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In meiner Jugend – es war noch die Zeit der Leibeigenschaft – herrschten rauhe Sitten, und ich kann nicht sagen, daß ich eine lichte Kindheit gehabt hätte. Mein Vater war ein strenger, despotischer, aufbrausender Mann, und meine Mutter vermochte mit ihrem weichen Charakter nicht gegen ihn aufzukommen. Zärtliche Liebe fanden wir Kinder nur bei unserer alten Kinderfrau, die bereits von meinem Großvater aus der Leibeigenschaft entlassen worden war.
Der Beruf meines Vaters brachte es mit sich, daß ich die sechs ersten Jahre meines Lebens in völliger Einsamkeit, im Walde, zubrachte: rings um unser Haus gab es weithin keine menschliche Behausung, keine Siedelung. Im Jahre 1858 zogen wir zu unserem Großvater aufs Gut; auch dort hatten wir keine Gutsnachbarn, die Dorfkinder aber standen mit denen der Gutsherrschaft in keiner Verbindung.
Ich war elf Jahre alt, als man mich in das staatliche Mädchenpensionat, ins »Institut« nach Kasan brachte; sechs Jahre blieb ich dort und kam im Laufe dieser Zeit nur viermal, während der Sommerferien, für sechs Wochen zu den Eltern aufs Gut. Das war eben die Regel. So konnte ich bis zu meinem siebzehnten Jahre alle Vorstellungen über das reale Leben und über die Menschen nur aus Erzählungen und Romanen schöpfen, die mir meine Mutter während der Ferien zu lesen gab. In der Schule war ich immer die Erste: ich hatte gute Fähigkeiten und liebte von Kind an zu lesen und zu lernen. Aber an wirklichem Wissen bot das Institut nur sehr wenig; man hielt uns nicht zum Lesen an und gab uns auch keine Bücher. Niemand kümmerte sich um unsere geistige Entwicklung. Als ich dreizehn Jahre alt war, und man uns in der Schule das Neue Testament zum Lernen gab, schöpfte ich alle höheren sittlichen Vorstellungen aus den Evangelien. Ich legte mir diese Vorstellungen aber selber zurecht und nicht dank dem Priester, der uns unterrichtete. Ich bin nie religiös gewesen. Insofern war das Leben im Institut gut, als es – wir waren 150 Mädchen verschiedenen Alters – in mir das Gefühl für Kameradschaft entwickelte, wie das ja immer beim Zusammenleben unter gleichen Verhältnissen zu sein pflegt.
Nach Abschluß der Schuljahre kehrte ich zu meinen Eltern aufs Gut zurück in die weltverlorene Einsamkeit; der einzige Gast, der uns häufiger besuchte, war mein Onkel mütterlicherseits – der Friedensrichter Kuprijanow. Zeitschriftenlektüre und Unterhaltungen mit meinem Onkel erweckten in mir den Wunsch, nach einer nützlichen Tätigkeit zu suchen; ich entschloß mich, in die Schweiz zu reisen, mich an der Universität Zürich immatrikulieren zu lassen, um dann später als Ärztin auf dem Lande zu arbeiten; damals hatten bereits zwei Russinnen die medizinische Fakultät absolviert. In der Schweiz (1872) schloß ich mich einem Kreis junger Studentinnen an, damals studierten über hundert russische Frauen in Zürich. Eine ganze Welt neuer Ideen öffnete sich mir: ich lernte Lassalles Lehre und Wirken kennen, auch die Theorien der französischen Sozialisten, die Arbeiterbewegung, die Internationale und die Geschichte der Revolutionen der westeuropäischen Länder. Dieses alles, wovon ich bislang nichts gewußt hatte, erweiterte meinen geistigen Horizont, nahm mich ganz gefangen, und so wurde ich Sozialistin und Revolutionärin. Wir hatten uns zu einem revolutionären Kreis vereinigt und beschlossen, nach Rußland zurückzukehren und uns mit der Propaganda der neuen Ideen unter den Arbeitern und Bauern zu befassen. Zehn oder elf Mitglieder unseres Kreises kehrten bald darauf in die Heimat zurück, wo sie sich als einfache Arbeiterinnen in Fabriken anstellen ließen und dort eine weitgehende revolutionäre Tätigkeit entfalteten. Sie wurden aber bald verhaftet, vor Gericht gestellt und nach Sibirien verbannt. Unter ihnen befand sich meine Schwester Lydia. Im Dezember 1875 verließ auch ich die Universität, schloß mich in Petersburg mit anderen Revolutionären zusammen und wurde im Herbst Mitglied einer großen geheimen Gesellschaft »Land und Freiheit«. Ziel dieser Gesellschaft war, das ganze Land dem Volk zu geben, das Mittel, um zu diesem Ziele zu gelangen – die Revolution, zu der wir, in Dörfern verstreut lebend, die Bauern vorbereiten und organisieren wollten. Der Boden dafür schien da zu sein. Nach den schweren Mißerfolgen des Krimkrieges, die die ganze Rückständigkeit Rußlands an den Tag brachten, bestieg, nach dem Tode seines Vaters Nikolaus I., Alexander II. im Jahre 1855 den Thron; er schickte sich an, eine Reihe von Reformen durchzuführen, die unser Land erneuern und es zu neuem Leben erwecken sollten. Die wichtigste dieser Reformen war die Bauernbefreiung im Jahre 1861. Die Bauern erhielten Freiheit der Person und einen Teil des Landes der Gutsbesitzer, deren Leibeigene sie gewesen waren. Diese Reform befriedigte die Bauern jedoch nicht; sie hatten erwartet, gleichzeitig mit der persönlichen Freiheit auch das ganze im Besitz der Gutsbesitzer befindliche Land zu bekommen; doch da der Bauer nur einen winzigen Bruchteil erhalten hatte, wollte er nicht glauben, daß ihm die wirkliche Freiheit gegeben sei, und er meinte, es müßte ihm eine andere Freiheit gegeben werden, die das ganze Land dem Volke zuteilen würde. Von jeher waren die Volksmassen davon überzeugt gewesen, daß das Land niemand gehöre, daß es »Gottes Land« sei, und daß der natürliche Besitzer dieses Landes nur der sein könne, der es auch bearbeite. Diese Auffassung geht wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte des russischen Volkes, und seit der Bauernbefreiung gehörte die Losung »Das Land – dem Volke« in jedes revolutionäre Programm.
Auf diesen Hoffnungen basierte auch die revolutionäre Bewegung meiner Zeit. Sie hallten in der Revolution des Jahres 1905 wider und wurden erst in der Revolution 1917/18 Wirklichkeit.
Zunächst ließ ich mich im Gouvernement Samara nieder, dann – zusammen mit meiner Schwester Eugenie – im Gouvernement Saratow, wo ich einem Landkrankenhaus des Semstwo vorstand. Hier sah ich überall furchtbare Armut, völlige Unbildung und ängstliche Niedergeschlagenheit. Die Bauern waren unfähig, ihre legalsten Rechte zu vertreten und sich zur gemeinschaftlichen Verteidigung ihrer Interessen aufzuschwingen. Das kulturelle Niveau der Bevölkerung war so niedrig, daß an eine revolutionäre Propaganda gar nicht zu denken war. Wir waren hier lediglich darauf bedacht, durch unsere Arbeit das Bildungsniveau zu heben. Meine Schwester Eugenie gründete eine unentgeltliche Schule, da es ringsum für die 30 000 Kopf zählende Bevölkerung keine einzige Schule gab; ich meinerseits leistete ärztliche Hilfe und habe im Verlauf von zehn Monaten fünftausend Kranke behandelt; in unserer freien Zeit kamen wir nicht etwa mit Gutsbesitzern, nicht mit dem Priester und den kleinen ländlichen Machthabern, sondern mit den Bauern zusammen, deren geistiges Niveau wir durch Gespräche und Lektüre »legaler« Bücher zu heben suchten. Aber im despotischen Staat erregte jede uneigennützige Arbeit am Volke, jede Annäherung intelligenter Menschen an das Volk Verdacht und erschien der Regierung gefährlich und verbrecherisch. Wir wurden von Spitzeln verfolgt und denunziert. Die Bauern wurden mit Drohungen terrorisiert: man würde sie, wenn sie mit uns fernerhin Umgang suchten, nach Sibirien verschicken. Schließlich sahen wir uns im Frühjahr 1879 gezwungen, fortzuziehen. Es hatte keinen Zweck, länger zu bleiben, man hätte uns ja doch nach Sibirien verbannt. Und so erging es nicht uns allein, sondern auch den anderen Genossen, die sich in derselben Lage befanden. Sechs Jahre schon wütete in Rußland die Reaktion. Die zu Beginn der Regierung Alexanders II. durchgeführten Reformen wurden bereits beschnitten, die Presse war von der Zensur geknebelt, die Gerichtsbarkeit durch administrativen Druck verzerrt worden; die Jugend wurde für den leisesten Versuch, sich korporative Rechte zu sichern, aus den Universitäten gejagt. Die Gefängnisse waren überfüllt; ein politischer Prozeß jagte den anderen; Zuchthaus und Verbannung wurden Zahlloser Schicksal. Keinerlei organisierte Kulturunternehmungen wurden geduldet; die Menschen wurden verfolgt, Haussuchungen und Polizeiaufsicht waren an der Tagesordnung, desgleichen Deportationen ohne vorheriges Urteil, nicht etwa für Taten, sondern für die Gesinnung, für sogenannte »politische Unzuverlässigkeit«, d. h. für ein gemutmaßtes ablehnendes Verhalten zur inneren Politik der Regierung. Diese Repressalien waren schließlich unerträglich; die Stimmung der jugendlichen Intelligenz wurde mehr und mehr der Regierung und dem Polizeiregime feindlich: man empfand die Notwendigkeit, zu kämpfen, Widerstand zu leisten. Diese Stimmung führte zu politischen Morden, zu bewaffnetem Widerstand bei Verhaftungen, zu gewaltsamer Gefangenenbefreiung. Im Jahre 1878 brachte jeder Monat neue aufregende Nachrichten über Ermordung von Spionen und Lockspitzeln, von Staatsanwälten und Gendarmen, die durch besondere Grausamkeit sich ausgezeichnet oder durch politische Repressalien und Prozesse ihre Karriere zu fördern gesucht hatten. Die Folge davon war, daß die Einmütigkeit in der Gesellschaft »Land und Freiheit« zu schwinden begann: ein Teil der Mitglieder wollte die Arbeit unter den Bauern fortsetzen, andere wieder, die stürmischer und unternehmender waren, hielten dies unter den gegebenen Verhältnissen für fruchtlos. Diese Verhältnisse mußten geändert, die Hindernisse, die im Wege lagen, mußten beseitigt werden. Zu diesem Zweck muß der Absolutismus bekämpft, er muß gebrochen und die politische Freiheit errungen werden, wie sie alle westeuropäischen Völker haben. Die Anhänger dieser Richtung, zu der auch ich gehörte, gründeten eine neue revolutionäre Partei – den »Volks-Willen« (»Narodnaja Wolja«). Ihr Ziel war – Niederwerfung der Selbstherrschaft; an Stelle des Willens eines einzelnen wollten wir den Willen des Volkes setzen. Die Partei sollte alle Unzufriedenen, ohne Unterschied der Klassen, die damals in Rußland noch nicht differenziert wurden, zusammenfassen. Eine allgemeine, gegen die Regierung gerichtete Verschwörung, die sich auf die Organisation der Offiziere des Landheeres und der Marine stützte, sollte ihren Händen die Macht entreißen, einen Umsturz bewirken, um alsdann eine Republik zu gründen, die konstituierende Versammlung einzuberufen und das ganze Land den Werktätigen zu übergeben. (Seit 1905 wurde das »Sozialisierung des Landes« genannt.) Es war das historische Verdienst des »Volks-Willens«, das Problem der Eroberung der politischen Freiheit in dieser Schärfe aufgerollt zu haben. In den siebziger Jahren stand die russische revolutionäre Bewegung stark unter dem Einfluß der Bewegungen in Westeuropa. Dort aber, in den romanischen Ländern, suggerierte die Enttäuschung des französischen Proletariats nach der Unterdrückung der Revolution des Jahres 1848 und Bakunins anarchistische Propaganda der Arbeiterklasse die Zwecklosigkeit ihrer Teilnahme am politischen Leben des Staates. Die politische Freiheit hatte die Arbeiterklasse Europas nicht vom wirtschaftlichen Joch befreit, und darum war man bei uns der Meinung, die russischen Revolutionäre müßten ganz direkt auf einen wirtschaftlichen Umsturz hinarbeiten, da eben dieser Umsturz ganz von selbst die politische Freiheit im Gefolge haben würde. Hiervon ausgehend, trugen die russischen Sozialisten die Propaganda gleichsam mit nackten Händen in die Volksmassen: weder hatten sie Rede-, noch Versammlungs- und Verbandsfreiheit, deren sich ihre westeuropäischen Brüder längst schon erfreuten. So lagen die Dinge vor Gründung des »Volks-Willens«. Bittere, zehnjährige Erfahrung, die der russischen revolutionären Jugend tausend Opfer kostete, trug endlich dazu bei, daß man zu der Erkenntnis durchdrang, der Sturz des Zarismus sei die erste und vornehmste Aufgabe des ganzen denkenden Rußland. Mit dem Beispiel des Kampfes gegen den Absolutismus voranzugehen und um den Preis des eigenen Lebens in die Gemüter die Idee dieses Kampfes einzuhämmern, war die Aufgabe, die sich der »Volks-Wille« stellte. Er ist dieser Aufgabe gerecht geworden. Nach seinem beispiellos hartnäckigen Kampf wurde die Forderung politischer Freiheit zu einem festen Bestandteil aller sozialistischen Parteien Rußlands. Der Widerhall der Kämpfe, die der »Volks-Wille« führte, hielt die Gemüter noch lange in Bann, und erst um die Mitte der neunziger Jahre, als sich die wirtschaftlichen Bedingungen Rußlands änderten, und es nicht mehr reiner Agrarstaat war, sondern bedeutende Fortschritte auf industriellem Gebiete gemacht und eine hinreichend starke industrielle Arbeiterklasse sich gebildet hatte, änderte die revolutionäre Bewegung ihren Kurs in der Richtung des sozialdemokratischen Programms, und damit hatte der »Volks-Wille« seine Rolle ausgespielt, die indessen teilweise seit dem Jahre 1900 von der Partei der »Sozial-Revolutionäre« fortgeführt wurde.
Seit Begründung des Verbandes »Volks-Wille« stand ein »Vollzugskomitee« an seiner Spitze, das sich aus jenen zusammensetzte, die an der revolutionären Bewegung der vergangenen Periode teilgenommen hatten. Mit Scheljabow, Perowskaja, Morosow, Kwatkowski u. a. gehörte auch ich diesem Vollzugskomitee an. Indem das Vollzugskomitee der absoluten Monarchie den Krieg erklärte, erklärte es ihn gleichzeitig dem absoluten Monarchen, der über ein nach vielen Millionen zählendes Volk herrschte, die Verantwortung für dessen Geschick auf sich allein nahm und seine wirtschaftlichen und geistigen Kräfte nicht zu freier Entfaltung kommen ließ. Das Vollzugskomitee sorgte nicht nur für Mehrung und Organisation der Kräfte, sondern es beschloß auch, mit den ihm zu Gebote stehenden Kräften sogleich den Kampf gegen den mächtigen Monarchen, der über den sechsten Teil des Erdenrunds herrschte, aufzunehmen. Im Laufe von drei Jahren erschütterte das Vollzugskomitee mit seinen Terrorakten ganz Rußland und konzentrierte die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den Kampf der kleinen Gruppe gegen den Kaiser. In diesem Zeitraum organisierte das Komitee sieben Attentate auf Alexander II., von denen vier nicht zustande kamen: 1879 einen Anschlag auf den kaiserlichen Zug bei Moskau; 1880 erfolgte die Explosion im Winterpalais in Petersburg und am 13. März 1881 fiel der Kaiser, von einer Bombe zerrissen, die – gemäß dem Spruch des Vollzugskomitees – von einem Parteimitglied geworfen worden war. Hierauf wurde die Partei, infolge Verrats durch einige Mitglieder, vernichtet Von 1879 bis 1884 wurden gegen zwanzig Mitglieder vor Gericht gestellt, zehn wurden hingerichtet, weitere zum Tode Verurteilte wurden begnadigt und in die Kasematten der Festung Schlüsselburg geworfen; die übrigen wurden nach Sibirien verbannt.. 1884 machte man mir den Prozeß, und ich wurde nach Schlüsselburg geschafft.
In meinen Erinnerungen habe ich die Entstehung und das Programm der Gesellschaft »Land und Freiheit«, die Spaltung innerhalb der Gesellschaft und die Bildung der Partei »Volks-Wille«, die dramatische Geschichte und den Untergang des Vollzugskomitees, schließlich auch die Geschichte meiner zwanzigjährigen Gefangenschaft in der Festung Schlüsselburg geschildert.
Als ich im Jahre 1904 aus Schlüsselburg wieder in die Peter-Paulsfestung und bald darauf freikam, durchlebte ich eine überaus heftige Erschütterung, – ich konnte das gewöhnliche Menschenleben nicht mehr ertragen. Indessen hatte man mich in das Gouvernement Archangelsk schaffen lassen, in die schwierigsten Lebensverhältnisse, in Kälte und Einsamkeit. Meine Nerven waren vollkommen zerrüttet, ich mußte ins Ausland reisen, um meine Gesundheit wieder herzustellen; den Auslandspaß bekam ich aber erst im November 1906.
Meine Erlebnisse während der zwei ersten Jahre meiner Freiheit sind in meinem Buche »Nach Schlüsselburg« beschrieben.
Im Ausland bin ich etwa acht Jahre geblieben. Sobald meine Gesundheit sich etwas gebessert hatte, suchte ich mich der sozialrevolutionären Partei anzuschließen. Doch sollte ich bald ganz auf Politik verzichten. Die 22 jährige Abwesenheit aus dem Leben machte es mir unmöglich, mit einem Schritt die Evolution politischer Parteien, revolutionärer Sitten und Verhältnisse einzuholen. Ich fühlte mich fremd, abgesondert und nutzlos in ganz neuen Verhältnissen. So arbeitete ich auf anderem Gebiet. Ich begründete in Paris ein Hilfskomitee für die zu Zwangsarbeit Verurteilten. Und drei Jahre lang agitierte ich mit Erfolg gegen die Grausamkeiten in russischen Gefängnissen. Über 100 000 Franken wurden gesammelt; in England, Belgien und der Schweiz wurden von mir Vorlesungen über Gefängnisse gehalten. Meine Broschüre darüber wurde ins Französische, Deutsche, Italienische und Rumänische übersetzt. Unsere Regierung machte dieser Agitation und Hilfe ein Ende. Ihre Maßregeln haben die Übergabe des Geldes in Gefängnisse ganz abgeschafft. So mußte ich meine Kräfte anders einsetzen. Ich begann meine Memoiren zu schreiben. Als der Krieg ausbrach, eilte ich nach meinem Vaterlande zurück. Doch wurde ich an der Grenze verhaftet und in Nishni Nowgorod unter Polizeiaufsicht gestellt. Dort arbeitete ich in einem Volksbildungsverein bis ich endlich im Dezember 1916 nach Petersburg umziehen konnte. Dort habe ich als Augenzeugin die Februarrevolution erlebt. Ich wurde zur Vorsitzenden des Amnestiertenkomitees gewählt; während acht Monaten organisierte ich neben andern Arbeiten die Hilfe für mehr als 4000 gewesene »Politische«. Die Oktoberrevolution und unser Bürgerkrieg brachten mir viel Leiden, da ich derartige soziale Erschütterungen nicht erwartet hatte. Ich dachte, es müsse noch eine gewisse Zeit der nötigen politischen Erziehung unseres Volkes vorangehen. In meiner Jugend hatte das Studium der französischen Revolution von 1789 zwar einen bestimmenden Einfluß auf mich ausgeübt; doch lag über jener Revolution in vergangenen Zeiten, in der sich die politischen Parteien gegenseitig zerfraßen, der Schleier eines Jahrhunderts und so ließ sie keinen Vergleich zu mit dem Schauspiel, mit den Kämpfen, die sich jetzt vor meinen Augen abspielten.
Heute, nachdem die Wogen der Revolution in ihre Ufer zurückgetreten sind, suche ich auf kulturellem Gebiet nützlich zu sein. Neben literarischer Arbeit und der Hilfeleistung für die Opfer unseres Bürgerkrieges betätige ich mich seit vier Jahren als Vorsitzende des Kropotkin-Komitees, das unter den ungünstigsten Umständen verstanden hat, ein schönes Kropotkin-Museum zu schaffen. Zugleich bin ich bemüht, Bildungs- und Erziehungsanstalten auf dem Lande zu unterstützen.
Moskau, am 13. Mai 1926
Wera Figner