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Das erste Wiedersehen

Drei Tage waren schon vergangen, und ich wartete noch immer auf das Wiedersehen mit meinen Angehörigen.

»Sie werden sie am vorgeschriebenen Besuchstag für Angehörige sehen,« sagte mir der Inspektor. Das war herzlos; doch war es weise. Die Erwartung, wie fieberhaft sie auch ist, kann nicht ewig andauern. Die Anspannung ließ nach, und am vierten Tage war ich fast ruhig geworden und hörte auf zu warten. Ich vertiefte mich ins Lesen. Ich las Carlyle: »Helden und Heldenverehrung«.

Endlich, am vierten Tage, betrat gegen 1 Uhr der Inspektor meine Zelle.

»Halten Sie sich bereit, Ihr Bruder und Ihre Schwestern sind da; Sie werden gleich zum Wiedersehen geführt.« Und als er mein erblaßtes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ich habe ihnen gesagt, daß sie sich so verhalten sollen, als ob nichts gewesen wäre!«

Als ob nichts gewesen wäre!

Es war herzlos, doch war es weise.

Das bedeutete ein ganzes Programm. Ein Programm – nicht nur für die Geschwister, sondern auch für mich.

Das Programm lautete: verstellt euch. Spielt gemeinsam die Komödie: »Als ob nichts geschehen wäre«. Stürzt nicht zu Boden, schlagt nicht den Kopf an den Boden, schluchzt nicht in seelischen und körperlichen Krämpfen. Legt eine Maske an! Erstickt jede Flamme der Seele!

... Man führte mich durch lange, öde Korridore, Treppen und unbekannte Gänge. Und wieder wurden meine Schritte unsicher, und die Hände suchten einen Halt, indem sie sich an die Wände klammerten. Die Tür öffnete sich.

Da saßen der Bruder und die Schwestern. Da saß ein breitschultriger Herr in mittleren Jahren, ein schöner Ingenieur, der seinen Weg im Leben machte, – mein Bruder, der in meiner Erinnerung als rotbackiger, bartloser Jüngling lebte.

Da saßen stattliche Damen, Familienmütter, die Jahrzehnte voll lebendiger Erlebnisse hinter sich hatten, – meine Schwestern, die ich als zarte junge Mädchen gekannt.

Und hier stand ich, wie im Dickensschen Roman die irre Alte gestanden in Brautkleidern, die ihre Uhr vor vielen Jahren auf der Zahl XII stehen ließ, als am vereinbarten Trauungstage der Bräutigam sie treulos im Stich gelassen und zur Trauung nicht erschienen war.

Mein Leben war vor 20 Jahren stehengeblieben, und auch ich lebte der sinnlosen Illusion, die Lebensuhr stehe noch immer auf zwölf.

Mein Bruder setzte mich vor sich hin. Er nahm meine Hände in die seinen. So hielt er sie die ganze Zeit.

Regungslos schaute ich fast nur ihn an: er hatte sich am wenigsten verändert, und ich suchte, wollte den früheren, frischen, bartlosen Peter wiederfinden. Ich mußte unter allen Umständen etwas Bekanntes, Nahes, Verwandtes finden. Allmählich begann ich die zarten Umrisse aus der fernen Vergangenheit wiederzufinden. Ich fing an, das wiederzuerkennen, das zu finden, was ich suchte. Es schien, als fände ich in der trüben Ferne in Chaos und Unklarheit, 20 Jahre zurückgreifend, einen feinen Faden, an dem ich meine Erinnerungen anknüpfen und die Vergangenheit mit der Gegenwart, dieser für mich so unglücklichen Stunde, verbinden könnte.

... Worüber wir sprachen? Ich erinnere mich nicht. Leere Worte ohne Inhalt fielen nacheinander von unseren Lippen und erklangen gleich falschen Münzen, die man auf einen Marmortisch wirft. Die Lichter erloschen, man spielte das Stück: »Als ob nichts gewesen wäre!«

»Das Wiedersehen ist zu Ende!« ertönte die Stimme des Inspektors ... In dieser Nacht fühlte ich mich an der Schwelle des Wahnsinns: unzusammenhängende Worte, chaotische Sätze, durch nichts miteinander verbunden, rasten durch mein Gehirn. Sie überstürzten sich, flogen wie aus einem Sack geschüttete weiße Papierschnitzel auf, und Funken tanzten, wie nach einem Faustschlag, vor meinen Augen. Und gleichzeitig fragte das Bewußtsein wie ein objektiver Beobachter voll Angst und Entsetzen:

Was ist das? Wird das etwa so bleiben, und werde ich wahnsinnig?

 

Das Werk wurde im Einverständnis mit der Verfasserin etwas gekürzt.


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