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1898 verließ Pankratow die Festung und 1902 endete Poliwanows Strafzeit.
Wasili Pankratow war von Beruf Drechsler. In der Kindheit hatte er bittere Not gelitten, sein Vater starb früh und hinterließ eine vielköpfige Familie mit ganz kleinen Kindern. »Die Armut war so groß, daß wir vor Hunger gestorben wären, wenn uns die benachbarten Bauern nicht geholfen hätten,« erzählte mir Pankratow aus dieser Periode seines Lebens.
Pankratow arbeitete in Petersburg und wurde schon früh Revolutionär. Durch einen Kameraden verraten, mußte er illegal werden. Im Jahre 1883 war er mit den Arbeitern Martynow und Antonow Mitglied der Kampforganisation des »Volks-Willens«.
Um diese Zeit lag die Partei schon in ihren letzten Zügen. Pankratow leistete bei seiner Verhaftung in Kiew bewaffneten Widerstand und verwundete einen Gendarmen. Dafür bekam er zwanzig Jahre Zwangsarbeit und wurde gleichzeitig mit Karaulow und Martynow nach Schlüsselburg gebracht. Im Kiewer Gefängnis wollte man ihnen als »Zuchthäuslern« den halben Kopf rasieren; das gelang erst nach verzweifelter Gegenwehr der Verurteilten, die von allen übrigen Gefangenen stürmisch unterstützt wurden.
Pankratow kam nach Schlüsselburg am 20. Dezember 1884, für mich ein denkwürdiger Tag, denn man brachte ihn in die Zelle neben mir, und er war mein erster Nachbar seit meiner Verhaftung. In der Peter-Pauls-Festung wurde ich vollkommen isoliert gehalten, daher kam ich nach Schlüsselburg, ohne das Gefängnisalphabet zu kennen, ohne klopfen zu können. Lange verstanden wir uns nicht und verließen die Wand, die uns trennte, betrübt und verstört. Als wir es endlich gelernt hatten, befreundeten wir uns sehr.
Pankratow war erst 20 Jahre alt, als er nach Schlüsselburg kam. Daß er so jung schon sein Leben hatte beschließen müssen, weckte mein tiefstes Mitgefühl für ihn. Ich war 12 Jahre älter als er, und mir schien, daß einem so jungen Menschen mit frischen Kräften unser Leben noch viel schwerer sein müsse als mir. Mein zartes, fast mütterliches Gefühl für ihn drückte sich in Versen aus, die ich ihm widmete.
Pankratow war von aufbrausendem Charakter, heftig, unbeherrscht und unduldsam, nie jedoch gegen mich. Er haßte die Gendarmen mit der ganzen Kraft seiner Seele und schrieb ihnen die gemeinsten Handlungen zu, die sie nach meiner Überzeugung nie vollbracht haben. Ich beruhigte sein krankhaftes Mißtrauen öfters und lenkte Ausbrüche ab, die ihn ins Unglück stürzen konnten. Der Inspektor Sokolow, dem die Vorgänge bei seiner Verhaftung und seine Raserei beim Rasieren des Kopfes bekannt waren, hütete sich, ihn zu reizen, und schikanierte ihn nicht wie die anderen. Daher vergingen für Pankratow die Jahre in Schlüsselburg im allgemeinen ohne Zwischenfälle. Schon in unseren ersten Unterredungen erfuhr ich, daß Pankratow die Absicht habe, sich sehr ernst dem Studium zu widmen. Tatsächlich verging für ihn der lange Aufenthalt in der Festung nicht nutzlos, und bis zum Verlassen Schlüsselburgs hatte er sich ein so ansehnliches Wissen angeeignet, daß er in der Folge in Sibirien an wissenschaftlichen Expeditionen teilnehmen und geologische Forschungen, sogar Entdeckungen machen konnte.
Durch die Amnestie im Jahre 1896 war ihm ein Drittel seiner Strafzeit erlassen worden, statt im Jahre 1904 verließ er uns bereits 1898. –
Poliwanow kam 1882 nach dem Alexej-Vorwerk; zwei Jahre später wurde er nach Schlüsselburg überführt und 1902, nach 20 Jahren, zur Ansiedelung in das Akmolinsker Gebiet abtransportiert. Von dort flüchtete Poliwanow ins Ausland; aber in Frankreich erschoß er sich unter rätselhaften Umständen während seiner Unterhandlungen mit Asew und, wie mir gesagt wurde, mitten in den Vorbereitungen zu einem terroristischen Attentat in Rußland unter Mitwirkung dieses Provokateurs.
Poliwanow, Sohn reicher Gutsbesitzer, war einer der sympathischsten Menschen des revolutionären Lagers. Als Gymnasiast ging er im Jahre 1878 nach Serbien, um für dessen Unabhängigkeit zu kämpfen; 1882, bereits im »Volks-Willen«, unternahm er die Befreiung seines Kameraden Nowizki aus dem Saratower Gefängnis. Bei diesem Versuch tötete er einen Polizisten. Der Befreiungsversuch mißlang: der vorbereitete Wagen mit den Insassen stürzte um; Nowizki, Poliwanow und ein dritter Genosse, Rajko, wurden von der verfolgenden Menge gepackt und furchtbar mißhandelt. Rajko erlag seinen Verwundungen. Nowizki und Poliwanow wurden zum Tode verurteilt; das Urteil wurde nach Eingabe eines Gnadengesuches in Zwangsarbeit umgewandelt. Poliwanow erklärte, er habe durch das Gnadengesuch das Los Nowizkis erleichtern wollen. »Ich glaubte, daß er leben wollte,« sagte er zu uns, »ohne mich hätte er keine Bittschrift eingereicht.«
Im Alexej-Vorwerk hat Poliwanow so furchtbar gelitten, daß er dem Selbstmord nahe war. Er hinterließ eine künstlerisch sehr wertvolle, ursprünglich in der Schlüsselburg geschriebene, nach Verlassen der Festung aus dem Gedächtnis rekonstruierte Schilderung seiner Erlebnisse. Seine ungewöhnliche Nervosität, verbunden mit Anfällen von Schwermut, versetzte uns immer in große Unruhe. In solchen Perioden zog er sich von allen Kameraden zurück, verließ seine Zelle nicht mehr, sondern irrte in ihr ununterbrochen den ganzen Tag auf und nieder. Seine Stimmung war in solchen Momenten äußerst düster, voll Mißtrauen und Argwohn, was sonst seinem gütigen Charakter gar nicht eigen war.
Poliwanows Leidenschaft waren Bücher; die verschlang er mit einer unglaublichen Schnelligkeit. Auf meine diesbezügliche Verwunderung antwortete er mir einst: »Ich sehe und lese gleichzeitig 15 Zeilen.« Ich habe einmal gelesen, daß über derartige Fähigkeiten nur noch der berühmte Dichter Zola verfügte. Und Poliwanow las nicht oberflächlich, wir hatten eine Unmenge von Beweisen dafür. So z. B. wiederholte er uns mit fast buchstäblicher Genauigkeit den Inhalt einer großen Nummer der Wochenausgabe der »Times«. Sein außerordentliches Gedächtnis erlaubte ihm, sich einen großen Fonds von Wissen in der Festung anzueignen. Hauptsächlich interessierten ihn die politische Geschichte und soziale Wissenschaften. Außer seinen Erinnerungen über das Alexej-Vorwerk hinterließ Poliwanow noch eine Erzählung aus dem Gefängnisleben. Beides zeigte ihn als bedeutendes literarisches Talent. In der Epoche unseres dichterischen Rausches dichtete Poliwanow in russischer und französischer Sprache.
Poliwanow hatte unter uns viele Freunde; man konnte diesen klugen und gütigen Kameraden gar nicht anders als lieben; man fühlte in ihm etwas Ritterliches und gleichzeitig Einfaches, Kindliches.
Sein Selbstmord in einem Moment, als die Freiheit ihm anscheinend doch die Möglichkeit breiter Tätigkeit und persönlicher Befriedigung eröffnet hatte, erschütterte uns alle, die wir mit Poliwanow die dunklen Jahre der Gefangenschaft durchlebt hatten, aufs tiefste.