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Vier und zwanzigstes Buch.

Während dieser Fahrt läßt sich Telemach mehrere Zweifel über die Kunst lösen, ein Volk gut zu regieren, unter andern über die Kenntniß der Menschen, damit man nur die Rechtschaffenen zu Geschäften gebrauchen, und von den Bösen nicht hintergangen werden möge. Gegen das Ende ihrer Unterredung nöthigt, sie eine Windstille, an einer Insel zu landen, wo Ulysses so eben angekommen war. Telemach sieht ihn daselbst, und spricht mit ihm, ohne ihn zu erkennen. Aber nachdem er ihn einschiffen sehen, fühlt er eine geheime Unruhe, deren Ursache er nicht begreifen kann. Mentor erklärt sie ihm, tröstet ihn, gibt ihm Versicherung, daß er bald wieder zu seinem Vater kommen werde, und prüft seine Frömmigkeit und Geduld, indem er seine Abreise verzögert, um Minerven ein Opfer zu bringen. Endlich nimmt die Göttin, die bisher in Mentors Bildung gehüllt war, ihre Gestalt wieder an, und gibt sich zu erkennen, Sie ertheilt dem Telemach ihre letzten Lehren und verschwindet. Telemach langt in Ithaka an, und findet seinen Vater in dem Hause des treuen Eumäus.


S chon wölbten sich die Segel, man hob die Anker; die Erde schien hinter ihnen zu fliehen, und schon erblickte der erfahrene Steuermann von fern den leukadischen Felsen, dessen Spitze sich in den gefrornen Dünsten verbirgt, die ihn umwallen, und die acroceraunischen Berge, deren stolze Stirn, wiewohl so oft vom Blitze genossen, noch jetzt dem Himmel trotzt.

Während der Fahrt sprach Telemach zu Mentorn:

»Nunmehr glaube ich die Grundsätze der Regierungskunst zu verstehen, die du mich lehrtest. Erst erschienen sie mir nur wie ein Traum; dann entwickelten sie sich allmählich in meinem Geist, und zeigten sich mir in ihrer vollen Klarheit. So erscheinen uns die Gegenstände in dunkler Gestalt, wenn Aurora des Morgens ihre ersten Schimmer verbreitet; strahlt aber das allmählich wachsende Licht des Tages, so treten sie aus dem Chaos hervor, wir unterscheiden sie, und sehen ihre wahren Gestalten und Farben. Ich bin überzeugt, daß es bei der Verwaltung eines Staats vorzüglich darauf ankommt, daß man die Gemüther der Menschen wohl zu unterscheiden wisse, damit man eine gute Wahl treffen, und von ihren natürlichen Anlagen einen rechten Gebrauch machen könne; aber noch weiß ich nicht, wie man es machen muß, die Menschen kennen zu lernen.«

Hierauf gab ihm Mentor zur Antwort:

»Wer die Menschen kennen lernen will, muß sie mit Aufmerksamkeit beobachten; man muß sie oft sehen, und mit ihnen umgehen. Die Fürsten müssen unter ihren Unterthanen leben, ihnen ihre Gesinnungen entlocken, sie um Rath fragen, durch kleine Aufträge, von denen sie Rechenschaft zu geben haben, sie prüfen, um zu erfahren, ob sie zu wichtigern Geschäften taugen.

Wie machtest du es in Ithaka, ein Kenner von Bildsäulen zu werden? Du mußtest viele sehen, und unter der Leitung kunstverständiger Männer die Fehler und Vorzüge derselben bemerken. So mußt du es auch hier machen und oft mit aufgeklärten und rechtschaffenen Leuten, welche die Gemüther der Menschen lange beobachtet haben, von den guten und schlimmen Eigenschaften derselben reden, und dann wirst du unvermerkt ihre Beschaffenheit kennen und einsehen lernen, was man von ihnen erwarten darf. Wie lerntest du den Unterschied zwischen guten und schlechten Dichtern kennen? Nicht anders, als durch das fleißige Lesen derselben und die Untersuchungen, die du mit geschmackvollen Richtern über dieselben anstelltest. Was bildete deinen Geschmack in der Tonkunst? Du mußtest auf die Urtheile verständiger Tonkünstler aufmerksam sein.

Wie kann man hoffen, die Menschen mit Weisheit zu regieren, wenn man sie nicht kennt, und wie ist es möglich, sie kennen zu lernen, wenn man nicht mit ihnen umgeht? Es heißt aber noch nicht mit ihnen umgehen, wenn man sie nur in Haufen und öffentlich sieht, wo von beiden Seiten nur gleichgültige und solche Dinge gesprochen werden, auf die man sich künstlich vorbereitet hat. Man muß die Menschen einzeln sehen, und sie von allen Seiten betasten, um den geheimen Springfedern ihrer Herzen und den Gesinnungen, die sie verschließen, auf die Spur zu kommen.

Aber um ein richtiges Urtheil über die Menschen zu fällen, muß man damit anfangen, ihre Bestimmung kennen zu lernen. Man muß wissen, worin wahres, gründliches Verdienst besteht, damit man die, welche es besitzen, von denen zu sondern wisse, denen es mangelt.

Man spricht zwar stets von Tugend und Verdienst. aber ohne einen deutlichen Begriff von beiden zu haben. In dem Munde der meisten Menschen, die sich damit brüsten, diese Wörter jeden Augenblick erschallen zu lassen, sind sie weiter nichts, als schöne Töne und unbestimmte Redensarten. Ohne feste Grundsätze von Vernunft, Tugend und Gerechtigkeit zu haben, ist es unmöglich, einem Menschen Vernunft oder Tugend zuzuschreiben. So muß man auch die Grundsätze einer guten und weisen Staatsverwaltung kennen, um diejenigen, welche diese Grundsätze haben, von denen unterscheiden zu können, welche sich durch Wahn und Klügelei davon entfernen.

Wenn man Körper von verschiedener Größe messen will, muß man einen festen Maßstab haben, und um richtig zu urtheilen, werden unwandelbare Grundsätze erfordert, auf welche alle unsere Urtheile zurückgeführt werden müssen. Man muß die bestimmtesten Begriffe von dem Endzweck des menschlichen Lebens haben, und das Ziel genau kennen, das man sich bei der Regierung der Menschen vorzusetzen hat. Dieses Ziel, das einzige, und worauf ein Fürst sein Hauptaugenmerk richten muß, ist, daß er, statt die Oberherrschaft und die Gewalt seiner selbst wegen zu suchen, wodurch er nur eine stolze Herrschsucht befriedigen würde, seinem eigenen Vortheil aufopfere, und die unendlichen Beschwerden der Regierung nur zu dem Ende übernehme, um seine Untergebenen gut und glücklich zu machen. Der Fürst, der dieses Ziel aus den Augen verliert, wandelt sein ganzes Leben hindurch im Finstern und handelt nur aufs Gerathewohl; er treibt umher, wie ein Schiff im offenen Meere, das keinen Piloten hat, der die Gestirne befragte, oder nach den nahen Küsten forschte, und der nothwendig Schiffbruch leiden mußte.

Unbekannt mit dem wahren Werthe des Menschen, wissen die Fürsten oft nicht, welche Eigenschaften sie von ihren Dienern wünschen sollen. Echte Tugend erscheint ihnen in rauher und finsterer Gestalt, sie erschrecken vor ihr, und entrüsten sich über ihre vermeintlichen Anmaßungen. Sie werfen sich den Schmeichlern in die Arme, und von diesem Augenblick an finden sie keinen aufrichtigen, keinen rechtschaffenen Mann mehr. Von jetzt an rennen sie einem nichtigen Phantom von falscher Ehre nach, das sie der wahren unwürdig macht. Nicht lange, so überzeugen sie sich, daß es keine echte Tugend auf der Erde gebe, denn die Tugendhaften wissen die Lasterhaften wohl zu unterscheiden, aber die Lasterhaften kennen die Tugendhaften nicht, und können sich nicht überreden, daß es solche Menschen gebe.

Fürsten dieser Art setzen in alle Menschen ohne Unterschied ein Mißtrauen. Sie verbergen sich, sie schließen sich ein, das Unbedeutendste erregt ihre Besorgnisse, sie fürchten die Menschen und werden von ihnen gefürchtet. Sie fliehen das Licht, und scheuen sich, sich in ihrer natürlichen Gestalt zu zeigen. Aber so sehr sie sich auch zu verbergen suchen, so kennt man sie doch, denn die tückische Neugierde ihrer Unterthanen erforscht und erräth sie. Sie allein kennen Niemand. Der selbstsüchtige Haufe, der sie umlagert, freut sich, daß der Zugang zu ihnen versperrt ist. Ein Fürst, der den Menschen den Zutritt zu sich verwehrt, verwehrt ihn auch der Wahrheit. Alle die, welche ihm die Augen öffnen könnten, werden durch Lästerungen angeschwärzt, und aus seiner Gegenwart entfernt. In eine finstere, abschreckende Größe gehüllt, bringen solche Fürsten ihr Leben einsam hin, und die Furcht, hintergangen zu werden, stürzt sie gerade in dieses Unglück, das sie mit Recht trifft.

Wer nur mit einer kleinen Zahl von Menschen umgeht, ist in Gefahr, alle ihre Leidenschaften und Vorurtheile anzunehmen. Auch gute Menschen haben ihre Mängel und vorgefaßten Meinungen. Ueberdem gerathen solche Fürsten ganz in die Gewalt der Ohrenbläser, ein schändliches boshaftes Gezücht, das sich von Gift nährt, unschuldige Dinge verdreht, kleine vergrößert, eher das Böse selbst erfindet, als daß es unterlassen sollte, Unheil zu stiften, und zu Erreichung seiner selbstsüchtigen Absichten mit dem Mißtrauen und der verächtlichen Neugierde eines schwachen und argwöhnischen Fürsten sein Spiel treibt.

Lerne also, o Telemach, lerne die Menschen kennen! Prüfe sie; laß einen nach dem andern sprechen; suche allmählich in ihr Inneres einzudringen; schenke Keinem dein Vertrauen. Hast du dich in deinem Urtheil übereilt, so nütze deine Erfahrungen, denn du wirst es nicht vermeiden können, bisweilen getäuscht zu werden. Lasterhafte Menschen wissen ihr Spiel allzu versteckt zu treiben, um die Rechtschaffenen nicht durch ihre Arglist zu hintergehen. Dies kann dich lehren, von keinem Menschen, weder im Guten noch im Bösen, ein schnelles Urtheil zu fällen; beides ist höchst schädlich. So wirst du aus deinen begangenen Irrthümern Vortheil ziehen.

Hast du einen Mann von Einsicht und Tugend gefunden, so bediene dich seiner mit vollem Vertrauen, denn der Biedere wünscht, daß seine Rechtschaffenheit erkannt werde, und findet sich durch Achtung und Vertrauen mehr belohnt, als durch Schätze. Aber verdirb sie nicht, diese bessern Menschen, indem du ihnen eine unumschränkte Macht einräumest. Mancher würde der Tugend treu geblieben sein, wenn ihn sein Herr nicht zu sehr erhoben, nicht zu sehr bereichert hätte. Wem die Götter hold genug sind, ihn in seinem Reiche nur zwei oder drei wahre Freunde, Männer von geprüfter Weisheit und Güte finden zu lassen, der wird bald durch sie noch mehrere Personen finden, die ihnen gleichen, und mit denen die geringem Stellen besetzt werden können. So lernt also ein Fürst durch die Guten, denen er sein Vertrauen schenkt, auch die Eigenschaften anderer kennen, die ihm außerdem verborgen geblieben sein würden.«

»Aber ist es räthlich,« fragte Telemach, »sich der Bösen zu bedienen, wenn sie Brauchbarkeit besitzen, wie ich oft sagen gehört habe?«

Mentor erwiderte:

»Man ist oft in die Nothwendigkeit gesetzt, sich derselben zu bedienen. Es trifft sich nicht selten, daß in einem Staat, der durch Gährungen erschüttert und in Unordnung gerathen ist, ungerechte und arglistige Menschen in hohem Ansehen stehen. Sie bekleiden wichtige Aemter, die man ihnen nicht nehmen kann; sie haben das Vertrauen gewisser mächtiger Personen erworben, die man schonen muß; sogar diese Nichtswürdigen selbst müssen mit Schonung behandelt werden, weil sie sich furchtbar gemacht haben, und leicht den ganzen Staat umkehren könnten. Man muß sie also wohl einige Zeit beibehalten, zugleich aber auch darauf bedacht sein, ihre Dienste nach und nach entbehren zu können.

Hüte dich aber wohl, solchen Menschen dein ganzes Vertrauen zu schenken; sie könnten es mißbrauchen, und dich nachher, so unangenehm dir dies auch wäre, durch die ihnen anvertrauten Geheimnisse binden, eine Kette, die schwerer zu zerbrechen sein würde als eine eiserne. Brauche sie zu Geschäften, die bald beendigt sind; behandle sie gütig; feßle ihre Treue durch ihren eigenen Vortheil, denn nur dadurch ist es möglich, sie festzuhalten. Ziehe sie nicht zu deinen geheimsten Berathschlagungen. Habe immer einen verborgenen Hebel in Bereitschaft, um sie nach deinem Gefallen zu lenken, aber vertraue ihnen nie den Schlüssel, weder zu deinem Herzen, noch zu deinen Geschäften an.

Kehren Ruhe und Ordnung wieder in deinen Staat zurück, und leiten kluge und redliche Männer, auf die du dich verlassen kannst, die Angelegenheiten desselben, so werden dir die Lasterhaften, deren du dich nur aus Noth bedientest, mit jedem Tage entbehrlicher werden. Aber du mußt deßwegen nicht aufhören, ihnen mit Glimpf zu begegnen, denn es ist nie erlaubt, undankbar zu sein, selbst nicht gegen die Bösen. Indem du ihnen aber diese gütige Behandlung wiederfahren lässest, mußt du sie auch zu bessern suchen. Zwar muß man die Gebrechen an ihnen dulden, die man der Menschheit überhaupt zu Gute hält; aber diese Duldung muß nicht so weit gehen, daß man sein verlornes Ansehen nicht wieder zu erhalten suchte, und sich dem Bösen nicht widersetzte, das sie ungescheut begehen würden, wenn man sie frei handeln ließe.

Bei all dem bleibt es immer ein Uebel, daß das Gute durch die Bösen geschehe, und wiewohl dieses Uebel oft unvermeidlich ist, so muß man doch trachten, ihm allmählich Einhalt zu thun. Ein weiser Fürst, dem es nur um Ordnung und Gerechtigkeit zu thun ist, wird es bald dahin bringen, verdorbener und hinterlistiger Menschen entübrigt sein zu können, und es wird ihm nicht schwer werden, rechtschaffene Leute zu finden, die zugleich die zu den Geschäften erforderliche Geschicklichkeit besitzen.

Indeß ist es noch nicht genug, daß man taugliche Menschen in einer Nation aufzufinden wisse; man muß auch Neue dieser Art zu bilden suchen.«

»Sollte aber dies nicht mit großen Schwierigkeiten verbunden sein?« antwortete Telemach.

»Keinesweges,« versetzte Mentor. »Die Mühe, die du anwendest, tugendhafte und brauchbare Menschen aufzufinden, um sie hervorzuziehen, setzt alle die in lebhafte Thätigkeit, denen es nicht an Fähigkeiten und Muth fehlt. Jeder wird sich anstrengen. Wie viele Menschen gibt es, die in der Dunkelheit und Unthätigkeit schmachten, welche sich zur Größe erheben würden, wenn Nacheiferung und Hoffnung eines glücklichen Erfolgs sie zur Anstrengung ihrer Kräfte reizte? Wie Viele gibt es, die das Elend und das Unvermögen sich durch Tugend empor zu schwingen, in Versuchung führt, sich durch Verbrechen einen Namen zu machen? Ehrest und belohnest du also nur Talent und Tugend, so werden sich die Menschen von selbst zur Vollkommenheit bilden. Aber wie Viele werden durch dich selbst gebildet werden, wenn du sie stufenweise von geringern Stellen zu höhern erhebst? Du wirst das Talent in Thätigkeit setzen, das Maß ihrer Geisteskräfte und die Lauterkeit ihrer Gesinnungen kennen lernen. Die Menschen, welche solchergestalt von den niedern Aemtern zu den höhern emporgestiegen sind, werden unter deinen Augen erzogen worden sein; du wirst ihr ganzes Leben von Stufe zu Stufe verfolgt haben, und dein Urtheil von ihnen wird sich nicht bloß auf ihre Worte, sondern auf die ganze Reihe ihrer Handlungen gründen.«

Indem Mentor und Telemach sich so besprachen, wurden sie ein phäacisches Schiff gewahr, das vor einem öden, wilden Eiland, das rings umher fürchterliche Klippen einschlossen, vor Anker lag. Zu gleicher Zeit legte sich der Wind, selbst die leisesten Zephyre verstummten. Das ganze Meer zeigte die Glätte eines Spiegels. Die schlaffen Segel konnten das Schiff nicht mehr in Bewegung setzen; die müden Ruderer strengten sich vergebens an, es vorwärts zu bringen. Man mußte sich entschließen, an dieser Insel zu landen, die eher ein Felsen, als ein für Menschen bewohnbares Land war. Wäre die See weniger ruhig gewesen, so würde man nur mit der größten Gefahr haben ans Land kommen können.

Die Phäacier, die einen günstigen Wind erwarteten, schienen eben so ungeduldig zu sein, als die Salentiner, ihre Fahrt fortzusetzen. Telemach ging an dem steilen Ufer hin, und näherte sich ihnen. Er fragte den ersten Mann, auf den er stieß, ob er Ulysses, den König von Ithaka, nicht in dem Hause des Königs Alcinous gesehen habe.

Der Mann, an den er sich von ungefähr gewendet hatte, war kein Phäacier. Es war ein unbekannter Fremdling, von hohem Ansehen, aber traurig und niedergeschlagen. Er schien in tiefen Gedanken zu sein, und kaum auf Telemachs Fragen zu achten. Endlich antwortete er ihm, und sagte:

»Du irrest nicht, Alcinous nahm ihn in seinem Hause auf, wo Jupiter gefürchtet, und die Gastfreiheit geübt wird. Aber er ist nicht mehr dort, und vergebens würdest du ihn daselbst suchen. Er ist von dannen gereist, Ithaka wieder zu sehen, wenn anders die versöhnten Götter ihm vergönnen, seine Hausgötter je wieder zu begrüßen.«

Kaum hatte der Fremdling diese Worte mit traurigem Tone gesprochen, so entwich er in ein kleines, dichtes Gehölz, das auf einem hohen Felsen lag, von wannen er das Meer mit Aufmerksamkeit betrachtete. Er floh die Menschen, die er erblickte, und schien bekümmert, seine Reise nicht fortsetzen zu können.

Telemach ließ ihn nicht aus den Augen; je mehr er ihn betrachtete, je mehr gerieth seine Seele in Bewegung und Bestürzung.

»Dieser Unbekannte,« sprach er zu Mentorn, »hat mir wie ein Mensch geantwortet, der die Worte des Andern kaum hört, und dessen Seele in Gram versenkt ist. Mit Mühe würdigte er mich einer Antwort. Aber wiewohl er mir unfreundlich begegnete, wünschte ich doch, seine Leiden geendigt zu sehen. Dieser Unglückliche zieht mein Herz an sich, ohne daß ich weiß, warum. Ich fühle die Leiden der Unglücklichen, seitdem ich das Leiden selbst kenne.«

Lächelnd erwiderte ihm Mentor:

»Du siehst jetzt, wozu die Leiden des Lebens nützen. Sie lehren die Fürsten Mäßigung, und flößen ihnen Mitleid mit den Andern ein. Wenn sie nie etwas anders, als das süße Gift der Glückseligkeit gekostet haben, wähnen sie Götter zu sein, und verlangen, daß die Berge sich ebnen, um ihre Wünsche zu erfüllen. Sie schätzen die Menschen gering; die ganze Natur soll ihren Winken gehorchen. Hören sie von Widerwärtigkeiten reden, so wissen sie nicht, was dieses ist. Es ist ihnen dabei, wie einem Träumenden, denn nie erfuhren sie den Unterschied zwischen Gutem und Bösem. Das Unglück allein kann ihre harten Herzen erweichen, und ihnen Menschlichkeit einflößen. Jetzt erst lernen sie einsehen, daß sie Menschen sind, und daß sie die, welche mit ihnen von gleicher Natur sind, auch menschlich behandeln müssen. Wenn du einen Unbekannten schon so sehr bemitleidest, weil er, wie du, an diesem Gestade umher irrt, was mußt du erst für Ithaka's Volk fühlen, wenn du sie leiden siehst, diese Menschen, die dir die Götter anvertrauen werden, wie man einem Hirten eine Heerde anvertraut, und die vielleicht durch deinen Ehrgeiz, deine Prachtliebe oder deine Unbesonnenheit unglücklich sein werden? denn die Völker leiden nur durch die Fehler ihrer Regenten, welche darüber wachen sollten, das Unglück von ihnen abzuwenden.«

Während Mentor dies sprach, versank Telemach in tiefe Traurigkeit. Endlich antwortete er ihm mit inniger Bewegung:

»Wenn alles dies wahr ist, wie unglücklich ist der Zustand eines Fürsten! Er ist der Sclave aller derer, deren Gebieter er zu sein scheint, er ist nur für sie da; alle seine Kräfte gehören ihnen; er hat für alle ihre Bedürfnisse zu sorgen; die Last des ganzen Staates und jedes Einzelnen liegt auf ihm; er muß sich zu ihren Schwachheiten herab lassen, sie mit Vaterliebe zurecht weisen, um sie weise und glücklich zu machen. Das hohe Ansehen, das er zu besitzen scheint, ist nicht sein eigen; er kann nichts, weder für seinen Ruhm, noch sein Vergnügen thun, seine Würde ist die Würde der Gesetze, und er muß ihnen gehorchen, um seinen Untergebenen ein gutes Beispiel zu geben. Eigentlich ist er nur der Beschützer der Gesetze, denen er die Herrschaft verschaffen soll, und er muß stets wachsam, stets thätig sein, um sie in ihrer Wirksamkeit zu erhalten. Unter allen Menschen seines Reichs wird ihm am wenigsten Freiheit und Ruhe zu Theil. Er ist weiter nichts, als ein Sclave, der der Freiheit und Glückseligkeit seines Volks seine eigene Freiheit und Ruhe zum Opfer bringt.«

»Es ist nicht zu läugnen,« erwiderte Mentor, »daß ein Regent nur darum Regent ist, damit er eben so für sein Volk Sorge trage, wie ein Hirte für seine Heerde, oder ein Vater für seine Familie; aber findest du, o Telemach, daß er unglücklich sei, weil ihm obliegt, der Wohlthäter einer großen Menge Menschen zu sein? Er bessert den Verbrecher durch Strafen, er ermuntert den Tugendhaften durch Belohnungen, und indem er solchergestalt die Menschen zur Tugend leitet, ist er der Stellvertreter der Götter auf der Erde. Gibt es einen höhern Ruhm, als den Gesetzen Gehorsam zu verschaffen? Die Ehre, über die Gesetze erhaben sein zu wollen, ist eine falsche Ehre, ein Fürst, der danach strebt, verdient nur Verachtung und Abscheu. Ein lasterhafter Fürst kann nur unglücklich sein, denn wie sollte ein Sclave seiner Leidenschaften und seines Ehrgeizes je Seelenruhe finden können? Ein guter Fürst aber muß nothwendig des reinsten und dauerhaftesten Glücks genießen, denn er widmet sein Leben der Tugend, und unvergänglicher Lohn wartet seiner.«

Telemach, dessen Herz ein geheimer Kummer drückte, schienen diese Grundsätze neu zu sein, obgleich er von ihnen überzeugt war, und sie auch andern gelehrt hatte. Eine finstere Schwermuth flößte ihm gegen seine eigenen Ueberzeugungen ein Geist des Widerspruchs und des Grübelns ein, der ihn trieb, die Wahrheiten zu bestreiten, die ihm Mentor vortrug. Er setzte diesen Gründen die Undankbarkeit der Menschen entgegen.

»Wie?« sagte er, »sollte man sich so sehr bemühen, die Liebe von Menschen zu gewinnen, die vielleicht unsere Zuneigung nie erwidern werden, sollte man Unwürdigen Wohlthaten erweisen, die sich vielleicht derselben zu unserm eigenen Nachtheil bedienen werden?«

Gelassen antwortete ihm Mentor:

»Man muß auf die Undankbarkeit der Menschen gefaßt sein, aber nicht unterlassen, ihnen Gutes zu thun. Man muß für ihr Glück arbeiten, weniger ihrer selbst wegen, als aus Liebe zu den Göttern, die uns diese Pflicht auflegten. Das Gute, so man thut, ist nie verloren. Wenn es auch die Menschen vergessen, so erinnern sich die Götter desselben, und lohnen es. Und sollte sich auch die Menge undankbar bezeigen, so finden sich doch immer tugendhafte Menschen, die von unsern wohlthätigen Gesinnungen gerührt werden. Der Pöbel selbst, obgleich unstät und launisch, kann doch nicht umhin, echter Tugend eine Art von Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen.

Aber willst du die Undankbarkeit der Menschen verhindern, laß es nicht dein einziges Bestreben sein, deine Untergebenen mächtig, reich, durch Waffen furchtbar, und glücklich durch den Genuß des Vergnügens zu machen; dieser Ruhm, dieser Ueberfluß, dieses Vergnügen würde ihnen verderblich sein; sie würden nur um so schlimmer, und also auch um so undankbarer werden. Es wäre ein schädliches Geschenk, das du ihnen machtest, ein süßes Gift, das du ihnen bötest. Dagegen, laß es dir angelegen sein, ihre Sitten zu bessern, und ihnen Gerechtigkeit, Furcht vor den Göttern, Menschenliebe, Treue, Mäßigung sind Uneigennützigkeit einzuflößen. Indem du sie zu guten Menschen machst, beugest du ihrer Undankbarkeit vor. Du gibst ihnen, was, allein gut ist, die Tugend, und die Tugend, wenn sie anders echt ist, wird ihre Neigungen auf immer an den fesseln, der sie ihnen einpflanzte.

So sorgest du also für deinen eigenen Vortheil, wenn du ihnen die wahren Güter des Lebens verschaffest, und wirst nie Ursache haben, ihre Undankbarkeit zu fürchten. Darf man sich wundern, daß die Menschen gegen Regenten undankbar sind, die sie nur zur Ungerechtigkeit, zum Ehrgeiz, zur Lieblosigkeit, zum Stolz und zur Treulosigkeit angeleitet haben? Kann der Fürst andere Gesinnungen von seinen Untergebenen erwarten, als die er ihnen eingeflößt hat? Ließe, er es sich hingegen angelegen sein, sie durch sein Beispiel und Ansehen zu guten Menschen zu machen, so würde er den Lohn seiner Arbeit in ihrer Tugend und, wenn ihm auch dieser entgehen sollte, wenigstens in seiner eigenen, und in der Freundschaft der Götter einen Ersatz für seine fehlgeschlagenen Hoffnungen finden.«

Kaum war dieses Gespräch zu Ende, so ging Telemach hastig auf die Phäacier zu, deren Schiff am Ufer lag. Er wendete sich an einen Greis und fragte ihn, von wannen sie kämen, wohin sie gedächten, und ob sie den Ulysses nicht gesehen hätten.

Der Greis erwiderte:

»Wir kommen aus unserm Vaterlande, der Insel der Phäacier; wir holen Waaren in Epirus; Ulysses, wie du schon vernommen, war in unserm Lande, aber er reiste wieder von dannen.«

»Wer ist,« fragte Telemach weiter, »jener traurige Mann, der die einsamsten Oerter sucht, und auf die Abfahrt eures Schiffes wartet?«

»Er ist ein Fremdling,« antwortete der Greis, »den wir nicht kennen. Aber man sagt, er nenne sich Cleomenes, sei in Phrygien geboren, und das Orakel habe seiner Mutter von seiner Geburt geweissagt, daß er König werden würde, wofern er aus seinem Vaterlande ginge, daß aber, wenn er in demselben verbliebe, der Zorn der Götter die Phrygier durch eine schreckliche Pest heimsuchen würde. Deshalb übergaben ihn seine Eltern gleich nach seiner Geburt Schiffern, die ihn nach der Insel Lemnos brachten. Dort wurde er insgeheim auf Kosten seines Vaterlandes erzogen, dem so viel daran lag, ihn von sich zu entfernen. Bald wurde er groß, stark, angenehm in seinem Betragen, und geschickt in allen Leibesübungen. Mit Geschmack und Fähigkeiten; begabt, befliß er sich der Wissenschaften und schönen Künste; aber in keinem Lande wollte man ihn dulden. Die Weissagung, die ihn betraf, wurde ruchbar; wohin er kam, wurde er bald erkannt. Ueberall fürchteten die Könige, daß er ihnen ihre Krone entreißen möchte. So irrt er nun von Jugend auf umher, und findet keinen Ort in der Welt, wo ihm zu bleiben vergönnt wäre. Oft kam er zu entlegenen Völkern, fern von seinem Vaterlande; aber kaum war er in einer Stadt angelangt, so erfuhr man seine Geburt und den göttlichen Ausspruch über ihn. Vergebens verbirgt er sich den Menschen und wählt, wohin er kommt, irgend eine dunkle Lebensart; überall, so sagt das Gerücht, offenbaren sich wider seinen Willen seine Fähigkeiten zum Krieg, zu den Wissenschaften und den wichtigsten Geschäften. Unvorhergesehene Zufälle verwickeln ihn in jedem Lande in Verhältnisse, wodurch seine Vorzüge ans Licht gezogen werden. Seine Verdienste sind es, die sein Unglück machen. Man fürchtet sie und sie vertreiben ihn aus jedem Lande, worin er sich niederlassen will. Sein Schicksal ist, allenthalben verehrt, geliebt, bewundert, aber auch aus allen bekannten Ländern verjagt zu werden. Er ist nicht mehr jung, und doch hat er weder in Asien, noch in Griechenland einen Ort finden können, wo ihm vergönnt gewesen wäre, in Ruhe zu leben. Er scheint ohne Ehrgeiz zu sein, und nicht nach dem Glück zu jagen. Er würde zufrieden leben, wenn ihm das Orakel nicht die königliche Würde verheißen hätte. Er hat keine Hoffnung, sein Vaterland je wieder zu sehen, denn er weiß, daß er nur Jammer und Thränen in alle Familien bringen würde. Die Königswürde selbst, die ihm so viele Leiden zuzieht, hat in seinen Augen keinen Werth. Ein jammervolles Verhängniß treibt ihn, ihr wider seinen Willen von Land zu Land nachzujagen, und sie scheint vor ihm zu fliehen, um dieses Unglücklichen bis in sein hohes Alter zu spotten. Trauriges Geschenk der Götter, welches seine schönsten Tage trübt, und ihm in einem Alter, wo der hinfällige Mensch nichts als Ruhe vonnöthen hat, nur Leiden bereitet. Er ist jetzt entschlossen, wie er sagt, nach Thrazien zu gehen, um dort irgend ein herumschweifendes, gesetzloses Volk durch das Band der Geselligkeit zu vereinigen, es gesittet zu machen, und einige Jahre zu beherrschen. Der göttliche Ausspruch, meint er, werde dann in Erfüllung gegangen, und er keinem schon gegründeten und blühenden Staate mehr furchtbar sein. Sein Vorsatz ist, sich hierauf nach Carien zu begeben, um sich dort dem Ackerbau zu widmen, den er leidenschaftlich liebt, und in ländlicher Einsamkeit der Freiheit zu genießen. Er ist ein weiser und tugendhafter Mann, der die Götter fürchtet, die Menschen kennt, und, wiewohl er sie wenig schätzt, mit ihnen in Frieden zu leben weiß. Dies ist, was man von diesem Fremdling erzählt, dessen Begebenheiten du von mir zu wissen verlangtest.«

Während dieser Unterredung wendete Telemach seine Augen oft nach dem Meere hin. Es begann sich zu heben; der Wind regte die Wellen auf, welche sich an den Klippen brachen und sie mit weißem Schaume bedeckten.

Der Greis sprach zu Telemach:

»Ich muß dich verlassen, meine Gefährten erwarten mich.«

Er sprachs und lief dem Gestade zu. Die Phäacier schifften sich ein. Das Ufer erscholl von dem verworrenen Geschrei der Schiffer, welche mit Ungeduld dem Augenblick ihrer Abfahrt entgegen sahen.

Der Unbekannte, der sich Cleomenes nannte, war einige Zeit mitten auf der Insel umhergeirrt, hatte die Spitze aller Felsen bestiegen, und von ihrer Höhe das unendliche Meer mit tiefer Traurigkeit betrachtet. Telemach hatte ihn nicht aus dem Gesichte verloren und beobachtete noch immer seine Tritte. Sein Herz fühlte sanftes Mitleid mit diesem tugendhaften, unglücklichen, umherirrenden Mann, den der Himmel zu großen Dingen bestimmt hatte, und den ein grausames Geschick verfolgte.

»Mir,« so sagte er bei sich selbst, »ist es doch vielleicht beschieden, Ithaka wieder zu sehen, aber dieser Cleomenes wird Phrygien nie wieder erblicken.«

Der Anblick eines Menschen, der noch unglücklicher war, als er, milderte Telemachs Leiden.

Als Cleomenes das Schiff zur Abfahrt bereit sah, stieg er die jähen Felsen eben so schnell und behend herab, als Apoll in Lyciens Wäldern, die gelben Haare aufgebunden, über die Abgründe hineilt, um die Hirsche und die wilden Schweine mit seinem Geschoß zu erlegen. Schon war der Unbekannte in dem Schiff, es theilte die bittern Wogen, und entfernte sich von dem Ufer.

Ein geheimes banges Gefühl ergriff Telemachs Herz. Er trauerte ohne zu wissen, warum; Thränen entfielen seinen Augen, und er fand eine süße Beruhigung in diesen Thränen. Zu gleicher Zeit wurde er gewahr, daß alle seine salentinischen Schiffsgenossen auf dem Gras in tiefem Schlafe lagen. Müd und ermattet lagen sie da. Der süße Schlummer hatte sich in ihre Glieder gesenkt, die feuchten Schlummerdüfte der Nacht waren durch Minervens Macht am hellen Tage über sie ausgegossen. Telemach erstaunte über diese allgemeine Betäubung der Salentiner, zu einer Zeit, wo die Phäacier so aufmerksam und so geschäftig gewesen waren, den günstigen Wind zu nützen.

Aber seine Seele beschäftigte sich mehr damit, dem phäacischen Schiffe nachzusehen, das so eben mitten im Meer aus seinen Augen verschwinden wollte, als zu den Salentinern hinzugehen, um sie aus dem Schlummer zu werfen. Eine geheime Unruhe und Bestürzung fesselte seine Augen an das Schiff, das jetzt verschwunden war, und dessen Segel nur noch ein wenig weißlich über der bläulichen Fluth schwebten. Er hörte sogar Mentorn nicht, der zu ihm sprach. Er war außer sich und in Entzückung verloren, gleich den Menaden, wenn sie die Thyrsusstäbe in ihren Händen schwingen, und die Ufer des Hebrus und der Rhodope und Isamarus von ihrem rasenden Geschrei erschallen.

Endlich erwachte er ein wenig aus der Art von Bezauberung, in der er sich befand, und Thränen begannen seinen Augen zu entfließen.

»Ich wundere mich nicht, mein geliebter Telemach,« sagte Mentor zu ihm, »dich weinen zu sehen. Die Ursache deines Schmerzes, die dir verborgen ist; ist es Mentorn nicht. Die Natur ist es, die zu dir spricht, du fühlest ihre Wirkungen; sie ist es, die deinem Herzen diese sanften Regungen einflößt. Der Unbekannte, der dich mit dieser Wehmuth erfüllte, ist der große Ulysses. Alles, was dir jener Alte von ihm unter dem Namen Cleomenes erzählt hat, ist eine bloße Erdichtung, die erfunden wurde, um die Rückkehr deines Vaters in sein Königreich desto besser zu verbergen. Sein Weg geht gerade gen Ithaka. Schon ist er dem Hafen nahe, und er erblickt endlich die so lange erseufzten Ufer wieder. Deine Augen haben ihn gesehen, wie es dir vordem verheißen wurde, aber ohne daß du ihn erkanntest. Bald wirst du ihn sehen und ihn erkennen, und auch er wird dich erkennen. Die Götter wollten nicht, daß ihr euch jetzt schon, außerhalb Ithaka, erkennen solltet. Sein Herz war nicht minder bewegt, als das deinige. Aber er ist zu weise, um sich irgend einem Sterblichen an einem Orte zu offenbaren, wo er dem Verrath und den Beschimpfungen der grausamen Freier der Penelope hätte ausgesetzt sein können. Dein Vater ist der weiseste aller Menschen. Sein Herz gleicht einem tiefen Brunnen; vergebens würde man es versuchen, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Er liebt die Wahrheit, und spricht nie etwas, das sie verletzen könnte, aber er sagt sie nur dann, wenn es nöthig ist, und die Weisheit verschließt seinen Mund, gleich einem Siegel, damit ihm kein unnützes Wort entgehe. Wie sehr war er bewegt, als er mit dir sprach! Wie viele Gewalt mußte er sich anthun, um sich nicht zu verrathen! Was litt er nicht, als er dich sah! Sieh, dies war die Ursache seiner Traurigkeit und seines Kummers.«

Telemach sank während dieser Rede in Wehmuth und Trübsinn; ein Strom von Thränen stürzte aus seinen Augen. Vor Schluchzen vermochte er lange nicht zu antworten. Endlich brach er in diese Worte aus:

»Ach, mein theurer Mentor, ich fühlte wohl, daß dieser Unbekannte mich durch eine geheime Gewalt an sich zog, und mein ganzes Herz erschütterte. Aber warum sagtest du mir nicht vor seiner Abreise, daß es Ulysses sei, da du ihn doch kanntest? Warum ließest du ihn scheiden, ohne mit ihm zu sprechen, und ohne es dir merken zu lassen, daß du ihn kennest? Welches Geheimniß ist dies? Werden meine Leiden nie enden? Wollen die erzürnten Götter mich ewig dürsten lassen, wie den Tantalus, den ein tückisches Wasser täuscht, das stets seinen brennenden Lippen entflieht? Ulysses, mein Vater, bist du mir auf immer entrissen? Ach, ich werde dich wohl nie wieder sehen! Du wirst in die Schlingen fallen, die Penelopens Freier für mich bereiteten! Wäre ich ihm gefolgt, so hätte ich doch den Trost, mit ihm zu sterben. O mein Vater, wenn der Sturmwind dich nicht an irgend eine Klippe wirft, (denn habe ich nicht alles von dem feindseligen Geschick zu fürchten?) so zittere ich vor Furcht, es möchte dich in Ithaka eben das schreckliche Schicksal treffen, das den Agamemnon zu Mycenä traf. Ach Mentor, warum mißgönntest du mir mein Glück? Ich würde ihn jetzt umarmen! Schon wäre ich mit ihm in dem Hafen von Ithaka angelangt,und wir würden streiten, um unsere Feinde zu überwinden.«

Lächelnd gab ihm Mentor zur Antwort:

»Sieh, geliebter Telemach, wie der Mensch ist. Du versinkest in Jammer, weil du deinen Vater sahst, ohne ihn zu erkennen. Was hättest du gestern für die Gewißheit gegeben, daß er noch lebe? Heute hast du dich mit deinen Augen davon überzeugt, und diese Ueberzeugung, die dich entzücken sollte, füllt deine Seele mit bitterm Gram. So sieht das kranke Herz des Menschen mit Verachtung an, wonach es mit heißer Sehnsucht strebte, sobald es im Besitz desselben ist, und ist sinnreich, sich über das zu quälen, was es noch nicht besitzt.

Die Götter lassen dich in dieser Ungewißheit, um deine Geduld zu üben. Du siehest diese Zeit für verloren an, aber wisse, daß sie die kostbarste deines Lebens ist, denn diese Leiden dienen, dich in einer Tugend zu üben, die die unentbehrlichste ist für Jeden, der zur Herrschaft bestimmt ist. Wer über sich und andere Menschen gebieten soll, muß lernen geduldig sein. Die Ungeduld, welche Kraft und Seelenstärke anzukündigen scheint, ist weiter nichts als Schwäche und Unvermögenheit, das Widrige zu ertragen. Wer die Zeit nicht erwarten, es nicht dulden kann, ist einem Menschen ähnlich, der unfähig ist, ein Geheimniß zu verschweigen. Beiden mangelt es an der Stärke der Seele, ihre Triebe im Zaume zu halten; sie gleichen einem Menschen, der auf einem Wagen daher fährt, aber dessen Hand nicht stark genug ist, die raschen Pferde anzuhalten, wenn es sein muß. Sie gehorchen dem Zügel nicht mehr, sie rennen dahin, und der Schwache, den sie mit sich fortreißen, wird in seinem Falle zerschmettert.

So wird auch der ungeduldige Mensch von seinen wilden, zügellosen Begierden in einen Abgrund von Elend gestürzt, und je größer seine Macht ist, desto verderblicher wird ihm seine Ungeduld. Er kann nichts erwarten, er nimmt sich nicht die Zeit, irgend etwas gehörig abzuwägen, Allem wird Gewalt angethan, damit er seine Wünsche befriedige.Er zerstört die Zweige, um die Frucht zu pflücken, ehe sie reif ist. Er rennt eher die Thüren ein, als daß er warten sollte, daß man sie ihm öffne. Er will ernten, wenn der verständige Landmann seinen Acker besäet. Alles, was er so in der Eile und zur Unzeit thut, ist übel gethan, und hat eben so wenig Bestand, als seine unstäten Begierden.

So unsinnig denkt ein Mensch, der allmächtig zu sein glaubt, und sich von seinen unbändigen Begierden zum Mißbrauch seiner Macht hinreißen läßt. Die Götter wollen dich diese Tugend lehren, theurer Telemach, darum üben sie dich so sehr in der Geduld, darum scheinen sie gleichsam zu ihrer Lust dich in der Irre herum zu führen, und dich immer in Ungewißheit zu lassen. Die Güter, nach denen du strebst, zeigen sich deinen Blicken, und entziehen sich denselben wieder, wie ein flüchtiger Traum, der beim Erwachen verschwindet, um dich zu lehren, wie unstät und vergänglich selbst das ist, was man schon fest in Händen zu haben glaubt. Die weisesten Lehren deines Vaters werden dir nicht so nützlich sein, als seine lange Abwesenheit und die Leiden, die du erduldest, indem du ihn aufsuchst.«

Und nun wollte Mentor Telemachs Geduld zum letzten Male und auf eine noch stärkere Weise auf die Probe setzen. In dem Augenblick, da der junge Mann sich anschickte, die Schiffer mit Eifer zur Beschleunigung ihrer Abreise anzutreiben, hielt ihn Mentor auf einmal zurück, und bewog ihn, Minerven an dem Gestade des Meeres ein feierliches Opfer zu bringen.

Telemach folgte, willig gehorchend, der Weisung Mentors. Zwei Altäre von Rasen wurden errichtet. Das Rauchwerk steigt empor, das Blut der Opferthiere fließt, Telemach schickt zärtliche Seufzer gen Himmel, er fühlt den mächtigen Schutz der Göttin.

Kaum war das Opfer geendigt, als er Mentorn in das Dunkel eines kleinen, nahen Gehölzes folgte. Auf einmal sieht er, daß das Antlitz seines Freundes eine neue Gestalt annimmt. Die Runzeln seiner Stirn verschwinden, wie die Schatten der Nacht verschwinden, wenn Aurora mit Rosenfingern die Pforten des Osts öffnet, und den ganzen Horizont in Flammen setzt. Seine hohlen und ernsten Augen nehmen eine blaue Farbe von himmlischer Anmuth an; ein göttliches Feuer strahlt aus ihnen. Sein grauer, vernachlässigter Bart verschwindet. Züge edler Erhabenheit, mit holder Anmuth vermischt, zeigen sich den erstaunten Augen Telemachs. Er erkennt ein weibliches Gesicht, dessen Haut an Feinheit einer zarten Blume glich, die sich so eben den Strahlen der Sonne geöffnet hat. Die weiße Farbe der Lilie, und das Roth der aufblühenden Rose war über dasselbe ausgegossen. Ewige Jugend blühte auf demselben; einfacher ungekünstelte Majestät strahlte aus demselben hervor. Ambrosische Düfte entflossen ihren wallenden Locken. Ihr Gewand leuchtete, wie die lebhaften Farben, womit die Sonne bei ihrem Aufgang die düstern Wölbungen des Himmels bemalt, und den Saum der Wolken vergoldet. Die Göttin berührte den Boden nicht mit ihren Füßen, leicht gehoben schwebte sie in der Luft, wie ein Vogel, der sie mit seinen Flügeln theilt. In ihrer mächtigen Hand hielt sie eine glänzende Lanze, fähig, den kriegerischen Städten und Völkern Furcht einzuflößen, und selbst den Kriegsgott in Schrecken zu setzen. Sanft und lieblich, aber zugleich stark und überredend, tönte ihre Stimme. Gleich feurigen Geschossen durchdrangen ihre Worte Telemachs Seele, und füllten sie mit süßen Schmerzen. Aus ihrem Helm erschien der traurige Vogel von Athen, und auf ihrer Brust strahlte die furchtbare Aegyde. An allen diesen Zeichen erkannte Telemach Minerven.

»So warst du es also selbst, o Göttin,« rief er aus, »die sich herab ließ, den Sohn des Ulysses aus Liebe zu seinem Vater zu geleiten!«

Er wollte noch mehr sagen, aber die Stimme gebrach ihm, und seine Lippen strebten vergebens, die Empfindungen auszudrücken, welche gewaltsam aus dem Innersten seiner Seele hervorströmten. Die Gegenwart der Göttin drückte ihn nieder. Er glich einem Menschen, den ein beängstigender Traum des Athems beraubt, und der trotz des mühsamen Bestrebens, seine Lippen zu bewegen, keinen Laut hervorbringen kann.

Endlich sprach Minerva diese Worte:

»Sohn des Ulysses, höre mich zum letzten Male. Kein Sterblicher wurde je mit so viel zärtlicher Sorgfalt von mir erzogen, als du. Von meiner Hand geleitet, entgingst du den Schiffbrüchen, den Gefahren unbekannter Länder, blutiger Kriege und allen Uebeln, die das Herz eines Menschen auf die Probe setzen können. Durch fühlbare Erfahrungen lehrte ich dich den Unterschied zwischen wahren und falschen Grundsätzen der Regierungskunst kennen. Deine Fehltritte waren dir nicht minder nützlich, als deine Leiden. Denn wo ist der Mensch, der mit Weisheit regieren könnte, wenn er keine widrigen Schicksale erfahren, und keinen Nutzen aus den Leiden gezogen hat, in welche ihn seine Fehler stürzten?

Wie dein Vater hast du Länder und Meere mit dem Ruf deiner traurigen Begebenheiten erfüllt. Gehe hin, jetzt bist du würdig, die Pfade zu betreten, die er betrat. Eine kurze und leichte Ueberfahrt wird dich nach Ithaka bringen, wo dein Vater in diesem Augenblicke ans Land steigt. Kämpfe an seiner Seite. Gehorche ihm, wie der geringste seiner Unterthanen. Geh ihnen mit deinem Beispiele voran, Er wird dir Antiopen zur Gemahlin geben und du wirst glücklich mit ihr leben, weil ihre Schönheit dein Herz minder rührte, als ihre Weisheit und Tugend.

Sitzest du einst auf dem Throne, so sei es dein Stolz, die goldene Zeit wieder herbei zu führen. Höre jeden Menschen, traue wenigen. Vor allem aber hüte dich, dir selbst viel zu trauen. Fürchte den Irrthum, aber scheue dich nie, Andere sehen zu lassen, daß du dich geirrt habest.

Liebe dein Volk, und vergiß nichts, wodurch du dir seine Zuneigung erwerben kannst. Die Furcht ist nothwendig, wenn es an Liebe fehlte, aber man muß sich derselben ungern und nur als eines gewaltsamen und gefährlichen Heilmittels bedienen.

Erwäge immer zum voraus alle Folgen dessen, was du unternehmen willst. Stelle dir das Schlimmste vor, was sich ereignen kann, und wisse, daß der wahre Muth darin besteht, der Gefahr in die Augen zu sehen, und sie zu verachten, wenn man sie nicht vermeiden kann. Wem schon vor ihrer Vorstellung bangt, der wird nie herzhaft genug sein, ihren Anblick ruhig zu ertragen, wenn sie wirklich erscheint. Der verdient allein den Namen des Weisen und Edlen, der alle Gefahren, die ihn bedrohen, erkennt, diejenigen vermeidet, die er vermeiden kann, und es mit den übrigen aufnimmt, ohne vor ihnen zu erschrecken.

Fliehe die wollüstige Trägheit, den Prunk, die Verschwendung. Setze deinen Ruhm in die Einfalt der Sitten. Deine Tugenden und wohlthätigen Handlungen seien der Schmuck deines Palastes und und die Wache, die deine Person umgibt, und aus deinem Beispiele lerne die Welt, worin die wahre Ehre besteht.

Vergiß es nie, daß nicht ihr eigener Ruhm, sondern das Wohl des Volks die Bestimmung der Fürsten ist. Das Gute sowohl als das Böse, das sie thun, erstreckt sich von Geschlecht zu Geschlecht, bis zu der spätesten Nachkommenschaft. Die Regierung eines einzigen schlimmen Fürsten macht bisweilen das Unglück vieler Jahrhunderte.

Vor allem hüte dich, dich von der Laune beherrschen zu lassen. Sie ist ein gefährlicher Feind, den du bis zu deinem Tode im Busen tragen würdest. Sie würde sich in deine Berathschlagungen mischen, und zum Verräther an dir werden, wenn du ihr Gehör gäbest. Die Laune macht, daß wir die günstigsten Gelegenheiten versäumen, sie erzeugt kindische Zuneigungen und Abneigungen, und läßt uns unsere wichtigsten Vortheile übersehen. In diesem Zustande entscheiden die nichtigsten Gründe über Sachen von der größten Wichtigkeit. Sie verdunkelt alle Vorzüge des Geistes, schwächt den Muth, und erniedrigt den Menschen zu einem wankelmüthigen, schwachen, verächtlichen und unverträglichen Wesen. Sei mißtrauisch gegen diesen Feind.

Fürchte die Götter, o Telemach! diese Furcht ist das größte Kleinod des menschlichen Herzens. Zugleich mit ihr werden Weisheit, Gerechtigkeit, Seelenruhe; Freude, reines Vergnügen, wahre Freiheit, süßer Ueberfluß und unbefleckter Ruhm dir zufallen.

Ich verlasse dich nun, mein Sohn, aber meine Weisheit wird dich nicht verlassen, wofern du nur stets eingedenk bleibest, daß du ohne sie nichts vermagst. Es ist nun Zeit, daß du allein gehen lernest. Ich trennte mich nur deßwegen in Aegypten und Salent von dir, um dich zu gewöhnen, meines wohlthätigen Beistandes entbehren zu lernen; so entwöhnt man die Kinder von der Mutter, wenn es Zeit ist, ihnen die Milch zu entziehen, und ihnen festere Nahrung zu reichen.«

Kaum hatte die Göttin diese Worte geendigt, als sie sich in die Luft erhob, sich in eine goldene und lasurne Wolke hüllte und verschwand.

Telemach, seufzend, erstaunt und außer sich, warf sich kniend zur Erde, und streckte seine Hände gen Himmel.

Dann weckte er seine Genossen, beschleunigte seine Abreise, langte in Ithaka an, und fand und erkannte seinen Vater in dem Hause des treuen Eumäus.

 

Ende.

 


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