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Die Zeit verging, und immer mehr näherte sich der Tag des Umschwungs in meinem Leben, das Verlassen der Festung.
Der Gedanke an diesen Moment gab mir nie auch nur die geringste Freude. Nie, nie!
Ich wandte mich an einen Kameraden, der gleichzeitig mit mir die Festung verlassen sollte, mit der Frage, »ob er den Hauch der bevorstehenden Freiheit fühle, ob er fühle, daß er an der Grenze einer freudigen Umwälzung seines Lebens stehe?«
»Nein,« erwiderte er mir, »ich fühle nichts, ich bin wie aus Holz.«
Ebenso freudlos blickte ein anderer Kamerad, der nach 22jähriger Haft entlassen werden sollte, in die Zukunft. Die Freiheit kam für uns zu spät.
Mein Nachbar und Freund sprach mir vom weiten, unbegrenzten Himmel, von den Sternen der Nacht, vom Umgang mit der Natur und vom Glück, das ich in diesem Umgang finden werde.
Ich aber dachte damals weder an den unbegrenzten Himmel noch an die Sterne. Ich erwog in meiner Seele das Ziel und den Sinn des Lebens ... Und was können mir Himmel und Sterne sein, wenn ich nicht weiß, wovon leben und wozu leben!
Wie grenzenlos hatte ich mich in den ersten Jahren nach dem »freien« Himmel und seinen Sternen gesehnt! Jetzt war auch diese Sehnsucht tot.
Die Seele war wie erstarrt, erfroren, aller Durst nach Schönheit, nach der Welt war verschwunden – nur eine grenzenlose Leere war geblieben ...
Ein einziges Mal nur durchfuhr mich plötzlich ein Zittern, ein unklares Vorgefühl der Freiheit, der Pulsschlag des Lebens: Es war Abend; etwa gegen 10 Uhr. Ich saß am Tisch mit dem Gesicht zum Fenster; wie immer hatte ich den Rücken der Tür zugewendet, um dem lästigen Hereinblicken der Gendarmen durch das Guckloch zu entgehen. Es war Ende Juli, und bis zum Verlassen der Festung blieben nur noch 60 Tage. In der dumpfen Zelle fühlte ich deutlich den erfrischenden Hauch der feuchten Luft von draußen hereinwehen. Plötzlich hörte ich das Plätschern eines Schiffrades im Wasser und bald darauf den Pfiff eines Dampfers.
Ich erbebte. Vor meinen Augen erstand die Erinnerung an eine Wolgafahrt. Ich stand in der Dunkelheit auf dem Verdeck und versuchte vergeblich zu unterscheiden, wo das Wasser aufhörte und das Ufer begann. Nur ganz, ganz hoch glühten in der Dunkelheit einzelne kleine Lichter in den Fenstern der Hütten. Viel, sehr viel kleine Lichterchen, verstreut in den Bergen ...
Ach, diese dunkle Nacht auf der Wolga, auf dem Dampfer! Das Geräusch der Räder, das Pfeifen ..., die Lichter und das Knarren des Holzes ... Freiheit ... das Leben in der Freiheit! ...
Ein Zittern durchlief mich ... Die Erinnerung an die Vergangenheit, die Hoffnung oder das Vorgefühl der Zukunft – die Wolga, der Dampfer, die Nacht und die Lichter, das Drängen der Menschen an der Anlegestelle ... Ja, der mächtige und herrliche Zug zur Freiheit! Das Ersehnte ...
Dann ist alles wieder still, innen wie außen. Es ist, als ob nichts geschehen wäre ...
Im Juli bekam ich zum letzten Mal einen Brief von den Schwestern.
»Es ist zwar der letzte,« schrieb ich ihnen zur Antwort, »und doch ist mir, nachdem ich ihn gelesen, wie immer schwer und traurig zumute ... Ihr schreibt, mein letzter Brief habe Euch bekümmert. Aber was tun? Wenn ich gar nicht geschrieben hätte, hättet Ihr Euch beunruhigt und offizielle Anfragen gemacht. Also mußte ich irgendwie damit fertig werden. Und jetzt gehört er der Vergangenheit an.
Ihr schreibt mir, daß das Denkmal auf dem Grab der Mutter in der Gestalt einer Kapelle erbaut werden wird. Mir würde ein Kreuz und eine Umzäunung mehr sagen ... Aber der hauptsächlichste Schmuck sind meiner Ansicht nach doch die Pflanzen und Bäume. Im Winter schaut öfter der Mond zu mir herein und versetzt mich stets in eine besondere Stimmung, die ein Echo jener wunderbaren Sommerspaziergänge ist, die ich einst auf dem Lande in Gesellschaft gemacht habe ... Aber in diesem Winter hat sich alles verändert. Der Mond war ganz besonders aufdringlich, und ich sah dann immer Schneefelder und unseren Friedhof in Nikiforowo: es glänzt der kalte Schnee, ein eisiger Wind heult, und hoch oben derselbe Mond, der auch zu mir hereinschaut. Und mir schien dort alles so öde, nackt und kalt und unheimlich ... Dann dachte ich, wie gut es doch wäre, den Friedhof mit jungen Tannen zu bepflanzen, die immer, Sommer und Winter, grünen würden. Dann würde es doch nicht mehr so traurig sein, und die ganze Ortschaft würde viel in ihrem Aussehen gewinnen durch diese kleine, grüne Insel, eingerahmt von Bäumen. Die Tannen sind dort so schlank und schön, das Auge erquickt sich an ihnen. Anspruchslos gedeihen sie auf jedem, auch dem magersten Boden; es sind meines Erachtens die schönsten Bäume unserer Flora. Ich liebe die Tannen seit meiner Kindheit dank der schönen Tannenalleen, die unsere Mutter in Christoforowka auf dem Wege zur fernen Laube gepflanzt hat ...
In einer Novelle von Tschechow charakterisiert der Verfasser die Nichtswürdigkeit seines Helden, und das, was er ihm zuletzt noch vorwirft, lautet: kein Bäumchen hat er gepflanzt, kein einziges Gräschen gezogen. Unsere Mutter stand in der Beziehung sehr hoch: sie suchte immer die Erde zu schmücken, überall dort, wo sie je gelebt, ließ sie sie schöner zurück, als sie sie gefunden.
Ihr werdet Euch wahrscheinlich wundern, daß ich am Vorabend eines so wichtigen Umschwunges in meinem Leben den Brief nicht mit Gesprächen über die Zukunft ausfülle. Aber in meinem Kopf ist es wüst, eine innere Arbeit vollzieht sich in mir, die ich schriftlich schwer formulieren kann. Wenn man sich außerhalb des Lebensprozesses befindet, dann wird man von einem geheimnisvollen Gefühl ergriffen, und das Leben scheint rätselhaft und kompliziert ... Man möchte in die Zukunft schauen, das Schicksal erkennen, ihm Antworten entreißen, aber alles ist vergeblich. Die Fragen bleiben unbeantwortet; alles ist in Nebel gehüllt und verrät nichts von dem, was sein wird ...
Mein äußeres Leben geht seinen alten Gang, und ich beschäftige mich nach wie vor, aber allmählich liquidiere ich meine Angelegenheiten und bringe nach und nach alles in Ordnung.
Lebet wohl, ich küsse Euch alle, die Großen und die Kleinen.
Was kommen soll, wird kommen!«