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Beziehungen zum Ausland

Der Einfluß der westeuropäischen Auffassung der sozialen Frage auf die russische Revolutionsbewegung hatte seit 1876 völlig aufgehört; seit dieser Zeit war sie selbständig geworden, hatte ihre eigene Form und Richtung bekommen. Auch die Emigration hatte für das revolutionäre Rußland keine Bedeutung mehr; die literarische und Verlags-Tätigkeit wurde jetzt in Rußland selbst gepflegt und wurde hier zum Sprachrohr der neuen Strömungen und Lebensbedürfnisse. Regelmäßige Beziehungen der revolutionären Organisation zu den Emigranten rissen ab, sie erschienen der Partei der Tat als verlorene Glieder. So war die Lage bis zu den Attentaten des 19. November 1879 und 5. Februar 1880, die ganz Europa erschütterten und in allen Kreisen der westeuropäischen Gesellschaft ein ungeheures Interesse für die Tätigkeit der revolutionären Partei in Rußland erweckten.

Bald darauf forderte die zaristische Regierung von Frankreich die Auslieferung Hartmans, der im Auftrag des Vollzugskomitees unter falschem Namen das Haus erworben hatte, von dem aus der kaiserliche Zug am 19. November in die Luft gesprengt worden war. Wie sehr sich auch die russische Botschaft in Paris abmühte – das republikanische Frankreich blieb bei seiner Weigerung. Das war eine schallende Ohrfeige Europas für den Vertreter des Zaren, eine Niederlage der Regierung, ein Triumph der revolutionären Partei.

An diesem Vorfall erkannte der »Volks-Wille«, von welcher Bedeutung die öffentliche Meinung Europas sein konnte. Wir beschlossen, im Auslande die Propaganda für unsere wirklichen Ziele und Bestrebungen zu organisieren und die Sympathien der europäischen Gesellschaft zu gewinnen, indem wir sie über die Innenpolitik des Zarenreichs aufklärten. Wir gedachten den Thron des Zaren, den wir im Innern des Landes durch Dynamit erschütterten, außerhalb der Grenzen zu diskreditieren und womöglich einen moralischen Druck, ja vielleicht sogar eine diplomatische Intervention gegen die in unserm finstern Reiche herrschende Reaktion herbeizuführen.

Dazu konnten wir jene revolutionären Kräfte ausnutzen, die für die revolutionäre Arbeit in Rußland verloren gegangen waren, nämlich die Emigranten. Wir schlugen Hartman und Lawrow vor, als Bevollmächtigte der Partei im Auslande eine Agitation im Geiste des Programms des »Volks-Willens« zu entfalten. Als Mittel dazu konnten Vorträge, Versammlungen, hauptsächlich aber Broschüren, Flugblätter und Artikel dienen, die die ökonomische und politische Lage in Rußland darstellten.

Hartman sollte zu diesem Zwecke die Großstädte Amerikas bereisen. Alle hervorragenden Persönlichkeiten der westeuropäischen sozialistischen Welt hatten ihm Unterstützung zugesagt; an einige von ihnen, wie z. B. an Karl Marx und Rochefort, wandte sich das Vollzugskomitee schriftlich mit der Bitte, Hartman als unserem Vertreter bei der Organisierung der Propaganda gegen den russischen Despotismus zu helfen. Der Verfasser des »Kapitals« antwortete mit seiner Zusage; gleichzeitig schickte er uns sein Porträt mit einer anerkennenden Widmung. Nach Hartmans Schilderung zeigte Marx den Brief des Komitees mit Stolz seinen Freunden und Bekannten. Aber nicht nur Karl Marx äußerte diese Hochachtung für die russische revolutionäre Bewegung, die Aufmerksamkeit war allgemein, die Zeitungen stürzten sich heißhungrig auf die Nachrichten aus Rußland, und die Ereignisse der russischen Revolutionschronik galten als die pikantesten Neuigkeiten. Um die Unmasse von Falschmeldungen und Entstellungen zu unterbinden, die die europäische Presse ihren Lesern über unsere Bewegung vorsetzte, mußten unsere ausländischen Agenten mit Korrespondenzen über alle wichtigen Vorgänge in der russischen Revolutionswelt regelmäßig beliefert werden. Das Komitee wählte mich im Herbst 1880 zum Sekretär für Auslandsbeziehungen. Ich führte den Briefwechsel mit Hartman, schickte ihm Artikel, Lebensdarstellungen und Lichtbilder der Hingerichteten und Verurteilten, alle revolutionären Veröffentlichungen usw.

Meine letzte Korrespondenz, die ich ihm schickte, betraf die Vorgänge des 1. März, sie enthielt den offenen Brief des Komitees an Alexander III. und eine Zeichnung von der Hand Kobosews, die das Innere des ›Käsegeschäfts‹ zeigte.

 

Noch während Alexander Michailow in Freiheit war, mietete das Vollzugskomitee einen Laden in einer der Straßen Petersburgs, in der Sadowaja, die der Zar oft bei seinen Fahrten passierte. Vom Laden aus sollte die Mine gelegt werden. Dort sollte ein Käsehandel eröffnet werden. Für die Rolle des Inhabers schlug ich meinen alten Freund Juri Nikolajewitsch Bogdanowitsch vor. Er war zwar nicht in Petersburg, kam aber meiner Aufforderung, dorthin zu reisen, sofort nach. Da er ein sehr praktischer und geschickter Mensch war, wurde er mit der schwierigen Rolle des Käsehändlers betraut. Als seine Frau bezog Jakimowa mit ihm den Laden, und wir begannen an der Mine zu arbeiten.

Im Januar 1881, als ich und einige andere Mitglieder des Komitees in der konspirativen Wohnung waren, die ich mit Issajew bewohnte, und die dem Vollzugskomitee zu Besprechungen diente, trat Issajew ein und legte vor uns auf den Tisch ein kleines Bündel dünner Zettel: »Von Netschajew! – aus der Peter-Paulsfestung.«

Diese Worte, von Issajew ganz ruhig gesprochen, machten auf uns einen überwältigenden Eindruck. Aus der Festung! Von Netschajew!

Ich war neunzehn Jahre alt, als ich in einem entlegenen Winkel des Kasaner Gouvernements zum ersten Male diesen Namen hörte; ich las damals in den Zeitungen den Prozeßbericht. Der Mord an Iwanow (wegen angeblichen Verrats) war in seiner ganzen Tragik beschrieben und machte auf mich einen unauslöschlichen Eindruck, alles andere ließ mich unberührt und blieb mir unverständlich.

Zum zweiten Male hörte ich den Namen Netschajews im Jahre 1872 in Zürich.

Wegen politischen Mordes als Emigrant in der Schweiz lebend, war Netschajew von einem Mitglied der Internationale, dem Polen Stempkowski, verraten und auf Verlangen der russischen Regierung ausgeliefert worden.

Die öffentliche Meinung der Schweiz war gegen Netschajew; die Agitation, die von einer Emigrantengruppe zu seinen Gunsten unternommen wurde, blieb erfolglos; eine von ihr in deutscher Sprache veröffentlichte Broschüre, in der der politische Charakter seiner Tätigkeit auseinandergesetzt wurde, fand keine weite Verbreitung; die Meetings, die man zum gleichen Zwecke einberufen hatte, waren schwach besucht, und als die Vertreter der Emigranten sich an die beiden stärksten Arbeiterorganisationen der Schweiz, den Grütli- und den Bildungsverein, um Schutz für das bedrohte Asylrecht wandten, da erwiderten beide Vereine, daß sie gemeine Mörder nicht schützten.

Abgesehen davon war das Schicksal Netschajews durch die Tatsache der Verhaftung besiegelt.

Eine Gruppe der studierenden Jugend – hauptsächlich Serben – beabsichtigten, Netschajew auf dem Wege zur Bahn zu befreien. Man nahm an, daß sich zu diesem Zweck eine Gruppe von 30 Menschen zusammenfinden würde; doch es kamen anstatt der nötigen 30 nur ein paar Mann; der Versuch, Netschajew zu befreien, soll trotzdem damals unternommen worden, jedoch mißlungen sein, da das Publikum mitgeholfen habe, Netschajew wieder zu ergreifen.

Wie bekannt, wurde Netschajew zu 20jähriger Zwangsarbeit verurteilt. Formell war der Vertrag mit der Schweiz eingehalten worden: Netschajew war als Strafverbrecher verurteilt worden. Aber anstatt ihn dem Urteil gemäß nach Sibirien zu schicken, ließ man ihn spurlos verschwinden: niemand ahnte, was mit ihm weiter geschehen, ob er lebte oder tot war.

So vergingen Jahre, bis jetzt, an diesem Januarabend des Jahres 1881, plötzlich sein Bild vor uns erstand, als er sich aus den Kasematten der Peter-Pauls-Festung an das Vollzugskomitee wandte.

Doch wie hatten seine Worte aus dem Alexej-Vorwerk, wo er lebendig begraben war, den Weg zu uns gefunden?

Als nach dem Prozeß der 16 Narodowolzy (Oktober 1880) Stepan Schirajew, Mitglied des Vollzugskomitees und Urheber des Attentats auf den kaiserlichen Zug, in die Festung gebracht wurde, setzte sich Netschajew mit ihm in Verbindung und beschloß, sich durch seine Vermittlung an die »Narodnaja Wolja« zu wenden. Durch einen ihm blind ergebenen Gendarmen schickte er an die Adresse eines Studenten, der ein Landsmann Schirajews und ein guter Bekannter Issajews war, einen Brief für das Vollzugskomitee.

Dieser Brief trug einen streng sachlichen Charakter; keine Ergüsse, keine Sentimentalitäten, kein Wort von dem, was Netschajew durchlitten hatte und gegenwärtig durchlebte. Schlicht und sachlich warf er die Frage seiner Befreiung auf. Seitdem er im Jahre 1869 ins Ausland geflüchtet war, hatte die revolutionäre Bewegung vollkommen ihren Charakter geändert, sie war unermeßlich in die Breite gegangen, war permanent geworden und hatte drei Phasen durchgemacht: die utopistische Phase des »Ins-Volk-Gehens«, die realistischere der »Land und Freiheit«-Agitation und die darauffolgende der Wendung ins Politische, der Bekämpfung der Regierung nicht nur durch Worte, sondern durch Taten. Und Netschajew? Er schrieb wie ein Revolutionär, der soeben erst aus den Reihen der Kämpfer ausgeschieden ist und an seine in Freiheit gebliebenen Kameraden schreibt.

Einen sonderbaren Eindruck machte dieser Brief – alles, was bisher als ein dunkler Fleck an der Persönlichkeit Netschajews gehaftet hatte, das unschuldig vergossene Blut, die Erpressung von Geldmitteln, die Beschaffung kompromittierender Dokumente zu Erpressungszwecken – das ganze Lügengewebe im Namen des Zwecks, der die Mittel heiligt, – das alles war plötzlich verschwunden.

Wir sahen einen Geist, der nach langen Jahren der Einzelhaft weder geschwächt noch verdunkelt war, einen Willen, den auch die ganze Last der grausamen Strafe nicht gebrochen hatte, eine Energie, die trotz der Mißerfolge nicht geschwächt war. Wir lasen in der Sitzung des Komitees das Schreiben Netschajews, und uns alle ergriff einmütig der Gedanke: ihn befreien!

In den folgenden Briefen enthüllte Netschajew nach und nach vor uns seine Tätigkeit in den verflossenen Jahren. Obwohl er in seiner Kasematte an Händen und Füßen gefesselt lag, arbeitete er doch rastlos. Tag für Tag war er bemüht, das feindliche Milieu, das ihn umgab, unter seinen Einfluß zu bringen. Er studierte den Charakter jedes einzelnen Gendarmen, jedes Soldaten, der ihm als Wächter beigegeben wurde. Er beobachtete, verglich, stellte zusammen, um für jeden eine besondere individuelle Art und Weise seelischer Beeinflussung auszuarbeiten. Er untergrub tagaus, tagein die Disziplin unter den untersten Dienstgraden, die ihn bewachten; er erschütterte in ihren Augen die Autorität ihrer Vorgesetzten, agitierte, propagierte, beeinflußte den Verstand und das, Gefühl, zwang zu Eingeständnissen, bemächtigte sich des Willens der Leute; er nutzte den außergewöhnlichen Charakter und die Strenge seiner Haft aus, um seine Person mit einem mysteriösen Schein zu umgeben, der für die Zukunft etwas Besonderes versprach.

Auf diese Weise vermochte dieser ungewöhnliche Mensch dank seiner zähen, rastlosen Kleinarbeit, sich etwa 40 seiner Wächter unterzuordnen. Von ihnen hatte er allmählich alle Einzelheiten über die Einrichtung des Vorwerks und der Peterpaulsfestung, über ihr Dienstpersonal, dessen gegenseitige Beziehungen, die Dienstordnung, die Lage der Festung und der Insel, auf der sich damals das Vorwerk befand, erfahren. So hatte er langsam eine Menge von unschätzbaren psychologischen und materiellen Daten gesammelt, die ihn in die Lage setzten, einen Plan für seine Befreiung auszuarbeiten und an dessen Verwirklichung zu gehen, nachdem er ihn vorher jahrelang in seinem Grabe vorbereitet hatte.

Getreu seinen alten Traditionen, meinte Netschajew, daß seine Befreiung unter komplizierten, mystifizierenden Umständen stattfinden müsse. Seine Befreier sollten, um den militärischen Dienstgraden zu imponieren, in ordensgeschmückten Militäruniformen erscheinen; sie sollten erklären, daß ein Staatsumsturz vollzogen, Kaiser Alexander gestürzt und sie im Namen des neuen Kaisers dem Insassen des Vorwerks bekanntzugeben hätten, daß er wieder frei sei. All dieses Kulissenwerk war natürlich nicht etwa bindend für uns, sondern nur für Netschajew charakteristisch.

Als die Frage seiner Befreiung in der Sitzung des Komitees aufgeworfen wurde, beschlossen wir ohne weiteres, die Durchführung dieser Aufgabe der Militärorganisation anzuvertrauen. Jedoch waren wir darüber einig, das ganze Unternehmen bis zum Frühling hinauszuschieben, um die Festung durch Boote und nicht über das Eis zu erreichen. Außerdem hielt es das Komitee für unmöglich, das Attentat gegen Alexander II. aufzuschieben. Da dessen Vorbereitung die Konzentration aller Kräfte erforderte, sahen wir uns genötigt, Netschajew mitzuteilen, daß wir an das Werk seiner Befreiung erst dann herantreten könnten, wenn das Unternehmen gegen den Zaren zu Ende geführt sein würde.

Entgegen den späteren Behauptungen in der Literatur überließen wir keineswegs Netschajew die Entscheidung dieser Frage. Jeder Aufschub der Vorbereitungen hätte das Attentat auf den Zaren mit sicherem Mißerfolg bedroht. Das Komitee teilte Netschajew seinen Beschluß mit, und Netschajew antwortete, er werde warten.

Die Verbindung, die mit Netschajew angeknüpft war, wurde eine Zeitlang durch Issajew aufrechterhalten, er traf gewöhnlich an einer bestimmten Stelle der Straße einen der Soldaten aus der Festung, und der übergab ihm den von Netschajew mit Hieroglyphen eigener Erfindung ausgefüllten Zettel. Am 1. April wurde Issajew verhaftet, die Verbindung riß für eine Zeitlang ab und wurde dann endgültig abgebrochen nach dem Verrat Mirskis (des Attentäters auf den Gendarmeriechef Drenteln), der gleichzeitig mit Netschajew im Alexej-Vorwerk der Peter-Paulsfestung gefangen gehalten wurde. Die Folge dieses Verrats war die Verhaftung der Gendarmen und Soldaten, die Netschajew ergeben waren; 23 von ihnen wurden vor Gericht gestellt und in Strafbataillone geschickt, andere gemaßregelt. Netschajew selbst starb im Alexej-Vorwerk, aber die näheren Umstände seines Todes blieben bis zur Revolution in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Erst auf Grund der Dokumente im Festungs-Archiv konnte festgestellt werden, daß er am 21. November 1882 im Vorwerk gestorben war, ohne daß die vielen Narodowolzy, die damals dort schon gefangen saßen, je die Möglichkeit gefunden hätten, in Verbindung mit ihm zu treten. Er ist zweifellos, wie mancher andere Bewohner dieser finsteren Kasematte, Hungers gestorben: die Ernährung war, nachdem die Narodowolzy dort untergebracht worden waren, so gering, daß nach dem Zeugnis von Bogdanowitsch nach Verlauf eines Monats die Gefangenen nicht mehr imstande waren zu gehen, ohne sich an den Wänden festzuhalten.

Netschajew war eine ganz außerordentliche Figur in der Geschichte der revolutionären Bewegung Rußlands, ein eigenartiger Typus, desgleichen wir nicht wieder begegneten. Wie peinlich auch im Verlauf seines Lebens, seine skrupellose Taktik nach der Regel »der Zweck heiligt die Mittel« war, so kann man doch nicht umhin, seinen eisernen Willen und seinen stählernen Charakter zu bewundern und die Uneigennützigkeit seines ganzen Handelns anzuerkennen. Keine Spur von persönlichem Ehrgeiz war in ihm, er war der revolutionären Sache aufrichtig und grenzenlos ergeben. Er übte so durch seine ganze Persönlichkeit, besonders auf unkomplizierte Charaktere, eine ungeheure, faszinierende Wirkung aus. Die Soldaten, die infolge ihrer Verbindung mit Netschajew verurteilt und später nach Sibirien verbannt worden waren, gedachten nach dem Zeugnis aller jener Verbannten, die sie später kennen lernten, Netschajews, der ihr Leben zugrunde gerichtet hatte, nie mit einem Vorwurf. Sie alle sprachen von ihm mit einem ganz besonderen Gefühl, das an Angst grenzte, und sagten, daß sie im Banne seines Willens gestanden hätten. »Es war gar nicht daran zu denken, etwas nicht zu tun, was er einem befahl«, sagte einer von ihnen, »es genügte, wenn er einen nur ansah.«

Man erzählte, daß die Soldaten und Unteroffiziere während der Gerichtsverhandlung von Netschajew wie Menschen gesprochen hätten, die noch immer im Banne der Angst vor ihm standen. Sie nannten nie seinen Namen; er wurde immer als »er« oder als Nr. 5 bezeichnet. Aber auch im fernen Sibirien war der gewaltige Einfluß dieses Gefangenen, der ihre Seelen sich unterjocht hatte, immer noch nicht geschwunden, weder schwere Erlebnisse, noch Zeit und Entfernung vermochten die Macht dieser Hypnose zu zerstören.

Am 26. Januar wurden Kolodkewitsch und Barannikow, zwei unserer liebsten Kameraden, verhaftet. In der Wohnung Barannikows fiel auch noch Kletotschnikow in die Hände der Polizei – dieser unschätzbare Schutzgeist unserer Organisation, der zwei Jahre lang über ihre Sicherheit gewacht hatte. Wir hatten ihn aufs Sorgfältigste gehütet und jeden seiner Schritte mit strengster Konspiration umgeben. Eine Person, die vollständig legal war, die Schwester des Komiteemitgliedes Oschanina, Natalie Olowennikowa, die zu diesem Zweck von jeder Beteiligung an der revolutionären Tätigkeit ausgeschlossen worden war, hielt die Verbindung mit Kletotschnikow aufrecht; zu ihr allein durfte er kommen und sie übermittelte alle für die Partei wichtigen Informationen: über bevorstehende Verhaftungen, Haussuchungen, über Spitzel, kurz über alles, was ihm dank seiner Tätigkeit in der III. Abteilung der Kanzlei Seiner Majestät bekannt wurde.

Aus irgendeinem mir unbekannten Grunde wurde diese Ordnung nicht eingehalten, und Kletotschnikow begann anstatt der legalen Olowennikowa den illegalen Barannikow zu besuchen, der an allen unseren gefährlichen Arbeiten teilnahm. Da er kurzsichtig war, konnte es geschehen, daß er die Sicherheitszeichen nicht sah, mit denen wir gewöhnlich unsere Wohnungen versahen. So ging er in die Falle, die ihm im Zimmer Barannikows gestellt worden war. Mit zwanzig unserer Genossen verurteilt, starb Kletotschnikow später im Alexej-Vorwerk den Hungertod.

Interessant ist noch, auf welche Weise Kletotschnikow den Posten eines Sekretärs der III. Abteilung erlangt hatte. Nach seiner Ankunft in Petersburg aus der Krim bot er dem Komitee seine Dienste an. Da es aber schwer war, für einen Neuangekommenen sofort eine entsprechende Arbeit zu finden, so war er längere Zeit zu einer für ihn sehr peinlichen Tatenlosigkeit verurteilt. Er hatte sich ein Zimmer gemietet und merkte nachträglich, daß seine Wirtin als geheime Agentin der III. Abteilung tätig war. Sie lud ihn öfters zu sich zu einer Partie Karten ein. Bei näherer Bekanntschaft erzählte er ihr, daß er arbeitslos sei und sich um eine Stelle bemühe. Da sprach sie ihm von ihren Verbindungen mit der III. Abteilung und bot ihm an, ihm behilflich zu sein, dort eine Stelle zu finden.

Kletotschnikow erzählte Alexander Michailow davon und beriet mit ihm, ob er diesen Zufall nicht ausnützen solle, um der Partei auf diese Weise nützlich zu sein. Alexander Michailow und das Komitee fanden, daß man die Gelegenheit ausnutzen müsse, und rieten Kletotschnikow, an seine Wirtin öfters kleine Summen zu verlieren, um sie sich desto geneigter zu machen. Es geschah so, wie Kletotschnikow es wollte. Er bekam eine Anstellung beim politischen Nachrichtendienst und leistete dadurch der Partei ungeheure Dienste. Unter anderem wußten wir im Herbst 1879 rechtzeitig von den bevorstehenden Massenhaussuchungen, bei denen auch eine Haussuchung bei dem Rechtsanwalt Bardowski vorgesehen war. Das war einer der glänzendsten und treuesten Verteidiger in den politischen Prozessen (dem Prozeß der 50 usw.). Zweimal war ich vergeblich in seiner Wohnung, um ihn von der bevorstehenden Verhaftung zu unterrichten. Spät abends erst kam er heim, hinter ihm die Gendarmen. Hinter einem Schrank versteckt fand man ein Bündel Nummern der »Narodnaja Wolja«. Er und sein Wohnungsgenosse wurden verhaftet. Bardowski war ein hochgradig nervöser Mensch und litt an Schlaflosigkeit. Erschüttert von der Verhaftung verlor er 24 Stunden später den Verstand und blieb für immer geisteskrank; obgleich er bald darauf in Freiheit gesetzt wurde und seine Frau ihn mit aufopfernder Pflege umgab, vermochte man nicht, ihn zu retten. Sein Bruder, der Friedensrichter in Polen war, wurde im Jahre 1884 in Warschau als Mitglied der polnischen Partei »Proletariat« hingerichtet. –

In der ersten Februarhälfte rief das Komitee seine Mitglieder zu einer Beratung zusammen. Es war die Frage zu erörtern, ob man gleichzeitig mit dem Attentat auf den Zaren den Versuch eines Aufstandes machen sollte. Die Mitglieder aus Moskau und den Provinzen sollten über die Erstarkung und Erweiterung der Gruppen und die Stimmung der breiten Massen Bericht erstatten und ihre Meinung äußern, ob es möglich wäre, mit diesen Kräften und unterstützt von den mit der Partei sympathisierenden Kreisen einen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung zu unternehmen. Die Antwort war negativ. Die Zahl der Mitglieder unserer Gruppen und jener, die mit uns unmittelbar verbunden waren, zeigte klar, daß unsere Kräfte zu gering waren, als daß ein offener Aufstand möglich gewesen wäre. Ein Versuch würde voraussichtlich so enden, wie im Jahre 1876 die Manifestation auf dem Kasaner Platz, die mit einer völligen Niederlage und körperlicher Mißhandlung der Teilnehmer ausging.


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