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Späte Freuden verlieren ihren Wert. Als man uns nach dreizehn Jahren den Briefwechsel mit den Verwandten gestattete, da hatte ich keine Freude mehr daran. Im Laufe der dreizehn Jahre war die Erinnerung an die Angehörigen in die Ferne gerückt, die Wege unseres Lebens hatten sich getrennt. Es war, als ob sie gestorben wären ... eine lange, hoffnungslose Trennung gleicht ja auch dem Tode.
Wenn man uns die Korrespondenz in den ersten Jahren nicht verboten hätte, so wäre dies ein großes Glück für uns gewesen: die Verwandten wären unser Bindeglied mit der lebendigen Außenwelt geblieben. Aber das sollte eben nicht sein! Wir sollten vollkommen von der Welt abgeschnitten werden, losgelöst sein von allem Normalen und Üblichen. Der Briefwechsel sollte nun die Verbindung mit den Verwandten beleben, uns wieder ihnen nähern, aber – wir durften nur zweimal im Jahre Briefe beantworten und empfangen. Zweimal im Jahre! Schon allein dieser Gedanke machte jede Annäherung unmöglich, erzeugte Leere und Kälte. Außerdem durften wir die Briefe nicht behalten, sondern mußten sie zurückgeben. Und jeder weiß ja, wie angenehm es manchmal ist, in entsprechender Stimmung alte Briefe noch einmal zu lesen.
Unter diesen Bedingungen riefen die Briefe nicht Freude, sondern Unruhe hervor. Wir hatten Angst vor Erinnerungen, die sich von außen an uns herandrängten und unser so schwer errungenes seelisches Gleichgewicht zu stören drohten ... Worüber schrieben uns die Verwandten? Ihre Briefe entbehrten jeglicher Mitteilungen aus dem sozialen Leben – dafür sorgte das Polizeidepartement. Die einzige Ausnahme bildete der erste sechzehn Seiten lange Brief, den ich von meiner jüngsten Schwester Olga bekam.
Ohne irgendwelche Einleitung, als hätten wir uns soeben erst unter den normalsten Verhältnissen getrennt, oder als hätten wir die ganzen dreizehn Jahre regelmäßig miteinander korrespondiert, beschrieb sie die allrussische Gewerbeausstellung des Jahres 1896 von Nischni-Nowgorod. Sie schrieb über Wittes Finanzpolitik und den Aufschwung der russischen Industrie; sie berichtete über das Entstehen der sozialdemokratischen Bewegung, den Kampf zwischen den Narodniki und den Marxisten, die damals ihre erste Sturm- und Drangperiode erlebten; von den heißen Kämpfen, die unter der Jugend, in der Literatur, in den Familienkreisen um die Fragen des ökonomischen Materialismus und ähnliche entbrannt waren. Man fühlte aus dem Brief den Odem des Lebens. Er machte die Runde durch das ganze Gefängnis, und alle lasen ihn mit glühendem Interesse. Aber dieser Brief blieb der einzige dieser Art. Die Schwester hatte es verstanden, mit solcher Geschicklichkeit das Soziale mit Bildern aus dem Familienleben, Berichte über die Familienmitglieder mit den Fragen des Marxismus zu verflechten, daß das Polizeidepartement den Brief passieren ließ. Sonst schrieben die Verwandten über Dürre, Stürme, Hagelschauer, von der Getreide- und Obsternte, teilten Neuigkeiten der Familienchronik, Ehen, Geburten, Todesfälle mit. Was auch immer diese Briefe enthielten, sie machten alle die Runde unter uns: wir lasen sie, wie wir in den ersten Jahren alles gelesen hatten, was uns in die Hände fiel; gierig suchten wir darin nach Zusammenhang mit dem Leben. War der Briefwechsel außerstande, unsere brennende Neugierde, was draußen in der freien Welt vor sich gehe, zu befriedigen, so brachten die Nachrichten von zu Hause um so öfter schweres Leid; die eingetroffenen Nachrichten waren manchmal direkt erschütternd. So bekam einer von uns die Nachricht, seine alte, alleinstehende Mutter sei ohne Fürsorge geblieben; sie war scheinbar geisteskrank geworden, verließ nachts das Haus und irrte planlos durch die Stadt; einmal ertappte man sie, als sie im Begriff war, das Haus anzuzünden. Vielleicht waren die Menschen, bei denen sie wohnte, des ewigen Auf-der-Hut-seins müde geworden; genug, die alte Frau mußte in eine andere Stadt übersiedeln. Fremd, ohne Verwandte, ohne Freunde, ohne irgendwelche Mittel war sie gezwungen, das Armenhaus zu beziehen. Vergeblich bat der Genosse um die Genehmigung, seinen Gefängnisverdienst der Mutter schicken zu dürfen. Das Departement verweigerte die Genehmigung; es schickte jedoch von sich aus der Frau 50 Rubel. Das Geld kam zurück, und der Sohn wurde benachrichtigt, daß das Geld die Mutter nicht mehr unter den Lebenden angetroffen habe. – Manche Tragödien ereigneten sich im Laufe der Jahre. Gleich Hammerschlägen sausten alle diese Nachrichten auf den Kopf des Gefangenen nieder. Herzzerreißend waren die Briefe der Mutter Antonows. Sie verstand selbst nicht zu schreiben und mußte ihre Briefe diktieren. Sie klagte über die Einsamkeit, die Trennung vom Sohn, sprach von der Hilflosigkeit ihres Alters, um nach jedem Satz unveränderlich hinzuzufügen: »Nun, dein Wille, Herr, geschehe!« Was aber sollten wir schreiben? Es war uns verboten, über die Kameraden, das Gefängnis, über unsere Zellen, die Gefängnisordnung zu sprechen; mißtrauisch bis zur Lächerlichkeit verhielt sich das Departement zu unseren Briefen.
Wenn das Polizeidepartement gehofft hatte, in unseren Briefen einen Spiegel unserer Stimmung oder vielleicht gar einen Umschwung in unseren Anschauungen zu finden, so hat es sich arg getäuscht. Niemand von uns sprach sich über das aus, was er innerlich durchmachte. Aber wenn das äußere Leben arm und das intensive innere verschlossen ist, worüber soll man dann schreiben? Unter solchen Umständen konnten unsere Briefe natürlich nicht besonders interessant sein. Man quälte sich oft lange, ehe man einen Bogen ausgefüllt hatte. Man konnte ihn doch nicht gut halb beschrieben abschicken. Zum Glück wurde das Departement des Lesens so langer Briefe überdrüssig, und wir bekamen nach Verlauf einiger Zeit nur kleinere Briefbogen zweimal im Jahr.
In den dreizehn Jahren hatten die Familienbande nachgelassen. Als ich z. B. erfuhr, daß mein geliebter Onkel gestorben war, empfand ich nur Bedauern. Es ist schwer zu sagen, wie kalt, wie rein verstandesmäßig dies Bedauern war! Als aber ein kleines Vögelchen, das mit mir meine Zelle teilte, stürzte und unter Zuckungen starb, durchlebte ich ein wirklich großes Leid. Das Vöglein war zahm, setzte sich mir auf die Schulter und pickte Brosamen aus meiner Hand. Ich konnte sein kleines, weiches Körperchen mit der Hand bedecken; es zwitscherte auf meinem Tisch und plätscherte fröhlich beim Bade im Waschbecken. Nach seinem Tode weinte ich ganze zwei Wochen und konnte ohne Tränen den Nagel nicht sehen, auf dem es gewöhnlich geschlafen hatte. Um diesen Tränenstrom zu hemmen, mußte ich den Inspektor bitten, mich für einige Zeit in eine andere Zelle zu überführen.
Einst, während des Spazierganges, las mir Morosow einen langen Brief an Mutter und Schwestern vor. Gemeinsam wollten wir ihn lesen, um zu sehen, ob nicht irgend etwas darin einen Grund zum Zurückschicken gäbe.
Als er zu lesen aufgehört hatte, sagte ich: »Nun, was willst du? Das gäbe ausgezeichnetes Material für deinen Nekrolog.« Wir lachten, lachten unter Tränen!
Ja, die Briefe waren uns eher eine Last als eine Freude. Das Departement wußte nicht, was es tat. Die Beamten glaubten, uns eine Erleichterung zu gewähren; in Wirklichkeit war es eine Verhöhnung. Wenn ich vorher gefragt worden wäre, ob ich den Briefwechsel wünsche, ich hätte »nein« geantwortet. Nur hätte ich gebeten, es meiner Mutter nicht zu sagen.