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Das Ende meiner Tätigkeit

Gegen den 20. Dezember kam die Nachricht aus Odessa, daß unsere Druckerei entdeckt und alle fünf Personen, die mit ihr in Verbindung gestanden, also: Degajew mit seiner Frau, Kaluschnaja, Surowzew und Spandoni verhaftet worden waren. Kaum fünf Wochen hatte die Druckerei bestanden, und schon war das ganze Unternehmen zusammengebrochen! Das war ein furchtbarer Schlag! Die letzte Hoffnung auf ein schnelles Wiedererscheinen des Parteiorgans war vernichtet. Die breiten Kreise der Gesellschaft sowie die Regierung beurteilten aber gewöhnlich den Stand der revolutionären Sache nach dem jeweiligen Vorhandensein oder Fehlen einer Parteipresse.

Ein schweres, beklemmendes Gefühl erfaßt mich jedesmal, wenn ich an jene dunkle Periode zurückdenke. Ich sah deutlich, daß alle meine Bemühungen, die Arbeit wieder aufzubauen, zu nichts führten, und daß meine ganze Tätigkeit ergebnislos verlief. Was immer ich auch ausdachte, – alles brach zusammen und riß jene, die ich zur Arbeit herangezogen, in den Abgrund. So gingen damals zu Grunde: Nikitina, Komarnitzki und Iwanowskaja, außer ihnen noch fünf Menschen in Odessa. Ich setzte meine ganze Kraft ein, alles blieb vergeblich. Und wie hätte ich nachlassen sollen in einer Zeit, wo junge, freiheitsdurstige Seelen auf mich voll Hoffnung schauten und moralischen Halt bei mir suchten? Ich erinnere mich eines Briefes, den ich damals bekam. Ein mir bekanntes junges Mädchen, das illegal, wie ein gehetztes Wild von der Polizei verfolgt, lebte und nicht mehr wußte, wohin flüchten und was anfangen, schrieb mir: am dunklen Horizont ihrer verdüsterten Seele leuchte nur noch ein heller Stern, und der wäre ich. Nach meiner Verhaftung beging sie Selbstmord – sie warf sich unter einen Zug. Und hatte ich nicht Tichomirow geschrieben, er hätte kein Recht, ins Ausland zu reisen? Daß wir kein Recht hätten, die Arbeit, die wir begonnen hatten, im Stich zu lassen, daß seine Abreise demoralisierend auf die revolutionären Kreise wirke?

Alles um mich her wankte, brach zusammen; ich blieb allein, um, wie der ewige Wandrer Eugen Sues, den Leidensweg zu wandeln, ohne das Ende abzusehen.

Jetzt noch mehr als in den vorhergegangenen Monaten lebte ich ein Doppelleben: Nach außen hin war ich ruhig, voll Zuversicht, doch in der Stille der Nacht dachte ich voll Schwermut und Grauen: Ist es das Ende? Mein Ende? Am nächsten Tag setzte ich wieder die Maske auf, und meine Penelopenarbeit begann von neuem. Als im Oktober Michajlowski mich in der obenerwähnten Angelegenheit besuchte, fragte er mich beim Abschied, welche Absichten ich hätte, was ich zu tun gedächte? Ich erwiderte ihm: »Ich werde weiter die gerissenen Fäden aufnehmen und die Enden zusammenknoten.« Michajlowski nahm meinen Kopf in seine beiden Hände und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Erst viel später, als ich seine, nach seinem Tode erschienenen Zeilen über mich las, begriff ich, was ihn, der mir gegenüber nie impulsiv gewesen war, zu diesem Benehmen veranlaßt hatte: er küßte mich für meine Unbeugsamkeit, mit der ich das einmal gesteckte Ziel verfolgte.

Ich glaube kaum, daß irgendeiner meiner oberflächlichen Bekannten meine wirkliche Stimmung von damals bemerkte oder erriet. Aber jene, die mir näher standen, fragten mich wiederholt, warum ich so oft in Gedanken verloren in die Ferne schaue? Es lag wohl daran, daß meine Seele ununterbrochen wiederholte: wie schwer, wie grenzenlos schwer ist das Leben! Und die Augen verloren sich unbewußt ins Weite, weil in dieser Weite irgendwo das Ende lag!

Aber noch Schlimmeres stand bevor. Das Auffliegen der Geheimdruckerei in Odessa war nur die äußere Seite des Unglücks, es gab noch eine andere, einstweilen verborgene, die die verhängnisvollsten Folgen hatte.

Die Druckerei war am 20. Dezember von der Polizei beschlagnahmt worden. Am 23. Januar 1883 erging an mich die Aufforderung, schleunigst zu meinen Freunden zu kommen.

Als ich dort eintrat, blieb ich wie versteinert stehen. Vor mir stand Degajew, der Inhaber der Druckerei, die in Odessa aufgeflogen war. »Was ist geschehen? Wieso sind Sie hier?« fragte ich ihn hastig, zitternd vor Freude und Erregung.

»Ich entfloh,« flüsterte Degajew. Er war bleich, erregt und hatte das Aussehen eines Menschen, der von Unruhe aufgerieben war. Dabei erzählte er mir folgendes: es sei ihm ein Rätsel, wieso die Polizei die Druckerei aufgespürt habe. Vielleicht waren es die mit dem Buchdruckermaterial gefüllten Kisten gewesen, die durch ihre Schwere die Aufmerksamkeit der Gepäckträger geweckt und eine Denunziation veranlaßt hatten. Nach seiner Verhaftung dachte er sofort an Flucht. Er gab Kiew als seinen letzten Aufenthaltsort an, ehe er nach Odessa gekommen war. Er bat, man möge ihn zur Untersuchung seiner Sache dorthin befördern. Nach längerem Zögern willigten die Gendarmen ein. Als die Gendarmen ihn spät abends in einer Droschke zum Bahnhof schafften, schleuderte er ihnen im Moment, als sie durch öde Felder zwischen der Stadt und dem Bahnhof fuhren, Tabak in die Augen, sprang aus der Droschke und entfloh. In Odessa – so erzählte Degajew weiter – fand er eine Zuflucht bei den Offizieren, die er während seines Besuches der Militärorganisation kennengelernt hatte. Nach einigen Tagen begleitete ihn einer dieser Offiziere in einem Wagen nach Nikolajew, von dort aus war er am Abend nach Charkow gekommen.

»Wo haben Sie hier übernachtet? Haben Sie etwa die ganze Nacht auf der Straße verbringen müssen?« fragte ich voll Mitleid. – »An einem schlimmen Ort,« erwiderte Degajew in sichtbarer Verlegenheit. Auch ich geriet in Verwirrung, die sich dadurch erklärte, daß ich die Bezeichnung »ein schlimmer Ort« in einem ganz bestimmten Sinne verstanden hatte; bei Degajew rührte sie aber davon her, daß, wie sich später herausstellte, er sein Obdach nicht bei Dirnen, sondern ganz wo anders gefunden hatte.

Weder ich noch die Genossin Tschernjawskaja, die ich veranlaßte, mit Degajew zusammen eine Wohnung zu nehmen, machten uns über Degajews »Flucht« irgendwelche Gedanken. Wir analysierten weder die Umstände der Flucht, noch gingen wir seinem Bericht auf den Grund. Degajew war ja kein Neuling in der revolutionären Bewegung, und im Laufe seiner revolutionären Tätigkeit war er mehr als einmal in schwierigen Situationen gewesen, aus denen sich herauszuwinden ihm immer gelungen war. Das gegenseitige Vertrauen war zudem die Grundlage unserer Beziehungen. Degajews äußeres Wesen erklärten wir uns durch die Tatsache, daß er seine Frau – die ja eigentlich der revolutionären Partei nicht angehörte und nur des Mannes wegen das Risiko der Geheimdruckerei auf sich genommen hatte – in den Krallen der Gendarmen wußte.

Erst später erinnerte ich mich an einzelne sonderbare Äußerungen, die man als Warnungen von seiner Seite hätte deuten können, wenn uns nicht jeder Verdacht vollkommen fern gelegen hätte. So sagte er mir einmal, von den in Odessa Verhafteten plaudere einer aus der Schule. Wer das sein könnte, fragte ich ihn. »Jemand von den Illegalen,« erwiderte er. Und als ich darauf hinwies, daß alle dort Verhafteten – seine Frau, Surowzew, die Kaluschnaja – ganz zuverlässige Leute wären, bestand er dennoch auf dem Gesagten. Damals wußte ich nicht, was davon zu halten wäre. Erst später kam ich auf den Gedanken, seine Andeutungen könnten eine Warnung oder noch eher eine niederträchtige Unterstellung enthalten. In der Tat ließen die Gendarmen die Kaluschnaja bald nach der Verhaftung frei. Sofort wurde das Gerücht laut, sie hätte verraten. Allem Anscheine nach hatten die Gendarmen selbst dieses Gerücht absichtlich verbreitet. Das ehrliche Mädchen, empört bis aufs Äußerste, feuerte auf den Gendarmerieoffizier Katanski Revolverschüsse ab. Dafür zu Zuchthaus verurteilt, verübte Kaluschnaja später in dem Karaer Zuchthaus nach der berühmten Sigida-Exekution Selbstmord. Wollte nicht Degajew mit seinen Andeutungen den Verdacht auf Kaluschnaja lenken?

Aber zu jener Zeit war ich ahnungslos. Einst, als Degajew und Tschernjawskaja bei mir waren, fragte mich Degajew, ob ich in Charkow ganz sicher wäre. Ich antwortete mit Überzeugung: »Vollkommen sicher.« »Sind Sie dessen so gewiß?« fragte er noch einmal. »Gewiß,« erwiderte ich, »ausgenommen der Fall, daß ich Merkulow auf der Straße begegne. Doch das scheint mir ganz unwahrscheinlich.«

Später einmal fragte Degajew gelegentlich, wann ich früh morgens meine Wohnung verlasse. Ich konnte auch in dieser Frage unmöglich etwas Verdächtiges vermuten und erwiderte: »Gewöhnlich um 8 Uhr morgens. Ich wohne«, erklärte ich, »in Charkow mit den Ausweispapieren einer Hörerin der Kurse zur Ausbildung von Arztgehilfinnen, und diese gehen gewöhnlich um diese Zeit zu den Vorträgen.«

Ein anderes Mal fragte mich Degajew, ehe er mich verließ, ob ich nicht in unserem Hause noch einen anderen Ausgang außer der Gartentür hätte. Ich antwortete, daß es einen solchen noch gäbe, ich ihn aber nie gebrauchte. Degajew nutzte alle diese Informationen aus.

Ein oder zwei Tage später, am 10. Februar, ging ich wie gewöhnlich um 8 Uhr aus dem Hause. Kaum hatte ich etwa zehn Schritte gemacht, als ich auf Merkulow stieß. Ein Blick – wir erkannten einander. Er ging ruhig weiter. Kein Gendarm, kein Schutzmann in der Nähe. Ich setzte meinen Weg fort und überlegte die Lage. Es war keine Möglichkeit vorhanden, irgendwo zu verschwinden. In der Nähe gab es weder Durchgangstore, noch wohnte ein Bekannter hier. Ich überlegte, was ich in der Tasche hatte. Ein Notizbuch mit zwei, drei Namen von Personen, die der Organisation fern standen, außerdem den Abschnitt einer Postanweisung über nach Rostow abgesandte Parteigelder. Diesen mußte ich vernichten. Ich ging immer weiter. Plötzlich war ich von Gendarmen umgeben, die wie aus dem Boden gewachsen von allen Seiten auftauchten. Ein Augenblick später – und ich befand mich unter der Eskorte von zwei Gendarmen im Schlitten, der uns nach dem Polizeirevier brachte.

In einem besonderen Zimmer begann man mit der Leibesvisitation. Ich bemerkte sofort, daß die zu diesem Zweck herbeigerufenen Frauen in dieser Sache keine Erfahrung hatten. Ich nahm aus dem Geldbeutel die Postquittung und steckte sie in den Mund. Die Frauen schrien um Hilfe. Ein Gendarm lief herein und packte mich an der Kehle. Ich lachte zum Schein auf, als ob ich zeigen wollte, daß es zu spät wäre. Der Gendarm ließ meinen Hals frei. Es war nicht leicht, den steifen Papierzettel zu schlucken, es gelang mir erst später.

Ein Gendarmerieoffizier nahm ein kurzes Protokoll auf. Auf seine Frage nach meinem Namen antwortete ich: »Wenn ihr mich verhaftet habt, so müßt ihr doch wissen, wer ich bin.« In diesem Moment betrat Merkulow das Zimmer. Mit seiner frechen Miene und üblichen schnellen Redeweise fragte er: »Na, haben Sie das erwartet?« »Schuft!« entfuhr mir die Antwort. Und unwillkürlich machte ich eine drohende Handbewegung. Der Feigling fuhr zurück.

Man beförderte mich in das Gefängnis, ließ mich dort die Sträflingskleidung anziehen und zwang mich, Milch zu trinken. Man befürchtete, ich hätte Gift geschluckt, da man die Stückchen gelben Kalis, die ich im Geldbeutel hatte und als chemische Tinte gebrauchte, für Zyankali hielt. Die Polizei wollte mich auf jeden Fall am Leben erhalten.

Am nächsten Tage war ich in Begleitung von zwei Gendarmen unterwegs nach Petersburg.


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