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Die Gerichtsverhandlung

Am 21. September 1884 abends überführte man mich aus der Peter-Paulsfestung in das Untersuchungsgefängnis. Warum man dazu die späte Abendstunde wählte, war mir nicht klar. Das ganze Gefängnissystem war derartig organisiert, daß es naturgemäß zu Nervenzerrüttungen führen mußte.

In dieser Nacht schloß ich keinen Augenblick die Augen. Die Aufseherinnen, die sich die ganze Nacht laut im Korridor unterhielten, ließen mich nicht einen Moment schlafen. Als man mich am nächsten Tag zu einem Wiedersehen mit meiner Mutter und Schwester führte, schwankte mir der Boden unter den Füßen. Das Wiedersehen fand ohne Gitter statt, so daß ich zum ersten Male nach 20 Monaten Untersuchungshaft die Hand meiner Mutter küssen konnte. Wir konnten zusammen sitzen und sprechen, so viel wir wollten. Aber gewöhnt an das zwanzig Minuten lange Wiedersehen und das ewige Schweigen, war ich bald so müde, daß ich selbst die Mutter bat, fortzugehen.

Am nächsten Tag begannen die Gerichtsverhandlungen. Um 10 Uhr führte man mich durch endlose Korridore, Gänge und Treppen in das Zimmer, wo schon meine 13 Mitangeklagten standen, jeder von zwei Gendarmen mit gezogenen Säbeln bewacht. Weder einander die Hand reichen noch uns umarmen durften wir. Übrigens war es auch besser so: Wie leicht hätte man die Geistesgegenwart verlieren und in Schluchzen ausbrechen können! Wie fahl waren die Gesichter, die einst vor Lebensfreude gesprüht hatten – gebrochene Gestalten standen vor mir – es war ein Anblick, bei dem es nicht leicht war, seine Ruhe zu bewahren. Dazu kam noch der bittere Gedanke, daß wir hier nicht infolge unserer revolutionären Tätigkeit waren, sondern infolge des Treubruchs und Verrats eines falschen, verräterischen Freundes. Während der ganzen Verhandlung fühlten wir ununterbrochen die Hand Degajews sichtbar oder unsichtbar wie eine Schmach über uns, und sie drückte uns gleich einem Alp nieder.

Stundenlang dauerten die Verhandlungen. Nur eine der Angeklagten suchte die Richter mit einem großen Aufwand von Redseligkeit von ihrer Unschuld zu überzeugen. Die übrigen waren schweigsam und wortkarg. Nur Ludmilla Wolkenstein war heiter und sorglos, der Vorsitzende ermahnte sie jeden Augenblick, sich nicht mit den Nachbarn zu unterhalten, nicht zu nahe an sie heranzurücken usw.

Ich dagegen war vollkommen erschöpft. Nach der Stille und Einsamkeit in der Peter-Paulsfestung waren meine Nerven nicht mehr imstande, den Wechsel der Umgebung zu ertragen. Ich war unfähig, bis zum Schluß der Sitzungen im Verhandlungssaal zu bleiben und zog mich immer vorher zurück, um in meiner Zelle meinen Nerven eine Ruhepause zu gewähren.

In den Pausen kamen Mutter und Schwester: das bedeutete noch eine weitere Nervenanspannung, bis ich ihnen schließlich sagen mußte: »Geht fort, ich habe keine Kraft mehr!«

Weder in der Voruntersuchung noch in der Gerichtsuntersuchung hatte ich versucht, die auf mir lastende Verantwortung auch nur um ein Jota zu verringern. Ich brauchte also weder eine Verteidigung noch einen Verteidiger. Trotzdem forderte ich einen Rechtsanwalt, Leontjew II, auf, als Verteidiger zu mir zu kommen; ich erklärte ihm, daß mein eigentliches Ziel sei, durch seine Vermittlung meine letzten Anordnungen zu treffen; durch die Mutter konnte ich es nicht, weil während des Wiedersehens immer eine Aufseherin anwesend war.

Die rührendste Erinnerung, die ich aus jenen Tagen habe, ist ein wunderschöner Rosenstrauß, den mir die Schwester am letzten Verhandlungstag brachte. Während der ganzen Zeit in der Festung durfte ich keine Blumen empfangen. Einen anderen schönen Augenblick bereitete mir der warme Gruß meiner einstigen französischen Lehrerin, die mich als zwölfjähriges Mädchen im Institut gekannt hatte, und mir nun während der Verhandlung ihre Grüße schickte.

Endlich trat der denkwürdigste Tag meines Lebens, der bedeutendste Moment der Gerichtsverhandlung ein: der Vorsitzende erklärte: »Die Angeklagten haben das letzte Wort.«

Wieviel Inhalt und Bedeutung liegt in diesen Worten! Dem Angeklagten wird die einzige und vielleicht die letzte Gelegenheit gegeben, sein sittliches Antlitz zu enthüllen, eine moralische Rechtfertigung seiner Taten der Öffentlichkeit zu geben und frei das auszusprechen, was er sagen will, was er sagen muß und was er sagen kann. Noch einige Minuten, und diese letzte Gelegenheit, die letzte Möglichkeit ist vorbei, wird zur Vergangenheit, wird unwiderruflich vorüber sein. Wird diese Gelegenheit verpaßt, so kommt sie nie wieder; der Mensch, der vor Gericht in Erwartung seines Urteils steht, wird nie mehr imstande sein, seine Stimme zu erheben, niemand wird ihn je hören, seine Stimme wird im Zuchthaus ersticken oder auf dem Schafott sterben ...

Wie viel qualvolle Unruhe habe ich in der Einsamkeit meiner Zelle in Erwartung dieses Tages und dieser Stunde ausgestanden.

Ich war in diesem Prozeß die Hauptfigur – diejenige, auf der die Hauptverantwortung lastete. Die vorhergegangenen Prozesse der Jahre 1879 bis 1884: Alexander Solowjows, Alexander Kwatkowskis, der der Märzangeklagten, die der 20 und der 17 Narodowolzy, in denen vielfach mein Name genannt wurde – schufen mir, der zuletzt Verhafteten, eine Ausnahmestellung. Diese Stellung legte mir Verpflichtungen auf; als letztes Mitglied des Vollzugskomitees und Vertreterin der Partei mußte ich vor dem Gericht mein letztes Wort sagen.

Meine Stimmung war aber nicht danach, Reden zu halten. Ich war sehr niedergedrückt durch die allgemeine Lage in unserer Heimat; es konnte kein Zweifel mehr bestehen, der Kampf war zu Ende; auf Jahre hinaus hatte die dunkelste Reaktion gesiegt; sie war desto schwerer zu ertragen, als sie unerwartet kam, denn man hatte anstatt ihrer eine Erneuerung, eine Umwandlung erwartet. Der Kampf wurde unerhört grausam geführt, man zahlte mit dem Leben, man glaubte, hoffte und vertraute. Aber das Volk war stumm und verstand uns nicht. Die sogenannte Gesellschaft verstand uns und schwieg trotzdem. Die Geschichte war gegen uns: um 25 Jahre waren wir dem Gang der Ereignisse – der allgemeinen politischen Entwicklung der Gesellschaft und des Volkes vorausgeeilt, und wir blieben einsam. Die Elite der russischen revolutionären Kräfte, gering an Zahl, doch kühnen Geistes, war hinweggefegt worden von der Bühne des Lebens, war zertreten und vernichtet. Meine Kameraden aus dem Vollzugskomitee starben nacheinander, die einen auf dem Schafott, die anderen langsam an Hunger in den Mauern des Alexej-Vorwerks. Die ganze Organisation der »Narodnaja Wolja« war nur noch ein Trümmerhaufen, und auf diesen Trümmern feierte die »Arbeit« Sergej Degajews ihre Triumphe.

In dieser Zeit, im Jahre 1884, lag die einst so stolze Partei, die danach gestrebt hatte, die Autokratie niederzuwerfen, die nicht nur Rußland erschüttert, sondern die ganze zivilisierte Welt in Staunen versetzt hatte, zerschmettert am Boden, ohne daß eine Hoffnung vorhanden war, daß sie in nächster Zukunft aus ihrem Zusammenbruch wieder erstehen könnte.

Und während ich von der langen Untersuchungshaft in der Festung körperlich völlig gebrochen und seelisch von den schweren Erschütterungen zermürbt war, trat der Moment ein, wo es galt, um jeden Preis die letzte Pflicht gegenüber der zerschmetterten Partei und den zu Grunde gegangenen Kameraden zu erfüllen; ich mußte mein Glaubensbekenntnis öffentlich ablegen, vor Gericht die moralischen Gründe klarlegen, durch die wir uns in unserer Tätigkeit leiten ließen, das soziale und politische Ideal entwickeln, das wir anstrebten.

Die Stimme des Vorsitzenden ertönte, mein Name wurde genannt. Eine natürliche Stille trat ein: die Augen aller, der Unsrigen wie der Fremden, richteten sich auf mich, und alles lauschte, noch ehe die Worte meinen Lippen entflohen.

Mir war bange: was dann, wenn plötzlich mitten im Reden meine Gedanken sich verwirren würden, wie mir's schon manchmal in jenen schicksalsschweren Tagen geschehen war?

Unter allgemeiner Stille, die Nerven gespannt durch die allseitige Aufmerksamkeit, in nur schwer beherrschter Erregung sprach ich mein Schlußwort:

»Der Beurteilung des Gerichtshofs unterstehen gegenwärtig meine Handlungen, die ich seit dem Jahre 1879 begangen habe. Der Staatsanwalt hat in seinem Plaidoyer seiner Verwunderung sowohl über deren Art als über deren Anzahl Ausdruck gegeben. Diese Verbrechen haben aber, wie jedes andere Verbrechen auch, ihre eigene Geschichte. Sie stehen in festgegliedertem, logischem Zusammenhang mit meinem ganzen vergangenen Leben. Während der Untersuchungshaft habe ich wiederholt darüber nachgedacht, ob mein Leben einen anderen Verlauf hätte nehmen können, als dies der Fall ist, und ob es wo anders als auf der Anklagebank hätte enden können? Und jedesmal habe ich mir geantwortet: Nein!

Mein Leben begann unter sehr günstigen Verhältnissen. Für meine Erziehung bedurfte ich keiner Leitung, ich brauchte nicht am Gängelbande geführt zu werden. Meine Familienangehörigen waren entwickelte und liebevolle Menschen, so daß ich keinen Kampf auszufechten hatte, wie das so oft zwischen der alten und der jungen Generation der Fall zu sein pflegt. Materielle Not und Sorge um das tägliche Brot oder um wirtschaftliche Unabhängigkeit habe ich nicht gekannt. Als ich mit siebzehn Jahren das Institut verließ, kam mir zum erstenmal der Gedanke, daß sich nicht alle in den gleichen glücklichen Verhältnissen befänden wie ich. Die unklare Vorstellung, daß ich einer kulturellen Minderheit angehörte, regte mich dazu an, über die Pflichten nachzudenken, die mir meine Stellung im Hinblick auf die übrige kulturlose Masse auferlegte, die von einem Tag in den andern unter dem Druck schwerer physischer Arbeit dahinlebt und das entbehrt, was man gewöhnlich mit dem Namen ›Güter der Zivilisation‹ zu benennen pflegt. Diese Vorstellung von dem Kontrast zwischen meiner Lage und der Lage, in der sich die Menschen meiner Umgebung befanden, gab mir zum erstenmal den Gedanken ein, daß ich mir ein Lebensziel stecken müsse, das dem Wohle dieser Mitmenschen zu gelten habe.

Die russische Publizistik jener Zeit und die Frauenbewegung, die zu Beginn der siebziger Jahre lebhaft entbrannt war, gaben mir eine fertige Antwort auf meine Fragen und Wünsche; sie wiesen mir die ärztliche Tätigkeit als ein Arbeitsfeld, das meinen philanthropischen Neigungen Genüge tun mußte.

Damals war die Frauenakademie in Petersburg bereits eröffnet, doch zeichnete sie sich von Anfang an durch Hinfälligkeit aus, die auch heute noch für sie kennzeichnend ist; sie lag von jeher in den letzten Zügen. Da mein Entschluß aber fest gefaßt war, und ich nicht infolge irgendeines Zufalles von dem einmal beschrittenen Wege abweichen wollte, beschloß ich, ins Ausland zu reisen.

So gestaltete ich denn mein Leben wesentlich um und reiste nach Zürich, wo ich mich an der Universität immatrikulieren ließ. Das Leben im Auslande ist von dem in Rußland sehr verschieden. Das, was ich dort zu sehen bekam, war mir vollkommen neu. Ich war darauf durch das, was ich früher gesehen und früher gelernt hatte, nicht vorbereitet, auch nicht auf eine richtige Bewertung alles dessen, was ich dort vorfand. Die Idee des Sozialismus griff ich anfänglich beinahe instinktiv auf. Mir schien, sie wäre nichts anderes, als eine Erweiterung jener philanthropischen Gedanken, die mich früher bereits erfüllt hatten. Eine Lehre, die Gleichheit, Brüderlichkeit und allgemeines Menschenglück verhieß, mußte geradezu blendend auf mich wirken. Mein Gesichtskreis erweiterte sich: an Stelle von allerhand Phantastereien traten nun Vorstellungen von Volk und Menschheit. Zudem kam ich in einer Periode ins Ausland, da die jüngsten Ereignisse in Paris und die Revolution in Spanien in der ganzen Arbeiterwelt Westeuropas lebhaften Widerhall fanden. Unter anderem lernte ich auch die Lehre und die Organisation der Internationale kennen. Erst später vermochte ich zu beurteilen, daß vieles von dem, was ich damals zu sehen bekam, nur äußerlich zur Schau getragen war. Außerdem betrachtete ich die Arbeiterbewegung, die ich kennengelernt hatte, nicht als ein Produkt des westeuropäischen Lebens, und glaubte, dieselbe Lehre müsse für alle Zeiten und überall Geltung haben.

Für die sozialistischen Ideen begeistert, trat ich im Auslande dem ersten revolutionären Kreise bei, dem auch meine Schwester Lydia angehörte. Die Organisation dieses Kreises war sehr locker; jedes Mitglied durfte aktiv vorgehen, wann immer und in welcher Form es ihm beliebte. Die Betätigung bestand in sozialistischer Propaganda, getragen von der vagen Hoffnung, das Volk wäre schon – infolge seiner Armut und seiner sozialen Lage – sozialistisch von Haus aus, und es bedürfe nur eines Wortes, um den sozialistischen Ideen Aufnahme zu verschaffen.

Das, was wir damals soziale Revolution nannten, trug eher den Charakter einer friedlichen Umgestaltung – wir glaubten nämlich, die dem Sozialismus feindliche Minderheit würde angesichts der Unmöglichkeit eines Kampfes gezwungen sein, der Mehrheit nachzugeben, die ihre eigentlichen Interessen erkannt hatte, so daß von Blutvergießen keine Rede sein könne.

Fast vier volle Jahre blieb ich im Auslande. Stets war ich in gewisser Weise konservativ, indem ich meine Entschlüsse nicht schnell faßte; hatte ich sie aber einmal gefaßt, so ließ ich nur schwer davon ab. Als daher der Kreis im Frühjahr 1874 beinahe vollzählig nach Rußland zurückkehrte, blieb ich allein im Ausland zurück, um mein Medizinstudium fortzusetzen.

Die Laufbahn meiner Schwester und anderer Mitglieder unseres Kreises nahm ein sehr trauriges Ende. Sie wirkten zwei oder drei Monate als Arbeiterinnen und Arbeiter in Fabriken, kamen dann für zwei bis drei Jahre in Untersuchungshaft, wurden endlich vor Gericht gestellt, das einige von ihnen zu Zwangsarbeit, andere zur Ansiedelung oder zur Verbannung nach Sibirien verurteilte. Als sie noch in Untersuchungshaft waren, ließen sie den Ruf an mich ergehen, nach Rußland zurückzukehren, um die Angelegenheiten unseres Kreises zu fördern. Da ich mir hinreichende medizinische Kenntnisse erworben hatte und glaubte, eine Promotion zum Doktor der Medizin und Chirurgie würde nur dazu dienen, meinen Ehrgeiz zu befriedigen, begab ich mich nach Rußland.

Hier kam ich sofort in eine Krisis herein: die Bewegung des ›In-das-Volk-Gehens‹ hatte bereits Fiasko gemacht. Trotzdem fand ich noch Menschen zur Genüge, die mir sympathisch waren, denen ich vertraute und mit denen ich zusammenkam. Ich beteiligte mich gemeinsam mit ihnen an der Ausarbeitung jenes Programms, das unter dem Namen: Programm der Naròdniki bekannt ist.

Ich begab mich aufs Land. Das Programm der Naròdniki verfolgte, wie dem Gericht bekannt ist, Ziele, die gesetzlich unzulässig sind – handelte es sich doch darum, eine Übergabe des ganzen Landes in die Hand der Bauerngenossenschaften zu erreichen. Doch zunächst sollte die Rolle der unter dem Volke lebenden Revolutionäre in einer Betätigung bestehen, die in allen Staaten nicht anders als kulturell genannt wird. So kam denn auch ich mit ausgesprochen revolutionären Absichten aufs Land – aber ich denke wegen meines Verhaltens den Bauern gegenüber und wegen meines Wirkens unter ihnen wäre ich nirgends auf der Welt als eben nur in Rußland verfolgt worden –, ja, ich hätte vermutlich als ein nicht untaugliches Glied der Gesellschaft gegolten.

Als Arztgehilfin trat ich der Sémstwoorganisation bei.

Sehr bald hatte sich eine ganze Liga gegen mich gebildet, in der zuoberst der Adelsmarschall und der Chef der Landpolizei, zuunterst aber – der Landgendarm, der Amtsbezirksschreiber und andere mehr standen. Allerhand Gerüchte wurden über mich in Umlauf gesetzt; so – ich hätte keinen Paß, während ich doch meinen legalen Paß hatte, mein Diplom wäre gefälscht u. a. m. Wenn die Bauern sich weigerten, ein für sie unvorteilhaftes Geschäft mit dem Gutsbesitzer abzuschließen, so hieß es, ich sei daran schuld; wurde dem Schreiber das Gehalt herabgesetzt, so hieß es gleichfalls, mich allein träfe die Schuld.

Geheime und öffentliche Erkundigungen wurden eingezogen; der Chef der Landpolizei kam angefahren; einige Bauern wurden verhaftet: beim Verhör wurde mein Name genannt; zweimal wurde ich beim Gouverneur verdächtigt, und nur dank der Bemühungen des Vorsitzenden der Sémstwoverwaltung ließ man mich ungeschoren. Es bildete sich eine Polizeispitzelatmosphäre um mich her: man begann mich zu fürchten. Die Bauern machten Umwege durch die Hinterhöfe, um mich in meinem Hause aufzusuchen ...

Diese Umstände waren es eben, die mich dahin brachten, mir selber die Frage vorzulegen: Was kann ich unter solchen Verhältnissen tun?

Ich sage es frei heraus: ich befand mich, als ich mich auf dem Lande ansiedelte, in einem Alter, in dem man keine groben Fehler, im Sinne von Taktlosigkeiten etwa, begeht – in einem Alter, in dem die Menschen für fremde Ansichten duldsamer und aufnahmefähiger werden. Ich wollte den Boden sondieren, ich wollte in Erfahrung bringen, was der Bauer selbst denkt und wünscht. Ich sah, daß keinerlei Tatsachenmaterial gegen mich vorlag, daß ich recht eigentlich wegen meiner geistigen Einstellung, wegen meiner Richtung verfolgt wurde: man mutmaßte, es wäre ganz ausgeschlossen, daß sich ein Mensch, der einiger Bildung nicht entbehrte, auf dem Lande niederlassen könne, ohne daß er im geheimen furchtbare Ziele verfolge.

So war ich denn der Möglichkeit einer sei es auch nur physischen Annäherung an das Volk beraubt, und nicht allein, daß ich überhaupt nichts tun konnte, nein – es war mir sogar verwehrt, auch wenn es sich um die alleralltäglichsten Dinge handelte, mit ihm umzugehen.

Da wurde ich stutzig: Hatte ich vielleicht Fehler gemacht, die ich künftig vermeiden könnte, indem ich irgendwo anders hin übersiedelte, um dort das Experiment zu wiederholen? Es fiel mir schwer, die Pläne, die ich einmal gefaßt hatte, wieder aufzugeben. Vier Jahre hatte ich Medizin studiert und hatte mich an den Gedanken gewöhnt, unter den Bauern zu arbeiten.

Hierüber sann ich nun nach, sammelte auch Nachrichten über die Erfahrungen Anderer und überzeugte mich davon, daß es weder an meiner Person lag noch an den Verhältnissen jener Gegend, sondern an den allgemeinen Bedingungen – genauer gesagt, daran, daß es in Rußland keine politische Freiheit gibt.

Bis zu diesem Augenblick waren meine Aufgaben gemeinnützig-altruistische gewesen: sie berührten meine persönlichen Interessenkreise nicht. Nun war ich zum erstenmal in der Lage, an mir selber die Unzulänglichkeiten unserer Regierungsform zu erfahren.

Bereits früher war an mich des öfteren die Aufforderung ergangen, der Vereinigung ›Land und Freiheit‹ beizutreten und unter der Intelligenz zu wirken. Weil ich aber an meinem einmal gefaßten Entschlusse festhielt, hatte ich diese Aufforderungen bisher abgelehnt und blieb bis zur äußersten Möglichkeit auf dem Lande.

So war es denn nicht etwa leichtsinniges Verhalten, sondern bitterste Notwendigkeit, die mich dazu brachte, auf meine ursprünglichen Ansichten zu verzichten und einen anderen Weg zu beschreiten.

Damals kam vereinzelt die Meinung auf, das politische Element müsse bei den Aufgaben einer revolutionären Partei eine gewisse Rolle spielen. In der Vereinigung ›Land und Freiheit‹ hatten sich zwei Gruppen gebildet, die entgegengesetzte Ziele verfolgten. Als ich mit dem Dorfe fertig war, erklärte ich der Vereinigung ›Land und Freiheit‹, daß ich mich gegenwärtig für ungebunden hielte.

Damals hatte ich zwischen zweierlei zu wählen: entweder – ich tat einen Schritt rückwärts, reiste wieder ins Ausland und promovierte dort, diesmal aber nicht um unter Bauern, sondern um unter Reichen zu arbeiten, was ich nicht tun wollte, oder – und eben dieses zog ich vor – meine Energie und Kraft daran zu setzen, die Widerstände zu brechen, an denen meine Wünsche gescheitert waren. Nachdem ich der Vereinigung ›Land und Freiheit‹ beigetreten war, erhielt ich die Aufforderung, am Kongreß in Woronesch teilzunehmen; dort hatte sich die Partei zwar noch nicht gespalten, es wurde aber mehr oder weniger bestimmt ausgesprochen, zu welchen Ansichten die einzelnen Mitglieder neigten. Die einen sagten, man müsse die alten Richtlinien beibehalten, d. h. auf dem Lande bleiben und einen Volksaufstand in irgendeiner Gegend organisieren; die anderen wieder waren der Meinung, man müsse in den Städten leben und müsse seine Wirksamkeit gegen die Regierung richten.

Von Woronesch fuhr ich nach Petersburg, wo die Vereinigung ›Land und Freiheit‹ bald auseinanderfiel. Man trug mir an, Mitglied des Vollzugskomitees der Partei ›Volks-Wille‹ zu werden, und ich erklärte mich hierzu bereit. Mein vergangenes Leben hatte mich zur Überzeugung gebracht, daß der einzige Weg, auf dem die bestehende Ordnung verändert werden konnte, der Weg der Gewaltanwendung sei. Den Weg des Friedens konnte ich nicht beschreiten: bekanntlich haben wir keine Pressefreiheit – so ist es denn unmöglich, daran zu denken, bestimmte Ideen durch das gedruckte Wort zu verbreiten. Hätte mir gleichviel welches Organ der Gesellschaft einen anderen Weg außer dem der Gewaltanwendung gewiesen – möglich, daß ich ihn gewählt, sicher aber, daß ich es versucht hätte, ihn zu gehen. Ich sah aber weder in den Semstwos noch beim Gericht, noch in irgendwelchen anderen Körperschaften Protest rege werden; auch die Literatur suchte nicht auf eine Umgestaltung des Lebens, wie wir es führen, hinzuwirken – so sah ich denn den einzigen Ausweg aus der Lage, in der wir uns befinden, in der Anwendung von Gewalt.

Nachdem ich mir diesen Grundsatz zu eigen gemacht hatte, ging ich auf eben diesem Wege bis ans Ende. Stets habe ich von der Persönlichkeit, sowohl von andern, als – selbstredend – auch von mir selber, Konsequenz und Übereinstimmung von Wort und Tat verlangt, und mir schien – wenn ich theoretisch zu der Erkenntnis gekommen war, daß man nur durch Gewaltanwendung etwas erreichen könne, so wäre ich damit auch verpflichtet, unmittelbar an den Gewaltmaßnahmen teilzuhaben, die von der Organisation, der ich mich angeschlossen hatte, unternommen werden würden. Sehr vieles nötigte mich hierzu. Ich hätte nicht mit ruhigem Gewissen andere zur Beteiligung an Gewaltmaßnahmen hinzuziehen können, wenn ich selber daran nicht beteiligt gewesen wäre: nur meine persönliche Beteiligung gab mir das Recht, mit verschiedenen Vorschlägen an andere Personen heranzutreten. Die Organisation ›Volks-Wille‹ zog es eigentlich vor, mich für andere Aufgaben zu verwenden – so für Propaganda unter der Intelligenz –, ich wollte und verlangte aber eine andere Betätigung: ich wußte, daß auch das Gericht stets sein Augenmerk darauf richten würde, ob ich an einer Aktion unmittelbar beteiligt war, und daß die öffentliche Meinung mit besonderer Wut über jene herfällt, die an Gewaltakten unmittelbar beteiligt waren, so daß ich es einfach für eine Lumperei gehalten hätte, andere auf einen Weg zu drängen, den ich selber nicht zu beschreiten gesonnen war.

Das ist die Erklärung für jene ›Blutgier‹ Vom Staatsanwalt gebrauchter Ausdruck, die so fürchterlich und unbegreiflich erscheint und die in Handlungen zum Ausdruck kommt, deren einfache Aufzählung dem Gericht als zynisch erscheinen würde, wenn sie nicht Motiven entsprängen, die keinesfalls – wie mir scheint – unehrenhaft sind.

In dem Programm, an das ich mich bei meinem Wirken hielt, war die wesentlichste Seite, die für mich die größte Bedeutung hatte – Vernichtung des absolutistischen Regimes. Ob unser Programm eine Republik oder eine konstitutionelle Monarchie vorsieht – dem messe ich eigentlich keine praktische Bedeutung bei. Ich meine, auch wenn man eine Republik anstrebt – im Leben durchsetzen wird sich nur jene Form der Staatsbildung, zu der die Gesellschaft sich als vorbereitet erweisen wird –, so daß diese Frage für mich keine besondere Bedeutung hat. Für die Hauptsache, für das Allerwesentlichste halte ich, daß bei uns solche Verhältnisse geschaffen werden, in denen die Persönlichkeit die Möglichkeit hat, ihre Kräfte allseitig zu entwickeln und sie ganz und gar in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Und mir scheint, so wie die Dinge bei uns liegen, sind diese Verhältnisse nicht gegeben.«

Als ich geendet hatte, fragte der Vorsitzende weich: »Haben Sie alles gesagt, was Sie sagen wollten?«

»Ja,« erwiderte ich.

Und keine Macht der Welt hätte mich bewegen können, noch weiter zu sprechen – so groß war meine Erregung und meine Erschöpfung.

Die mitfühlenden Blicke, das Händedrücken und die Begrüßungen der Kameraden und Verteidiger in der darauffolgenden Pause zeigten mir, daß meine Rede Eindruck gemacht hatte.

Der Justizminister Nabokow hatte bemerkt, daß der Rechtsanwalt Leontjew die Rede stenographiert hatte, und er wandte sich an ihn nach der Sitzung mit der Bitte, ihm eine Abschrift der Rede zu geben.

Die letzte Pflicht war erfüllt, und eine unendliche Ruhe zog in meine Seele ein. Man sagt, daß man den Segen einer solchen Seelenruhe nur vor dem Tode empfindet. Die Vergangenheit mit ihren so peinlichen Erlebnissen, ihren qualvollen Eindrücken der verschiedensten Menschen, der einen, die durch ihre Tapferkeit und Selbstverleugnung in höchstes Staunen versetzten – der anderen, die durch ihre schmachvolle Feigheit in die größte Verzweiflung stürzten – alles, was zurücklag, was ich an Großmut und Gemeinheit durchlebt hatte, all das verschwand irgendwie in der Ferne. Der Vorhang der Unwiderruflichkeit senkte sich über die Tragödie, die bis zum letzten Akt durchkostet worden war. Ja! Die Vergangenheit verschwand, und die Zukunft, die schreckliche Zukunft mit ihrem Scheiden aus dem Leben, mit ihrer Trennung von den Menschen – war noch nicht da. Es war eine Atempause. Ein ereignisvoller Zeitabschnitt im Leben hatte seinen Abschluß gefunden, die tote Periode der herannahenden Zukunft hatte noch nicht einmal eine Vorstellung im Bewußtsein erweckt. Ich begann so leicht, so unbehindert zu atmen. Vorbei war die Periode meines Lebens, in der ich im Dienste der Idee gestanden, vorbei mit all ihren Erinnerungen, die einen dunklen Schatten auf sie geworfen hatten.

Und stand ich denn nicht vor dem Tode? Bedeutet denn der bürgerliche Tod einem Menschen, der sich der sozialen Tätigkeit gewidmet bat, nicht dasselbe, was für einen Privatmenschen der physische Tod ist? Und wie dieser sterbend Seligkeit empfindet, so empfand auch ich sie beim Rückblick auf mein Leben; ich war mir dessen bewußt, daß ich alles getan hatte, was in meinen Kräften gelegen hatte, daß ich alles, was ich von der Gesellschaft und vom Leben je genommen, dieser Gesellschaft und dem Leben zurückerstattet hatte.

Alle moralischen und physischen Kräfte waren verbraucht – nichts blieb übrig – sogar der Wille zum Leben war verschwunden. Und während mich das Gefühl, meine Pflicht vor der Heimat, der Gesellschaft, der Partei erfüllt zu haben, beruhigte –, wurde ich erst ganz Mensch, die Tochter meiner Mutter, die Schwester meiner Schwester; mitten zwischen den Trümmern waren sie allein mir geblieben.

Ich fühlte mich wie ein Schwerverwundeter, über dem lange das Messer des Chirurgen geschwebt hatte. Endlich ist die Operation gemacht, sie ist vollendet. Die Narkose ist geschwunden, der Kranke sieht sich im sauberen, kühlen, weißen Bett. Hände und Füße sind ihm abgeschnitten, aber alle Unruhe und Befürchtungen liegen hinter ihm, er hat keine Schmerzen, er ist glücklich, ohne die Tiefe des Unglücks, das seiner harrt und im nächsten Augenblick schon an seine Tür pochen wird, zu erfassen.

Das Urteil lautete: Tod durch den Strang; und noch sieben Kameraden – unter ihnen sechs Offiziere – waren gleich mir zum Tode verurteilt worden.

Nach Verkündigung des Todesurteils kam der Inspektor des Untersuchungsgefängnisses zu mir in die Zelle und sagte:

»Die zum Tode verurteilten Offiziere haben beschlossen, ein Begnadigungsgesuch dem Zaren zu unterbreiten. Aber Baron Stromberg zögert. Er möchte Ihre Meinung kennen, ehe er sich entscheidet; soll er dem Wunsche der Kameraden willfahren und das Gesuch unterschreiben?«

»Sagen Sie, bitte, Stromberg,« erwiderte ich, »daß ich nie jemand raten werde, etwas zu tun, das ich unter keinen Umständen selbst tun würde.«

Der Inspektor schaute mich vorwurfsvoll an. »Wie grausam Sie sind!« sagte er.

 

Nachdem das Gericht das Urteil gesprochen hatte, besuchten mich meine Mutter und meine Schwester am darauffolgenden Sonntag. Ich ahnte nicht, daß ich sie zum letztenmal sah. Die Schwester scheint es entweder gewußt oder geahnt zu haben, denn lange stand sie auf der Schwelle, und ihr trauriger Blick riß sich nur schwer von mir los.

Mir wurde sonderbar bang zumute unter diesem langen, schmerzerfüllten Blick. Noch eine Minute – und ich hätte es nicht ausgehalten; aber die Tür verschloß sich – für immer.

Montag gegen 1 Uhr – ich beendete gerade mein Frühstück – stürzte die Aufseherin in die Zelle mit den Worten: »Man ist gekommen, Sie zu holen!« In zehn Minuten war alles eingepackt; der Gefängniswagen führte mich in die Peter-Paulsfestung.

Dort bezog ich wieder die Zelle Nr. 43.

Im Korridor war alles still; in Erwartung, daß der Aufseher bald mit dem Tee kommen werde, legte ich mich auf die Matratze und schlief fest und tief ein.

Mir träumte, ich sei wieder mit der Mutter zusammen, schmiegte mich an sie und sagte ihr wie einst: Mütterchen, wie schön bist du: wirklich zum Verlieben! ... Oder ich sehe die Schwester, die mir einen Strauß Teerosen gebracht hat, noch zarter und duftiger, als die früheren ...

Das Schloß dröhnte, und noch ehe ich Zeit hatte, aufzuspringen – stand in der Kammer der dicke und grobe Offizier Jakowlew in Begleitung eines Gendarmen und eines Soldaten. Ohne mich zur Besinnung kommen zu lassen, begann er ein Schriftstück zu verlesen, das er in der Hand hielt.

Ich verstand nichts, konnte einfach nichts verstehen. Der Schlaf hielt noch immer Körper und Geist gefangen. Was bedeutete das? Irgendwelche Worte, eine zusammenhanglose Aufzählung von Gegenständen: ein Paar Schuhe, ein Kopftuch aus Leinwand, ein Arschin, zwei Werschock ... ein Blechkrug ... 5000 Spießruten ... ich begriff nichts!

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte ich und bedeckte die Augen mit der Hand. »Ich schlief und bin noch nicht munter; kommen Sie etwas später.«

Nach einer Viertelstunde trat der Offizier wieder ein; wieder verlas er das Papier. Nun begriff ich. »Gehen Sie in die andere Zelle« – sagte der Gendarm.

Es war die nächste Zelle neben mir, die leer war. In ihr durchsuchte mich gewöhnlich eine Frau, die speziell zu diesem Zweck kam. Sie war auch jetzt hier.

Ich trug ein elegantes, blaues Tuchkleid. Die Mutter hatte es mir zum Gerichtstag gebracht. Ich zog das und alles übrige bis auf den letzten Faden aus; ich nahm auch das Heiligenbildchen ab, mit dem mich die Mutter gesegnet hatte. Auf der Matratze lag ein Haufen Lumpen. Die Frau warf mir ein grobes, noch ungewaschenes Bauernhemd über und ein ebensolches Kopftuch; um die Füße wickelte sie mir grobe Lappen und schob mir dann ungeheuer große Pantoffeln hin; dann gab sie mir einen Rock aus grauem Soldatentuch. Ich schaute verwundert diesen Rock an: er war ganz zerfressen, nicht von Motten, sondern von irgendeiner großen, gefräßigen Raupe, die ganze lange Streifen ausgefressen hatte. Dann gab sie mir einen langen Arrestantenmantel mit dem gelben Fleck auf dem Rücken. Das Futter war durchtränkt von Schmutz, Schweiß und Fett: man sah, daß ihn jemand sehr lange getragen hatte. Er war mir viel zu groß, fiel weit über die Schultern, und die Ärmel bedeckten die Hände.

Höchstwahrscheinlich hätte man mir diesen Anzug gegen einen neuen umgetauscht, wenn ich protestiert hätte. Doch ich protestierte nicht; ich war einem fremden Willen untergeordnet; ich zog es vor, zu schweigen.

Die ungeheuerliche Wandlung hatte stattgefunden; ich kehrte in meine Zelle zum Aschenbrödel verwandelt zurück. Die Veränderung war so ungeheuer, der Kontrast so stark, daß ich Lust hatte, wild, unnatürlich aufzulachen; zu lachen über mich selbst, über das blaue Tuchkleid, über das Rebhuhn, die Birnen, die man mir vor einigen Stunden zum Frühstück von Hause gebracht hatte.

Die Zelle hatte auch ein anderes Aussehen; das mußte niederdrückend auf die Vorstellung wirken.

Zwei Matratzen, die auf der Pritsche gelegen hatten, waren verschwunden, anstatt ihrer lag ein Strohsack da; von zwei Kissen war nur noch eins vorhanden; an Stelle der Decke lag ein Stück alter Flausch; auf dem Tische stand anstatt des weißen Wasserkruges ein Blechkrug. Ein alter, zerbeulter Krug – es sah aus, als wäre er absichtlich verstümmelt worden; ganz verrostet und der Rand voll scharfer Kanten; wenn man mir des morgens jetzt anstatt wie bisher Tee, heißes Wasser gab, dazu Schwarzbrot und Salz, mußte ich lange eine ungefährliche Stelle zum Trinken suchen, um mir die Lippen nicht zu verwunden ...

Mit der veränderten Umgebung verschwand auch die Seelenruhe, die mir in den vorhergegangenen Tagen eine solche Erquickung bereitet hatte. Die Gedanken sprangen und arbeiteten fieberhaft erregt. Ich dachte jetzt weder an mich noch an die mir nahestehenden Menschen, auch nicht an das, was mich erwartete. Die Gedanken richteten sich – ich weiß nicht warum – auf das Schicksal der revolutionären Bewegung im Westen und bei uns. Ich dachte an die Vererbung der Ideen, an ihren Übergang aus einem Lande ins andere. Szenen aus der fernen Vergangenheit erstanden wieder in der Erinnerung, die Phantasie arbeitete fieberhaft. Bücher hatte ich keine, aber selbst wenn ich sie gehabt hätte, ich wäre jetzt nicht imstande gewesen, mich darauf zu konzentrieren. Nur das Evangelium gab man mir. Einst, in der Kindheit, hatte ich mich daran begeistert, jetzt entsprach es nicht meiner Stimmung. In den ersten Tagen berührte ich es nicht; dann später, als ich alles durchdacht und die Erregung sich allmählich gelegt hatte, las ich einzelne Worte, Phrasen, deren Sinn mir unverständlich blieb. Es war ein rein mechanisches Lesen; dann begann ich den Text erst ins Französische und dann ins Deutsche zu übertragen.

Jeden Sonnabend besuchte der Doktor Wilms die Gefangenen der Peter-Paulsfestung. So kam er auch diesmal. Er schritt durch den Korridor mit dem Inspektor Lesnik, und sie unterhielten sich laut und lachend. Das Lachen brach jäh ab, als der Gendarm meine Tür öffnete und er mich erblickte; das alte strenge Gesicht mit den groben Zügen verzog sich: seit zwei Jahren besuchte er mich, und nun erblickte er mich zum erstenmal in dieser veränderten Gestalt.

Er wandte sein Gesicht ab und fragte wie üblich: »Wie steht es mit Ihrer Gesundheit?«

Wie sonderbar, eine derartige Frage an einen Menschen zu richten, der zum Tode verurteilt ist!

»Es geht« – erwiderte ich.

Am achten Tage hörte ich abends, wie Türen im Korridor geöffnet und geschlossen wurden. Allem Anscheine nach passierte jemand die Zellen. Man öffnete auch meine Tür. Ein alter General, der Kommandant der Festung, trat mit dem Inspektor und dem übrigen Gefolge ein. Er hob das Papier, das er in der Hand hielt, hoch und las langsam und laut: »Seine Majestät der Kaiser hatte die Gnade, Ihre Todesstrafe in lebenslängliche Zwangsarbeit umzuwandeln.«

Glaubte, erwartete ich überhaupt, daß man mich hinrichten werde? War ich bereit zu sterben?

Nein – ich dachte nicht daran.

Man hatte nach dem 1. März Sofja Perowskaja hingerichtet, und ich glaube, diese erste Hinrichtung einer Frau hatte allgemein einen peinlichen Eindruck hervorgerufen. Damals war die Hinrichtung einer Frau noch keine übliche Sache, und seitdem waren drei Jahre vergangen.

Aber wenn das Todesurteil vollzogen worden wäre, so wäre ich vollkommen ruhig gestorben; der Stimmung nach war ich zum Tode bereit. Ich hätte aber auch keinen Enthusiasmus empfunden; meine Kräfte waren verbraucht, ich hätte einfach den schnellen Tod auf dem Schafott dem langsamen vorgezogen, dessen Unausbleiblichkeit ich zu jener Zeit klar erkannte.

So gingen 10 Tage bis zum 12. Oktober 1884 hin; an diesem Tage führte man mich aus der Festung fort – ohne daß ich gewußt hätte, wohin.

Es war die Schlüsselburg, die mich aufnahm. Dort begann mein jenseitiges Leben, ein mir bisher noch unbekanntes Leben, das Leben eines Menschen, der jeder Rechte, der bürgerlichen wie der menschlichen, beraubt ist.


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