worden«, schrie er plötzlich auf. »Was jetzt geschieht, ist nur die gerechte Vergeltung für jenes Verbrechen. Ich habe damals keine Schuld gehabt. Sie auch nicht. Und dann haben wir rein und fleckenlos weiter gelebt durch lange Jahre. Nun ist dennoch die Schande über uns gekommen, die Vergeltung für den Frevel. Wer nimmt die Sühne auf sich?«
Er trat an den Tisch. »Kann ich mich von ihr scheiden lassen? Mein Herz wird mir sehr wehe tun, aber ich frage nicht nach meinem Herzen. Ich frage nicht nach mir, aber darf ich das Gott antun und dem Gesetz? Darf ich ein jüdisch Kind, darf ich mein Weib entlassen aus meinem Hause, daß sie hingehe und die Buhlerin des Christen werde oder selbst eine Christin? Darf ich es zulassen, daß so Schande komme auf unseren Namen, auf den Namen unseres Gottes?« Er richtete sich hoch auf und streckte die Hände wie schwörend gegen den Himmel: »Und wenn mir und ihr das Herz bricht – auf Deinen Namen soll keine Schande kommen, auf Deinen Namen nicht, mein Herr und Gott.«
Da ließ er plötzlich die Hand jäh niedersinken und hielt inne. »Ist nicht schon Schande auf Deinen Namen gekommen?« zischte er leise. »Hat sie nicht die Hände über diese Lichter meines Hauses gestreckt und zu Dir gefleht mit dem Bild des Christen im Herzen? Ist das nicht auch ein entsetzlicher Frevel, und kann es Dein Wille sein, daß solcher Frevel noch länger währe, unser ganzes Leben lang? Kannst Du das wollen, mein Herr und Gott?!«
Dann faßte er sein Haupt in die Hände und ächzte tief auf. »Ich finde keinen Ausweg«, stöhnte er. »Hilf Du mir, mein Gott. Du hast uns Deinen Willen kundgetan durch Deine Priester und Weisen. Ich will das Gesetz befragen.«
Er schritt auf den Bücherschrank zu, öffnete ihn und zog einen der mächtigen Folianten heraus. Hinter diesem her kollerte ein kleines, dünnes Büchlein zur Erde. Er achtete nicht darauf, er trug den Folianten zum Tisch, schlug ihn auf und begann darin zu lesen.
Er las sehr lange an den verschiedenen Stellen. Dann schüttelte er das Haupt und schlug das Buch heftig zu und stand auf. Er legte die geballte Faust auf den Deckel. »Das Gesetz reicht nicht aus«, sagte er finster, »das Gesetz weiß nichts von meinem Fall. ›Sie soll gesteinigt werden‹, sagt das ältere Gesetz, und das Gesetz der Talmodim sagt: ›Tötet sie, wenn Ihr es könnt, nach den Gesetzen des Landes, in dem Ihr lebt. Könnt Ihr es nicht, so soll sie verstoßen sein aus dem Hause ihres Gatten und heimkehren in das Haus ihres Vaters, und dieser soll sie strafen und züchtigen, wie ihm beliebt. Sie soll ehrlos sein und rechtlos, ausgeschlossen von allem Erbe und allen Wohltaten der Verwandtschaft. Ihr Name soll nicht genannt werden.‹ Das Gesetz paßt nicht«, wiederholte er, »sie hat nicht gemein gefrevelt, sie hat mir mein Recht gewahrt, soweit es in ihrer Kraft stand. Ihr Körper war mein, sie hat ihn mir rein erhalten. Ihr Herz, ich habe ihr Herz nie begehrt. Das Gesetz paßt nicht. Wer aber weiset mir ein höheres Gesetz?!«
Er seufzte tief auf und schob den Folianten wieder an seine Stelle. Als er die Tür seines Bücherschrankes schließen wollte, konnte er es nicht, ein Büchlein hatte sich dazwischengeklemmt. Er bückte sich und hob es auf. Es berührte ihn seltsam, als er jenes deutsche Büchlein wiedererkannte, in dem er als Jüngling sooft und soviel heimlich gelesen. Jenes Büchlein, das er nie ganz verstanden, nach dem er doch immer wieder gerne gegriffen, weil sich ihm im Lesen so seltsam das Herz bewegte. Das Büchlein mit den Gedichten des Friedrich Schiller, das er nun seit langen, langen Jahren nicht mehr angesehen und das ihm gerade jetzt wieder in die Hand fiel in dieser drangvollen, dunklen Stunde.
Er setzte sich an den Tisch, schlug es auf und begann zu lesen. Seine Jugend ging ihm dabei wieder auf, und er erinnerte sich, wie er diese Stelle bei den großen Eichen gelesen und jene heimlich im Keller, während er die Arbeiter des Vaters beaufsichtigte. Dann aber ward ihm der Inhalt des Büchleins selbst wieder lebendig und – seltsam, er hatte seitdem nichts Neues gelernt, höchstens die Weinarten, und dennoch verstand er jetzt weit mehr von diesen Gedichten als damals. Und was er verstand, das ergriff ihn tief, weil es so ganz anders war als das, was er sonst hörte und las und dachte, so ganz anders. Ob besser, ob schlimmer, er grübelte nicht darüber, aber da sich sein Herz wieder leise bewegte und der Krampf sich löste, in dem es gelegen, so mochte es gewiß nichts Schlimmes sein . . .
Er erhob sich und ging auf und ab in der sabbatlichen Stube und sprach flüsternd die Worte des Buches vor sich hin. Es war sehr still um ihn, nur die vielen Kerzen knisterten leise, und zuweilen schlug ein vereinzelter Regentropfen an die Fenster . . .
Die lange, lange Herbstnacht ging zu Ende. Der Regen hatte aufgehört, die letzten Wolken trieben noch, vom Wind zerrissen, am mattgrauen Himmel dahin. Das Morgenrot glomm im Osten auf und warf seinen verklärenden Schimmer über die traurige herbstliche Ebene.
Auch in die Wohnstube des Nathan Silberstein drang das Morgenrot, es fand ihn noch wachend. Aber er ging nicht mehr umher, er flüsterte nicht mehr, stumm und still stand er am Fenster, das Antlitz gegen Osten gewendet, und das Morgenrot spielte um dies blasse, überwachte Antlitz, das nun wieder ruhig, mild und klar war, es war die Milde und Klarheit eines festen, guten Entschlusses. Da er sein Haupt immer gegen Osten gewandt hielt und die Augen wie verklärt blickten, so mußte er wohl beten, aber nicht mit den Lippen. Er mochte lange so gestanden sein, stundenlang. Er hatte wohl viel auf dem Herzen, was er vor Gott aussprach in jener stillen Morgenstunde.
Da erwachten die übrigen Bewohner des Hauses. Unter den Dienern und Mägden erhob sich ein Flüstern. Sie wußten, daß etwas vorgegangen war in dieser Nacht, wenn sie auch unklar waren, was es gewesen. Dann kam Chane aus der Schlafstube, bleich, mit überwachten, vom Weinen geröteten Augen. Sie ging gesenkten Hauptes an Nathan vorüber.
Er sprach sie an. »Chane«, sagte er mild und ruhig, »ich habe meinen Entschluß gefaßt. Ich hoffe, er wird zum Guten sein für dich und – und für ihn! Und was mich anbelangt, unser Gott ist ein barmherziger Gott, er wird mich nicht verlassen.« Das letzte sagte er sehr leise, sie konnte es kaum verstehen. Eine Purpurröte schoß ihr ins Antlitz, aber sie erwiderte nichts. Dann ging sie hinaus, und nach einer Weile brachte sie ihm das Frühmahl.
Und dann wandelten sie beide miteinander in die Betschul, und wer sie so gehen sah, konnte nicht ahnen, was in ihnen vorging. Es haben vielleicht noch nie zwei Menschen so innig zu Gott gebetet wie an jenem Sabbatvormittag Nathan und sein Weib. Ihre Seelen lagen im Staub und flehten um Stärkung und Erhebung.
»Gottlob, es ist nichts«, sagte die alte Jütta zu den anderen Mägden, als die Eheleute so friedlich aus der Schul heimkamen und das Mittagessen gemeinschaftlich einnahmen. Aber nach dem Essen sagte Nathan zu Chane: »Was vollbracht werden muß, wird am besten schnell vollbracht. Sei guten Mutes, ich werde zu ihm gehen und mit ihm sprechen. In einer Stunde hast du klaren Bescheid.«
Dann ging er in das erste Stockwerk, in die Wohnung des Bezirksrichters. Herr von Negrusz saß gerade an seinem Schreibtisch und wurde sehr blaß, als er den Gatten des geliebten Weibes eintreten sah. Er fürchtete wohl eine peinliche Szene, aber Nathan blieb ruhig, und nach höflichem Gruße sagte er: »Herr Bezirksrichter, Sie wissen, warum ich zu Ihnen komme, denn Sie sind blaß geworden. Sie haben meinem Weib diesen Brief hier geschrieben. Darauf möchte ich Ihnen die Antwort geben. Vorher aber nur noch eine Frage: Warum haben Sie es getan? Steht das Gebot: ›Begehre nicht deines Nächsten Hausfrau‹ nicht auch für Sie geschrieben?«
Der Bezirksrichter sah ihm ruhig ins Auge, »Ja«, erwiderte er, »es ist eine Sünde, aber ich liebe Ihre Frau. Das ist alles. Mehr weiß ich nicht zur Entschuldigung.«
Nathan nickte. »Es freut mich, daß Sie mir so offen antworten. Die Antwort ist auch ganz genügend, und ich weiß nichts dagegen einzuwenden. Und nun will ich Ihnen auch den Bescheid auf Ihren Brief geben. Mein Weib liebt auch Sie. Darum kann sie nicht mehr mein Weib bleiben, und ich werde die Scheidung veranlassen. Sie wird frei werden. Was aber dann, Herr Bezirksrichter?«
»Dann heirate ich sie«, jubelte dieser auf.
Nathan sah ihm ruhig und scharf ins Auge. »Gut«, sagte er, »ich zweifle nicht, daß Sie das wollen, denn Sie sind ein braver Mann, aber Sie sind Beamter, Christ, von Adel. Sie ist ein Judenweib. Sie sind gebildet, Chane nicht. Auch haben Sie Rücksichten zu nehmen. Vielleicht lassen Sie sich durch die Rücksichten bestimmen und stürzen das Weib nur in Schmach und Unglück. Dem muß ich vorbeugen, denn Chane war mein Weib, und in dem Augenblick, wo die Sache mit Ihnen offenkundig wird, wird sich ihr Vater und die ganze Gemeinde von ihr wenden, und sie wird ganz verlassen sein. Und dann muß ich mich der Chane annehmen, weil ich – doch das geht Sie nichts an. Darum sage ich Ihnen eines, kurz, klar: Heiraten Sie die Chane nicht, so töte ich Sie, so wahr mir Gott helfe! Sie sind der Herr Bezirksrichter, ich bin nur ein Jude. Sie haben hundertfache Mittel, mich ohnmächtig zu machen, aber mein Wort werd' ich dennoch halten!«
Der Bezirksrichter war bleich geworden und erhob wie beteuernd die Hand. Aber Nathan fiel ihm scharf ins Wort: »Schwören Sie nicht! Halten Sie Ihr Wort, damit ich das meine nicht zu halten brauche. In den nächsten Tagen ist die Scheidung. Wünschen Sie, daß Chane länger in meinem Hause bleibt, so habe ich für einige Wochen nichts dagegen. Aber noch einmal, ist die Chane nicht in zwei Monaten Ihr Weib, so sind Sie ein toter Mann. Leben Sie wohl!«
Dann ging er heim und sagte zu seinem Weib: »Wir werden morgen vor den Rabbi gehen und erklären, wir hätten eine unbesiegbare Abneigung gegeneinander. Das ist der einzige Grund, auf den hin er uns gleich scheiden muß. Der Christ hat versprochen, daß er dich heiratet. Hätte er es früher nicht ernst gemeint, jetzt wird er es tun.«
»Nathan!« rief sie und glitt zu seinen Füßen nieder und bedeckte seine Hand mit Küssen und Tränen. »Nathan, was bist du für ein guter Mensch!«
»Nein«, sagte er, »es ist keine besondere Güte dabei, es ist nur Pflicht. Ich sühne eine Schuld, die freilich nicht die meine ist. Sie haben uns zusammengegeben und nicht gefragt, ob wir einander mögen. Das war eine Sünde, und sie hat sich gerächt. Denn ich liebe dich, wenn ich es auch erst seit gestern erkannt habe, du aber liebst mich nicht, sondern einen andern. Soll ich dich von diesem deinem Glück fernhalten? Es hat ja jeder Mensch ein Recht darauf, glücklich zu sein. Da sühne ich jetzt lieber den alten, den ersten Frevel. So steht die Sache – du siehst, es ist gar keine Güte von mir. Aber eins bedrückt meine Seele: Du fällst von unserem Glauben ab, und ich helfe dazu. Aber ich habe Gott so sehr um Verzeihung dafür angefleht, daß ich hoffe, er wird mir vergeben. Er sieht mein Herz, er weiß ja: ich kann nicht anders.«
Es bleibt wenig mehr zu berichten übrig.
Nach einigen Tagen hatte Nathan die Scheidung durchgesetzt, und wenige Wochen darauf ward Chane die Gattin des Bezirksrichters. Seit Jahr und Tag hatte kein Ereignis so ungeheures Aufsehen im Land gemacht wie dieses. Unzählige Verwünschungen, Neid und Mißgunst folgten dem Paar, und selbst die Wohlwollenden schüttelten das Haupt über den seltsamen Bund.
Ihr wißt, daß sich die Flüche als machtlos erwiesen haben und die Befürchtungen als unbegründet. Ihr wißt, daß Chane, daß Frau Christine von Negrusz als glückliche Gattin und Mutter in demselben Hause wohnt, vor dessen Schwelle Esther Freudenthal sterben mußte, weil sie einen Christen geliebt. Diesmal hat sich die Liebe stärker erwiesen als der Glaube. Sie hat sich nahezu wundertätig erwiesen, denn sie hat nicht nur alle Hindernisse weggeräumt, sondern trotz aller widrigen Verhältnisse, trotz der Verschiedenheit der Ehegatten, den Bund der neuen Ehe schön, friedlich und stark gemacht. Es war eben die echte Liebe, und diese ist ja auch wundertätig und allmächtig wie Gott, der auserwählte Herzen durch sie begnadet.
Nur ein Schatten trübt Christines Glück. Es ist dies nicht der Umstand, daß Frau Emilie sie kaum des Grußes würdigt, daß die drei Töchter des Steueramtsvorstehers, die im Laufe der Zeit ganz alt und ganz grün geworden sind, ihr bei zufälligen Begegnungen den Rücken kehren, es ist auch nicht das freche, vertrauliche Lächeln, mit dem ihr Herr von Bolwinski bei jeder Begegnung zuflüstert: »Ich hab's doch zuerst bemerkt, hohoho!«, es ist ein wirklicher Schatten in ihrem lichten Leben. Das ist der Groll ihres Vaters, der wohl erst enden wird, wenn der alte, einsame, verbitterte Mann die Augen zum ewigen Schlummer schließt.
Nathan hat sich bemüht, ihr auch diesen Kummer vom Herzen zu nehmen, aber es ist ihm nicht gelungen. Er gibt freilich die Hoffnung nicht auf und besucht den alten Mann jedesmal, sooft er nach Barnow zurückkehrt. Es geschieht nur wenige Male im Jahr und immer auf kurze Zeit. Das Geschäft im Städtchen führt ein Vetter für ihn, er selbst ist fast immer auf Reisen, die ihn sehr weit führen – bis nach Italien und in das südliche Frankreich. Er ist kein kleiner Kaufmann mehr, sondern der erste Weingroßhändler des Landes.
Er ist unvermählt geblieben. Einmal hieß es, er habe sich mit einem schönen, reichen Mädchen aus Czernowitz verlobt, aber es ist nichts daraus geworden. Warum? Das weiß nur eine Seele auf der Welt, Frau Christine.
Es war das einzige Mal, wo sie miteinander gesprochen, seit sie aus seinem Haus gegangen. Denn mit dem Bezirksrichter spricht Nathan häufig und unbefangen, und die beiden Bübchen sind in den Tagen, wo er zu Hause ist, fast mehr im Laden als oben bei der Mutter, aber mit Christinen hat er jedes Wiedersehen vermieden. Nur einmal, zufällig, als eben jenes Gerücht unter den Leuten war, fügte sich eine Begegnung. Die beiden Knaben saßen bei Nathan auf der Holzbank im Hausflur und freuten sich der schönen Geschenke, die er ihnen mitgebracht hatte. So blieben sie lange aus, und die Mutter kam selbst herab, sie zu holen. Sie liefen ihr jubelnd entgegen, zeigten ihr die Sachen und führten sie zu dem Kaufmann.
So standen sich die beiden Menschen nach langer Zeit wieder gegenüber. »Ich danke Ihnen, Herr Silberstein«, begann sie zögernd, aber dann verbesserte sie sich sogleich und wiederholte: »Ich danke dir, Nathan – wie gut du zu den Kindern bist!«
»Es sind so liebe Knaben«, erwiderte er gepreßt. »Es freut mich sehr, sehr, daß es dir so gut geht, Chane.«
»Ja«, erwiderte sie, »ich bin sehr glücklich. Und du?«
»Ich danke«, sagte er, »die Geschäfte gehen gut.«
»Und dann«, meinte sie, »habe ich neulich noch etwas gehört, was mich sehr gefreut hat – von Czernowitz.«
»Oh, damit ist es nichts«, wehrte er ab.
»Warum?« fragte sie, »es soll ein schönes, braves Mädchen sein.«
Er sah sie an, dann schlug er den Blick zu Boden, und eine hohe Röte überflammte sein männliches Antlitz. »Ich habe es doch nicht übers Herz bringen können«, sagte er leise.
Auch seitdem sind wieder Jahre verflossen, und Nathan ist nun der reichste Mann der Gegend. Alle Welt wundert sich, warum er so ruhelos arbeitet, er, der doch für niemand zu sorgen hat. Aber Nathan pflegt auf solche Fragen zu erwidern, er wisse schon, für wen er arbeite.