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Telemach erwirbt sich im Lager der Verbündeten das Zutrauen Philoktets, der im Anfang wegen seines Vaters Ulysses Groll gegen ihn hegte. Dieser erzählt ihm seine Begebenheiten, und erwähnt bei dieser Gelegenheit der besondern Umstände des Todes des Herkules, den ihm ein vergiftetes Gewand zuzog, das der Centaur Nessus Dejaniren eingehändigt hatte. Er berichtet ihm, auf welche Art er zu den verhängnisvollen Pfeilen dieses Helden gelangt, ohne welche Troja nicht habe fallen können, welche Leiden er zur Strafe in Lemnos habe erdulden müssen, weil er sein Geheimniß verrathen, und wie sich Ulysses des Neoptolems bedient habe, um ihn zu vermögen, sich zur Belagerung von Troja zu verfügen, wo er durch die Söhne Aeskulaps von seinen Wunden genesen sei.
I nzwischen hatte Telemach die gefahrvolle Laufbahn des Kriegs mit Muth betreten.Als er von Salent abreiste, war seine vornehmste Sorge, die Liebe der alten Feldherren zu gewinnen, deren Ruf und Erfahrenheit die höchste Stufe erreicht hatte. Nestor, der ihn schon zu Pylos gesehen hatte, der Freund seines Vaters, behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn. Er gab ihm Lehren, er begründete sie durch mehrere Beispiele. Er erzählte ihm die Begebenheiten seiner frühern Jahre und die denkwürdigen Thaten der Helden der vergangenen Zeiten,von denen er Zeuge gewesen war. Das Gedächtniß dieses weisen Alten, der drei Menschenalter durchlebt hatte, glich einer Geschichte der alten Zeit, in Erz und Marmor gegraben.
Philoktet war erst dem Jünglinge nicht so gewogen, wie Nestor. Der Haß, den er so lange in seinem Herzen gegen Ulysses genährt hatte, entfernte ihn von dem Sohn. Mit Verdruß sah er, daß die Götter diesem Jüngling einen Ruhm bereiteten, der ihn zum Range der Helden, die Troja gestürzt haben, erheben sollte. Endlich besiegte Telemachs Bescheidenheit alle seine widrigen Empfindungen. Er konnte sich nicht erwehren, der sanften und bescheidenen Tugend Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Oft zog er Telemach auf die Seite, und sagte zu ihm:
»Mein Sohn (denn ich trage kein Bedenken mehr, dich also zu nennen), lange, ich kann es nicht bergen, hegten dein Vater und ich feindselige Gesinnungen gegen einander. Schon hatten wir das stolze Troja gestürzt, und noch lebte der Groll in meinem Herzen. Ich sah dich, aber es kostete mir Mühe, die Tugend in dem Sohne meines Feindes zu lieben. Oft machte ich mir Vorwürfe darüber. Aber endlich besiegt die Tugend, wenn sie mit Sanftmuth, Einfalt, Unbefangenheit und Bescheidenheit gepaart ist, alle Schwierigkeiten.«
Unvermerkt sah sich Philoktet dahin gebracht, ihm zu offenbaren, was in seinem Herzen einen so großen Haß gegen Ulysses erzeugt habe:
»Ich muß,« sagte er, »auf frühere Zeiten zurückgehen. Ich folgte dem großen Herkules auf allen seinen Zügen, ihm, der die Welt von so vielen Ungeheuern befreite, und mit welchem verglichen alle anderen Helden nur schwache Gesträuche gegen die hochstämmige Eiche, oder kleine Vögel gegen den Adler sind. Die Liebe war die Quelle seiner Leiden und der meinigen; diese mit so schrecklichen Qualen begleitete Leidenschaft. Herkules, der den Kampf mit so vielen Ungeheuern bestanden, vermochte nicht dieser schimpflichen Leidenschaft zu widerstehen. Der grausame Liebesgott spottete seiner Stärke. Nur mit Schamröthe dachte er jener Zeiten, wo er, seines Ruhmes uneingedenk, und zum feigesten Weichling herabgesunken, sich so weit erniedrigt hatte, bei Omphale, der Königin von Lydien, zu spinnen; so sehr riß ihn blinde Liebe dahin!
Oft gestand er mir, daß dieser Umstand seines Lebens den Glanz seiner Heldentugend verdunkelt, und alle seine rühmlichen Thaten beinahe in Vergessenheit gebracht habe. Aber, o ihr Götter! schwach und wankelmüthig ist der Mensch; er trotzt auf seine Stärke und widersteht nicht der geringsten Versuchung. Zum zweiten Male, ach! unterlag der Held den Nachstellungen der Liebe, die er so oft verwünscht hatte. Er liebte Dejaniren. Glücklich, wenn er diesem Weibe, seiner Gattin, treu geblieben wäre! Aber die junge Jole, auf deren Wangen die Grazien blühten, bemächtigte sich seines Herzens. Eifersucht glühte in dem Busen Dejanirens. Sie erinnerte sich des unseligen Gewandes, das ihr der Centaur Nessus sterbend zurückgelassen hatte. Er hatte es ihr übergeben als ein sicheres Mittel, die Liebe ihres Gemahls wieder zu wecken, so oft er aus Liebe zu einem andern Weibe gleichgültig gegen sie werden sollte. Dieses Gewand war mit dem vergifteten Blut des Centaurs getränkt, welches das tödtliche Gift der Pfeile enthielt, womit dieses Ungeheuer durchbohrt worden war. Du weißt, daß die Pfeile des Herkules, der diesen treulosen Centaur tödtete, in das Blut der lernäischen Hydra getaucht waren, und daß dieses Blut seinen Pfeilen ein Gift mittheilte, welches die Wunden, die es verursachte, unheilbar machte.
Herkules hüllte sich in dieses Gewand, und fühlte bald das verzehrende Feuer, das bis in das Mark seiner Gebeine drang. Von seinem fürchterlichen Geschrei ertönte der Berg Oeta und die tiefen Thäler; das Meer selbst kam in Bewegung. Weniger furchtbar ist das Gebrüll wilder, kämpfender Stiere, als das Geschrei des Herkules war. Von Schmerz gepeinigt ergriff er den unglücklichen Lykas, der ihm dieses Gewand von Dejaniren überbracht, und es gewagt hatte, sich ihm zu nähern. Er schwang ihn, wie der Schleuderer den Stein in seiner Schlender schwingt, den er weit von sich werfen will. Lykas, von der gewaltigen Hand des Herkules vom Gipfel des Berges herabgeschleudert, fiel in das Meer. Sogleich wurde er in einen Felsen verwandelt, der noch menschliche Gestalt trägt, und von den aufgebrachten Wogen geschlagen, von ferne schon den klugen Piloten schreckt.
Durch das unglückliche Schicksal des Lukas gewarnt, wagte ich es nicht mehr, dem Herkules nahe zu kommen. Ich verbarg mich in den tiefsten Höhlen. Ich sah es, wie er mit der einen Hand hohe Fichten und alte Eichen, welche Jahrhunderte lang Winden und Stürmen getrotzt hatten, ohne Mühe entwurzelte, und mit der andern vergebens strebte, das unglückliche Gewand von seinen Schultern zu reißen. Es klebte fest an seiner Haut; es schien mit seinen Gliedern verwachsen zu sein. Indem er es von seinem Körper reißen wollte, zerfleischte er sich selbst. Sein Blut floß in Strömen herab, und netzte die Erde. I Endlich überwand seine starke Seele den Schmerz. Er rief aus:
›Du siehst, Philoktet, theurer Freund, welche Qualen die Götter, über mich verhängen; sie sind gerecht; ich habe sie beleidigt; ich habe die eheliche Treue verletzt. Nach Besiegung so vieler Feinde unterlag ich schimpflich der Liebe einer schönen Unbekannten. Ich sterbe und bin zufrieden, wenn mein Tod die Götter versöhnt. Aber ach, mein Freund, wohin bist du geflohen? Es ist wahr, die Qual, die ich duldete, ließ mich an dem unglücklichen Lykas eine Grausamkeit begehen, die ich mir nicht vergebe. Er kannte das Gift nicht, das er mir reichte; er verdiente diese Strafe nicht. Aber glaubst du, daß ich fähig sei, die Freundschaft zu vergessen, die ich dir schuldig bin, daß ich dir das Leben rauben wolle? Nein, nie werde ich aufhören, den Philoktet zu lieben. Philoktet wird meinen Geist auffassen, der zu entfliehen bereit ist; er wird meine Asche sammeln. Aber wo bist du, geliebter Freund Philoktet, einzige, letzte Hoffnung meines Leben?‹
Auf diese Worte flog ich ihm entgegen. Er streckte seine Arme nach mir aus, er wollte mich umfassen Aber er zog sie wieder zurück, aus Furcht, auch in meiner Brust das schreckliche Feuer zu entzünden, das ihn selbst verzehrte.
›Ach!‹ rief er, ›auch dieser Trost ist mir nicht einmal vergönnt!‹
Er spricht's, er trägt die Bäume zusammen, die er ausgerissen hatte; er schichtet einen Scheiterhaufen auf dem Gipfel des Berges. Stillschweigend besteigt er ihn. Er breitet die Haut des nemäischen Löwen auf demselben aus, welche so lange seine Schultern bedeckt hatte, als er von dem einen Ende der Erde zum andern zog, die Ungeheuer zu bekämpfen und die Unglücklichen zu befreien. Er stützt sich auf seine Keule, und befiehlt mir, den Scheiterhaufen anzuzünden.
Entsetzen hatte mich gefaßt, meine Hände zitterten, aber sie konnten ihm diesen grausamen Dienst nicht versagen, denn er konnte dies qualvolle Leben nicht mehr für ein wohlthätiges Geschenk der Götter halten, und ich fürchtete, daß der übermäßige Schmerz ihn zu einer That hinreißen möchte, welche die Tugend befleckte, durch die er die Welt in Erstaunen gesetzt hatte.
Als er sah, daß die Flamme den Scheiterhaufen zu ergreifen anfing, rief er aus:
›Jetzt, mein bester Philoktet, sehe ich, daß deine Freundschaft echt ist, denn du liebst meinen Ruhm mehr, als mein Leben. Mögen es dir die Götter lohnen! Ich hinterlasse dir, was mir das Theuerste auf der Welt war, jene in das Blut der lernäischen Schlange getauchten Pfeile. Du weißt, daß die Wunden tödtlich sind, die sie bewirken. Durch sie wirst du unüberwindlich sein, wie ich es war; kein Sterblicher wird es wagen, mit dir zu streiten. Erinnere dich, daß ich unserer Freundschaft bis in den Tod treu blieb, und vergiß es nie, wie theuer du mir warst. Aber wenn es wahr ist, daß dir mein Leiden zu Herzen geht, so verleihe mir noch einen letzten Trost. Versprich mir, keinem Sterblichen je weder meinen Tod, noch den Ort zu offenbaren, wo du meine Asche verbergen wirst.‹
Götter! ich versprach es ihm, ich schwor es ihm sogar, indem ich seinen Scheiterhaufen mit meinen Thränen benetzte. Ein Strahl der Freude brach aus seinen Augen. Aber auf einmal hüllte ihn die wirbelnde Flamme ein, erstickte seine Stimme, und entzog ihn fast ganz meinen Augen. Doch sah ich ihn noch ein wenig durch das auflodernde Feuer. Sein Antlitz war eben so heiter, als wenn er, mit Blumen bekränzt, und Wohlgerüche duftend, die Freuden eines köstlichen Mahls mitten unter seinen Freunden genossen hätte.
Die Flamme verzehrte bald alles, was irdisch und vergänglich an ihm war. Bald war nichts mehr von dem übrig, was er bei seiner Geburt von seiner Mutter Allmene empfangen hatte. Aber Jupiters Wille war, daß er jenes reine, unzerstörbare Wesen behielte, jene himmlische Flamme, welche die wahre Quelle des Lebens ist, und die er vom Vater der Götter empfing. Er stieg empor zu den Göttern unter die goldenen Wölbungen des schimmernden Olympus. Hier feierte er mit ihnen fröhliche Feste, und sie gaben ihm die liebliche Hebe, die Göttin der Jugend, zur Gattin, welche den Nektar in Jupiters Schaale goß, ehe Ganymed dieser Ehre gewürdigt ward.
Aber die Pfeile, die er mir gegeben hatte, und durch die ich mich über andere Helden emporschwingen sollte, wurden für mich eine unversiegbare Quelle von Leiden. Bald verbanden sich Griechenlands Fürsten, den Menelaus an Paris, den schändlichen Räuber Helena's, zu rächen und Priamus Thron umzustürzen. Das Orakel des Apoll hatte den Ausspruch gethan, daß die Griechen nur dann den Krieg glücklich zu endigen hoffen dürfen, wenn sie im Besitz der Pfeile des Herkules wären.
Dein Vater Ulysses, der weiseste und thätigste in den Rathsversammlungen, übernahm es, mich zu überreden, mit den andern Fürsten zur Belagerung von Troja zu ziehen, und diese Pfeile mit dahin zu bringen, denn er glaubte, daß ich im Besitz derselben sei. Es war schon lange, daß Herkules nicht mehr auf der Erde gesehen wurde. Man hörte nicht mehr von neuen Thaten dieses Helden sprechen. Die verwüstenden Ungeheuer und die Frevler fingen wieder an, ungestraft sich zu zeigen. Die Griechen wußten nicht, was sie von ihm denken sollten. Einige hielten ihn für todt, andere behaupteten, daß er bis zum beeisten Nordpol hingezogen sei, um die Scythen zu bezwingen. Aber Ulysses versicherte, daß er nicht mehr lebe, und unternahm es, mir das Geständniß seines Todes zu entlocken.
Als er zu mir kam, hatte ich mich noch nicht über den Verlust des großen Alciden getröstet. Es kostete ihm viele Mühe, mich zu einer Unterredung mit ihm zu vermögen, denn ich haßte den Anblick der Menschen. Es schmerzte mich, jenen Einöden des Berges Oeta entrissen zu werden, wo ich meinen Freund hatte sterben sehen. Meine Beschäftigung war, das Bild dieses Helden in meine Seele zurückzurufen, und bei dem Anblick dieser traurigen Oerter zu weinen. Aber sanft und unwiderstehlich waren die Worte, die von den Lippen deines Vaters flossen. Er schien fast eben so betrübt zu sein, als ich. Er vergoß Thränen; er wußte sich unvermerkt in mein Herz einzuschmeicheln, und mein Vertrauen zu gewinnen. Er flößte mir Theilnahme für die griechischen Fürsten ein, die für eine gerechte Sache stritten, und ohne mich nicht hoffen konnten, in ihrer Unternehmung glücklich zu sein. Aber vergebens bemühte er sich, mir das Geheimniß von dem Tode des Herkules zu entlocken, welches nie zu verrathen ich geschworen hatte. Aber er zweifelte nun nicht mehr, daß er todt sei, und drang in mich, ihm den Ort zu entdecken, wo ich seine Asche verborgen hätte.
Ich Unglücklicher! ich verabscheute es, durch die Offenbarung eines Geheimnisses, dessen Verheimlichung ich den Göttern zugesagt hatte, meineidig zu werden, und war schwach genug, der Verbindlichkeit meines Eides auf eine listige Art auszuweichen, da ich den Muth nicht hatte, ihn geradezu zu verletzen. Die Götter haben mich dafür gestraft. Ich stieß mit dem Fuß auf den Boden an dem Orte, wo ich die Asche des Herkules hingelegt hatte. Und nun reiste ich zu den verbündeten Königen, die mich eben so freudig aufnahmen, als wenn es Herkules selbst gewesen wäre.
Als ich auf der Insel Lemnos ankam, wollte ich den Griechen eine Probe von der Wirksamkeit meiner Pfeile geben, und schickte mich an, eine Gemse zu erlegen, die durch einen Wald rannte. Aus Versehen ließ ich den Pfeil vom Bogen auf meinen Fuß fallen, und er verursachte mir eine Wunde, deren Folgen ich noch jetzt empfinde. Sogleich fühlte ich eben die Schmerzen, welche Herkules ausgestanden hatte. Ich erfüllte die Insel Tag und Nacht mit meinem Geschrei. Ein schwarzes, verdorbenes Blut floß aus meiner Wunde, steckte die Luft an, und verbreitete durch das Lager der Griechen einen Uebelgeruch, der die gesündesten Menschen des Athems hätte berauben können. Das ganze Heer entsetzte sich über meinen schrecklichen Zustand, und jeder glaubte, daß es eine Strafe sei, die mir die gerechten Götter zugeschickt hätten.
Ulysses, der mich bewogen hatte, Theil an diesem Kriege zu nehmen, war der erste, mich zu verlassen. In der Folge sah ich wohl ein, daß er es gethan habe, weil er das gemeine Beste Griechenlands und den Sieg den Pflichten vorzog, welche ihm die Freundschaft und die Rücksicht auf einen Einzelnen auflegten. Der Opferdienst in dem Lager konnte nicht mehr verrichtet werden, so groß war die Verwirrung, welche der Abscheu vor meiner Wunde, die Ansteckung, die sie verbreitete, und die Heftigkeit meines Geschreis bei dem ganzen Heer verursachte. Aber in dem Augenblick, da mich die Griechen auf Ulysses Rath verließen, hielt ich diese Maßregel der Klugheit für die schrecklichste Unmenschlichkeit, die schwärzeste Verrätherei. Ach! ich war verblendet genug, nicht zu sehen, daß die besten Menschen mir mit eben dem Rechte zürnten, als die Götter, die ich beleidigt hatte. Beinahe die ganze Belagerung von Troja hindurch blieb ich auf diesem öden und wilden Eiland, ohne Hülfe, ohne Hoffnung, ohne Trost, den fürchterlichsten Qualen Preis gegeben. Ich hörte hier nichts, als das Brausen der Wogen, die sich an den Klippen brachen.
Mitten in dieser Wildniß fand ich eine leere Höhle in einem Felsen, der zwei Spitzen, zwei Häuptern ähnlich, gen Himmel streckte. Eine klare Quelle entströmte dem Felsen. Diese Höhle diente den wilden Thieren zum Aufenthalt, deren wüthenden Anfällen ich Tag und Nacht ausgesetzt war. Ich häufte Blätter zu einem Lager. Es war mir nichts geblieben, als ein hölzerner Topf von grober Arbeit und einige zerlumpte Kleider, mit denen ich meine Wunde verband, das Blut derselben stillte, und sie reinigte. Von allen Menschen verlassen, mit dem Zorn der Götter belastet, brachte ich hier meine Tage hin, wilde Tauben und anderes Geflügel, das meinen Felsen umflog, mit meinen Pfeilen zu erlegen. Wenn ich irgend einen Vogel getödtet hatte, um meinen Hunger zu stillen, mußte ich mich schmerzlich auf der Erde hinschleppen, um meinen Raub zu erhaschen. So verschaffte ich mir mit meinen Händen meine Nahrung.
Die Griechen ließen mir zwar bei ihrer Abreise einige Lebensmittel zurück, aber bald war dieser Vorrath aufgezehrt. Mit Kieselsteinen machte ich Feuer an. So schauderhaft auch das Leben war, das ich führte, so würde es mir doch, fern von den undankbaren, treulosen Menschen, angenehm gedäucht haben, wenn der Schmerz mich nicht niedergedrückt, und das traurige Ereigniß, welches mich in diese Noth gebracht hatte, nicht stets vor meiner Seele geschwebt hätte. Welche Grausamkeit, sagte ich bei mir selbst, einen Menschen seinem Vaterlande zu entreißen als denjenigen, der allein Griechenland rächen könne, und ihn darin, während er der Ruhe genießt, auf einem wüsten Eiland zurück zu lassen! denn ich schlief, als die Griechen abreisten. Denke dir meine Bestürzung, und wie viele Thränen ich vergoß, als ich erwachend das Schiff durch die Wellen hingleiten sah. Ach! ich blickte rings auf dieser wilden und grauenvollen Insel umher, und fand nichts als die Verzweiflung.
Dies Eiland hat keinen Hafen, auch treibt es keinen Handel. Wider ihren Willen landen die Seefahrer daselbst. Man erblickt auf demselben nur jene Unglücklichen, die von Stürmen an dies Gestade geworfen worden. Keinen Umgang findet man da, als den Umgang derer, die Schiffbruch gelitten haben. Aber auch diejenigen, welche an diesen Ort kamen, getrauten sich nicht, mich mit sich zu nehmen. Sie scheuten den Zorn der Götter und der Griechen. Zehn Jahre lang duldete ich die Schmach, den Hunger, den Schmerz. Ich nährte eine Wunde, die mich verzehrte. Die Hoffnung selbst war aus meinem Herzen verschwunden.
Als ich eines Tages vom Suchen heilender Kräuter für meine Wunde in meine Höhle zurückkehrte, erblickte ich auf einmal in derselben einen Jüngling von schöner und einnehmender Bildung, aber zugleich von stolzer und heldenmäßiger Gestalt. Ich glaubte, den Achill zu sehen, so viel Aehnlichkeit hatte er in seinen Zügen, in seinen Blicken und in seinem Gang mit ihm. Sein Alter allein zeigte mir, daß er es nicht sein konnte. Seine Miene sprach Mitleid und Verlegenheit zugleich. Es rührte ihn, als er sah, wie langsam und kümmerlich ich mich fortschleppte. Mein durchdringendes, schmerzliches Geschrei, das von dem Ufer wiederhallte, erweichte sein Herz.
›Fremdling,‹ rief ich ihm schon von ferne zu, ›welches Unglück führt dich in diese unbewohnte Insel? Ich erkenne das Gewand eines Griechen, dieses Gewand, das mir noch immer theuer ist. Ach! wie verlangt mich, deine Stimme zu vernehmen, und jene Sprache von deinen Lippen tönen zu hören, die ich in meiner Jugend lernte, und die ich schon so manche Jahre in dieser Einöde mit niemand mehr reden konnte. Entsetze dich nicht über meinen jammervollen Zustand, habe Mitleiden mit mir.‹
Kaum hatte mir Neoptolem gesagt, daß er ein Grieche sei, so rief ich aus:
›O süße Worte, nach so vielen Jahren von Stillschweigen und trostlosen Leiden! O, mein Sohn, welches Unglück, welcher Sturm, oder vielmehr welcher günstige Wind brachte dich hierher, um meine Qualen zu endigen?‹
Er antwortete mir:
›Mein Geburtsland ist die Insel Scyros; ich kehre wieder dahin zurück; man sagt, daß ich der Sohn Achills sei. Nun weißt du Alles.‹
Diese wenigen Worte befriedigten meine Neugier nicht. Ich sagte zu ihm:
›O, Sohn eines Vaters, den ich so sehr liebte, theurer Zögling des Lykomedes, was führte dich hieher, und woher kommst du?‹
Er antwortete mir, daß er von der Belagerung von Troja käme.
›Ich entsinne mich nicht,‹ sagte ich zu ihm, ›dich unter denjenigen gesehen zu haben, die zuerst dahin zogen.‹
›So warst also du unter denselben?‹ fragte er mich.
›Ich sehe wohl,‹ erwiederte ich, ›du kennst weder den Namen des Philoktet, noch seine Leiden. Ich Unglücklicher! meine Verfolger höhnen mich noch in meinem Elend. Die Griechen wissen es nicht, daß ich leide; dies mehret noch meinen Schmerz. Die Atriden haben mich in diesen Zustand gebracht; mögen es ihnen die Götter vergelten!‹
Hierauf erzählte ich ihm, auf welche Weise mich die Griechen verlassen hätten. Kaum hatte er meine Klagen vernommen, als er die seinigen begann.
›Nach dem Tode Achills,‹ sprach er zu mir.
›Wie?‹ unterbrach ich ihn, ›ist Achill todt? Vergib mir, mein Sohn, daß ich deine Erzählung durch die Thränen unterbreche, die ich deinem Vater schuldig bin.‹
Neoptolem antwortete mir:
›Du tröstest mich, indem du I mich so unterbrichst; wie ist es mir so süß, den Philoktet meinen Vater beweinen zu sehen!‹
Neoptolem setzte seine Erzählung folgendermaßen fort:
›Nach dem Tode Achills kamen Ulysses und Phönix zu mir. Sie bezeugten, daß ohne meine Gegenwart Troja nie fallen würde. Es brauchte wenig, mich zu bewegen, mit ihnen zu gehen, denn der Schmerz über den Tod meines Vaters und das Verlangen, der Erbe seines Ruhms in diesem berühmten Kriege zu werden, waren für mich hinlängliche Gründe, ihnen zu folgen. Ich langte zu Sigeum an. Das Heer drängte sich um mich her; jeder schwor, daß er den Achill wieder erblicke; aber, ach! er war nicht mehr. Jung und unerfahren, wie ich war, wähnte ich, alles von denjenigen hoffen zu dürfen, die mich so sehr erhoben. Das erste, was ich von den Atriden begehrte, waren die Waffen meines Vaters. Grausam gaben sie mir zur Antwort: »Du sollst alles erhalten, was deinem Vater angehört, aber seine Waffen sind dem Ulysses bestimmt.«
Diese Antwort betrübte meine Seele; ich weinte, ich entrüstete mich.
Aber Ulysses, ohne aus seiner Fassung zu kommen, sagte zu mir: »Junger Mensch, du theiltest nicht mit uns die Gefahren dieser langen Belagerung; diese stolze Sprache geziemt dir nicht, du verdienst nicht, diese Waffen zu besitzen, und nie wirst du sie erhalten«.
Meines Eigenthums durch die Ungerechtigkeit des Ulysses beraubt, kehrte ich in die Insel Scyros zurück, weniger gegen ihn, als die Atriden erbittert. Nun habe ich dir alles verkündet, Philoktet. Möchten die Götter ihren Feinden beistehen!‹
Alsdann fragte ich den Neoptolem, warum Ajax, Telamons Sohn, sich dieser Ungerechtigkeit nicht widersetzt habe.
›Er ist todt,‹ antwortete er mir.
›Todt!‹ rief ich aus, ›und Ulysses lebt, und lebt, mit Ehre gekrönt, in dem Heere?‹
Dann erkundigte ich mich auch nach Antilochus, dem Sohne des weisen Nestor und nach Patroklus, Achills Freunde.
›Auch diese sind nicht mehr unter den Lebenden,‹ sagte er zu mir.
Noch einmal rief ich aus:
›Götter, was sagst du? So rafft also der unerbittliche Krieg die Guten hinweg, und schonet den Lasterhaften? Ulysses lebt also; ohne Zweifel auch Thersites. So ungerecht handeln die Götter, und wir sollen sie noch ehren!‹
Indeß ich so meine Wuth gegen deinen Vater ausließ, fuhr Neoptolem fort, mich zu hintergehen. Noch sprach er die traurigen Worte:
›Fern von dem Heere der Griechen, wo das Laster über die Tugend siegt, will ich in dem öden Scyros mein Leben in Zufriedenheit hinbringen. Ich gehe, lebe wohl, die Götter lassen dich genesen!‹
›Ach! mein Sohn,‹ rief ich aus, ›ich beschwöre dich bei dem Schatten deines Vaters, bei deiner Mutter, bei allem, was dir auf Erden theuer ist, laß mich nicht in diesem Elend zurück, wovon du ein Zeuge bist. Ich weiß es, wie sehr ich dir zur Last sein werde; aber es würde dir Schande bringen, mich zu verlassen. Laß mich im Vordertheil, im Hintertheil des Schiffes liegen, wirf mich in den Raum des Schiffes, wohin du willst, und wo ich dich am wenigsten beschweren werde. Nur großen Seelen ist es gegeben, das Rühmliche edler Handlungen zu fühlen. Laß mich nicht in einer Wildniß zurück, wo man keine Spur von Menschen findet. Führe mich in dein Vaterland, oder nach Euböa, das nicht weit vom Berge Oeta, von Trachin und von den lieblichen Ufern des Sperchius entfernt ist. Gib mich meinem Vater wieder. Ach, wie sehr fürchte ich mich, daß er todt sei! Ich ließ ihn bitten, mir ein Schilf zu senden; entweder ist er todt, oder diejenigen, welche mir versprachen, ihm meine Leiden zu hinterbringen, haben mir nicht Wort gehalten. Ich wende mich an dich, mein Sohn. Denke an den Unbestand menschlicher Dinge. Wer im Glücke ist, mißbrauche es nicht, und versage seine Hülfe dem Unglücklichen nicht.‹
Dies waren die Worte, die ich, von großen Schmerzen ergriffen, dem Neoptolem sagte. Er versprach, mich mit sich zu nehmen. Alsdann rief ich aus:
›O, glücklicher Tag! o, göttlicher Neoptolem, wie würdig des Ruhmes deines Vaters bist du! Theurer Reisegefährte, vergönne, daß ich dieser traurigen Wohnung Lebewohl sage. Sieh, hier habe ich gelebt; denke dir meine Leiden; kein anderer würde sie erduldet haben. Aber die Noth hatte mich unterrichtet, und sie lehrt den Menschen, was er auf keine andere Weise lernen würde. Wer nie gelitten hat, bleibt unwissend. Er kennt weder das Gute, noch das Böse. Er kennt die Menschen nicht, er kennt sich selbst nicht.‹
So sprach ich, und ergriff meinen Bogen und meine Pfeile.
Neoptolem bat mich um die Erlaubniß, diese berühmten und durch den unüberwindlichen Herkules geheiligten Waffen küssen zu dürfen.
Ich antwortete ihm:
›Alles ist dir vergönnt. Von deiner Hand empfange ich heute das Leben, mein Vaterland, meinen vom Alter gebückten Vater, meine Freunde, mich selbst wieder. Du sollst diese Waffen berühren, und du wirst dich dann rühmen können, der einzige unter den Grieche zu sein, der verdiente, sie zu berühren.‹
Sogleich trat Neoptolem in meine Grotte, um diesen Waffen seine Bewunderung zu zollen.
In diesem Augenblick ergriff mich ein unbändiger Schmerz. Er raubte mir die Besinnung. Ich wußte nicht mehr, was ich that. Ich forderte ein scharfes Schwert, um mir den Fuß damit weg zu schneiden. Ich rief laut aus:
›Tod! so sehnlich erflehter Tod! warum zögerst du? O Neoptolem, übergib mich den Flammen, wie ich den Sohn Jupiters denselben übergab! O Erde, nimm einen Sterbenden auf, der sich nicht mehr erheben kann!‹
Auf diesen quälenden Schmerz folgte eine tiefe Betäubung, in welche ich nach meiner Gewohnheit plötzlich verfiel. Ein starker Schweiß fing an, mich zu erleichtern; ein schwarzes, verdorbenes Blut floß aus meiner Wunde. Es wäre dem Neoptolem leicht gewesen, während meines Schlafs mir meine Waffen zu entreißen und davon zu gehen; aber er war der Sohn Achills, und unfähig, mich zu betrügen.
Als ich erwachte, bemerkte ich, daß er in Verlegenheit war. Er seufzte, wie ein Mensch, dem die Verstellung fremd ist, und der gegen seine Neigung handelt.
›Solltest du im Sinne haben, mich zu hintergehen?‹ sagte ich zu ihm; ›rede!‹
›Du mußt mir zur Belagerung von Troja folgen,‹ antwortete er mir.
›Ach!‹ rief ich aus, ›was sagst du, mein Sohn? Gib mir diesen Bogen wieder. Ich bin verrathen; raube mir das Leben nicht.‹
Ach! er antwortete mir nichts. Er sah mich stillschweigend an; nichts vermochte sein Herz zu rühren.
›O ihr Ufer und Vorgebirge dieser Insel, ihr wilden Thiere und steilen Felsen, euch klage ich! denn ich habe sonst niemand, dem ich klagen könnte, als euch, den Vertrauten meines Kummers. Sollte Achills Sohn an mir zum Verräther geworden sein? Er entreißt mir Herkules geheiligten Bogen; er will mich mit sich in das Lager der Griechen schleppen, um mich im Triumph aufzuführen. Sieht er nicht, daß er nur über einen Todten, einen Schatten, eine leere Gestalt triumphirt? Ha! wenn er mich angegriffen hätte, da ich noch meine Kraft fühlte! Aber jetzt siegt er bloß durch List über mich. Was soll ich thun? – Gib mir meinen Bogen wieder, mein Sohn, gib ihn mir wieder. Sei deinem Vater ähnlich; thue, was deiner selbst würdig ist; antworte mir! Aber du schweigst. Wilde Felsen, so muß ich zu euch zurückkehren, nackt, dem Elende Preis gegeben, verlassen, ohne Nahrung. Hülflos werde ich in dieser Höhle sterben! Die wilden Thiere werden mich zerreißen, da ich des Bogens beraubt bin, mit dem ich sie tödtete! Mögen sie es! Doch dein Herz scheint nicht schlechte Gesinnungen zu hegen, mein Sohn, du handelst aus fremdem Antriebe, gib mir meine Waffen wieder, und dann verlaß mich.‹
Leise und mit bethränten Augen antwortete Neoptolem:
›Ach, daß ich nie von Scyros abgereist wäre!‹
Mit einmal rief ich aus:
›Himmel! was erblicke ich? Ist dies nicht Ulysses?‹
Und nun vernahm ich seine Stimme. Er antwortete mir:
›Ja, ich bin es.‹
Hätte Pluto's nächtliches Reich sich vor mir aufgethan, und hätte ich schwarzen Tartarus gesehen, dessen Anblick selbst die Götter schreckt, mein Entsetzen wäre nicht größer gewesen.
Abermals rief ich aus:
›O Erde von Lemnos, sei du mein Zeuge! Du siehst es, Sonne, und du duldest es!‹
Ruhig antwortete Ulysses:
›Es ist Jupiters Wille, und ich bin der Vollstrecker seiner Befehle.‹
›Wagst du es noch, Jupiters Namen zu nennen?‹ fuhr ich auf. ›Blicke diesen Jüngling an; seine Seele war nicht für den Betrug gemacht; schmerzlich fällt es ihm, zu vollziehen, wozu du ihn nöthigst.‹
›Unsere Absicht ist nicht, dich zu hintergehen und dir zu schaden,‹ sagte Ulysses. ›Wir kommen, dich zu befreien, deine Wunde zu heilen, dir den Ruhm zu verschaffen, Troja zu stürzen, und dich in dein Vaterland zurückzuführen. Ulysses ist nicht dein Feind, du bist es selbst.‹
Ich sagte deinem Vater alles, was die Wuth mir eingeben konnte.
›Da du mich auf diesem Ufer zurückgelassen hast,‹ sprach ich, ›warum vergönnest du mir nicht, hier im Frieden zu leben? Geh hin, suche Ruhm im Getümmel der Schlachten, genieße der Freuden des Lebens, sei glücklich mit den Atriden, laß mir mein Elend und meine Schmerzen. Warum willst du mich diesem Boden entreißen? Ich habe keine Kraft mehr; ich bin schon unter den Todten. Warum denkst du jetzt nicht eben so, wie vordem, da du glaubtest, daß ich nicht mit euch abreisen könnte, daß mein Geschrei und die Ansteckung, welche meine Wunde verbreitete, eure Opfer stören würden. Du allein, Ulysses, bist der Urheber aller meiner Leiden. Möchten die Götter … aber die Götter hören mich nicht, ja, sie reizen meinen Feind noch gegen mich. O, mein Vaterland, ich werde dich nie wieder sehen! O, ihr Götter, wenn noch einer unter euch ist, der Gerechtigkeit liebt, der Mitleiden mit mir hat, lasset eure Strafen den Ulysses treffen, und ich werde mich für geheilt halten!‹
Dein Vater hörte mich ruhig an; er sah mit Mitleiden auf mich; er glich einem Menschen, der statt über die Geistesverwirrung eines Unglücklichen zu zürnen, den sein Mißgeschick erbittert hat, sie erträgt und entschuldigt. Unbeweglich stand er, wie ein Fels auf dem Gipfel eines Berges, der den ergrimmten Winden Trotz bietet, und ihre Wuth austoben läßt. Diesem ähnlich, wartete dein Vater stillschweigend, bis mein Ungestüm sich gelegt haben würde. Er wußte, daß man die Leidenschaften der Menschen, die man zur Vernunft zurückbringen will, nicht eher angreifen darf, als bis sie durch eine Art von Ermüdung ihre Stärke verloren haben.
›O Philoktet,‹ sprach er endlich, ›was ist aus deiner Vernunft und deinem Muthe geworden? Jetzt ist der Augenblick gekommen, sie zu gebrauchen. Wenn du dich weigerst, uns zu folgen, um die großen Absichten, die Jupiter mit dir hat, zu erfüllen, so gehab' dich wohl. Du bist es nicht werth, der Befreier Griechenlands und Troja's Zerstörer zu sein. Bleibe in Lemnos. Diese Waffen, die ich mit mir nehme, werden mir einen Ruhm verleihen, der dir bestimmt war. Laß uns gehen, Neoptolem; er hört nicht. Es ist uns nicht erlaubt, das Wohl von ganz Griechenland dem Mitleiden gegen einen Einzelnen aufzuopfern.‹
Jetzt fühlte ich die Wuth einer Löwin, der man ihre Jungen geraubt hat. Ihr Gebrüll schallt durch die Wälder hin.
›O, meine Höhle,‹ schrie ich aus, ›nie werde ich dich verlassen! Sei du mein Grab! O Wohnung des Schmerzes! … Ohne Nahrung Ohne Hoffnung! … Wer reicht mir ein Schwert, mich zu durchbohren! … Raubvögel, eilet herbei, mich zu verzehren; denn ich werde euch nicht mehr mit meinen Pfeilen erlegen! Theurer Bogen, geheiligt durch die Hände des Sohnes Jupiters! Herkules, geliebter Freund, wenn dir noch Empfindung geblieben ist, zürnest du nicht? Dein Bogen ist nicht mehr in den Händen deines treuen Freundes, er ist in der Gewalt des schamlosen und hinterlistigen Ulysses. Raubvögel, wilde Thiere, fliehet nicht mehr diese Höhle! meine Hände sind der Pfeile beraubt! Der Unglückliche kann euch nicht mehr schaden! Eilet herbei mich zu verschlingen, oder zerschmettert mich vielmehr, ihr Donnerkeule des unerbittlichen Jupiters!‹
Nachdem dein Vater alle Mittel versucht hatte, mich zu überreden, hielt er endlich für das beste, mir meine Waffen wieder zurückzugeben. Er gab dem Neoptolem ein Zeichen und dieser stellte sie mir sogleich wieder zu.
›Würdiger Sohn Achills,‹ sprach ich zu ihm, ›jetzt gibst du mir einen Beweis, daß du es bist. Aber laß mich Rache an meinem Feinde nehmen.‹
Ich war im Begriff, deinen Vater mit meinen Pfeilen zu durchbohren, aber Neoptolem hielt mich zurück, und sagte:
›Der Zorn raubt dir die Besinnung; du siehst nicht, welche unwürdige That du begehen willst?‹
Ulysses stand eben so unerschüttert gegen meine Pfeile, als gegen meine Schmähungen. Diese Unerschrockenheit, diese Gelassenheit rührte mich. Ich war beschämt, daß ich mich im ersten Anfall der Leidenschaft meiner Waffen gegen denjenigen hatte bedienen wollen, der mir sie wieder gegeben hatte. Aber da mein empörtes Gemüth noch immer nicht besänftigt war, so war es mir unerträglich, daß ich meine Waffen einem Manne zu danken haben sollte, den ich so sehr haßte.
›Wisse,‹ sprach Neoptolem zu mir, ›daß Priamus Sohn, der göttliche Helenus, auf Befehl und Eingebung der Götter, Troja's Mauern verlassen, und uns die Zukunft enthüllt hat. Das unglückliche Troja wird fallen, so sprach er, aber es wird nicht eher fallen, als bis derjenige, welcher die Pfeile des Herkules besitzt, es bekämpfen wird, und dieser Mann wird nur vor den Mauern von Troja von seinen Wunden genesen; Aeskulaps Söhne werden ihn heilen.‹
Entgegengesetzte Gefühle kämpften in meinem Herzen. Die Unschuld des Neoptolem und die Ehrlichkeit, womit er mir meinen Bogen wieder zurückgegeben hatte, rührten mich. Aber dem Ulysses nachzugehen, schien mir schmerzlicher als der Tod, und eine falsche Scham hielt meine Entschließungen zurück. Sollte ich wieder in der Gesellschaft des Ulysses und der Atriden erscheinen? Was würde man von mir denken? So sagte ich bei mir selbst.
Indem ich so im Zweifel schwebte, hörte ich auf einmal eine Stimme, wie die eines Gottes. Ich erblickte den Herkules in einer schimmernden Wolke. Eine Glorie umgab ihn. Ich erkannte ihn leicht an seinen etwas derben Zügen, an seinem starken Körperbau und an seinem kunstlosen Bezeigen. Aber mir erschien er, in dieser Hoheit und Würde, als er noch auf Erden die Ungeheuer bezähmte.
Er sagte zu mir:
›Du siehest, du hörest den Herkules. Ich habe den hohen Olymp verlassen, um dir Jupiters Willen zu verkünden. Du weißt, durch welche Anstrengungen ich die Unsterblichkeit errang. Es ist der Götter Wille, daß du mit dem Sohne Achills gehest, um die Pfade des Ruhms zu betreten, die ich gegangen bin. Du wirst genesen. Paris, der Stifter so vielen Unheils, wird, von meinen Pfeilen getroffen, fallen. Der Krieg wird dir reiche Beute gewähren. Diese sende nach Troja's Eroberung deinem Vater Pöas auf dem Berge Oeta. Er behange damit mein Grabmal, zum Zeichen der Siege, die du durch meine Pfeile erfochten hast. Dir aber, o Sohn des Achill, verkünde ich, daß du ohne Philoktet nicht siegreich sein wirst, und Philoktet nicht ohne dich. Ziehet hin, zwei Löwen ähnlich, die auf den Raub ausgehen. Ich werde den Aeskulap gen Troja senden, damit er dich heile. Vor allem, ihr Griechen, liebet die Religion, und folget ihren Vorschriften; alles übrige ist vergänglich; sie allein ist von ewiger Dauer.‹
Als ich diese Worte vernommen hatte, rief ich aus:
›O, glücklicher, Tag, liebliches Licht, so erscheinst du mir endlich nach so vielen Jahren! Ich gehorche. Laßt mich diese Oerter noch einmal begrüßen, und ich weile nicht länger. Lebe wohl, geliebte Höhle! Lebet wohl, Nymphen dieser wasserreichen Auen! Hinfort werde ich nicht mehr das dumpfe Getöse der Wellen dieses Meeres hören. Fahret wohl, ihr Ufer, wo ich so oft der stürmischen Lust ausgesetzt war! O Vorgebirge, wo das Echo so oft meine Klagen wiederholte, lebe wohl! Lebet wohl, ihr süßen Quellen, wo ich so manche Bitterkeit kostete! Lebe wohl, geliebtes Lemnos, laß mich glücklich von dir scheiden, denn ich folge dem Rufe der Götter und meiner Freunde!‹
Wir reisten ab. Wir langten vor dem belagerten Troja an. Machaon und Podalirius, in der göttlichen Kunst ihres Vaters Aeskulap unterwiesen, heilten mich, oder setzten mich wenigstens in den Zustand, in welchem du mich jetzt erblickst. Ich leide nicht mehr, ich habe meine vorige Kraft wieder erlangt, aber ich hinke ein wenig. Paris fiel von meiner Hand, wie ein schüchternes Hirschkalb fällt, das der Jäger mit seinen Pfeilen erlegt. Bald lag Ilium in der Asche. Das übrige weißt du. Aber das Andenken an meine Leiden nährte stets mir einen gewissen Groll gegen den weisen Ulysses, und seine Tugenden vermochten nicht, diesen Unwillen zu versöhnen. Aber der Anblick eines Sohnes, der ihm so ähnlich ist, und den ich zu lieben mich nicht enthalten kann, flößt meinem Herzen auch milde Empfindungen gegen den Vater ein.«