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Dem undurchdringlichen Nebel des Märzabends war eine Frostnacht gefolgt. An der Ecke der Gärtnerstraße und des Durchschnitts, in einem östlichen Vororte Hamburgs, hatte am Morgen darauf die Glätte des übereisten, abgenutzten Straßendammes ein Opfer gefordert. Ein Droschkenpferd war so unglücklich gestürzt, daß an eine Rettung des gutgepflegten, wertvollen Tieres nicht zu denken war. Beide Vorderbeine waren dem Dunkelbraunen gebrochen. Schweißbedeckt, mit heftig arbeitenden Lungen, lag er in dem Kreis der schnell zusammengelaufenen Gaffer.
Der Kutscher, ein älterer Mann, stand in dumpfer Resignation dabei.
»Dat verdammte Jis, dat verdammte Jis«, wiederholte er nur immer. Ein Schlachter drängte sich durch die Menge:
»Na, Beuthien, is he henn?«
»To'n Dübel is he«, brach der verhaltene Grimm des Angeredeten los. Er warf die Peitsche mit einem Fluch auf die Erde und machte sich daran, den keuchenden Gaul von allem Geschirr zu befreien.
Der Frager und ein junger kräftiger Mann, dessen frisches, wettergebräuntes Gesicht unverkennbare Aehnlichkeit mit dem Kutscher aufwies, waren dem hart Betroffenen behilflich.
»Harst doch man Liesch nohmen, Vadder«, meinte der junge Mann.
»Schnack morgen klok«, war die verbissene Antwort.
In dem Knaul der sich noch immer vermehrenden Zuschauer hielten sich Mitleid, Neugier und Lust am Unglück die Wage. Auch fehlte es nicht an schlechten Witzen. Vergeblich bemühte sich ein Schutzmann, die Menge zu zerstreuen. Er ließ seinen Aerger dafür an den Kindern aus, aber die auf der einen Seite mit barschem Wort verjagten, schlossen sich auf der anderen beharrlich wieder an.
Hatte das Publikum nur spöttische Mienen, halblaute Scherze für die heilige Hermandad, so war die Besitzerin des Eckladens, eines Geschäftskellers, in dem sich eine Weiß- und holländische Warenhandlung befand, um so energischer bemüht, den Mann der Ordnung wenigstens durch ihren Beifall aufzumuntern. Sie war um ihre Spiegelscheiben besorgt.
Die kleine, rundliche Frau war in beständiger Bewegung. Unter Mittelmaß, kostete es ihr verzweifelte Anstrengungen, dann und wann einen Blick auf den Gegenstand der allgemeinen Neugier zu ermöglichen.
Einmal versuchte sie sogar, sich von ihrem niedrigen Standpunkt aus dennoch einen Anteil an der Aktion zu sichern.
»Na, Herr Beuthien, is er tot?« fragte sie mit heller, durchdringender Stimme in das Gewühl hinein.
»Ne, man so'n bischen«, rief ein vorlauter Junge zurück, unter dem Gelächter der Umstehenden.
Ein Dienstmädchen suchte, mit unwilligem Ellbogenstoß die Zärtlichkeit eines Gesellen abwehrend, die Nähe der Geärgerten zu gewinnen.
»Morgen, Frau Wittfoth! ich wollt' nur für'n Groschen Haarnadeln haben, von die langen, wissen Sie woll. Ich komm gleich retour, will man bloß mal eben Kartoffel holen.«
»Recht, Fräulein, holen Sie man bloß mal eben Kartoffel«, lachte die Wittfoth.
Gewandt schlüpfte das Mädchen durch das Gedränge.
Allmählich verlor sich die Menge. Das gestürzte Tier ward bis zur Ankunft des Frohnes durch übergeworfene Decken dem Anblick der Vorübergehenden entzogen. Vereinzelt sich anfindende Neugierige wies der Schutzmann sogleich weiter. Eine halbe Stunde später zeugte nichts mehr von dem Vorfall.
Frau Caroline Wittfoth war noch beim Sortieren der Haarnadelpäckchen beschäftigt, ihr nervöser Ordnungssinn hatte immer irgend etwas zu richten, zu verändern und zu verbessern, als auch schon jenes Dienstmädchen, mit der gefüllten Kartoffelkiepe am Arm, laut und fahrig in den Laden trat.
»Nu?« fragte sie mit strahlendem Lachen. »Haben Sie mich die Nadeln rausgesucht?«
»Sie feiern wohl Geburtstag heute?« meinte die Wittfoth, die verlangten Haarnadeln einwickelnd.
»Ich? Ne, wie meinem Sie das?«
»Na, ich meine man, weil Sie so vergnügt sind.«
»Das sagen Sie man. Mal will unsereins auch lachen. Aergern thut man sich so schon genug.«
»Haben Sie wieder was mit ihr gehabt?«
»Mit ihr nich. Mit ihr werd ich schon fertig. Aber die andere, die meint wunder, was sie ist, und muß sich doch auch man selbst kratzen, wenn ihr was beißt.«
»Nu aber raus«, rief Frau Caroline lachend, beleidigtes Feingefühl erheuchelnd. Die andere ließ sich jedoch gemütlich auf dem einzigen Rohrstuhl an der Tonbank nieder.
»Die? das glauben Sie gar nich«, fuhr sie fort auszukramen. »Nächstens ißt sie auch nicht mehr vor Faulheit. Meinen Sie, sie stippt einen Finger in Wasser? I bewahre, könnt ja naß sein«.
»Wie man nur so sein mag«, ging Frau Caroline auf die Unterhaltung ein. »Wenn ich die Mutter wäre«.
»Die? die stellt nichts nich mit ihr auf«.
»Der Herr sollte sie man mal ordentlich vornehmen«. Die Wittfoth machte eine bezeichnende Handbewegung.
»Dreimal auf'n Tag und düchtig«, eiferte das Mädchen. »Aber Herrjeses! ich vergeß mir ja ganz. Na, das wird'n schönen Segen geben. Sie hat so keinen Guten heute«.
Sie riß ihre Kartoffelkiepe an sich und stürzte mit einem vertraulichen »Schüüß Frau Wittfoth« fort, mit klirrendem Schlag die Thür hinter sich schließend.
»Deernsvolk!« schalt die zusammenschreckende Frau hinterher.
Frau Caroline Wittfoth war die Witwe eines kleinen Hafenbeamten, der ihr außer einer geringfügigen Pension soviel hinterlassen hatte, daß sie die Weiß- und holländische Warenhandlung von der erkrankten Besitzerin kaufen konnte. Vier Jahre hatte sie seitdem das gut eingeführte Geschäft mit Glück fortgesetzt und erweitert. Klug und unternehmend, hatte sie sich bald in die neuen Verhältnisse hineingearbeitet. Sie wußte, was sie wollte. Die Geschäftsreisenden merkten, daß sie der kleinen helläugigen Frau nichts aufschwätzen konnten und respektierten ihre Geschäftstüchtigkeit.
Mehr Mühe und Verdrießlichkeiten hatten ihr im Anfang die jungen Mädchen gemacht, deren sie zwei benötigte, eine Verkäuferin und eine Schneiderin für die Anfertigung der Dienstmädchenkostüme.
Sie hatte viel wechseln müssen. Die meistens ungebildeten, anspruchsvollen Mädchen suchten der kleinen, in manchen Dingen selbst noch unerfahrenen Frau durch freches Wesen zu imponieren. Aber Frau Caroline Wittfoth ließ sich nicht in ihrem eigenen Hause »kujonieren«. Sie hatte immer kurzen Prozeß gemacht und, wenn nötig, alle acht Tage gewechselt, bis sie schließlich die brauchbaren Persönlichkeiten gefunden und sich in diesem täglichen Kampfe gegen Widersetzlichkeit, Unordnung und Trägheit soweit geschult und gestählt hatte, daß sie sich fortan in Respekt zu setzen wußte.
Seit einem halben Jahr hatte sie ihre Nichte Therese Saß, die Tochter einer verarmt verstorbenen Schwester, zu sich genommen, ein zweiundzwanzigjähriges, schwächliches, etwas verwachsenes Mädchen, das erkenntlichen Charakters die Fürsorge der Tante durch hingebende Pflichttreue vergalt. Therese war sehr geschickt im Schneidern und erlebte die Genugthuung, daß neuerdings auch einzelne Damen der Nachbarschaft ihre einfachere Garderobe, Haus- und Morgenröcke, von ihr anfertigen ließen.
Die Wittfoth selbst verstand nichts von diesem Zweig ihres Geschäftes, und besorgte lediglich den Laden und die Wirtschaft, wobei sie von einem zweiten jungen Mädchen unterstützt wurde.
Die achtzehnjährige blühende Blondine mit den großen grauen, blitzenden Augen wußte ihre Prinzipalin gut zu nehmen. Anstellig und gewandt, war sie mit Erfolg bestrebt, sich der Wittfoth unentbehrlich zu machen und sie durch kluges, einschmeichelndes Eingehen auf ihre Schwächen und Eigenheiten zu gewinnen. Auch die Kunden fesselte das hübsche Mädchen durch sein gefälliges, entgegenkommendes Wesen.
Mit der stillen, freundlichen Nichte ihrer Herrin hatte Mimi Kruse eine wärmere Freundschaft geschlossen. Von Natur gutmütig, fühlte sie Mitleid mit der kränklichen, in einer freudlosen Jugend Verkümmerten, und diese empfand das frische, immer gleich heitere Wesen Mimis als belebenden Sonnenstrahl in dem Einerlei ihres zum Verzicht auf jede lautere Lebensfreude verurteilten Daseins.
So lebten die drei Frauenspersonen wie in Familienzusammengehörigkeit. Oft kam ein Neffe der Witwe zum Besuch, Hermann Heinecke, ein Volksschullehrer. Der junge Mann war der Sohn ihres Stiefbruders, der im Mecklenburgischen eine kleine Landstelle besaß.
Hermann verkehrte gerne bei der Tante, der jungen Mädchen wegen. Der verwandtschaftlichen Freundschaft für Therese gesellte sich eine aufrichtige Wertschätzung ihres sanften, geduldigen Wesens und ihres feineren, tieferen Seelenlebens. Doch die Ergebenheit, die er seiner Cousine entgegenbrachte, hinderte ihn nicht, der hübschen Verkäuferin seiner Tante gleichzeitig ein warmes Interesse zu schenken.
Mimi hatte keinen glühenderen Verehrer, als Hermann Heinecke. Sie wußte das und verwandte alle kleinen Künste der Koketterie, um ihn an sich zu fesseln.
Das gutmütige, etwas fade, von einem dünnen blonden Bart umrahmte Gesicht des jungen Mannes war eigentlich nicht »ihre Nummer«, wie sie zu sagen pflegte. Ihre Schwärmerei waren die Schwarzen, Kraushaarigen.
Die goldene Brille, die Hermann trug, söhnte sie jedoch wieder etwas mit seinem Gesicht aus. Sie hatte, wie die meisten jungen Mädchen, eine Vorliebe für Augengläser, unter diesen wieder das Pincenez bevorzugend. Die Brille verlieh dem ziemlich ausdruckslosen Gesicht des Lehrers ein bedeutenderes Ansehen. Die freundlichen blauen Augen sahen ohne diesen Schutz etwas blöde in die Welt, gewannen dahinter versteckt jedoch an Glanz und Leben.
Auch der Umstand, daß die Einfassung der Brille von Gold war, fiel bei Mimi Kruse durchaus ins Gewicht. Schenkte sie ihre Beachtung einmal einem Herrn, der eigentlich gegen ihren Geschmack war, so mußte sie hierzu triftige Gründe haben, zum Beispiel die Aussicht auf nahe und auskömmliche Versorgung. Und die bot ein junger Lehrer immerhin. Der Neffe ihrer Prinzipalin war seit Michaelis fest angestellt, hatte ein gesichertes Einkommen und war pensionsberechtigt. Dafür durfte er schon blond sein und einen schlichten Scheitel tragen.
Hermann hatte den beiden Mädchen versprochen, sie am ersten Ostertage spazieren zu führen, und kam nun am Freitag vor dem Feste, noch abends um 9 Uhr, um seine Einladung zu wiederholen und das Nähere zu bereden. Man wollte bei günstigem Wetter einen Nachmittagsspaziergang machen und am Abend ein Theater oder Konzerthaus besuchen. Bei schlechter Witterung sollte auf dem Dammthorbahnhof oder in der Alsterlust der Kaffee getrunken werden.
Die Mädchen waren mit Freuden bereit. Namentlich Therese, der so selten ein Vergnügen wurde, freute sich wie ein Kind.
Mimi brachte sofort die Frage auf. Was ziehe ich an?
Hermann sah sie am liebsten in heller Kleidung, und sie ging sogleich auf seinen Wunsch ein, ihr hellblaues Wollkleid anzulegen. Von Theresens Anzug war nicht die Rede. Ihre Garderobe war nicht sehr reichhaltig. Auch trug sie nur schwarz.
Anstandshalber hatte man auch die Tante eingeladen, in der Voraussetzung, daß sie ablehnen würde. Man wußte, daß sie um keinen Preis an irgend einem Tage ihr Geschäft schloß und etwas darin suchte, zu Hause zu bleiben, wenn andere ausgingen. Sie hatte überhaupt einen Hang, die Märtyrerin zu spielen, die von allen Kindern Gottes das geplagteste war.
Trotzdem atmete Hermann auf, als sie ganz entrüstet die Zumutung zurückwies, am Nachmittag des ersten Ostertages ihren Laden zu schließen. Sie hatte tausend Gründe dagegen. Gerade an diesem Tage hätte sie noch in jedem Jahre die glänzendsten Geschäfte gemacht. Für sie gäbe es keine Feiertage. Wie das wohl werden sollte, wenn sie spazieren laufen wollte. Und damit burrte sie zum Zimmer hinaus, da die Ladenglocke schellte.
»Therese, komm mal nach hinten«, rief sie gleich darauf wieder durch die hastig aufgerissene Thür. »Fräulein Behn will Maß genommen haben.«
Mit Metermaß und ihrem Notizbüchlein folgte Therese.
Mimi saß am runden Sophatisch. Sie hatte die niedrige Lampe aus bläulichem Milchglas dicht vor sich gerückt und war beschäftigt, die dünnen, schmiegsamen Stahlstäbchen in der Taille eines hellen Mädchenkleides zu befestigen. Der Schein des Lichtes fiel voll auf ihre etwas großen, aber weichen, schöngeformten Hände, die gut gepflegt waren, wenn auch nicht jede Spur häuslicher Thätigkeit sich hatte entfernen lassen.
Mit etwas gezierter Haltung des kleinen Fingers führte sie die Nadel. Die gleichmäßige Bewegung der vollen, rosigen Mädchenhand, an deren Mittelfinger ein schmächtiger Ring mit einem falschen grünen Stein matt glänzte, fesselte Hermanns Blick.
»Wie mögen Sie nur diesen falschen Stein tragen, Fräulein Mimi«, sagte er.
»Schenken Sie mir einen echten, Herr Heinecke«, entgegnete sie, ohne aufzusehen.
»Wenn Sie ganz artig sind«, scherzte er.
»Bin ich das nicht immer?«
Sie sah ihn jetzt an, mit einem versteckten Spott in den grauen Augen, der ihm entging.
In der Vorfreude auf den lange ersehnten Ausgang mit ihr erschien sie ihm heute doppelt verführerisch. Mit ihr allein jetzt, und so schnell in diese verfängliche Unterhaltung geraten, fühlte er sich ganz in der Gewalt ihrer Reize.
Ohne auf ihre Frage zu antworten, stand er auf und stellte sich schweigend neben ihren Stuhl, der Weiterarbeitenden zusehend.
Ein schwacher Veilchenduft, ihr Lieblingsparfüm, das sie jedoch diskret gebrauchte, stieg zu ihm auf.
Er zog den Duft ein.
»Ah, Veilchen.«
»Das letzte Tröpfchen«, lachte sie. »Wenn's verflogen ist, ist es aus mit der Veilchenherrlichkeit.«
»Dann bleiben die Rosen.«
»Wie so?«
Er berührte mit dem Rücken der rechten Hand sanft ihre linke Wange.
»Wie Feuer.«
Sie schlug nach ihm.
Sie hatte ihn kräftig getroffen. Der Fingerhut entflog ihr bei dem Schlag und rollte durchs Zimmer unter den altmodischen Sekretär aus Eichenholz, dessen Messingringe und Schlüssellochumkleidungen der Verdruß der jungen Mädchen waren, denn nie konnte dieser Zierat der Wittfoth glänzend genug leuchten.
Hermann, auf der Verfolgung des Ausreißers, lag bäuchlings auf dem Fußboden und angelte und fegte pustend und ächzend mit einem langen hölzernen Stricksticken der Tante unter dem ziemlich tiefen Möbel umher, als das Zimmer von außen geöffnet und die helle Stimme der Tante laut wurde:
»Unser Wohn- und Arbeitszimmer, Fräulein.«
Gleichzeitig erschien Fräulein Behn in dem Rahmen der Thür, noch ehe die Wittfoth die ungewöhnliche Lage ihres Neffen recht gewahrte.
In größter Verwirrung schnellte Hermann empor, mit bestaubten Aermeln und Rockschößen, an welchen sich auch die unvermeidlichen Fäden der Nähstube festgesetzt hatten.
Schallendes Gelächter begrüßte ihn, in das er notgedrungen einstimmte.
»Fräulein Behn, mein Neffe, Herr Heinicke«, stellte seine Tante vor.
Die junge Dame maß den Neffen mit etwas spöttischem Blick, der jenem entging, da er bei seinem demütigen Ritterdienst die Brille vorsichtig abgenommen hatte und noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand ängstlich von sich abhielt.
Therese beendete die komische Szene, indem sie sich mit der Kleiderbürste an die Reinigung ihres Vetters machte.
Der Ostermorgen versprach einen heiteren, wenn auch etwas kühlen Festtag. Voller Sonnenschein lag über der herben Frühlandschaft, als die Glocken von St. Gertrud die Gläubigen und Erbauungsbedürftigen zum Gottesdienst riefen.
Auch die Wittfoth, in Begleitung Theresens, befand sich unter den Kirchgängern. Seit sie die Kirche so bequem zur Hand hatte, daß sie sie in zehn Minuten erreichen konnte, versäumte die kleine, lebenslustige, keineswegs fromme Frau nie, wenigstens an den hohen Feiertagen die Predigt zu hören und sich an dem Gesang des Kirchenchors zu erbauen.
»Das ist man sich schuldig«, sagte sie. »Ich gehöre durchaus nicht zu den Betschwestern, aber mal will der Mensch doch auch etwas Höheres haben. Und für mich hat es immer so etwas Feierliches, wenn die Knaben singen und die Orgel dazu spielt.«
Therese begleitete die Tante regelmäßig in die Kirche, besuchte auch häufig allein den Gottesdienst. Ihr war die Erbauung aufrichtiges Herzensbedürfnis. Sie hatte den Glauben der hier auf Erden zu kurz Gekommenen an den Himmel und seine ausgleichenden Freuden. Wie alle Angelegenheiten des Herzens, umfaßte sie auch diese Dinge mit großer Innigkeit und fühlte sich dabei in schmerzlichem Gegensatz zur Tante, die auch hier ihre Oberflächlichkeit nicht verleugnete.
»Ach, ich glaub an gar nichts«, erklärte die Wittfoth einmal. »Mir soll's auch einerlei sein. Sterben müssen wir alle, und von oben ist noch keiner lebendig wieder runter gekommen«.
Eine geheime Angst hatte die kleine Frau vor dem Lebendig-begraben-werden. Wenn es irgend anginge, sollte man sie nach ihrem Tode verbrennen, nur nicht »einpurren«.
»Dann könnt Ihr meine Asche in alle Winde streuen. Dann seid Ihr mich los«, sagte sie. »An mein Grab kommt ja doch niemand, da ist es besser, Ihr verbrennt mich gleich«.
Vor der Kirchenthür trafen Therese und ihre Tante auf Frau Behn mit ihren Töchtern.
»Na, Frau Behn, auch'n bischen hier?« fragte die Wittfoth.
»Dat is ja nu mal de Dag dorto«, meinte die Angeredete, die zum Aerger ihrer vornehmen Aeltesten gerne platt sprach.
Fräulein Lulu musterte mit lässigem Gruß die Toiletten der Tante und Nichte.
»Dann beten Sie man recht«, lachte die Wittfoth der Mutter zu, glätte schnell die Falten ihres vergnügten rundlichen Gesichts zu andachtsvollem demütigem Ausdruck und drängte sich mit dem allgemeinen Strom durch den etwas engen Eingang in die freundliche, erst neu erbaute Kirche.
Mimi Kruse hütete inzwischen den Laden. Ihr war die Kirche nichts als ein Haus mit einem Turm. Seit ihrer Konfirmation hatte sie nur einmal wieder eine Predigt gehört, das heißt, eine solche in den Kauf genommen zu dem Gesang des Kirchenchors, um dessen willen eine Freundin sie mit in die Kirche »geschleppt« hatte. Denn der Kirchenchor war gerade Mode geworden.
»Wenn das Herz man gut ist, das Beten thut's nicht«, behauptete sie, und entschlug sich im Vertrauen auf ihr gutes Herz aller christlichen Uebungen.
Auch jetzt hatte sie statt des Gesangbuches den Generalanzeiger neben sich auf dem Fensterbrett liegen und überflog den Roman im Feuilleton. Ihre Gedanken weilten jedoch nur zur Hälfte bei der schnöde verlassenen Gräfin, die andere Hälfte gehörte dem blauen Kleid, das sie am Nachmittag anziehen wollte, und an dem noch allerlei kleine Ausbesserungen und Aenderungen vorzunehmen waren.
Mimi wollte hübsch sein an Hermanns Seite, der mit seinem sonntäglichen, dunkelblauen Ueberzieher, dem weichen hellgrauen Filzhut, den »Bismarckfarbenen« und der goldnen Brille immer so nobel aussah.
Wenn er nur nicht so langweilig sein wollte, so lästig durch seine unaufhörliche Kurmacherei. Am meisten zuwider war ihr sein beständiges, verliebtes Anlächeln. Ihr Schlag am Freitag Abend war ernst gemeint gewesen. Sie haßte diese »Antatzerei«, wie sie es nannte. Als er dann der Länge nach auf dem Fußboden lag, war er ihr sehr lächerlich erschienen.
Heute aber, zum Ausgehen, war er ihr gut genug. Er war nicht »angewachsen«, gab gerne und mit einer gewissen Prahlerei. Mimi dachte schon an die Chokolade, Törtchen und Liqueure, die er ihr am Nachmittag spendieren würde.
Ein wenig Schatten in ihre Vorfreude warfen nur die Wolken, die in kürzeren oder längeren Zwischenräumen die Sonne überzogen. Besorgt sah sie auf. Es wäre doch zu ärgerlich, wenn sich das Wetter nicht halten würde. Wenn es regnete, was sollte sie dann anziehen?
Und wirklich fielen jetzt große, schwere Tropfen, denen sich bald weiche, zerfließende Schneeflocken beimischten, gegen die Scheiben.
Mimi nahm eine Rolle Zwirn und warf sie wütend durch das ganze Zimmer. Ihre Stirn legte sich in bitterböse Falten, und dem unmutig verzogenen Mund entfuhr ein derbes Wort.
Die Flocken verdichteten sich, die Sonne verschwand ganz. Wirbelnd fegte der lose Schnee um die Straßenecken, als wäre es Weihnachtszeit und nicht Ostern.
Trotzdem stellte sich Hermann am Nachmittag zur bestimmten Stunde ein, in Gummischuhen und dickem Flausrock. Statt des hellen, weichen Künstlerhutes schwenkte er eine steife, bienenkorbartige Kopfbedeckung heftig in der Hand, um sie von den Schneeflocken zu befreien. Da die benäßte, angelaufene Brille ihn am Sehen hinderte, blieb er unbeholfen in der Thür stehen.
»Eine schöne Bescherung, meine Damen, der reine Winter«, näselte er verschnupft.
»Wie schade«, bedauerte Therese. »Aber vielleicht klärt sich's noch auf.«
»Klärt sich was«, brummte Mimi. »Wird'n netter Matsch sein.«
»O, ich stelle Ihnen meine Galoschen zur Verfügung, gnädiges Fräulein«, scherzte Hermann.
»Höchst ungnädiges Fräulein«, verbesserte Therese. »Mimi trauert um ihr helles Kleid.«
»Fällt mir nicht ein«, leugnete diese. In Wahrheit war sie sehr mißgestimmt, sich nicht nach Vorhaben putzen zu können. Auch Hermann sah nicht so aus daß man viel Staat mit ihm machen konnte. Eine verfehlte Partie, dachte sie.
»Meinetwegen laßt uns zu Hause bleiben,« meinte aufrichtig Therese.
»Mir ist's auch gleich«, stimmte Mimi bei, und die Partie drohte wirklich noch im letzten Augenblick zu Wasser zu werden, als die Wittfoth den Ausschlag gab.
»Was?« schalt sie. »Das sind junge Leute, und fürchten sich vor Schnee? Marsch, fort mit Euch!«
»Man nich so eitel, Fräulein«, wandte sie sich direkt an Mimi. »Sie sind noch lange hübsch genug. Wenn der Rechte kommt, sieht er nicht erst aufs Kleid.«
»Das mein ich auch«, bekräftigte Hermann eifrig. »Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten.«
»Nun wird's Zeit«, rief die Wittfoth, »wenn Schiller erst redet.«
»Rückert, liebe Tante«, belehrte Hermann.
Die liebe Tante überhörte diese Belehrung und wandte sich an Therese: »Daß Du Dich mir warm anziehst, Kind. Du weißt, Du bist gleich erkältet. Und daß Ihr mir fahrt heute Abend, hörst Du Hermann? Die Abendluft ist so gefährlich.«
Mimi, die sich mürrisch zum Ankleiden entfernt hatte, kam wie verwandelt wieder. Sie lachte über das ganze Gesicht.
Sie trug ein schlichtes graues Kleid, eine knapp anschließende schwarze Plüschjacke, ein schwarzes, langhaariges Müffchen und ein dunkelbraunes kokettes Pelzbarett, das ihr allerliebst stand. Ein Blick in den Spiegel hatte sie schnell über das blaue Kleid getröstet, und höchst zufrieden fand sie sich wieder bei den andern ein. Sie war der Wettermacher. Ihre Stimmung war immer ausschlaggebend, sie hatte etwas mitreißendes, dominierendes in ihrem Wesen.
Hermann war glücklich über diesen schnellen Umschlag ihrer Laune und bemerkte mit Wohlgefallen ihr vorteilhaftes Aussehen. Therese freute sich, wenn andere sich freuten, und so nahm man gut gelaunt von der Tante Abschied.
Die Wittfoth hatte sich eine Tasse starken Kaffee bereitet, ihr Lieblingsgetränk, der zwar für die vollblütige, nervöse Frau das reine Gift war, dem sie jedoch mit wahrer Leidenschaft zusprach. Wenn Frau Caroline von »einer Tasse Kaffee« sprach, so war das nur der einfachere Ausdruck für ein gefülltes Kannenmaß. Heute, zur Feier des Festtages, hatte sie sogar noch für eine Tasse über das gewöhnliche Maß gesorgt, sich guten Rahm statt der sonst bei ihr üblichen Milch gegönnt und neben der gefüllten Zuckerschale einen selbstgebackenen Kuchen gestellt.
Seit Jahren kam zu allen Festlichkeiten ein solcher Kuchen, ein großer, flacher Platenkuchen mit Zucker- und Mandelaufguß auf den Tisch. Wer dieses Gebäck nicht genug zu würdigen wußte, hatte es mit der kleinen Frau verdorben. Ihr Platenkuchen war ihr Stolz.
Behaglich in den tiefen Lehnstuhl fast versinkend, ließ sich die Wittfoth ihren Festkaffee vortrefflich schmecken. Sie steckte ihre Näharbeit in die Ecke des Sofas und nahm sich vor, den Rest des Nachmittags mit gemütlichem Nichtsthun zu verbringen. Sie wollte auch ihren Feiertag haben. Sie mußte sich wahrlich genug plagen. »Ich wundere mich nur, daß mir der Kaffee noch so gut schmeckt«, sagte sie oft.
Im Grunde hatte sie wenig Ursache zum Klagen. Die Mädchen nahmen ihr alle Arbeit ab. Selbst die Küche brauchte sie nicht allein zu besorgen. Dennoch war sie überzeugt, daß niemand so mit Arbeit überbürdet sei wie sie.
Sie war immer in Bewegung und meistens in unnötiger. Sie war überall und nirgends, bald in der Küche, bald im Laden oder im Arbeitszimmer, hier einen Topf oder eine Pfanne, dort einen Flicken oder einen Bindfaden aus dem Wege räumend, um ihn an anderer Stelle abzulagern, wo er oft noch mehr im Wege war. Alle Augenblicke seufzte sie »meine Beine, meine Beine« und brummkreiselte doch wieder ruhelos auf ihren kurzen Beinen weiter. Kein Wunder, wenn sie am Abend »von all der Arbeit« müde war.
Auch jetzt hatte sie sich, trotzdem sie allein war, mit ihrem Gewohnheitsseufzer »Meine Beine, meine Beine« niedergelassen. Der duftige Trank regte ihre Lebensgeister an, der Kuchen war nach ihrem Geschmack vortrefflich geraten, und ein seltsames Wohlgefühl überkam sie.
Aus einer der über ihrem Keller gelegenen Etagenwohnungen drang gedämpftes Klavierspiel zu ihr: Zwei Teile des Donauwalzers von Strauß und dann Ketterers beliebtes Salonstück »Silberfischchen«.
»Schnutentante klimpert wieder«, sagte die Wittfoth im Selbstgespräch. Schnutentante war eine vierzehnjährige »höhere Tochter«, der sie wegen ihrer das Normalmaß überschreitenden Nase diesen Namen beigelegt hatte.
Aber das Klimpern war der einsamen Kaffeetrinkerin nicht unangenehm. Die Musik stimmte sie sentimental. Das Gefühl des Alleinseins überkam sie, die wohlthuende Empfindung des Mitleids mit sich selbst.
Das Wetter draußen war fortgesetzt unfreundlich. Der Wind warf einzelne Regen- und Schneeschauer gegen die Fenster, die in gleicher Höhe mit dem Trottoir lagen.
Frau Wittfoth freute sich doch, zu Hause geblieben zu sein. Der Ofen strahlte so gemütliche Wärme aus. Gott sei Dank, daß sie nicht draußen »rumzupatschen« brauchte.
Aber die Musik von oben führte ihre Gedanken den jungen Leuten nach, ins Konzerthaus. Sie hörte so gerne Musik. Als ihr Seliger noch lebte, besuchten sie häufig die Gartenkonzerte bei Mutzenbecher, jetzt Hornhardt, auf St. Pauli, oder im »Zoologischen«.
Das war lange her.
Jetzt, mit den Jungen, machte es ihr nur halbes Vergnügen. Sie fühlte sich überflüssig in deren Gesellschaft.
Aber war sie denn nicht auch noch jung? Waren denn fünfunddreißig Jahre ein Alter?
Zu den achtzehnjährigen Backfischen allerdings paßte sie nicht mehr. Aber um schon auf alle Lebensfreuden zu verzichten, sich zum alten Eisen zu rechnen, war es doch noch zu früh.
Freilich, eine alleinstehende Witwe in ihren Jahren muß sich schon zufrieden geben. Man muß froh sein, wenn man nur im Stillsitzen seinen guten Ruf wahrt. Dem Klatsch entgeht man nimmer.
Was war das doch für ein Gerede damals gewesen, mit dem hübschen Reisenden von Rosinsky und Söhne. Weil sie höflich gegen Herrn Bellermann war, sollte sie natürlich Heiratsabsichten haben. Als ob es nicht ihre Pflicht gewesen wäre, im Beginn ihrer Geschäftsthätigkeit sich mit Kunden und Lieferanten auf möglichst guten Fuß zu stellen.
Und wie viele Nachfolger hatte Herr Bellermann gehabt. Bald war es der, bald jener, den sie ködern, oder der nach ihr seinen Haken auswerfen sollte. Und immer waren die Leute boshaft genug, nicht von ihrer Person, sondern von ihrem Geschäft zu reden. Als ob sie nicht immer noch ansehnlich genug sei.
Jetzt war es Herr Pohlenz, der Stadtreisende von Müller und Lenze, der großen Knopffabrik, der Absichten auf sie haben sollte. Nun ja, diesmal hatten die Leute ja recht. Ein Blinder mußte sehen, daß Herr Pohlenz auf die Firma Caroline Wittfoth spekulierte. Aber lieber ginge sie in die Alster, als daß sie diesen Pohlenz heiratete. Schon vor seinen feuchten, kalten Händen schauderte ihr.
Dann lieber den alten Beuthien, der schon einmal Andeutungen gemacht hatte. Zwar nahm sie es damals für Scherz und nahm es auch noch dafür. Aber gesetzt, er hätte die Absicht, lieber den Droschkenkutscher als den Pomadenhengst mit den Leichenhänden.
Aber was fiel ihr denn ein, wie kam sie doch nur jetzt auf diese Heiratsgedanken? Sie mußte über sich selbst lachen.
Sie füllte zum dritten Mal ihre Tasse und schob ein längliches Stück Kuchen in den Mund, als die Ladenglocke ging.
Sie hörte am schweren Auftreten, daß männliche Kundschaft sie beehrte.
Es war der junge Beuthien, der sonntäglich gekleidet vor der Tonbank stand.
Er bat um einen neuen Halskragen.
»Welche Nummer, Herr Beuthien?«
Ja, wenn er das wüßte, lachte er. Seine Kragen wären ihm zu eng geworden. »Dat kniept all bannig«.
Sie legte ihm verschiedene Weiten vor, und er paßte sie unbeholfen an. Da er sich nicht entschließen konnte, half sie ihm und legte eigenhändig einen Kragen um seinen Hals.
»De paßt«, empfahl sie.
Als er gewählt hatte, mußte sie ihm wieder behilflich sein, die kleinen widerspenstigen Hornknöpfe durch die neuen steifen Knopflöcher zu drücken. Seine großen plumpen Finger waren nicht geschickt dazu.
Sie hatte Mühe davon, und es dauerte lange. Sein rotblonder Bart kitzelte sie auf der Hand. Er hob das Kinn höher, und sie bewunderte seinen braunen kräftigen Hals.
Beim Umlegen der Krawatte ging er etwas ungestüm zu Werke, so daß das Halsband riß.
»Dunner«, schalt er. »Dat Schiet is mör«.
Verlegen besah er den Schaden. Aber es ließ sich nichts daran ändern, und er verstand sich dazu, einen neuen Slips zu fordern.
Sein verlegener Aerger rührte sie. Und da seine Krawatte noch so gut wie neu war, erbot sie sich, den Schaden mit einigen Nadelstichen zu reparieren.
Sie nötigte ihn in die Stube. Zögernd folgte er und nahm mit etwas umständlichem Gebahren auf dem angebotenen Stuhl Platz, während sie ihr Nähzeug aus dem auf der Fensterbank stehenden Korb zusammensuchte.
Ein Blick auf die Straße zeigte ihr, daß im Parterre gegenüber Lulu Behn wieder ihrer Gewohnheit nach am Fenster rekelte.
»Immer as'n Blomenpott vor't Finster«, sagte sie und ließ die Rouleaux herunter, um jener einen Einblick zu versperren.
Beuthien schien ihre Bemerkung überhört zu haben.
Im Begriff, sich zu setzen, kam ihr der Einfall, ihm eine Tasse Kaffee anzubieten.
»Warum nich«, nahm er dankbar an. Sie schenkte ihm ein und schob ihm den Kuchenteller zu.
Es schien ihm zu behagen, und sie war schneller mit ihrer Arbeit fertig, als er mit seinem Kaffee.
Sie lud ihn ein sich Zeit zu lassen, fragte nach diesem und jenem und stillte ihre Neugier.
Als er gesprächig Auskunft gab und auch auf die Absicht seines Vaters zu sprechen kam, sich bald zur Ruhe zu setzen, meinte sie: »Dann heiraten Se woll gliek?«
»Ja«, antwortete er scherzend. »Wülln Se min Fru sin?«
»Da föhrt wi immer fein tosamen in de Kutsch«, ging sie darauf ein.
»Un mit söß«, lachte er und schob die geleerte Tasse von sich.
Schwerfällig erhob er sich, und sie bemerkte erst jetzt, daß er ein wenig schwankte. Er wischte sich mit dem Rücken der linken Hand langsam über die etwas niedrige braune Stirn und reckte die breiten Schultern.
Als sie ihm die ausgebesserte Krawatte zurückgab griff er nach ihrer Hand und legte den Arm um ihre Taille.
»Dat laten S' unnerwegs«, rief sie, sich losreißend. »So wiet sünd wi ja woll noch nich«.
Er versuchte noch einmal die hinter den hohen Lehnstuhl sich flüchtende zu erhaschen.
»Nichts für ungut, Madammchen«, lachte er dann, ablassend. »Spaß muß sind, sagt der Berliner«.
»All wo's hin gehört«, sagte sie pikiert.
»Na, denn nich«, brummte er gekränkt und fragte, was er schuldig sei. Aber sie wollte für die kleine Mühe nichts haben.
»Se föhrt mi mal ut«, scherzte sie, wieder versöhnlich gestimmt.
»Na, dann besten Dank und fröhlich Fest«.
Er gab ihr die Hand, und sein kräftiger Druck zwang ihr ein leises Au ab.
Als er fort war, stand sie wie selbstvergessen mitten im Laden und rieb noch immer mechanisch die Stelle, wo sich die roten Spuren seiner kräftigen Finger längst verzogen hatten.
Therese und Mimi waren spät nach Hause gekommen, hatten die Vorwürfe der Tante unter Lachen und Schmeicheleien durch ein mitgebrachtes Veilchensträußchen und eine Tafel Chocolade erstickt, beides von Hermann gespendet, und waren schnell ins Bett gehuscht.
Beim Frühkaffee des zweiten Festtages nun kramten sie ihre Geschichten aus. Sie hatten sich »himmlisch« amüsiert, wie Mimi versicherte. Hermann sei »zu nett« gewesen. Sie wußte, wie gerne die Wittfoth ihren Neffen loben hörte.
Nach einer Tasse Kaffee und einem Stück Torte bei Homann, hatte man zu Fuß den Weg nach Ludwigs Konzerthaus zurücklegen müssen, da alle Pferdebahnen infolge des schlechten Wetters überfüllt waren. Auch dort hatte man nur mit Mühe Platz an einem Tisch in der Mitte des Saales erwischen können. Die unfreundliche Witterung trieb die Vergnügler schnell von der Straße in die Lokale, und auch der große Saal des Ludwigschen Etablissements war bald überfüllt.
Froh des erlangten Sitzes, gab man sich um so empfänglicher der Musik des vortrefflichen Orchesters hin. Das Programm bot mit Rücksicht auf das Sonntagspublikum meist heitere Weisen, worunter natürlich ein Straußischer Walzer nicht fehlte, Mimis Universalmittel gegen jegliche Art von Trübsinn und Verstimmung.
Wie immer zog das hübsche Mädchen die Blicke der näher sitzenden Herren auf sich. Auch Herrn Pohlenz begrüßte man von weitem. Hermann, um nicht aus dem Felde geschlagen zu werden, hatte seine Liebenswürdigkeit verdoppelt und zuletzt, noch vor dem Schluß des Konzertes, die Mädchen zu einem kleinen Souper in einem benachbarten Restaurant eingeladen, wo man vorzüglich aß und vor allen Dingen ungestört genießen konnte. Vielleicht bestimmte dieser letzte Umstand ihn besonders. Es war jedenfalls die einfachste und nobelste Art, sich seiner Konkurrenten zu entledigen.
Die Wittfoth hatte den fröhlichen Berichten der Mädchen nichts entgegenzusetzen. Ihr Erlebnis mit dem jungen Beuthien brannte ihr auf der Zunge. Es prickelte sie, aber sie wußte nicht den rechten Ton zu finden und begnügte sich, eine große Zufriedenheit zu erheucheln, daß sie doch einmal einen ruhigen, ungestörten Nachmittag ganz für sich allein gehabt hätte. Zuletzt aber mußte sie doch wenigstens so viel verraten, daß der junge Beuthien sich einen neuen Kragen gekauft hatte.
»Der schöne Wilhelm?« fragte Mimi mit lachendem Spott.
»Ist er eigentlich so schön?« meinte Therese, während die Tante, ohne auf dies Thema einzugehen, eifrig die Tassen abräumte, mit mehr Geklapper, als sonst ihre Art war.
Mimi erklärte Beuthien für einen ganz ansehnlichen Mann. Für Köchinnen, setzte sie hinzu, und ließ durchblicken, daß ihre Ansprüche höher gingen. Therese fand etwas Rohes in seinen Zügen und lobte dagegen das ehrliche, gutmütige Gesicht seines Vaters.
Mimi war der zweite Festtag frei gegeben worden, ihre Verwandten in Bergedorf zu besuchen. Sie machte sich früh auf den Weg, und Nichte und Tante blieben allein.
Hermann kam am Nachmittag auf eine Viertelstunde, um zu fragen, wie den Damen der gestrige Abend bekommen sei. Er war heute, da das Wetter freundlich geworden war, so nobel gekleidet, wie Mimi sich ihn gestern gewünscht hatte. Man sah und hörte ihm an, wie glücklich ihn die Erinnerung an den vergangenen Tag machte. Er brachte drei kleine Bouquets, je eine Rose von Veilchen umgeben, überreichte, anscheinend wahllos, der Tante die Theerose, Therese eine weiße und bestimmte die übrig bleibende tiefrote für »Fräulein Kruse«.
Auch ein Buch, von dem er dem Mädchen gesprochen hatte, lieferte er ab: Rückerts Liebesfrühling.
»Liebesfrühling und Veilchenbouquets. Da kann man sich ja ordentlich was auf einbilden«, meinte die Wittfoth.
Sie stand dem Verhältnis zwischen ihrem Neffen und ihrem Ladenmädchen nicht blind gegenüber. Es amüsierte sie. Eine unschuldige Kurmacherei, die zu nichts Ernstlichem führen würde. Keinem würde das Herz dabei brechen, am allerwenigsten dem Mädchen. Uebrigens wollte sie gelegentlich mit Hermann darüber reden.
Therese hatte das Buch in Empfang genommen und blätterte mechanisch darin.
»Mimi wird sich freuen«, sagte sie und legte es vor sich auf die Nähmaschine.
»Und Du?« fragte Hermann.
»Du weißt, ich schwärme für Gedichte«.
»Und nun gar Liebesgedichte«, scherzte er. »Einen ganzen Band voll Liebe.«
Sie wurde auf einmal sehr rot und machte sich an den paar kümmerlichen Geranienpflanzen zu thun, die in irdenen Töpfen auf dem Fensterbrett standen.
»Werft doch die elenden Stöcke fort«, schalt er. »Es kommt doch nichts darnach.«
»Sie wollen nicht gedeihen, zu wenig Sonne«, antwortete sie.
Sie hatte wieder ihre gewöhnliche, gelbblasse, kränkliche Farbe.
Zu wenig Sonne. Er fing dies Wort auf. Sie war ihm nie so schwächlich vorgekommen, wie in diesem Augenblick.
»Ihr geht doch spazieren nachher?« fragte er. »Das Wetter ist so milde. Sitzt nur nicht wieder den ganzen Tag hier im Keller.«
»Du kennst ja die Tante«, entschuldigte sie.
»Luft und Licht sind Euch beiden nötig«, eiferte er. »Also steckt die Nase man mal hinaus.«
Er reichte ihr die Hand zum Abschied.
»Willst Du schon gehen?« fragte sie bedauernd, mit aufrichtiger Betrübnis.
»Meine Freunde warten«, erklärte er.
»Kommst Du bald wieder?« bat sie.
Er versprach es.
»Adieu, liebe Tante«, rief er über den Korridor in die Küche hinein, wo die Wittfoth mit Messern und Gabeln klapperte.
Therese gab ihm das Geleit bis an die Thür. Lange sah sie ihm nach.
Auf ihren Platz am Fenster zurückgekehrt, las sie im Liebesfrühling, brockenweise, hier ein Gedicht, dort eine Strophe, ohne ganz bei der Sache zu sein.
Sie wußte ja, das Buch war eigentlich für Mimi bestimmt.
Mimi und Gedichte!
Was waren der alle schönen Gefühle und erhabenen Gedanken. Was war ihr überhaupt Hermann. Nichts mehr, als jeder andere heiratsfähige Kurmacher.
Mimi war ein gutes Mädchen, aber leicht und oberflächlich. Und anspruchsvoll war sie.
Wie hatte sie sich gestern alle Aufmerksamkeiten als selbstverständlich gefallen lassen. Und Hermann war doch kein Krösus.
Therese hatte tausend Gründe gegen eine Verbindung zwischen ihrem Vetter und Mimi, denn sie liebte ihn selbst.
Sein gutes, freundliches, sich immer gleich bleibendes Wesen sprach sie an. Er galt ihr für gescheut. Sein bischen Lehrerweisheit imponierte dem unwissenden, früh der Schule entrissenen, aber lerneifrigen Mädchen.
»Weinst Du?« fragte die Tante, in ihrer fahrigen, kreiselnden Weise ins Zimmer tretend.
»Ich? Nein. Wie so?« stotterte Therese und versuchte zu lachen.
Bei Behns drüben fuhr in diesem Augenblick eine Droschke vor. Die Familie kehrte von einer Ausfahrt zurück.
Die Wittfoth stürzte ans Fenster.
»Die können's. Immer nobel.«
Fräulein Lulu verließ als letzte etwas langsam den Wagen.
»Greif Dich man nich an,« spottete die Wittfoth. »Wie sie schlappt.«
Therese, solche Bemerkungen der Tante gewohnt und wenig erbaut davon, schwieg.
»Hast Du gesehn?« fuhr diese fort. »Beim Aussteigen? Die hat ja wohl seit acht Tagen keine frischen Strümpfe angezogen.«
»So?« zweifelte Therese.
»Pechschwarz, und 'n Loch war auch drin,« eiferte die Tante.
»Das kannst Du von hier sehen?« wunderte sich das Mädchen.
»Na, jedenfalls würd' ich mich schämen, mit solchen Strümpfen auszufahren,« lenkte die Wittfoth ein. »Und noch dazu auf'n Ostern.«
Lulu Behn entsprach so ziemlich ihrem Ruf. Vom Vater verzogen, dessen Liebling die ihm ähnliche Erstgeborene geblieben war, der schwachen, etwas beschränkten Mutter an Verstand weit überlegen, genoß sie nach Kräften die bequemen Tage, die die gute Lebensstellung der Eltern ihr ermöglichte. Ihr Hang zur Bequemlichkeit artete in Trägheit aus, je weniger die unter harter Arbeit groß gewordene Mutter vom Selbstwirtschaften ablassen wollte, trotzdem der in den letzten Jahren oft kränkelnden Frau von dem gutmütigen Mann in jeder Weise Erleichterung zu Gebote gestellt wurde.
Mit Hilfe eines Dienstmädchens und der zweiten, vierzehnjährigen Tochter Paula, die in allem der Mutter ähnelte, konnte sie recht gut den Pflichten des schlicht bürgerlichen Hauswesens nachkommen, ohne auf die Unterstützung der älteren Tochter angewiesen zu sein.
Lulu, die früh gute Anlagen zum Lernen zeigte, hatte eine für ihre Verhältnisse sorgsame Ausbildung genossen. Sie war zwei Jahre in einer auswärtigen Pension gewesen, wohin sie der Vater des Hausfriedens wegen schickte, da Mutter und Tochter sich schlecht vertrugen.
Auch Musikunterricht hatte Lulu gehabt. Als Dame war sie ins Elternhaus zurückgekehrt.
Die Schwester war in allem das Gegenteil. Sie zeigte unüberwindliche Abneigung gegen jedes Lernen, aber alle Talente der Mutter zum Hauswesen. Hoch aufgeschossen, kräftig, kerniger als die Mutter, arbeitete sie, wenn es galt, mit dem Dienstmädchen um die Wette. Gab es nichts zu scheuern, putzen, spülen oder schrapen in der Küche, so spielte sie lieber auf der Straße mit ihren Altersgenossen, am liebsten mit den Knaben, als hinter den Schulbüchern zu sitzen.
Der Vater, der sich vom einfachen Maurergesellen zum Hausbesitzer hinaufgearbeitet hatte, war vernünftig genug, die Kleine, ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechend in die Volksschule zu schicken.
»Die wird noch mal 'ne fixe Köksch,« pflegte er zu sagen. »Jeder nach seiner Art.«
Trotzdem blickte er mit Stolz auf seine gebildete Tochter. Mit der wollte er höher hinaus.
Schon zweimal hätte Lulu eine anständige Partie machen können, aber beide Freier waren kleine Handwerker, Anfänger, und der alte Behn wollte für seine Lulu einen »Herrn«.
Glücklich war er, wenn ihm das Mädchen vorspielte. Das Blumenlied von Gustav Lange, der Kußwalzer von Strauß und die Ouverture zum »Kalifen von Bagdad« waren seine Lieblinge und Lulus Parforcestücke. Diese und zwei oder drei andere hatte sie aus der Pension mit nach Hause gebracht und seitdem nur noch Ludolf Waldmanns gerade populär gewordenes Lied »Fischerin, Du kleine« hinzugelernt, Paulas Leiblied, zu dem sie jedesmal zu Lulus Aerger den Text mit ihrer hellen, blechernen Kinderstimme heruntersang, eine Liebhaberei, die sie mit Anna, dem Dienstmädchen, teilte.
Lulu war trotz der Pensionserziehung im Grunde ordinär geblieben. Auf dem Niveau ihres musikalischen Geschmacks stand ihr ganzes Seelenleben.
Sie kleidete sich mit einem Hang zum Auffälligen und sah infolge ihrer Trägheit und Unordnung in jedem neuen Kostüm bald schlampig und gewöhnlich aus. Gefallsüchtig, trug sie doch eine gewisse Nonchalance in Betreff ihrer äußern Erscheinung zur Schau. Sie wußte, daß sie hübsch war und auch ohne tadellose Toilette die Augen der Männer auf sich zog.
Ihre mittelgroße, wohlproportionierte Figur mit den schwellenden, etwas zur Ueppigkeit neigenden Formen, der zarte, rosige Teint mit dem feinen Sommersprossengesprenkel, die zierliche, gerade Nase, die blauen, eigenartig verschleiert glänzenden Augen, das satte Blond ihrer Haare und vor allem der sinnlich müde, lüsterne Ausdruck ihres Gesichtes machten sie jedem Manne interessant.
Das in der Pension verwöhnte Mädchen hatte nach der Rückkehr ins Elternhaus dem Herrenkreis, mit dem sie durch ihre Familie in Berührung kam, wenig Beachtung geschenkt. Lulu ließ deutlich durchblicken, daß sie höhere Ansprüche machte, und schreckte manchen ehrlichen Bewerber ab.
Als aber auch bei ihr dann das Liebesbedürfnis sich einstellte und sie, der vornehmen Maske müde, Annäherung suchte, war man in ihren Kreisen ihrer überdrüssig geworden.
Die Mutter war besorgt, die Tochter könnte auf diese Weise ganz leer ausgehen. Ihr Mann aber meinte, mit neunzehn Jahren hätte Lulu noch keine so große Eile.
»Tid hätt se, Vadder, aber'n Baron krigt se doch nich«, gab die Frau zu.
»Du mit Din Baron«, schalt er, »för'n Discher is se mi to god«.
»De Hugelmann wär'n flietigen Minschen«, verteidigte sie sich. »De Deern is man krütsch«.
»Kann se ok«, behauptete er. »För'n Discher is se nich in de Pangschohn wesen.«
»Du mit Din Discher«, brummte Mutter Behn.
Während die Eltern über die Frage, ob »Discher« oder »Baron« noch manchmal viel überflüssige Worte verloren, segelte Lulu bereits mit vollen Segeln in dem Fahrwasser einer Leidenschaft, dessen Quelle weit zurück lag, in ihren Kindertagen entsprungen war.
Der alte Behn hatte als Polier geheiratet und damals ein bescheidenes Häuschen in Barmbeck bewohnt, in unmittelbarer Nachbarschaft des um zwei Jahre früher verheirateten, älteren Schulfreundes Heinrich Beuthien, der mit einer Droschke und zwei Pferden sein bescheidenes Fuhrgeschäft eröffnet hatte.
Hier hatten die Kinder, der zehnjährige Wilhelm und die neunjährige Lulu im täglichen Verkehr Freundschaft geschlossen, die die ersten Trennungen, durch Wohnungsveränderungen bedingt, überstand, bis allmählich der intelligentere, vom Glück begünstigte Behn einen zu weiten Vorsprung vor seinem früheren Schulkameraden gewann und »das Pensionsfräulein« dem »Droschkenkutscher« entfremdet wurde.
Als nun der Zufall beide Familien wieder in einer Straße vereinigte, war die einstige Vertraulichkeit zwischen den Eltern längst erkaltet. Die Väter begrüßten sich noch gewohnheitsmäßig mit Du, nannten sich aber nicht mehr beim Vornamen, wie sonst.
Lulu war natürlich für den Spielkameraden aus der Barmbecker Zeit jetzt das Fräulein Behn, wie er für sie Herr Beuthien.
So peinlich ihr diese Nachbarschaft war, die auch der alte Behn nur aus zwingenden Geschäftsrücksichten auf sich genommen hatte, und so sehr sie durch vornehme Zurückhaltung das frühere Verhältnis in Vergessenheit zu bringen bemüht war, so wenig schien er von der Nähe der Jugendfreundin und deren jetzigen Vornehmheit geniert. Ja, er that, als hätte er sie garnicht mit auf der Rechnung. Der hübsche, von allen Weibern beachtete junge Mann schien durchaus keinen großen Abstand zu empfinden zwischen einem Droschkenkutscher und der in einer Pension erzogenen Tochter eines fünffachen Hausbesitzers. Er grüßte sie, wie er ihre Anna, das Dienstmädchen, grüßte und die Krämersfrau oder die Wittfoth und andere Frauen und Mädchen aus den Geschäfts- und Wohnkellern der Nachbarschaft, mit der gleichgiltigen überlegenen Herablassung eines siegesüberdrüssigen Don Juans.
Er war ihr gegenüber entschieden im Vorteil. Das ärgerte sie.
Als es mit der Vornehmheit nicht glücken wollte, suchte sie den Unterschied ihrer Stellungen durch ein Herabsteigen aus ihrer Höhe auszugleichen.
Als auch hier der Erfolg ihren Erwartungen nicht entsprach, und ihm Fräulein Lulu Behn noch immer mit Stiene und Mine rangierte, erwachte die gekränkte Eitelkeit.
Aus diesem Kampf um seine Anerkennung erwuchs ihr Interesse für ihn zu einer fast krankhaften Leidenschaft.
Fuhr er aus, er mußte immer an ihrem Hause vorbei, war sie gewiß am Fenster. Sie lauerte ihm förmlich auf.
Der junge Beuthien war begehrliche Blicke gewohnt. Er wußte bald, wie er mit Fräulein Lulu Behn daran war. Aber er hatte auch seinen Stolz.
Sie gefiehl ihm wohl. Er verstand sich auf Weiber. Aber sie war ihm nicht mehr als hundert andere hübsche Mädchen auch.
Freilich, wenn er einmal mit ihr zu Tanz gehen könnte, wie mit der Anna, er würde etwas darum geben. Es wäre ihm ein Gaudium. Und dann sie stehen lassen, wie jede andere Lise.
Früher als sonst stellte sich der Frühling ein. Dem späten, aber immer noch winterlichen Ostern folgten warme Tage. Was an Sträuchern im März schon seine ersten vorsichtigen Taster ausgestreckt hatte, wagte sich im April zuversichtlich heraus.
Ueberall ein Schwellen und Knospen. Grüner Hauch über Busch und Baum. Es gab schon einzelne heiße Tage, an denen der Ueberzieher lästig wurde, und man an die Sommergarderobe dachte.
Eine weiche, milde Luft wehte, und die Wittfoth öffnete ihr die Thür ihres Kellergewölbes. Mit der zunehmenden Wärme stand diese den ganzen Tag auf. Fräulein Mimi hatte dann ihren beständigen Sitz hinter der Tonbank, weil die Glocke nicht mehr die eintretenden Kunden melden konnte.
Die Dienstmädchen, die jetzt durch die immer geöffnete Thür bequem »mal vorspringen« konnten, hatten ihre sommerlichen, kurzärmeligen Kattunkleider angelegt, die ihnen so gut stehen. Die frischen, vollen Arme waren nicht mehr blau und rot gefroren.
An der Ecke gegenüber, beim Gastwirt Tetje Jürgens, der unter dem Parterre des Behnschen Hauses einen »Bier- und Frühstückskeller« seit Jahren hatte, hielt schon die erste offene Break mit Ausflüglern. Singend waren sie angekommen, singend fuhren sie nach einem hastigen »Stehseidel« weiter.
Es war Frühling, sonnenwarmer Frühling.
Schon in den ersten Tagen des Mai konnte der alte Behn auf dem Holsteinischen Baum, einem Bier- und Tanzetablissement in der Nachbarschaft, sein Glas Grogk im Freien, unter der breiten, glasbedachten Veranda, trinken und den Uebergang von diesem Wintergetränk zum sommerlichen Trunk kühlen Augustinerbräus bewerkstelligen.
Im Winter pflegte er allabendlich in dem geräumigen, gemütlichen Gastzimmer zwischen neun und zehn Uhr, nach dem Abendessen, seinen Steifen zu trinken.
Einmal in der Woche hielt er eine längere Skatsitzung ab.
Den Karten wurde auch im Sommer geopfert. Oft saßen die Frauen und Kinder in der Veranda bei einem Glas Bier oder einer Flasche Brauselimonade, während sich die Männer und Väter im Gastzimmer beim Spiel erhitzten.
Es war an einem solchen Skatabend, einem Mittwoch, als Lulu Behn mit der Mutter und Schwester in der Veranda des Holsteinischen Baums die milde Abendluft genossen. Es herrschte ein reges Leben um sie. An jedem Mittwoch war in den hintern Sälen großes Tanzvergnügen. Da sprachen die Köchinnen und Dienstmädchen, oft nur auf ein paar Minuten, vor, »nur einmal rum«. Zu Hause wartete indessen die Herrschaft auf den Belag zum Abendbrot.
Wer Ausgehtag hatte, kam auch wohl in Balltoilette, mit Blumen im Haar, geführt von sonntäglich geputzten jungen Burschen.
Schlachtergesellen in ihren gestreiften Leinenblousen, die Fleischmulde an der Thür absetzend, drängten sich zu einem kurzen Rundtanz in den Saal. Hausknechte traten im Vorübergehen ein, Kutscher ließen ihre Droschke halten, sprangen vom Bock und huldigten einen Augenblick den Freuden des Tanzes. »Damen« fanden sie immer im Ueberfluß im Saal vor, oder sie nahmen von den draußen stehenden die erste beste mit hinein. Es gab immer neugierige oder schüchterne am Eingang, denen es an Mut, Zeit oder Geld gebrach, sich in den erleuchteten Saal zu wagen. Es war wie vor einem Bienenkorb. Ein beständiges Kommen und Gehen.
Lulu, die leidenschaftlich gerne tanzte, beneidete im Stillen jedes Mädchen, das am Arm seines Liebhabers lachend und ungeduldig dem über alles geliebten Walzer entgegeneilte.
Nun fuhr auch noch der junge Beuthien mit seiner Droschke vor, der vier etwas angeheiterte junge Burschen entstiegen. Jeder von ihnen trug eine rote Nelke im Knopfloch, und auch Wilhelm war auf diese Weise geschmückt.
»Kumm mit, min Jung«, rief ihn einer seiner Fahrgäste an.
»Ne, ne, lat man«, sträubte er sich, sah aber den Hineinschwankenden unschlüssig nach.
Ein hübsches Dienstmädchen in hellrotem Kattunkleid und sauberer weißer Schürze mit Spitzenlätzchen, nickte ihm im Vorübergehen wie einem alten Bekannten zu. Die Kleine schien seinen Entschluß zu bestimmen, und er folgte ihr schnell.
Ob er Lulu bemerkt hatte? Es schien nicht so. Diese verging fast vor Tanzlust, Neid und Eifersucht.
Paula hatte sich neugierig bis an die Saalthür gedrängt und kam nun mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen zurück.
»Du, ich hab auch getanzt«, rief sie freudestrahlend und stolz.
»Du? Dummes Gör! Töf, dat vertell ik Vadder«, schalt die Mutter.
Die Kleine wurde etwas bestürzt.
»Es war man bloß Beuthien«, suchte sie sich zu entschuldigen. »Ich wollte erst gar nich, aber er zog mich hinein«.
Lulu wurde blutrot. Diese Krabbe hatte mit ihm getanzt.
»Wie gemein«, sagte sie naserümpfend.
»Ach Du«, warf ihr die Kleine verächtlich über die Schulter zu.
»Daß Du mich nu hier bleibst«, ermahnte die Mutter, der Nachbarn wegen, die am nächsten Tische aufmerksam geworden waren, hochdeutsch sprechend.
»Geh mich nich wieder weg, das sag ich Dich«, verspottete halblaut ein geschniegelter Kaufmannslehrling mit hellblauer Krawatte die scheltende Frau.
Lulu, die es hörte, errötete.
»Papa wird hoffentlich bald kommen, ich finde es unerträglich hier«, sagte sie laut und etwas affektiert, in dem Bestreben zu zeigen, daß man an ihrem Tisch auch ein reines Deutsch sprechen konnte.
Aber auch ihre gezierte Sprache fand ein spöttisches Echo an jenem Tisch ungezogener Grünschnäbel.
»Ich gehe nach Hause, ich bekomme Kopfweh hier«, klagte Lulu und stand auf.
Die Mutter, gewohnt, gegen den Willen der Tochter nichts auszurichten, ließ sie gewähren.
Am Ausgang wurde Lulu unsanft bei Seite gedrängt. Jenes hübsche Dienstmädchen, dem Beuthien in den Saal gefolgt war, hastete an ihr vorüber.
»Marie Marie!« rief der Eiligen ein amtsfreier Briefträger nach. Aber Marie hörte nicht.
Lulu, entrüstet über den Stoß, gewahrte, sich umsehend, auch Beuthien, eine Cigarre im Mund, langsam und wie gelangweilt aus dem Saal zurückkommen. Von neuen Ankömmlingen am Weiterschreiten gehindert, mußte sie ihn herankommen lassen. Sie berührten sich im Vorübergehen, aber er sah sie nicht, oder wollte sie nicht sehen.
Verstimmt zog sie sich zu Hause auf ihr Zimmer zurück.
Ihre Lampe war nicht gefüllt, und sie ließ ihren Aerger an Anna aus.
»Dat is Madamm ehr Sak, Se hebben mi nix to seggen,« widersprach das Mädchen.
»Dummes Ding,« fuhr Lulu auf, und eine Ohrfeige brannte auf der Wange der verdutzten Ungehorsamen.
Ohne ein Wort zu wagen, erfüllte die Gemaßregelte Lulus Befehle.
Diese plötzliche Energie des sonst so gleichmütigen, phlegmatischen Fräuleins imponierte ihr so, daß sie verstummte. Nur in der Küche ballte sie heimlich eine Faust und brach eine ganze Viertelstunde später vor Wut in Thränen aus.
Lulu hatte durch diese gewaltsame Entladung ihres aufgespeicherten Unmutes ihre Gemütsruhe wieder gewonnen. Sie stand schon lange auf keinen guten Fuß mit der Anna und freute sich, sie einmal »Mores« gelehrt zu haben.
Daß die Geschlagene die Züchtigung so ruhig einsteckte, hatte sie kaum erwartet. Das gab ihr Mut. Von jetzt an wollte sie anders auftreten.
Es war ihr, als hätte sie sich mit dieser Ohrfeige zugleich an allen anderen Mädchen gerächt, auf die sie erbost war, weil sie Beuthiens Umgang und Freundschaft genossen.
Sie lachte einmal im Genuß dieser eingebildeten Rachebefriedigung auf. Am liebsten hätte sie der Roten, mit der Beuthien vorhin getanzt, die Ohrfeige versetzt, und der Paula gleichfalls, dem dummen Gör. Sie hätte sie knuffen mögen, als sie so wichtig mit ihrem Erlebnis herausplatzte.
Anna hatte eigentlich die ihr zugefügte Schmach mit einer Kündigung beantworten wollen, besann sich aber mit Rücksicht auf die gute Stellung, die sie im Behnschen Hause hatte, eines andern.
Im Stillen nährte sie von jetzt an einen glühenden Haß auf Lulu, der sie so viel als möglich aus dem Wege ging.
Zwei Tage später war Lulu im Laden der Wittfoth zufällig Zeuge, wie jenes Mädchen, Beuthiens Tänzerin, erzählte, daß sie am Mittwoch mit dem jungen Fuhrmannssohn getanzt hätte.
»Das is aber'n Flotten«, schwärmte sie. »De danzt', dat's 'n Staat is«.
Am Sonntag wolle er wieder tanzen, erzählte sie weiter, im Ottensener Park. Leider aber hätte ihre Madam großen Kaffee, und so könne sie nicht fort.
»Und er bat mir doch so herzlich«, schloß sie bedauernd.
Wie der Blitz kam Lulu der Gedanke: Da ist Gelegenheit. Dort kennt dich niemand. Am Sonntag besuchst Du den Ottensener Park.
Sie dachte nach, wie sie diesen abenteuerlichen Plan am leichtesten verwirklichen könnte. Sie war wie besessen von der Idee.
Eine in Altona wohnende Freundin fiel ihr ein, die derartigen leichtsinnigen Unternehmungen nicht abhold sein würde. Allein getraute sie sich nicht zu gehen. Vielleicht hatte jenes Mädchen, eine Mäntelnäherin in einem großen Altonaer Konfektionsgeschäft, irgend einen bekannten jungen Mann, der sie begleitete. Schlimmsten Falles konnte man jenes Lokal auch ohne Herrenbegleitung besuchen.
Die Freundin ging sofort auf ihren Vorschlag ein, Feuer und Flamme für ein Unternehmen, das pikanteste Unterhaltung versprach.
Man verabredete alles schriftlich, und Lulu sah in fieberhafter Aufregung dem Sonntag entgegen.
Paula, die noch immer von der Erinnerung an jenen einen Tanz mit Beuthien zehrte, hatte auf ihrem Schulweg ihren Tänzer getroffen. Er hatte ihr von seinem Bock herab freundlich zugenickt, und sie hatte seinen Gruß kokett erwidert.
»Kennst Du den?« fragten drei, vier Stimmen zugleich, und ihre Freundinnen drängten sich neugierig an sie.
»Was sollt ich den nich kennen. Ich bin sogar mit ihm zu Tanz gewesen,« erzählte sie.
»Das lügst Du,« riefen die andern wie aus einem Munde.
»Das ist doch wahr,« behauptete Paula. »Fragt ihn doch.«
Ungläubig trennte man sich.
Paula lechzte seitdem nach einer Wiederholung des wunderschönen Walzers. Aber wie sollte sie es anstellen? Zum Ausreißen hatte sie schon Mut, aber wenn man sie dort sähe, es ihrem Vater hinterbrächte?
Sie suchte mit Beuthien näher bekannt zu werden. Sie nickte ihm zuerst zu, wo sie ihn sah. Traf sie ihn vor seinem Stall beim Spülen der Droschken oder bei sonstiger Beschäftigung, so blieb sie keck stehen und redete ihn an.
Das erste Mal hatte er im Scherz mit der tropfenden Bürste nach ihr gespritzt. »Nu haben Sie mir meine reine Schürze naß gemacht,« schalt sie ihn und zog schmollend ab. Aber schon am nächsten Tag dachte sie, ob er mich wohl wieder spritzt, und gesellte sich vorsichtig zu ihm.
Eigentlich hatte sie schon jemand, mit dem sie »ging«, einen dreizehnjährigen Lümmel von Jungen, einen Schüler der Mittelschule. Aber Bernhard Prüßnitz konnte nicht mit ihr zu Tanz gehen. So machte sie sich keine Gewissensbisse daraus, sich neben dem, mit dem sie »ging,« noch eines andern zu versichern, mit dem sie »tanzte.«
Beuthien amüsierte sich über das Kind. Heimlich that es ihm auch wohl, daß jemand aus dem Behnschen Hause seine Freundschaft suchte. Er fragte Paula aus und freute sich, wenn die Kleine auf Lulu schalt.
»Tanzt Deine Schwester auch,« fragte er sie, als sie wieder seinem Reinigungswerk auf der Straße zusah.
»Und ob,« war die Antwort. »Sie thut man immer so etepetete, aber die hat's faustdick hinter den Ohren.«
Er lachte.
»Tanzen Sie Mittwoch wieder, Herr Beuthien?« fragte sie nach einer Pause, in der sie mit anscheinend großem Interesse beobachtete, wie er das linke Hinterrad der Droschke um seine Axe kreisen ließ, es waschend und schmierend.
»Gewiß, komm man hin, Deern,« lachte er, ohne aufzusehen.
»Vor Mutter bin ich nich bange,« meinte sie, »aber Lulu, das Uetz, paßt mir immer auf.«
»Dann bring sie mit,« scherzte er.
Lulu war entrüstet, als Paula ihr diese Einladung in aller Unschuld überbrachte.
»Das sag' ich Papa,« schalt sie. »Du hast solche Dinge im Kopf?«
»Das kannst Du thun,« antwortete Paula möglichst gleichgiltig. »Dann sag' ich Papa, daß Du Anna geschlagen hast.«
Lulu lachte laut auf. »Zu kindlich.«
Am Abend fragte sie die Schwester leise, im Vorübergehen: »Paula, ist es wirklich wahr, mit Beuthien?«
»Was denn?«
»Ach Du weißt ja, was ich meine.«
»Ich lüg nicht so wie Du.«
Zu jeder andern Zeit wäre Paulas Frechheit nicht ohne Erwiderung geblieben. Diesmal hörte Lulu sie kaum.
Eine halbe Stunde später war es Paula, die im Wohnzimmer leise hinter dem Rücken der Schwester auf die Sache zurückkam. »Wenn Du's Vater sagst, hau ich Dich,« flüsterte sie.
Jetzt hätte Lulu gar zu gerne die gehörige Antwort gegeben, aber um die Mutter nicht aufmerksam zu machen, mußte sie auch diese angenehme Eröffnung stillschweigend entgegennehmen.
Im Grunde war Lulu das Treiben der Schwester höchst gleichgiltig. Ihr jetzt etwas in den Weg zu legen, sie sich zu verfeinden, wäre obendrein unklug gewesen. Stand Paula mit Beuthien auf vertrautem Fuß, konnte sie ihr vielleicht noch gute Dienste leisten.
Am Sonnabend kam ein Brief der Altonaer Freundin, der Lulu zum Geburtstag einlud und besonders betonte, den Hausschlüssel nicht zu vergessen. Man wolle recht vergnügt sein, und es würde voraussichtlich spät werden.
»Dat is doch nett von Lene Kröger, dat se noch an Di denkt,« meinte Mutter Behn. »Se war immer so'n lütt anghänglich Deern. Wat schenkst Du ehr denn?«
Lulu entschloß sich zu einem Bouquet und einer Tafel Vanillechocolade, die Lene so sehr liebte, wie sie sagte.
Hermann Heineckes Liebe zu Mimi Kruse war erfinderisch in allerlei kleinen Aufmerksamkeiten gegen das hübsche Mädchen, obgleich er sich mit Rücksicht auf Therese immer noch Zurückhaltung auferlegte. Sein gutes Herz erlaubte ihm nicht, Mimi mit einem Geschenk, einem Bouquet, einer Rose, oder was der Tag und der Zufall brachte, zu erfreuen und die Cousine leer ausgehen zu lassen. Und selten hatte er ja Gelegenheit, die Geliebte länger als fünf Minuten alleine zu sprechen.
Nebenbei widerstrebte es seinem Stolz, Heimlichkeiten mit ihr zu haben, sie zu bitten, der Tante und Cousine nichts zu erzählen, wenn er ihr eine Blume oder ein Fläschchen Odeur mitgebracht hatte. So sah er sich genötigt, alles zweifach und manchmal, um die Tante nicht zurückzusetzen, dreifach zu spenden, und mit der Erfindungsgabe des Verliebten den für Mimi bestimmten Gegenständen noch irgend einen kleinen Ueberwert zu verleihen, aus dem sie entnehmen konnte, daß er sie auszeichnen wollte.
Nur den Ring, den er ihr gekauft hatte, damit sie den häßlichen grünen Stein ablegte, hatte er ihr doch heimlich zusenden müssen. Ein solches Wertstück konnte er ihr unmöglich öffentlich überreichen, ohne die Kritik der Tante herauszufordern. Diese Heimlichkeit war in seinen Augen entschuldigt.
Mimi hatte den Ring mit unverhohlener Ueberraschung und lebhafter Freude entgegen genommen. Er ward zu einem gewichtigen Verbündeten der goldenen Brille Hermanns. Herr Heinecke war entschieden eine höchst annehmbare Partie, ein Verehrer, den man warm halten mußte. Sie fand ihn schon ansehnlicher, als vor acht Wochen, eigentlich doch gar nicht so übel.
Hermann freute sich der Wirkung des Ringes. Als er damals mit den beiden Mädchen nach dem Konzert soupiert hatte und er in seiner gehobenen Stimmung Theresens Anwesenheit störend empfand, war ihm der lebhafte Wunsch gekommen, einmal einen Tag mit Mimi allein zu verbringen. Aber wie sollte er das anfangen. Er durfte sie doch nicht gradezu einladen, sie war doch immer das Ladenmädchen seiner Tante.
Und heimlich? Freilich, das Versteckspielen hat seine Reize.
Da kam ihm der Zufall zu Hilfe. Ein verabredeter Sonntagnachmittagsspaziergang nach der Elbschlucht, einem an der Flottbecker Chaussee gelegenen Restaurant mit wundervoller Aussicht auf den Elbstrom, drohte durch Theresens Kopfschmerzen in Frage gestellt zu werden, als die Tante, durch Mimis kindlich zur Schau getragene Trauer gerührt, antrieb, den Spaziergang doch ohne Therese zu machen.
Es war ein herrlicher Maisonntag, als die beiden jungen Leute auf dem Rathausmarkt die Pferdebahn verließen, um eine Droschke erster Klasse anzurufen. Mimi, entzückt über Hermanns Gentilität, strahlte vor Vergnügen, als sie, bequem in den weichen Fond des sauberen Gefährts zurückgelehnt, wie eine Dame durch die Straßen rollte.
Sie sah allerliebst aus. Ihre volle, jugendfrische Büste kam in dem straff anliegenden schwarzen Jäckchen, das sich wirkungsvoll von dem schlichten, perlgrauen Kleid abhob, zur schönsten Geltung. Eigenhändig hatte ihr Hermann eine dunkelrote, halberschlossene Rose ins Knopfloch gesteckt. Ein leichtes Strohhütchen, nur mit weißen, duftigen Spitzen garniert, stand ihrem frischen lachenden Gesicht vortrefflich.
Hermann, der auch seine kleinen Schwächen besaß, hatte Mimis Vorliebe für das Pincenez das Opfer gebracht, sich ein solches zuzulegen, und war nun alle paar Minuten beschäftigt, den ungewohnten Nasenreiter mit seinen bismarckfarbenen Händen--er trug mit Vorliebe diese Modehandschuhe--wieder in den Sattel zu setzen. Uebrigens verlieh diese Gesichtszierde ihm ein vornehmeres Aussehen, und die Wenigsten suchten gewiß in diesem distinguierten Paar einen Volksschullehrer und eine Ladenmamsell.
Unterwegs entschloß man sich, die Fahrt, die beiden viel Vergnügen bereitete, etwas weiter auszudehnen, und befahl dem Kutscher, nach dem eine halbe Stunde weiter elbabwärts gelegenen Parkhotel zu fahren. Von da wollte man mit einem der kleinen Elbdampfer nach Hamburg zurückkehren und den Tag in irgend einem Konzertgarten beschließen.
Aber ein Blick in den Vergnügungsanzeiger, der im Hotel auslag, hatte Mimis Tanzleidenschaft angeregt, und in guter Laune beschlossen sie, auf Hermanns Vorschlag, dem nächstgelegenen Tanzlokal, dem Ottensener Park, einen Besuch abzustatten, wo man sich so gut wie fremd fühlen und ohne Furcht gesehen zu werden, der höchste Vorteil einer großen Stadt, unter die Tänzer mischen durfte.
Arm in Arm gingen sie einen einsamen Seitenweg durch die Felder; der Umweg war ihnen willkommen.
Es war schon dämmerig. Lange Strecken gingen sie zwischen Hecken und Knicks, oder auf schmalen Fußsteigen an Wiesenrändern, ohne einen Menschen zu treffen.
Mimi war sehr aufgeräumt. Die genossene Chartreuse that ihre Wirkung. Man alberte mit einander, suchte sich in die kleinen wasserlosen Gräben zu drängen, kitzelte sich mit langhalmigen Gräsern unter die Nase und trieb allerlei Kindereien.
Mimi war selten so animiert gewesen. Alles erschien ihr in rosigem Licht heute, auch Hermann. Er kam ihr fast hübsch vor.
Ihre Gedanken nahmen in der Einsamkeit der Felder mit einem Mal eine eigentümliche Richtung an, und sie erschrak mitten unter ihren Narrheiten.
Gab es eine passendere Gelegenheit für ihn, sich auszusprechen? Forderte ihn nicht alles dazu auf? Ob ihm gar keine derartigen Gedanken kommen würden?
Sie ward stiller und ging nicht mehr auf seine Neckereien ein. Einige Minuten gingen sie schweigend weiter, sie vorauvorausdurch die Enge des Weges genötigt, hinter ihr.
»Sehen Sie, die blühen schon,« rief sie plötzlich, stehen bleibend, und zeigte auf einen schwankenden, überhängenden Weißdornzweig, an dem die ersten Knospen sich erschlossen hatten.
Er wollte ihr den Zweig brechen, aber sie erhob sich auf den Zehen und streckte, den Sonnenschirm fallen lassend, beide Arme danach aus.
Da sie vor ihm stand, mußte er sie gewähren lassen. Aber sie mühte sich vergeblich, und er griff über ihre Schulter weg gleichfalls nach dem Zweig.
Wie sie so aneinandergedrängt standen, alles an ihrem schlanken, jugendkräftigen Körper straff gespannt, faßte es ihn mit Gewalt. Er umfing sie und drückte der erschrocken Aufkreischenden einen heftigen Kuß auf den Mund.
Hatte sie auch an etwas derartiges vorhin mit halbem Wunsche gedacht, und in ihrer Chartreusestimmung eine romanhafte Entwicklung dieses Spazierganges nicht ungern gesehen, so fühlte sie sich doch bei dieser unerwarteten Berührung plötzlich ernüchtert. Sein heißer Atem, die feuchte Wärme seiner breiten, schwülen Lippen flößten ihr Widerwillen ein. Der Bier- und Cigarrendunst aus seinem Munde erregte ihr Ekel.
Scham, Zorn und Bestürzung ließen sie anfangs auf Sekunden verstummen. Wortlos ordnete sie ihre verschobenen Kleider. Aber der Unmut auf ihrem Gesicht, das sich in jähem Wechsel zwischen rot und weiß verfärbte, zeigte ihm deutlich, daß er zu kühn gewesen war.
Betreten suchte er durch einen flauen Scherz über die Verlegenheit hinweg zu kommen.
»Das lassen Sie aber bitte nach,« sagte sie nach einer kurzen, peinlichen Pause. »Dann kehre ich sofort um«.
»Aber Fräulein, Sie werden doch nicht«, zweifelte er.
»Ganz gewiß«, beteuerte sie.
Sie empfand schon Mitleid mit ihm. Er sah gar zu bestürzt aus.
»Wenn Leute kommen. Hier auf offenem Felde«, lenkte sie ein.
»O, das hat niemand gesehen«, meinte er, glücklich, sie ihre gute Laune wieder gewinnen zu sehen.
»Sind Sie mir böse«? fragte er, sich ihr nähernd.
»Ja«. Trotzig trat sie einen Schritt hinter ihn, als fürchte sie eine neue Umarmung. Der Bierdunst seines Atems hatte sie wieder gestreift.
Nun wurde auch Hermann ärgerlich. Hatte sie sich nicht frei und ausgelassen genug benommen, daß er auch seinerseits sich wohl vergessen konnte?
»Wenn es Ihnen lieber ist, Fräulein Kruse«, sagte er verletzt, »so bringe ich Sie bis zur nächsten Pferdebahn. Es thut mir leid, wir waren so vergnügt, und ich bitte Sie um Verzeihung«.
Sie wurde ganz rot. Was fiel ihm denn ein? Das hatte sie nicht erwartet. Er hätte freilich den Kuß unterwegs lassen können, aber so tragisch war doch die Geschichte nicht. Oder sollte er selbst vielleicht genug von der Partie haben und die Gelegenheit benutzen wollen, sich ihrer für den Rest des Abends zu entledigen?
»O, ich finde die Pferdebahn auch alleine«, gab sie ihm schnippisch zur Antwort.
»Wenn Sie es vorziehen, bitte«. Er gab ihr den Weg frei und lüftete den Hut.
Sie zögerte und bohrte die Spitze ihres weißen Spitzenschirmes in den tiefen weichen Sand.
»Sie sind abscheulich!« stieß sie plötzlich hervor. Sie zog die Unterlippe unter die Oberlippe, und Thränen standen ihr in den Augen.
Sofort war er gerührt.
»Aber liebes Fräulein, machen Sie doch keinen Unsinn. Kommen Sie.« Er legte ihren Arm mit sanftem Zwang in den seinen und zog sie mit sich.
Zum Schein sich sträubend, mit der behandschuhten Rechten eine große Thräne von der linken Backe wischend, folgte sie ihm. Sie schämte sich, und ein noch halb mit dem Weinen kämpfendes Lachen förderte einen drolligen, hellen, glucksenden Ton zum Vorschein.
Dieser komische Laut gab Anlaß zu erneutem Lachen, und der Friede war geschlossen.
Sie hätte sich jetzt noch einmal von ihm küssen lassen, aber er ging sittsam neben ihr her.
Der Umweg erwies sich größer, als Hermann ihn geschätzt hatte, und es herrschte völliges Dunkel, als man aus den Feldern heraus in den bebauten Weg einbog, der nach dem erwähnten Tanzlokal führte. Die Straßenlaternen brannten schon, und auch der nun sichtbar werdende Garten, das Ziel der Wanderung, erstrahlte im Licht seiner vielen Lampen.
Der Ottensener Park war ein altes Etablissement. Früher bei den kleinen Bürgersleuten, namentlich der Nachbarstadt Altona, als Konzertgarten sehr beliebt, hatte er in den letzten Jahren eine kleine Wandlung durchgemacht und erfreute sich jetzt vornehmlich des Zuspruchs der jungen tanzlustigen Welt.
Selbst aus Hamburg kamen die jungen »Herren«, Kommis, Hausknechte und Gesellen hierher. Das »Damenpublikum« bestand zum größten Teil aus Näherinnen, Schneiderinnen, Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen. Hin und wieder mochten auch unlautere Elemente sich hierher verirren, die sonst in St. Pauli, der fröhlichen Vorstadt Hamburgs, ein ergiebigeres Feld für ihre Thätigkeit fanden.
Hermann und Mimi eilten durch den kiesbestreuten Garten. Zahlreiche unter lichtdämpfenden Milchglaskuppeln brennende Flammen erleuchteten ihn, gereichten ihm aber, teils kandelaberartig von grün angestrichenen Pfählen getragen, teils wie Lampions auf von Pfahl zu Pfahl laufenden Drahtbögen aneinandergereiht, keineswegs zur Zierde.
In dem kleinen gleichfalls mit dem geschmacklosen grünen Anstrich versehenen Orchesterpavillon trug eine Kapelle populäre Musikstücke vor.
Die scharfen Rhythmen des Wiener Gigerlmarsches und der Glanz der vielen, von dem dunklen Hintergrund des Busch- und Laubwerks sich abhebenden Lampen versetzten die beiden vom Wege etwas ermüdeten Ankömmlinge sofort in einen eigenartigen, nervenprickelnden Rausch. Die gedämpften Klänge eines zweiten Orchesters lockten sie in den Saal. Es war voll drin, und sie mußten eine Weile stehen, bis sie an einem Seitentisch Platz fanden.
Die Hitze zwang auch sie, Hut und Ueberkleider in der Garderobe abzugeben. Hermann und Mimi waren beide keine Neulinge mehr auf einem solchen Tanzboden. So bewegten sie sich denn ungeniert zwischen den tanzlustigen Paaren.
Als sie nach dem ersten Walzer sich dem Rundgang durch den Saal anschlossen, gewahrte Hermann Lulu Behn an dem Arm eines kleinen schmächtigen Tänzers mit sehr pomadesatter, glattgescheitelter Frisur.
Er war erstaunt.
»Ist das nicht die von drüben?« fragte er Mimi.
Sie folgte seinem Blick.
»Wirklich, Lulu Behn! Nein, sag einer, wie kommt die hierher?«
»Ja, wie kommen wir hierher?« lachte Hermann.
»Aber die«?, meinte Mimi.
Sie sah Lulu in diesem Augenblick einer langen, hageren Brünette, die unter den Zuschauern stand, einen resignierten Blick zuwerfen und leicht die Achseln zucken, worauf ein breites, spöttisches Grinsen das sinnliche gutmütige Gesicht der anderen keineswegs verschönte.
»Das wird interessant«, meinte Hermann. Bald hatte auch Lulu Mimi entdeckt und ihr mit erstaunt in die Höhe gezogenen Brauen einen verwunderten Blick zugeworfen, dem sie sofort ein verständnisvolles Lächeln folgen ließ. Dann machte sie sich aus dem Arm ihrer Freundin los, mit der sie die letzte Polka getanzt hatte, und eilte auf Mimi zu.
»Um Gotteswillen, Fräulein, erzählen Sie nichts,« bat sie ängstlich. »Mein Vater schlägt mich tot.«
»Sein Sie ohne Sorge«, tröstete Mimi. »Eine Krähe hackt der anderen die Augen nicht aus«.
Dumme Person, dachte Lulu, sagte aber aufatmend: »Das meine ich auch. Schöne Seelen finden sich«.
»Die Hitze aber, was«? setzte sie, sich Kühlung fächelnd, hinzu und entfernte sich mit einem leichten, vertraulichen Nicken.
Ein semmelblonder, überhöflicher Kommis oder Barbiergehilfe bat in singendem, sächselndem Dialekt Mimi um die Ehre eines Tanzes, und Hermann mußte wohl oder übel ebenso höflich gewähren.
Da Lulu ohne Tänzer geblieben war, engagierte er sie zu diesem Walzer. Sie war höchst erfreut. Hatten sie erst mit einander getanzt, brauchte sie keinen Verrat mehr zu befürchten.
Hermann, selbst ein guter Tänzer, hatte selten eine so gute Tänzerin gefunden. Er hatte ihr diese Leichtigkeit nicht zugetraut.
Mimi tanzte auch vortrefflich, aber etwas lebhaft, ungeduldig. Dieses sanfte, anstrengungslose Wiegen und Drehen mit Lulu gefiel ihm, wie sie selbst auch.
Sie sah vorteilhaft aus und wußte sich lebhaft und zwanglos zu unterhalten.
Nur ihr hastiges, unstetes Umhersuchen mit den Augen fiel ihm sonderbar auf.
»Suchen Sie jemand, Fräulein«, fragte er.
»Nein. Ich? Warum? Meine Freundin«, stotterte sie.
Einen Augenblick vergaß Hermann über Lulu Mimi und den Semmelblonden, bis sie beim Anschließen vor ihm zu stehen kamen und er sich über die singenden Komplimente des Sachsen ärgerte, um so mehr, als Mimi in heiterster Laune auf das fade Geschwätz einging.
Seine Eifersucht erwachte, und er verstummte Lulu gegenüber, die befremdet diese Veränderung bemerkte.
Auf einmal ging ein Flüstern durch die Reihen, und neugierig wandte sich hier und da ein Mädchenkopf nach dem Eingang des Saales.
»Der schöne Wilhelm«, ging es halblaut von Mund zu Mund.
»Wer?« wandte sich Hermann an seine Tänzerin.
Lulu war ganz blaß geworden und schien seine Frage überhört zu haben.
Mimi aber wandte sich lächelnd um.
»Kennen Sie den nicht?« fragte sie das Paar.
»Nein, wer ist das?« fragte Hermann zurück.
»Der schöne Wilhelm, Wilhelm Beuthien, unser Beuthien, den kennen Sie doch. Sehen Sie, da steht er ja«, gab Mimi Auskunft. Sie zeigte ungeniert mit der Hand nach dem Pfeiler in der Nähe des Saaleingangs.
»Ach«, rief Hermann. »Gewiß, das ist also der schöne Wilhelm? Na, jeder nach seinem Gusto. Die Damen müssen's wissen.«
»Aber sind Sie nicht wohl, Fräulein?« wandte er sich erschrocken an Lulu.
»Bitte, nein, es ist nichts. Die Hitze«, stammelte sie, ihr Taschentuch wie zur Kühlung vor das Gesicht haltend. »Wollen Sie mich entschuldigen, Herr Heinecke?«
Sie hatte seinen Arm fahren lassen.
»Da steht meine Freundin schon«, rief sie, und ehe Hermann etwas erwidern konnte, hatte sie sich einen Weg zu jener gebahnt.
»Laß man, Cäsar, das giebt sich«, witzelte der Semmelblonde. »Wird wohl wieder werden.«
Wilhelm Beuthien hatte von seinem etwas erhöhten Standpunkt aus sofort Lulu Behn bemerkt und auch ihr Erblassen, als ihre Blicke sich trafen. Das grenzenlose Erstaunen, sie hier zu treffen, wich bald der geheimen Freude, der Erfüllung seines lange gehegten Wunsches so unerwartet nahe zu sein.
Ob sie mit der Ladenmamsell von der Ecke gekommen war?
Sonderbar. Oder----
Ein überlegenes Lächeln flog über sein hübsches Gesicht. Die vielen begehrlichen Mädchenblicke unbeachtet lassend, suchte er, ohne seinen Platz zu verändern, Lulu mit den Augen. Er hatte sie bald wiedergefunden. In einer Ecke des Saales stand sie in eifrigem Gespräch mit der Freundin.
Kurz entschlossen ging er auf die beiden Mädchen zu, ließ Lulu fast unbeachtet und forderte Lene Kröger zum Walzer auf.
Lulu biß sich auf die Lippe und trat einen Schritt zurück. Sie war kreideweiß geworden und zitterte. Es war ein Stuhl in der Nähe, und sie war froh, sich setzen zu können.
Lene Kröger hatte mit einem jungfräulichen Erröten Beuthiens Arm genommen, vergebens bemüht, zu verbergen, wie sehr sie sich durch diese unerwartete Aufforderung geschmeichelt fühlte. Mit zusammengekniffenen Lippen und wutfunkelnden Augen verfolgte Lulu die beiden.
Lene Kröger galt früher für die beste Tänzerin in diesen Kreisen, eine Schwester von ihr war sogar Solotänzerin beim Ballett der Zentralhalle.
Lene tanzte auch jetzt noch gut. Wie graziös die hagere, eckige Person sich zu wiegen verstand.
Lulu kochte vor Eifersucht und Zorn. Die Schmach!
Beuthien schien kein Ende finden zu können. Und wie die Lene lachte. Er sprach in einem fort mit ihr.
Endlich verstummte die Musik, und die beiden kamen zurück. Mit einer kurzen, nachlässigen Verbeugung und einer schlenkernden Armbewegung schleuderte Beuthien das lange Mädchen förmlich auf seinen Sitz zurück.
»Der tanzt aber«, stieß Lene hochatmend hervor und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu.
Lulu war dem Weinen nahe. Mühsam bezwang sie sich.
»Das find ich gemein von Dir«, zischte sie.
»Na nu, was kann ich denn dafür?« fragte Lene unschuldig.
Lulu schwieg.
»Kind, sei doch nicht pütscherig«, lachte die gutmütige Brünette. »Er wagte sich nur nich ran.«
Das log sie allerdings, und Lulu brummte:
»Unsinn.«
»Er kommt noch, paß auf«, behauptete Lene. »Er fragte mich, ob Du gut tanztest.«
»Und was sagtest Du?« fiel ihr die Gekränkte hastig ins Wort.
»Wie Etelka vom Ballett«, scherzte die andere. »Aber siehst Du? Er sucht Dich schon«.
Die Musik setzte wieder ein und spielte einen Rheinländer.
»Mein Gott, was ist das? Rheinländer?« fragte Lulu bestürzt. »Den kann ich nicht.«
»Ach was, wag's nur. Wenn er ihn nur kann«, meinte Lene.
Und da war er auch schon.
»Mein Fräulein.«
Mit einem leisen Anflug von Spott und einem zweifelnd fragenden Blick pflanzte sich Beuthien mit lautem Hackenschlag fast militärisch vor Lulu auf.
Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, ihm einen Korb zu geben.
Was fiel ihr ein?
Mit einer stummen Verbeugung nahm sie seinen Arm. Ihr schwindelte. Das Blut strömte ihr gewaltsam durch den Kopf. Sie hörte kaum die Musik.
Zum Glück trat er nicht gleich mit ihr zum Tanz an, sondern schloß sich den promenierenden Paaren an.
»Auch'n bischen hier, Fräulein«, begann er die Unterhaltung. »Wie kommt denn das?«
»Ja, es machte sich so. Meine Freundin«, sagte sie stockend.
»Nettes Mädchen«, lobte er. »Rank und schlank. Schröder heißt sie?«
»Kröger«, berichtigte sie.
Die Reihe war an ihnen, und sie tanzten. Beuthien tanzte Walzer nach dem Rhythmus des Rheinländers, und sie überließ sich aufatmend seiner Führung.
»Wie 'ne Feder«, schmeichelte er ihr während des Tanzes.
»Meinen Sie?«
Er hob sie statt einer Antwort mit kräftigen Schwunge vom Boden, so daß sie einige Sekunden frei in seinen Armen schwebte. Beim zweiten Mal, es schien ihm Vergnügen zu machen, schrie sie leise auf. »Nicht, nicht«, keuchte sie.
Er schwenkte sie jedoch ein drittes Mal, so daß sie die Zähne zusammenbiß.
»Hoch geht's hier her, Fräulein. Das ist mal nicht anders.«
Sie lachte. Ein nie gekanntes Wohlgefühl kämpfte ihre Scham nieder.
»Wenn der Alte das wüßte«, ängstigte er sie.
»Um Gottes Willen«, flüsterte sie, als ständen Aufpasser hinter ihnen.
»Der Segen«, meinte er bezeichnend.
So kamen sie auf ihre Familie zu sprechen. Er ließ Lulu nicht von sich und tanzte auch den folgenden Tanz mit ihr.
Sie, überglücklich, doch ihren Zweck erreicht zu haben, ward immer gesprächiger und munterer. Sie ließ sich von ihm mit Bier traktieren, er lud auch ihre Freundin ein, Jugenderinnerungen kamen zur Sprache, und eine gemütliche Vertraulichkeit stellte sich ein.
»Da liegt der Hund begraben«, meinte Mimi, als sie mit Hermann an dem Tisch vorüber ging, wo die Drei sich gütlich thaten.
»Sollte sie wirklich?« fragte Hermann. »Eine Verabredung?«
»Gewiß«, versicherte Mimi. »Die ist nicht so fromm, als sie aussieht. Ich kenne meine Pappenheimer.«
Im Grunde kannte sie ihre Pappenheimer nur sehr oberflächlich und war nicht weniger als Hermann erstaunt, Lulu Behn mit dem jungen Droschkenkutscher in solcher Intimität auf dem Tanzboden zu treffen, denn die Jugendbekanntschaft der beiden war ihr fremd. Mimi, neben Lulu die »vornehmste« Erscheinung unter allen »Damen«, war viel begehrt und konnte nicht genug vom Tanzen bekommen. Immer bat sie, nur einen Walzer noch, und Hermann mußte nachgeben.
Er selbst fand nicht ganz seine Rechnung bei diesem Vergnügen. Es wollte ihm nicht recht wohl werden unter den »Hausknechten« und »Häringsbändigern«. Und dann plagte ihn die Eifersucht, und er war chokiert, daß Mimi an solchen »Herren« überhaupt Gefallen fand und sie auf gleiche Stufe mit ihm stellte.
Je ausgelassener Mimi wurde, je reizender sah sie aus. Es war ein Feuer in dem Mädchen, das ihn überraschte. Seine Leidenschaft hätte Kuß auf Kuß gewagt, wenn er in diesem Augenblick mit ihr jenen einsamen Feldweg gegangen wäre.
Einen Handkuß hatte er während eines Walzers sich erlaubt, und er war ihm ungestraft durchgelassen worden. Wenn er doch nur eine Stunde mit ihr allein sein konnte. Aber sie war ja nicht aus dem Saal fort zu bringen. Welche Tanzwut!
Endlich hatte er sie zum Gehen überredet. Als er ihr in der Garderobe behilflich war, kostete es ihm Mühe, sich in Gegenwart der Garderobenfrau zu beherrschen, so berauschte ihn ihre Nähe und das Veilchenparfüm, das ihrem schwarzen Jäckchen entströmte.
»Wir nehmen eine Droschke«, entschied er.
»Unsinn«, protestierte sie. »Die haben Sie nicht unter zehn Mark.«
»Einerlei,« beharrte er. Sollte er jetzt steif neben ihr in der Pferdebahn sitzen, wo jede Fiber in ihm nach einer Wiederholung der Heldenthat vom Feldweg drängte? Er wollte sich aussprechen, noch heute.
Er griff in die Tasche, um das Garderobegeld zu entrichten.
Was war das? Er suchte in allen Taschen, sein Portemonnaie war fort.
Mimi sah ihm erschrocken zu.
Er stürzte in den Saal zurück und kam blaß und verstört wieder. Das Portemonnaie war verschwunden. Es enthielt ein Zwanzigmarkstück und einiges Silbergeld, fünf bis sechs Mark, wie er schätzte.
Die Kellner liefen zusammen, der Wirt kam. Man zuckte mit den Achseln, bedauerte, aber was sollte man dabei machen? Es blieb nichts übrig, als sich vorläufig in den Verlust zu fügen.
Nun musste man schon mit der Pferdebahn vorlieb nehmen. Aber, es fiel Hermann jetzt erst ein, er hatte ja auch dafür keinem Pfennig.
»Haben Sie Geld bei sich, Fräulein?« fragte er zögernd.
Sie errötete heftig.
»Zwanzig Pfennige«, lachte sie verlegen.
Einen Augenblick war man ratlos, bis Mimi zaudernd Lulus Namen nannte. Was half es, man mußte es versuchen. Unmöglich konnte man den weiten Weg von Ottensen nach Hause in der Nacht zu Fuß gehen.
Lulu war erfreut über diese neue Gelegenheit, sich die beiden zu verpflichten.
Sie begann den Fahrpreis in Zehnpfennigstücken abzuzählen.
»Lassen Sie doch den Pfennigkram«, schalt Beuthien, zog sein Portemonnaie und wog es protzig in der Linken.
»Bitte nehmen Sie«, drängte er Hermann ein Zehnmarkstück auf. »Wir sehen uns ja wieder.«
Ungern nahm Hermann gerade von Beuthien diese Gefälligkeit an, aber um nicht unartig zu sein, weigerte er sich nicht lange.
Das war ein unerfreulicher Schluß des Tages. Es war keine Aussicht vorhanden, das Verlorene oder Gestohlene wieder zu erlangen. Das Vergnügen war ihm teuer geworden. Der Ring, den er Mimi geschenkt hatte, stand auch schon auf dem Conto dieses Monats, nun noch dieser Verlust, da hieß es, bis zum nächsten Ersten sich sehr einschränken. Es ging so schon bis hart an die Grenze seiner pekuniären Kräfte, seine Liebe kostete ihm viel.
Mimi wurde in der Pferdebahn müde und gähnte ein paar mal herzhaft. Hermann konnte nicht über seinen Verlust hinweg kommen. Beinahe bereute er diese Extravaganz, wie er jetzt gesonnen war, seinen Ausflug mit Mimi zu nennen. Er war mit einmal sehr ernüchtert, und Mimi kam ihm, wie sie sich schläfrig in die Ecke des Wagens drückte, sehr unvorteilhaft vor.
Doch als sie sich trennten, und sie mit aufrichtigem Herzenston ihren Dank für den »wunderschönen« Tag sagte, schlugen die alten Flammen wieder auf.
Ach was, dachte er. Es war doch schön. Der Kuß zwischen den Hecken fiel ihm ein.
»Zum Lohn,« bat er und legte seine Hand auf die ihre, die bereits den Griff der Ladenthür berührte, die er ihr dienstwillig aufgeschlossen hatte.
Eine Sekunde sah sie ihn verständnislos an. Er umfaßte sie, und halb müde, halb in gutherziger Aufwallung, ließ sie es geschehen, daß er sie küßte.
Einige Tage nach diesem »himmlischen« Ausgehsonntag Mimis war Herr Emil Pohlenz, von der Firma Müller und Lenze, ohne Probenkoffer, im Gesellschaftsanzug, mit hellen Glacés und modernstem Cylinder in einer Droschke vorgefahren und hatte um die Hand der Frau Caroline Wittfoth angehalten.
Unter gegenseitiger Verlegenheit, die hinter Räuspern und Fußscharren einen Versteck suchte, hatte man sich den schmalen Korridor entlang bis ins gute Hinterzimmer komplimentiert. Der große, altväterische Kleiderschrank, der diesen Gang noch beengte, hatte es auf dem Gewissen, daß der etwas kurzsichtige Herr Pohlenz im Eifer der Höflichkeit die Wand streifte und mit einem weißen Aermel die »gute« Stube erreichte.
Das hatte willkommenen Anlaß gegeben, im Verlauf der Reinigungsbemühungen die beiderseitige Verlegenheit zu überwinden.
Auf der Kante des verblichenen gelbbraunen Rips-Sessels balancierend, mit schmachtendem Blick über das goldene Pincenez hinweg, hatte dann Herr Pohlenz der Witwe sein Herz zu Füßen gelegt, »nach reiflicher Ueberlegung und mit der festen Ueberzeugung, daß sie zusammen glücklich werden würden«.
Frau Caroline hatte ihrerseits kein Hehl daraus gemacht, daß sie in ihrem fünfjährigen Witwenstand noch keineswegs die Vorzüge der Ehe zu schätzen verlernt hatte, und ließ durchblicken, daß die gebotene Gelegenheit zur Rückkehr in den verlassenen Hafen ihr einer Beachtung nicht unwert erschien.
Herrn Pohlenzens kaufmännische Tüchtigkeit würde unbedingt das Geschäft ungeahntem Glanz entgegenführen, das Kapital von sechstausend Mark, das er mitbrächte, wäre nicht zu verachten, und was »das Uebrige« anbelangte, so fühle sie sich ungemein geschmeichelt und wäre überzeugt, daß gegenseitige Achtung und Rücksichtnahme das erhoffte Glück verbürgen würden.
Herr Pohlenz stellte seine Achtung, seine ganz besondere Hochachtung über allen Zweifel, und »Rücksichtnahme, mein Gott, Rücksichten müßten wir ja alle nehmen. Wie sollte sonst die Welt bestehen«.
Nachdem man noch eine Viertelstunde über das Glück der Ehe im allgemeinen und die Vorteile einer Verbindung Wittfoth und Pohlenz im besondern mehr oder weniger sentimentale Betrachtungen angestellt hatte, mußte Frau Caroline doch bitten, sie nicht schon heute zu diesem inhaltsschweren Schritt zu drängen. Acht Wochen Bedenkzeit möge er ihr gestatten, dann wolle sie sich endgiltig entscheiden, und, wie gesagt, sie wisse die Ehre zu schätzen.
Herr Pohlenz wollte durchaus nicht drängen. Acht Wochen wäre zwar eine lange Zeit, »wenn es sich um das Glück eines Lebens handelt«. Hierbei unterzog er seinen Cylinder von allen Seiten einer so genauen Besichtigung, als überlegte er, ob derselbe auch diese Prüfungszeit überstehen würde.
Aber es sei auch sein Grundsatz, betonte er, nichts ohne reifliche Ueberlegung zu thun. Kopf und Herz seien ihm immer, so zu sagen, wie Mann und Frau vorgekommen, und der Mann wäre denn doch immer »derjenige, welcher«.
Diese Bemerkung, so geistreich sie in seinen Augen auch war, war doch immerhin für einen Freier etwas ungeschickt, und er suchte den Eindruck durch einen kurzen Verlegenheitshusten zu verwischen.
Frau Caroline bestellte noch, es fiel ihr gerade ein, »an alles muß man selbst denken«, ein Gros Perlmutterknöpfe, kleinste Nummer. Dann trennte man sich, nachdem Herr Pohlenz noch einige andere Muster ohne Erfolg angestellt hatte, mit verbindlichem Händedruck.
Der vertröstete Freier hatte noch nicht den Schlag seiner Droschke geöffnet, als auch schon Frau Caroline hinter seinem Rücken ihre Rechte heftig an den Falten ihres Wollkleides scheuerte.
In diese kalte, feuchte Hand sollte sie die ihre legen, für immer?
Jedenfalls würde sie sich das in den acht Wochen noch gründlich überlegen.
Die beiden Mädchen, die schon lange über Herrn Pohlenzens spekulatives Herz so gut im Klaren waren wie die teilnahmsvolle Nachbarschaft, hatten keinen Augenblick Zweifel darüber gehegt, welche geschäftlichen Angelegenheiten die Tante und Prinzipalin mit dem Stadtreisenden von Müller und Lenze in der Staatsstube zu verhandeln hatte.
Mimi wollte sich »tot« lachen, als die Wittfoth auf die fragenden Blicke der Mädchen mit einem nicht mißzuverstehenden Lächeln deren Vermutungen betätigte.
»Frau Pohlenz, gratuliere«, rief sie, sich schüttelnd vor Heiterkeit. Sie durfte sich diese Keckheit schon herausnehmen, da sie wußte, wie die Wittfoth über ihren Verehrer dachte. Sie fand es zu »gediegen«: Dieser Knirps, dieser Pomadenhengst.
»Wenn ich ihn nur nicht haben sollte«, meinte sie.
»Na, na!« neckte Therese.
»Den? nicht vergoldet«, beteuerte Mimi.
Therese zweifelte im Ernst nicht an Mimis Abneigung gegen Pohlenz, wußte sie nun doch zur Genüge, daß zwischen Hermann und Mimi ein ernsteres Verhältnis bestand, als sie sich bisher eingestehen wollte. Der Verkehr der beiden hatte nach jenem, für Hermann so »teueren« Sonntag die bisherige Unbefangenheit verloren. Es bedurfte nicht der Augen einer Eifersüchtigen, um das zu bemerken. Auch die Tante war hellsichtig genug und hatte nicht nur Therese gegenüber Andeutungen gemacht, sondern auch ihren Neffen einmal selbst vorgenommen.
Hermann, der in der Seligkeit, in die ihn der freiwillig gewährte Gutenachtkuß versetzte, seinen Geldverlust schnell verschmerzt hatte, war mit sich und seiner Liebe im Klaren. Mimi oder keine.
So hielt er denn auch der Tante gegenüber nicht hinter dem Berg. Es sei seine feste Absicht, sich mit Mimi zu verloben. Ihres Jawortes glaubte er sicher zu sein. Von Michaelis an erführe sein Gehalt die planmäßige Aufbesserung um dreihundert Mark. Dann wolle er bei den Eltern des Mädchens werben, bis dahin aber auch Mimi noch nicht vor die Entscheidung stellen.
Frau Caroline hatte keine Gründe dagegen, hielt es aber doch für ihre Tantenpflicht, vor Uebereilung zu warnen.
Eigentlich berührte diese Frage sie nicht tiefer, als irgend eine andere. Ihr kam sogar der Gedanke an das Aufsehen, das eine Doppelverlobung verursachen würde. Tante und Neffe, Prinzipalin und Gehilfin, vielleicht an einem Tage. Das würde etwas für die Nachbarn sein.
Ja, seit Hermann die feste Absicht ausgesprochen, zu heiraten, hing auch sie ihren Heiratsgedanken noch eifriger nach.
Mimi hatte sich nach jenem Tag in Ottensen über die Küsserei geärgert. Sie war höchst unzufrieden mit sich. Wie sollte sie sich nun Hermann gegenüber benehmen?
An und für sich war ihr die »dumme Geschichte« sonst nicht so unangenehm. Sie dachte nicht ohne Genugthuung an den Eindruck, den sie auf Hermann gemacht.
War Hermann jetzt im Zimmer, in ihrer Nähe, war es ihr immer, als müßte er sie jeden Augenblick umfassen und küssen. Gewöhnlich suchte sie sich den Rücken zu decken. Manchmal aber stand sie zitternd, wie unter einem Bann, wenn sie ihn hinter sich wußte, allein mit ihm, und wie ein Wunsch nach verbotenen Früchten stieg es heiß in ihr auf.
Das war nicht ohne Reiz. Aber es war doch auch sehr »genant«, Therese und der Prinzipalin gegenüber. Sie wäre auch noch eher darüber weg gekommen, wenn er nur die Unbefangenheit besser zu bewahren verstanden hätte. Aber das war jetzt alles so peinlich.
Oft war er befangen, wie ein Schuljunge, und dann wieder von einer Liebenswürdigkeit, die sie den andern gegenüber in Verlegenheit setzen mußte.
Daß er jetzt ihr gehörte, ganz, daß sie nur die Hand nach ihm auszustrecken brauchte, war ihr über jedem Zweifel. Ueber kurz oder lang mußte er sich erklären. Was dann?
Sie war wirklich in einer schwierigen Lage. Das Gefühl, das sie für ihn empfand, unterschied sich in nichts von dem Interesse, das ihr jeder gesunde Mann einflößte, der heiratsfähig und im Besitz seiner graden Glieder war. Liebe war das nicht.
Ueber die Liebe hatte sie überhaupt ihre eigenen Gedanken.
Wie hatte sie im vorigen Jahr für den braunen, schwarzbärtigen Postsekretär in der Neustraße geschwärmt. Und jetzt? Neulich sah sie ihn noch am Arm einer andern, seiner Braut vermutlich. Das Herz war ihr nicht gebrochen.
Und der hübsche Oberkellner im »Hirsch« in ihrer Vaterstadt Bergedorf, und der dunkeläugige, finsterblickende Bahnhofsinspektor, der ihr immer so interessant erschienen war, und zwei oder drei andere. Für jeden hatte ihr Herz schneller geschlagen, als für Hermann.
Ob das Liebe war?
Dann war es nichts Beständiges, die Liebe, und jedenfalls nichts Unentbehrliches zum Heiraten.
Freilich, sie möchte mal so recht verliebt sein, so ordentlich verliebt, wie es in den Büchern steht, und wie es sich Therese immer ausmalt.
»Du meine Wonne, Du mein Schmerz.«
Therese hatte es ihr vorgelesen. Therese las sehr schön vor, so wie sie auf dem Theater sprechen, mit »schtehn« und »schpielen,« und so mit Gefühl, daß man manchmal wirklich glaubte, sie meinte das alles so, und lese es nicht nur.
Aber die Dichter und Romanschreiber übertreiben immer.
Nein, Mimi hielt nicht viel von diesen hohen Gefühlen.
Und das mochte sie auch an Hermann nicht, daß er manchmal so sentimental sprechen konnte, so salbungsvoll, wie ein Pastor auf der Kanzel, was Therese gerade so »reizend« an ihm fand.
Aber er war ja Lehrer, und die haben immer so etwas Apartes. Gewohnheit thäte ja viel. Wenn sie erst immer zusammen wären, fiele ihr das vielleicht nicht mehr so auf.
Frau Hauptlehrer Heinecke. Mimi prüfte oft in Gedanken, wie sich das ausnähme; es schien ihr nicht übel zu klingen.
Inzwischen hatten Lulu Behn und Beuthien aus der Annäherung auf dem Ottensener Tanzboden Veranlassung zu wachsender Vertraulichkeit genommen.
Lulus Angst, ihr Abenteuer möchte durch irgend einen Zufall ihrer Familie verraten werden, wurde bald eingeschläfert. Lange Nachgedanken und ängstliche Sorgen lagen überhaupt nicht in ihrer Natur.
Und wie viel größere Heimlichkeiten hatte sie jetzt zu bewahren.
Beuthien bereitete es eine prickelnde Genugtuung, die Jugendfreundin, das Pensionsfräulein, die vornehme Hausbesitzerstochter, zu sich herab zu ziehen. Aber auch ihre Person ließ ihn nicht kalt. War er auch nicht verliebt, so war sie ihm doch eine willkommene Abwechselung, einmal etwas anderes und besseres als Stine und Mine.
Und im Hintergrund stand bei ihm auch die Überlegung; wer weiß, wie es kommt. Zuletzt war sie doch immer keine schlechte Partie.
Freilich, es war höchst unwahrscheinlich, daß der alte Behn sie ihm jemals geben würde.
Doch er dachte ja auch nicht eigentlich ans Heiraten, ging nicht darauf aus.
Lulu aber war ganz Leidenschaft. Mit geschlossenen Augen folgte sie ihrer Neigung für den ehemaligen Spielkameraden. Es war, als ob ihre gewöhnliche Natur sich für die Verbildung, für die aufgedrungene Überfeinerung rächen wollte.
Leichter, als die erste Wiederannäherung, war die Fortsetzung des Verkehrs zwischen den beiden. Lulu, unbeschränkt in ihrem Thun und Lassen, Herrin ihrer Zeit, konnte den Geliebten treffen, wann und wo er bestimmte.
Traf sie ihn unterwegs, und seine Droschke war unbesetzt, so stieg sie ein, und er fuhr sie auf Umwegen spazieren. Dehnte sich die Fahrt zu lange aus, so daß er über die Zeit seinem Vater Rechenschaft ablegen und den Fuhrlohn abliefern mußte, so konnte sie unbedenklich von ihrem nicht kärglich bemessenen Taschengelde opfern. So ermöglichten sie, da auch er in nötigen Fällen nicht mit dem Gelde zurückhielt, gelegentlich weitere Ausfahrten, wo sie zwischen der aristokratischen Abgeschiedenheit parkumgebener Villen, oder auf einsamen Landstraßen in schon ländlicher Gegend sich sicher fühlten.
Lulus ruhige, träge Natur kam ihr zu Hilfe bei der Aufgabe, zu Hause jeden Verdacht nieder zu halten.
Sie war nicht leicht aus ihrer täglichen Art und Weise zu bringen. Zu statten kam ihr das Gebot des Arztes, der dem häufig an Kopfschmerzen leidenden, verwöhnten Mädchen, das sich in den Jahren seiner größten Entwickelung viel zu wenig Körperbewegung machte, tägliches, womöglich mehrstündiges Spazierengehen empfohlen hatte.
So setzten denn die Eltern den lebhafteren Glanz der Augen, die schnellere Beweglichkeit der immer von einer inneren Unruhe geplagten Tochter als wohlthätige Wirkung auf Rechnung dieser Spaziergänge, ohne zu ahnen, wie sehr sie, wenn auch im andern Sinne, recht hatten.
Schuldbewußt, jeden Anlaß zur Entzweiung vermeidend, ward Lulu auch in ihrem Benehmen gegen die Mutter und Paula freundlicher, zuvorkommender, nachgiebiger.
Anna, die seit jener thätlichen Zurechtweisung einen versteckten Krieg gegen Lulu geführt hatte, war plötzlich entlassen worden.
»Wegen unmoralischen Lebenswandels,« sagten die Damen der Nachbarschaft.
»Se is rinfull'n,« hieß es bei den Kolleginnen der Gekündigten.
Die offizielle Behnsche Erklärung aber lautete. »Sie hat sich mit meiner Tochter nicht vertragen können.«
Minna, die Nachfolgerin, ein kleines unbedeutendes Mädchen vom Lande, kam für Lulu nicht in Frage. Ihrer Autorität konnte von der Seite kein Angriff drohen.
Die Hauptsache für sie war, sich die Schwester gut gesinnt zu erhalten.
Paulas Vertraulichkeit mit ihrem alten Tänzer hatte keine Abnahme erfahren, zur Belustigung Beuthiens, der an dem Mädchen eine willkommene Handhabe hatte, sich Lulu in allem gefügiger zu machen.
»Ich sag's Paula,« drohte er, und ängstlich gab sie nach.
Paula, deren ganzes Trachten es war, nur ein einziges Mal wieder tanzen zu können, hatte schließlich Mut gefaßt und sich an einem unbewachten Sonntagabend davon gestohlen, ohne Hut und Jacke, um sich auf dem Holsteinischen Baum unter die Zuschauer im Tanzsaal zu mischen, in der Hoffnung, Beuthien dort zu treffen.
Diesen hatte sie nun nicht dort gefunden, wohl aber Bernhard Prüßnitz, der mit einem älteren Bruder, einem Sattlerlehrling, anwesend war.
Der Erkennung war eine hastige Begrüßung gefolgt.
»Ach, tanz mal mit mir,« bat Paula.
»Kostet das was?«
»Ich habe zwanzig Pfennige, hier.«
Sie steckte ihm das Geld zu, und dann stürzten sie sich unter die Tanzenden, mit klopfenden Herzen und heißen Wangen.
»Du kannst ja nicht,« wollte sie ihn anfahren, denn er hüpfte wie ein junger Hahn und stieß sie gegen die Knie. Aber sie besann sich. Wenn er sie stehen ließ, wer tanzte dann mit ihr? Besser hopsen, als gar nicht tanzen.
Gerade wollte sie zum zweiten Mal mit ihm antreten, als sie jemand heftig am Ellbogen zerrte.
»Paula, Deern, dat segg ich Din Vadder.«
Es war Minna, die auf der Suche nach der Vermißten von dem untrüglichen Instinkt einer gleichgestimmten Seele den Flüchtling sofort hier vermutet hatte.
Durch Minna, die auf Paulas Bitten und Drohen furchtsam log, was das größere, ihr überlegene Mädchen ihr einschärfte, kam es nun zwar nicht an den Tag, aber auf irgend eine für Paula unbegreifliche und nie aufgeklärte Weise erfuhr Vater Behn von der heimlichen Belustigung seiner Jüngsten, und zwei gewaltige Maulschellen waren die Anerkennung ihres frühzeitigen Unternehmungsgeistes.
Paula, wütend auf den unbekannten Verräter, bezichtigte unter zwanzig anderen auch Lulu der Schändlichkeit, sie »verklatscht« zu haben. Diese, der Paulas Maulschellen einen Vorgeschmack gaben von dem, was ihrer im Entdeckungsfalle warten würde, schwur Stein und Bein, unschuldig zu sein, bemitleidete die Schwester und fand die ganze Geschichte überhaupt nur halb so schlimm, »aber Papa is ja nu mal so heftig.«
Mutter Behn wunderte sich, wie gut sich die Kinder jetzt vertrugen. »Se ward ja ok ümmer öller und verstänniger«, meinte sie.
Beuthien hatte Lulu eines Nachmittags in einer neuangelegten, noch häuserlosen Straße in seine Droschke aufgenommen. Es war ein verabredetes Rendezvous, und da Lulus Börse gerade gut gefüllt war, wollte man längere Zeit zusammen bleiben.
Wie immer, so lange sie durch lebhaftere Straßen fuhren, wo eine unliebsame Begegnung zu befürchten war, saß Lulu tief zurückgelehnt in dem Fond der verschlossenen Droschke, verschleiert, und jeden Blick auf die Straße vermeidend. Erst weiter draußen wagte sie, das Verdeck des Coupees zurückschlagen zu lassen.
Beuthien hatte die Richtung nach Horn genommen. Drüber hinaus, auf einer menschenleeren Feldstraße stieg Lulu aus und ging, wie sie zu thun pflegte, mit ihm, an seinem Arm hängend, neben dem gemächlich bummelnden Braunen her.
Der Weg erlaubte eine freie Uebersicht. Nahte jemand, war noch immer Zeit genug, sich zu trennen und unbefangen nebeneinander herzugehen, oder in die Droschke zurückzuschlüpfen.
Beuthien wußte in der Gegend ein abgelegenes Wirtshaus, wo man wagen durfte, einzukehren.
Lulu war zu allem bereit.
Es war ein wunderschöner Sommertag. Eine warme, sonnige Luft lag, ohne lästig zu sein, über den grünen, vielversprechenden Saaten.
Lulu war sehr heiter.
Die stille, wohlthuende Ruhe hier draußen wiegte alle ihre Bedenken ein.
Auch Beuthien war aufgeräumt. Er ließ bald ihren Arm fahren und legte vertraulich den seinen um ihre Hüfte. Und sie ließ sich seine derben Scherze und zeitweiligen Zärtlichkeiten gefallen.
Ein kleiner Garten neben jenem Wirtshaus, das den poetischen Namen »Zum einsamen Winkel« trug, enthielt zwei nicht sehr schattige Lauben, die jedoch mit ihren grünen Holzstäben und grüngestrichenen Tischen und Bänken etwas Trauliches, Einladendes hatten.
Der Wirt, ein ordinär aussehender, verschmitzt schmunzelnder Patron, brachte zwei Gläser Bier dorthin, fuhr einmal träge mit seiner unsauberen blauen Schürze über den bestaubten Tisch und suchte eine Unterhaltung anzuknüpfen, auf die man jedoch so einsilbig einging, daß er bald davon abstand.
Auf dem verwilderten runden Grasplatz vor ihrem Sitz schnatterte und schnabbelte eine einsame Ente. Ein magerer, weiß und braun gefleckter Hühnerhund blinzelte mit müden Blicken aus den triefenden, von Fliegen gequälten Augen aus seiner Hütte zu ihnen herüber.
Das Bier war warm und abgestanden, und mundete ihnen nicht. Der Geruch des nahen Hühnerstalles wurde ihnen lästig.
Lulu sah sich nach einem andern Platz um.
Hinter dem Garten zog sich ein spärliches Wäldchen an dem Rand einer Wiese hin, größtenteils dichtes, mannshohes Unterholz, aus dem sich nur einige zerstreut stehende junge Birken mit ihren glänzenden weißen Stämmen hervorhoben.
Ein halbvermorschtes Brett führte über einen ausgetrockneten Graben in das Holz hinein.
Nach einigem Zaudern, aus Rücksicht auf ihr Kleid, folgte Lulu mit aufgeschürztem Saum Beuthien in die kleine Wildnis.
Wie oft waren sie als Kinder in dieser Weise im Freien umhergestreift, hatten Beeren gesucht, Kränze aus Laub, Ketten aus den hohlen Stengeln der Kuhblume gewunden, oder waren mit bloßen Füßen in dem kühlen, schlammigen Wasser der Gräben und Pfützen gewatet.
Beiden kam die Erinnerung zugleich, und beide sprachen sie aus.
Er rauchte seine kurze Meerschaumpfeife mit dem Kaiser-Friedrich-Kopf, und der beizende Qualm zog ihr in die Nase und ward ihr unbehaglich.
Sie drängte sich vor ihn.
Uebermütig faßte er sie bei den Schultern und schob sie vor sich hin, so schnell, daß sie auf dem unebenen Boden ins Stolpern kam.
Sie schrie auf und riß sich los. Er suchte sie zu haschen. So sprangen sie einen Augenblick unter Gelächter und Gekreisch um einander herum.
»Wull Du mal her«, rief er und packte weit auslangend ihren Arm. Sie rangen mit einander. Seine Kräfte, mit denen er bisher nur gespielt hatte, gebrauchend, hob er sie plötzlich hoch vom Boden und nahm sie wie ein Kind auf den Arm.
Zappelnd bemühte sie sich, wieder festen Fuß zu fassen. Aber er zwang sie.
»Wull Du ruhig sin? Wull Du ruhig sin!« wiederholte er ein paar mal. Er sprach überhaupt während dieser ganzen Balgerei nur platt.
»Laß mich«, keuchte sie.
Sie hatte die Arme gegen seine Brust gestemmt. Aber vor seinen heißen, verzehrenden Blicken verstummte sie. Ihre Kraft erlahmte, und willig, schwer atmend, ließ sie sich von ihm zu einer nahen Moosbank tragen.
Der alte Beuthien ging schon lange mit dem Gedanken um, sich vom Geschäft zurückzuziehen, es seinem Sohn zu überlassen. Er hatte keine rechte Lust mehr daran. Die Jahre machten ihn bequem.
Aber an Bequemlichkeit hatte es ihm immer gefehlt, seit seine Frau tot war, also seit ungefähr zehn Jahren, in welcher Zeit eine alte Tante der Verstorbenen ihm die Wirtschaft führte.
Wilhelm war nun auch in dem Alter, wo er ans Heiraten dachte. Dann würde er, der Vater, zwischen der alten Negendank, die immer stumpfer wurde, und der jungen Schwiegertochter, die natürlich das Regiment beanspruchen würde, ärgerliche Tage haben.
Nach zehn Jahren fing er von neuem an, seine Frau zu vermissen. Wenn man älter wird, ist das Verheiratetsein doch nicht zu schelten. Und da Freunde dem noch immer rüstigen Mann oft, teils im Scherz, teils im Ernst, rieten, sich doch wieder zu beweiben, hatte er sich mit dem Gedanken vertraut gemacht.
Eilig war es ihm nicht damit. Er erwog diese und jene Partie, die ihm vorgeschlagen wurde, aber immer nur obenhin, und selbst nicht recht daran glaubend, daß noch einmal etwas daraus werden könnte.
Als er nun aber nach dem Verlust seines besten Pferdes, des auf dem Glatteis gestürzten Braunen, gänzlich die Lust am Geschäft verlor, hing er doch ernstlicher solchen Zukunftsträumen nach.
Von allen Frauen, die in Betracht kamen, gefiel ihm keine so gut wie Frau Caroline Wittfoth. Das wäre noch eine Partie.
Die kleine lebhafte, noch recht ansehnliche Witwe sagte ihm sehr zu. Seine Selige war gerade so quecksilbern gewesen.
Das gute Geschäft der Wittfoth war auch ein Magnet. Er machte kein Hehl daraus. Wenn er die zehntausend Mark, über die er nach Wilhelms Abfindung noch verfügen konnte, in dies Geschäft steckte, wäre das Geld gut angelegt. Und es würde ihm ein guter Fürsprecher bei seiner Werbung sein.
Als er nach langem Sinnen zu dem Entschluß gekommen war, es mit Frau Caroline zu versuchen, war die zweite Frage an ihn herangetreten. Wie fängst du das an?
Es fehlte ihm wirklich an Mut, obgleich er jeden ausgelacht hätte, der das zu behaupten wagte.
Aber dennoch war es so.
Einmal versuchte er, an »Ihre Wohlgeboren« zu schreiben. Er kam über die Anrede »Sehr geehrte Frau« und den Anfang »Da ich mir nunmehr in der Lage befinde,« nicht hinaus.
Die Negendank störte ihn, trotzdem er sich aus Furcht vor ihr in der Futterkammer eingeschlossen hatte. Tante Tille hatte trotz ihrer Taubheit schon von seinen Heiratsplänen munkeln hören und war der entschiedenste Gegner solcher »Verrücktheit«.
So warf er eilig den angefangenen Brief in die Futterkiste, die er als Schreibpult benutzt hatte, und öffnete der Klopfenden. »Dat togt so bannig,« schrie er ihr ins Ohr, als sie sich wunderte, daß er sich einschloß.
Da machte ein Zufall allen Schwierigkeiten ein Ende. Tetje Jürgens, sein guter Freund, hatte einen klugen Einfall.
In Tetjes Wirtschaftskeller hatte der Zitherverein »Alpenveilchen« sein Klubzimmer. Das Stiftungsfest dieses Vereins stand bevor, und nichts war leichter, als durch Tetje Einladungskarten für Beuthien und die Wittfoth zu erlangen.
Wie alljährlich, sollte eine gemeinsame Ausfahrt in offenen Breaks die Gesellschaft ins Grüne führen, und da müßte es doch eigen zugehen, wenn sich an einem solchen Tage keine Gelegenheit zu einer Annäherung finden würde.
Wirklich erwies sich Tetjes Idee als vortrefflich. Frau Caroline nahm freudig die Einladung an, die ihr in unauffälliger Weise von Tetjes Frau überbracht wurde, als diese ein Paar Kindersöckchen für ihr Jüngstes kaufte.
So was wäre ihr lange nicht geboten, wann käme sie mal ins Grüne, meinte die Geschmeichelte.
Nebenbei war sie glücklich, nun mit gutem Grund von einer Wasserpartie nach Buxtehude, zu der Hermann sie und die Mädchen eingeladen hatte, zurücktreten zu können. Sie hatte eine unüberwindliche Furcht vor dem Wasser.
In vier offenen, mit Guirlanden und bunten Fähnchen geschmückten Breaks fuhr die vergnügte Gesellschaft am Stiftungssonntag schon früh morgens um sechs Uhr von Tetjes Lokal ab, Herren und Damen, größtenteils junge Leute. Die »aktiven« Mitglieder hatten die Kästen mit ihren Instrumenten vor sich auf den Knieen oder hatten sie unter die Sitze geschoben. Das Festprogramm schloß auch einige Konzertvorträge ein.
Es machte sich von selbst, daß die paar älteren Leute in der Gesellschaft in einem Wagen zusammenfuhren, und unter ihnen wieder Beuthien, als einziger Witwer, und die Dame seiner Neigung, als einzige Witwe, zusammengeführt wurden.
Frau Caroline hatte ihre beste Garderobe angelegt, ein leichtes schwarzes Spitzenkleid mit glitzerndem Perlenfichu. Ihr besonderer Stolz war ihr neuer Sommerhut, aus dessen Garnitur zarter schwarzer Spitzen sich ein Sträußchen lila Phantasieblumen wirkungsvoll abhob.
»Kieck, wo stuhr se sik höllt, as'n Hahn«, hatte Tetje Jürgens sie beim Einsteigen gehänselt.
Auch Beuthien hatte sich mit besonderer Sorgfalt gekleidet. Sein grauer, etwas borstiger Kinnbart war sauber gestutzt, und auf der weißen Piquéweste prunkte die schwere goldene Uhrkette, auf deren Besitz er sich etwas einbildete.
Die Fröhlichkeit war schon vor der Abfahrt eine allgemeine gewesen, und sie steigerte sich während der Fahrt unter dem Einfluß des heiteren, sonnigen Wetters, das einen schönen Festtag versprach. Gesang und allerlei Neckereien würzten die Unterhaltung, und schon unterwegs wurden Beuthien und Frau Caroline im Scherz als das behandelt, was als ernstes Ziel ihm wenigstens dann und wann mit beängstigender Deutlichkeit vor Augen schwebte.
Der Endpunkt der Fahrt war eine hinter Wandsbek gelegene Waldwirtschaft.
Eine festlich geschmückte Tafel unter hohen Bäumen, mit freiem Blick auf eine buschumsäumte Wiese, empfing die Gesellschaft.
Herr Bierwasser, als Präses, begrüßte die Festgenossen mit einer wohlgesetzten Rede. Er sprach von den erhebenden Gefühlen, die die Brust eines jeden beseelen müßten, wenn er der Bedeutung dieses Tages gedächte.
»Vor fünf Jahren, meine Damen und Herren, meine Freunde und Festgenossen, vor fünf Jahren erblickte unser bescheidenes Alpenveilchen zum ersten Mal das Licht der Welt.«
Bravo! Sehr gut. Donnernder Beifall.
»Bleiben wir den hohen Zielen treu, die wir uns gesteckt haben. Ich meine die edle Musika, die unsere Herzen erhebt und erfrischt nach des Tages Last und Mühe.«
Bravo! Bravo!
»Darum, meine lieben Freunde und Festgenossen, und auch sie, meine verehrtesten Gäste, erlauben Sie mir und fordere ich sie auf, mit mir in den Ruf einzustimmen: Der Zitherklub Alpenveilchen von 1876, er lebe hoch!«
»Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!« sang die ganze Gesellschaft, stehend, die Gläser in der begeistert erhobenen Rechten.
Es war zu schön.
Frau Caroline, die auch als Tischherrn den alten Beuthien hatte, war ganz »in ihrem Fett«, wie sie sagte. So was möchte sie für ihr Leben gern.
Unter den Bäumen waren verschiedene automatische Apparate aufgestellt. Ein Chocoladenautomat und einer für Cigarren, ein Elektrisierapparat und einer, an dem man seine Kraft erproben konnte, während ein benachbarter Gelegenheit gab, das Körpergewicht vor und nach dem Festmahl zu bestimmen, »wonach der Wirt das Couvert berechnet,« wie ein schelmischer Jüngling witzelte.
Die Wittfoth stellte fest, daß sie in einem halben Jahr fünf Pfund zugenommen hätte. Wovon, wüßte sie nicht. Appetit hätte sie gar nicht, und dann die Arbeit von morgens bis abends, und selbst in der Nacht fände sie nicht einmal ihre Ruhe. Dann gebe es erst recht tausenderlei zu bedenken, wozu der Tag keine Zeit gelassen.
»Na, freuen Sie sich«, meinte Tetje Jürgens, »wenn Sie von's Rumarbeiten all fett werden, würden Sie von's Nichtsthun ja woll der leibhafte Globus werden, und dann is es aus mit die Lebensfreuden«.
Alles lachte, und Frau Caroline gab ihm kokett einen Klaps mit dem Sonnenschirm.
Beuthien erprobte seine Kraft an dem automatischen Kraftmesser und stellte noch manchen jüngeren in den Schatten, nur Tetje mit seinen großen Händen war ihnen allen überlegen.
Die Frauenzimmer drängten sich um den Elektrisierapparat. Das Kribbeln in allen Nerven schien ihnen Vergnügen zu bereiten. Das war ein Schnattern und Kreischen. Nur die Wittfoth getraute sich nicht heran.
Winchen Studt, eine achtzehnjährige blasse Schönheit mit Stumpfnase, ließ sich von ihrem Verlobten, einem Zeichner am Stadtbureau, mit Chocolade füttern. Sie war eine wichtige Persönlichkeit heute, denn sie sollte noch etwas vortragen.
Auf der Wiese lockten Schaukel, Turngeräte und eine Bergbahn.
Namentlich die letztere übte eine große Anziehungskraft auf die Damen aus. Selbst die Wittfoth konnte nicht widerstehen und rutschte in Gesellschaft Beuthiens, ohne den sie sich es nicht getraute, einige male unter Gekreisch hin und her.
Es war zu schön, wirklich zu schön, wie sie alle Augenblicke versicherte.
Und dann später das Konzert im Saal. »Des Schweizers Heimweh«, von acht Zithern vorgetragen, erntete den größten Beifall. »Entzückend« spielte Herr Cäsar Puhvogel »des Aelplers Liebesklage« auf der Elegiezither.
Die größte Bewunderung aber fand Herr Süß für den Vortrag des beliebten Liedes »Im tiefen Keller sitz ich hier«.
In allen Gesangvereinen sprach man von dem phänomenalen Baß des Herrn Süß.
Wie Orgelton und Glockenklang Ertönet unseres Süß' Gesang
hatte einmal ein Lobredner auf ihn getoastet.
Auch Winchen Studt, im weißen Kleid mit Rosaschärpe, deklamierte »Des Sängers Fluch« von Uhland sehr brav mit Verständnis und Gefühl. Besonders der Schluß verursachte den Empfindsameren unter den Hörern eine leise Gänsehaut. Wie mit Grabesstimme recitierte Winchen: »Versunken und vergessen, das ist des Sängers Fluch,« mit bedeutungsvollem, fast schmerzlichem Verweilen auf der ersten Silbe des »Sängers.«
Einen solchen Genuß hatte Frau Caroline lange nicht gehabt.
»Wer hätte das dem Mädchen angesehen«, meinte sie, »und dann das Ganze, die vielen Zithern. Und was'n Stimme, Herrn Süß seine, die war ja woll was für Pollini.«
Als man den Saal verließ, wartete draußen eine neue Ueberraschung der Gesellschaft. Buntfarbige Lampions waren unter den hohen Bäumen angebracht und gewährten einen reizenden Anblick. Auf der Wiese aber hatte sich das als »Ehrengast« anwesende Soloquartett des Gesangvereins »Unentwegt« aufgestellt, und feierlich klang es von dort herüber: »Das ist der Tag des Herrn.«
Den Schluß des Festes machte ein Tänzchen, das jedoch mit einer Polonaise im Freien, durch das »stickendüstere« Gehölz eröffnet wurde. Jeder bekam eine Stocklaterne, die Herren aus rotem, die Damen aus weißem Papier.
»Wi sünd Hanseaten,« erklärte Tetje.
Wie schön war das alles, wie wunderschön.
Sonne, Mond und Sterne, Ich geh mit meiner Laterne. Aber so ein kleines Licht Leuchtet in die Ferne nicht.
Herr Mehlberg, Winchen Studts Verlobter, hatte seine Braut bei einer Biegung, wo er sich ungesehen glaubte, geküßt. Aber es war bemerkt worden, und ein Kichern und Witzeln lief durch die ganze Kette der Promenierenden.
Das führende Paar nahm im Übermut den Weg durch einen trockenen Graben. Das war ein Gespringe und Gehüpfe, ein Gekreisch und ein Gelächter.
Frau Caroline getraute sich nicht die ziemlich steile Böschung hinunter. Aengstlich trippelte sie und hob ihr Kleid.
Im Graben aber stand Beuthien mit seiner Laterne und sang: »Komm herab, o Madonna Therese«, zum Gaudium der nachdrängenden. Endlich nötigte er mit einem festen Griff die Aengstliche zu einem ungewollten Hopsen, und weiter ging's unter Lachen und Scherzen.
Nein, so was Schönes war noch nie dagewesen. Frau Caroline stand nicht allein mit diesem Urteil.
Und dabei war es so »gruselig« in dem dunklen Wald.
»Hier sind doch keine Schlangen?« fragte die kleine Frau einmal furchtsam.
»Ne, aber Katteker,« versetzte der unverbesserliche Tetje.
Längst lag Frau Caroline schon in den Federn, als durch ihre Träume noch immer die Lampions wie große Leuchtkäfer huschten.
»Nein, was ich mich gestern amüsiert habe, sagen kann ich es nicht,« sagte sie am folgenden Morgen zu Therese und Mimi. Acht Tage, acht Wochen später, sprach sie noch mit derselben Wärme von diesem wundervollen Tag, und je weiter er zurücklag, desto geneigter war sie, ihn als einen der schönsten ihres Lebens zu preisen.
Auch für Therese und Mimi war dieser Sonntag ein amüsanter gewesen.
Hermann hatte sich frühzeitig genug eingestellt, um noch der Tante einen Gruß mit dem Taschentuch nachwinken zu können.
Das Dampfboot nach Buxtehude fuhr erst um halb neun Uhr von der Landungsbrücke in St. Pauli ab. Ohne zu eilen, konnte man sich mit der Pferdebahn dorthin begeben.
Schon beim Betreten des Schiffes geriet man in eine muntere Gesellschaft. Ein mittelgroßer Herr mit breitrandigem Panamahut, weißem Leinenrock, grauem Beinkleid und leichten gelben Lederschuhen bildete den Mittelpunkt einer Gruppe rauchender, schwatzender und sehr aufgeräumter junger Herren. Die Ankunft Hermanns und der Damen unterbrach die Unterhaltung. Mimi zog sofort alle Blicke auf sich. Die Herren lüfteten die Hüte und gaben mit übertriebener, geckenhafter Höflichkeit den Weg frei.
»Ah, Fräulein Kruse,« rief plötzlich der Herr in Weiß überrascht und mit schlecht verhehlter Verlegenheit.
»Fräulein Saß, Sie auch?« wandte er sich an Therese.
»Herr Pohlenz! Gott, nein, wie komisch,« lachte Mimi.
Hermann erkannte unter den andern jungen Leuten einen Bierfreund. Die Begrüßung wurde intimer, man schloß sich aneinander an und wurde nicht müde, über diese zufällige Begegnung geistvolle Betrachtungen anzustellen.
Hermann wäre lieber mit den Mädchen allein geblieben. Er sah voraus, daß Mimi ihm auf Stunden durch die Aufmerksamkeit der anderen entzogen sein würde. Keinenfalls wollte er sich in Buxtehude jener Gesellschaft anschließen. Am Bord war man ja nun einmal auf einander angewiesen.
Auch Therese war anfänglich etwas peinlich von Mimis Triumphen berührt. Sie gönnte sie ihr ohne Neid und hätte nicht ungern gesehen, sie würde so sehr von den Fremden in Anspruch genommen, daß Hermann mehr auf ihre, Theresens, Gesellschaft angewiesen wäre. Sie sah dem Eifersüchtigen schon den Mißmut an.
Seit Hermanns offenem Geständnis der Tante gegenüber, hatte Therese sich an den Gedanken gewöhnt, Mimi bereits als seine heimliche Braut zu betrachten. Es war ihr gelungen, Schmerz und Eifersucht niederzukämpfen, ein leises feindliches Gefühl gegen Mimi zu besiegen.
So ließ auch dieser Erfolg der hübschen Freundin bei der männlichen Fahrgesellschaft keine unedlen Regungen bei ihr aufkommen, obwohl sie es schmerzlich empfand, auch hier wieder zurückstehen zu müssen. Erst als sie, um nicht ganz übersehen zu werden, ihre Stimmung meisterte, und sich unbefangen an der Unterhaltung beteiligte, als man auf ihre oft treffenden Bemerkungen und witzigen Einfälle aufmerksam wurde, fand auch sie ihre Rechnung bei dieser Umgestaltung des Programms, die an Stelle eines Trios eine so vielstimmige Symphonie setzte.
Die ausgeladene Höflichkeit der kleinen Herrengesellschaft war bald erklärt und begründet. Herr Pohlenz hatte in der Stadtlotterie einen namhaften Treffer gemacht, vierzigtausend Mark waren ihm zugefallen. Nun spielte der glückliche Gewinner den freigiebigen Freund und begann schon im Anfang der Fahrt alle am Bord Befindlichen, Kapitän und Schiffsvolk eingeschlossen, zu traktieren.
Hinter der Gloriole des liebenswürdigen Schwerenöters verschwand selbst in Theresens Augen die komische Figur des vertrösteten Freiers. Selbst sie fand Herrn Emil Pohlenz doch eigentlich ganz nett, und Mimi erklärte, man könne sich doch oft sehr in einem Menschen täuschen.
Das herrliche Wetter that das seine, die Fahrt durch die schmale, vielgewundene Este zu einer genußreichen zu machen. Die fetten, im schönsten Sommerschmuck prangenden Marschufer boten mannigfache, wechselnde Reize: Breite Deiche, mit üppigem Pflanzenteppich behangen: großblättriger Huflattich in wuchernder Ausbreitung, hochstielige Schafsgarbe mit ihren weißen Blütenkronen, dazwischen gestreut, wie eine Hand voll Gold, die fettigen, gelben Blüten der Butterblume. Auf grasreichen Wiesen weidende Kühe. Auf den Stegen, hinter den Hecken der freundlichen obstreichen Gärten, kichernde rotwangige Landmädchen, die Kußhände und losen Scherzworte, die ihnen die Herren vom Schiff aus zuwarfen, dreist erwidernd oder verlegen empfangend.
Ein jüdischer Handelsmann, der sich am Bord befand, machte den ortskundigen Cicerone und lobte die reiche Gegend, in der er lohnende Geschäfte zu machen pflege.
Und in der That verriet das saubere behäbige Aussehen der einzelnen Höfe sowohl, als der ganzen Dörfer, deren Rückseite sich oft bis hart an das schilfumrauschte Ufer des Flüßchens erstreckte, gediegenen Wohlstand.
Selbst Hermann verlor während der Fahrt seine Mißstimmung. Hoffte er doch auch, sich in Buxtehude mit den Mädchen verabschieden zu können.
Doch er sah sich getäuscht. Die Herren wollten die Gesellschaft der Damen nicht wieder missen, diesen selbst gefiel es nur zu gut im Kreise so vieler galanter Ritter, und da man sich durch Annahme vieler Gefälligkeiten und Liebenswürdigkeiten verpflichtet hatte, konnte auch Hermann schließlich, wenn er nicht unartig erscheinen wollte, nur gute Miene zum bösen Spiel machen.
Schwer genug ward es ihm. Eifersüchtig sah er, wie Herr Pohlenz seine ganze Aufmerksamkeit Fräulein Kruse zuwandte, und wie Mimi sich geschmeichelt fühlte.
Allerdings war sie dann später zartfühlend genug, Herrn Pohlenzens taktlose Aufforderung zur Mittagstafel mit einem Hinweis auf Hermanns ältere Rechte abzulehnen. Aber jener wandte sich an Therese und wählte seinen Platz so, daß er Mimi zur Linken hatte. Zwischen beiden Damen sitzend, zeigte er sich als interessanter Gesellschafter, so daß Hermann auch jetzt noch nicht zur ungeschmälerten Freude an Mimis Gesellschaft kam.
Und so blieb es. Auch für den Rest des Tages war Mimi die Königin, der alles huldigte, und das hübsche Mädchen spielte die ihr zugewiesene Rolle mit Geschick und Liebe zur Sache.
Auf der Rückkehr nach Hamburg änderte sich das Wetter. Ein leichter Regen fiel, ohne jedoch die fröhliche Gesellschaft vom Deck zu vertreiben. Man scheute die Stickluft der engen Kajüte. Die meisten, erhitzt von Wein und Frohsinn, empfanden die kleine Douche als Erfrischung. Auch Therese und Mimi blieben oben, um nicht die allgemeine Gemütlichkeit zu stören. Sie fanden genügenden Schutz hinter der Kajütenwand, und auch eine warme Decke trieb man auf, in die sich die empfindlichere Therese einhüllen konnte.
Hatte man einmal A gesagt, sollte man nun auch B sagen. Herr Pohlenz wehrte sich auch nach der Ankunft in Hamburg noch lebhaft gegen eine Trennung.
»Sie sind meine Gäste, Sie müssen bleiben,« rief er. »Jetzt wird's erst fidel.«
Und man blieb zusammen, hörte einige Musikstücke in Hornhardts Konzertgarten an, ging, den Widerspruch einzelner besiegend, noch auf ein Glas Bier zu Mittelstraß, einem beliebten Restaurant, und schloß endlich zu später Stunde mit einer Tasse Melange in Görbers Café.
Einige Tage später sprach man in der Nachbarschaft des Durchschnitts von nichts anderem, als von der Verlobung des alten Beuthien mit der Witwe Wittfoth, hier mit neidischer Geringschätzung, dort mit selbstbewußtem Indiebrustwerfen: haben wir es nicht gleich gesagt. Etliche gleichgiltig, als handle es sich um das Wetter, andere mit einer Vertiefung in den Gegenstand, als wäre nun die natürliche Ordnung der Dinge durchbrochen und die Erde liefe von jetzt ab anders herum.
Und man sprach nicht mehr von einem Gerücht. Es war eine Thatsache. Der alte Beuthien hatte wirklich von dem Stiftungsfest des »Alpenveilchens« den nötigen Mut mit nach Hause gebracht, und Frau Caroline hatte nach kurzem schamhaftem Sträuben, unter Hinweis auf ihr vorgerücktes Alter, ja gesagt.
»Wenn Sie es durchaus wollen, so will ich Ihrem Glück nicht im Wege sein.«
So ungefähr lauteten die Schlußworte der kleinen Frau.
Hiermit war denn auch über den Antrag des Herrn Pohlenz entschieden. Die Kunde von seinem Lotteriegewinn hatte Frau Caroline allerdings wieder unschlüssig gemacht, nachdem sie sich in ihrem Hinundherwenden der Sache schon mehr für die Ablehnung entschieden hatte.
Für vierzigtausend Mark jedoch konnte man über Kleinigkeiten schon hinweg sehen.
Aber ob man mit vierzigtausend Mark nicht auch über allerlei hinweg sähe? Ueber die Witwe Wittfoth zum Beispiel? Das war eine andere Frage.
Frau Caroline war bei aller Selbstachtung doch nicht eitel genug, um das Bestechliche, was für Herrn Pohlenz in einer Verbindung mit ihr lag, in ihrer Person gesucht zu haben. Sie hatte sich keiner Täuschung hingegeben. Bei Beuthien aber war sie sicher, daß auch persönliche Neigung zu Grunde lag.
Als Herr Emil Pohlenz von der Verlobung der Witwe Wittfoth hörte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Jetzt war er der Freigegebene, der Verschmähte.
Als er beim Lotteriecollecteur das gewonnene Geld eingestrichen hatte, wußte er, was er wollte.
»Nach reiflicher Ueberlegung und mit Bewahrung meiner vollsten Hochachtung und Wertschätzung kann ich mich der Einsicht nicht verschließen.« So oder ähnlich dachte er sich den Anfang seines Briefes an die Wittfoth.
Natürlich wollte er jetzt nicht länger Stadtreisender bei Müller und Lenze bleiben. Aber bis zur Lösung seines Kontraktes mußte er noch seine Geschäftsbesuche bei der Witwe fortsetzen. Das war auch jetzt noch sehr peinlich, aber er konnte ihr doch mit dem Stolz des Gekränkten, Verschmähten gegenüber treten, eine Rolle, in welche er sich mit vierzigtausend Mark in der Tasche leicht hinein finden würde.
Ein anderes kam hinzu, das ihm den Gang nach dem Eckkeller der Wittfoth bedeutend erleichterte.
Auf der Fahrt nach Buxtehude war eine schlummernde Neigung in ihm wach geworden. Schon immer hatte er sich bemüht, dem hübschen Ladenmädchen der Witwe näher zu kommen. Aber Mimi Kruse war ihm gegenüber stets kühl bis ans Herz gewesen, ja abweisend. Ihr liebenswürdiges Entgegenkommen in Buxtehude aber hatte Hoffnungen in ihm geweckt.
Er gab sich keinen Illusionen hin. Er taxierte sie richtig. Er wußte, welcher Wind dieses Wetterfähnchen gedreht hatte. Aber er betrachtete ja selbst das Leben nur vom kaufmännischen Standpunkt. Was kostet das?
Was Mimi Kruse anbelangte, so wußte er jetzt, daß er sie sich »leisten« konnte, daß seine »Mittel« sie ihm »erlaubten«. Warum sollte er sie nicht »kaufen?«
Als er die Verlobungsanzeige der Wittfoth erhalten hatte, verband er mit einem Geschäftsbesuch die Gratulationsvisite und die Erkundigung bei Mimi, wie ihr die Ausfahrt bekommen sei. Er bat um die Erlaubnis, sie einmal ausführen zu dürfen, erzählte von seinen Zukunftsplänen, ließ durchblicken, daß er möglicherweise noch eine kleine Erbschaft von einer Tante erwarten könnte, und machte einen solchen Eindruck auf Mimi, daß sie »mit Vergnügen« seine Einladung annahm.
Von jetzt ab kam Herr Pohlenz häufiger, zur Verwunderung Frau Carolinens, die jedoch nicht lange im Unklaren über die Veranlagung zu diesem Geschäftseifer des Stadtreisenden blieb.
Sie war beleidigt von dem Gleichmut, mit dem Herr Pohlenz ihren Verlust, den Verlust seines »ganzen Lebensglückes,« wie er es damals nannte, ertrug, und war entrüstet über Mimi.
Hatte diese nicht Hermann »Avancen« gemacht? Und nun band sie mit diesem Gecken an, weil er Geld hatte.
Was würde Hermann sagen, der arme Junge. Sie mochte gar nicht daran denken. Wenn nicht in diesen Tagen ihre Verlobungsfeier stattfinden sollte, an der sie nur vergnügte Gesichter um sich sehen wollte, so würde sie Hermann schon jetzt die Augen öffnen. Aber nachher sollte er auch keinen Augenblick länger über Mimis Doppelspiel im Dunkeln bleiben.
Dem Mädchen selbst wagte sie keine Vorwürfe zu machen. Es war ihr peinlich, sich darein zu mischen. Wenn sie nun die Entrüstete spielen wollte, sähe es nicht aus, als ob sie sich über den Entgang der vierzigtausend Mark ärgerte? Wie Neid, Mißgunst?
Nein, sie ließ der Sache ihren Lauf. Mochte Hermann sehen, wie er mit Mimi fertig würde. Im Grunde wäre es ja nur ein Glück, wenn er diese Person nicht bekäme.
»Stich hält sie doch nicht,« schalt sie bei sich.
Hermann hatte nach der Buxtehuder Tour einige mißvergnügte Tage. Mimis freies Benehmen, ihre Liebenswürdigkeit gegen Pohlenz, über den sie doch sonst bei jeder Gelegenheit die Schale ihres Spottes ausgoß, hatten ihn tief verstimmt. Immer mehr kam er zur Erkenntnis ihres oberflächlichen Charakters. Aber ihrem sinnlichen Reiz konnte er sich nicht entziehen. Seine Eifersucht blendete seinen klaren Blick und verwirrte seine Entschlüsse.
Dieser faden, beschränkten Krämerseele sollte er weichen?
Statt den Kampf mit dem Verachteten aufzunehmen, zog er sich erbittert zurück, und glaubte, Mimi durch Vernachlässigung strafen zu können. Aber diese Strafe traf nur ihn selbst. Er litt sehr. Er sehnte sich, sie zu sehen, sich auszusprechen. Doch wann würde er sie bei der Tante einmal sprechen können, ohne Störung?
So wollte er sie denn um eine Zusammenkunft bitten.
Aber wenn sie merkte, was er wollte, und nicht käme?
Das beste wäre, er spräche sich gleich brieflich mit ihr aus.
Und so schrieb er denn:
Liebes Fräulein!
Die Gefühle, die mich beseelen und die ich nicht länger zum Schweigen verurteilen kann, drücken mir die Feder in die Hand. Habe ich nötig, das noch auszusprechen, was Ihnen, ich weiß es, schon lange kein Geheimnis mehr sein kann?
Mein ganzes Benehmen gegen Sie muß Ihnen längst bewiesen haben, wie unaussprechlich ich Sie liebe, und daß es das höchste Ziel meines Strebens, das Glück meines Lebens ist, Sie, teuerste Mimi, mein eigen nennen zu dürfen.
Ich wollte noch bis Michaelis warten, bis zur Aufbesserung meines Gehaltes, ehe ich Sie vor die Entscheidung stellte. Aber der Kopf denkt, und das Herz lenkt. Und mein Herz gehört Ihnen, hochverehrtes, inniggeliebtes Mädchen, wie auch immer Ihre Antwort ausfällt.
Verschmähen Sie meine Liebe nicht, werden Sie mein, und machen Sie namenlos glücklich
Ihren hoffenden
Hermann Heinecke.
Als Mimi den Brief las, überkam sie zuerst das Gefühl einer großen Bestürzung. Nun ward es ernst.
Dann aber kam die Eitelkeit zum Wort.
Sie las zum zweiten Mal und ward nun gerührt. Er war doch ein guter Mensch. Namenlos glücklich sollte sie ihn machen.
Mein Gott, es ist doch etwas Schönes um die Liebe. Sie barg den Brief in ihrer Tasche und brach in ein unterdrücktes Schluchzen aus.
»Nun, was ist Ihnen denn passirt?« fragte die Wittfoth, die sie bei diesem Ausbruch ihres im Grunde weichen Gemütes überraschte.
»Meine Freundin ist so krank«, stotterte Mimi.
»Ist es denn zum Sterben?« erkundigte sich Frau Caroline.
»Das nicht,« war die Antwort.
»Na, denn ist es ja noch immer Zeit zum Weinen,« tröstete die Wittfoth.
»Ich sag ja«, dachte sie, als Mimi bald nachher ihre Thränen getrocknet hatte. »Tief geht nichts bei der. Lachen und Weinen in einem Atem.«
»Na, Fräulein,« fragte sie mit leisem Spott, »es ist wohl man halb so schlimm?«
»Ach ja, ich erschrak mich nur so furchtbar«, gab Mimi zu.
»Dann schreiben Sie nu auch man gleich«, mahnte die Wittfoth gutmütig. »Ja, das wollte ich auch, heute Abend noch«, erklärte Mimi.
Und am selben Abend schrieb sie an Hermann:
Geehrter Herr Heinecke!
Wie schmeichelhaft mich Ihr wertes Schreiben berührt hat, brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Ich achte Sie hoch und glaube gewiß, daß Sie eine Frau so glücklich machen werden, wie sie es verdient, aber nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich nach reiflicher Erwägung zu dem Entschluß gekommen bin, Ihren werten Antrag nicht annehmen zu können, so gerne ich dieses auch möchte.
Ich meine ohne rechte Liebe ist es eine Sünde, wenn ich ja sagen wollte und im Herzen denke ich ganz anders. Nicht wahr, Sie verzeihen mir meine Ehrlichkeit? Es ist ein gar zu schwerer Schritt, den Sie von mir verlangen, und das Leben ist doch so furchtbar ernst. Es thut mich leid, Ihnen weh thun zu müssen, aber es giebt ja noch ganz andere Mädchen, als ich eine bin, und Sie werden gewiß noch einmal so glücklich, wie Sie es verdienen. Selbiges wünscht Ihnen von Herzen
Ihre Mimi Kruse.
Sie hatte diesen Brief zweimal geschrieben, da die erste Niederschrift ein Petroleumfleck verunzierte. Sie hatte sich beim Höherschrauben der Lampe die Finger beschmutzt und beim Umwenden des Briefbogens diesen befleckt.
Mit brennenden Wangen und fliegendem Atem las sie wiederholt ihr Schreiben und malte vorsichtig mit zitternder Hand noch einige vergessene U-striche hinein. Dann schloß sie den Brief in ein Couvert. Aber ihr fiel eine Nachschrift ein, und sie öffnete es wieder.
»Was die Geschenke anbelangt, die Sie so gütig waren mir zu schenken«, fügte sie hinzu, »so erlauben Sie mir wohl, dieselbigen als Andenken zu behalten. Nochmals meinen besten Dank für alles Gute.«
Sie nahm ein neues Couvert und versah es mit der Aufschrift.
Herrn Volksschullehrer
Hermann Heinecke
p. Adr.: Frau Ww. Thielemann
Hierselbst.
Raboisen 27, III.
Das große Sommerrennen in Horn hielt die ganze sportfreundliche Welt Hamburgs in Aufregung. Es waren besondere Festtage auch für alle die Straßen, durch welche die teilweise glänzende Korsofahrt nach und von dem Rennplatz ihren Weg nahm.
Auch in der Gärtnerstraße waren alle Fenster, Balkons und Verandas mit Schaulustigen besetzt. Auch die Wittfoth hatte Stühle und Schemel vor ihre Ladenthür auf das Trottoir gestellt, für sich und die beiden Mädchen.
Hermann, der sonst an einem dieser Tage zu kommen pflegte, war ausgeblieben. Er hatte sich überhaupt lange nicht bei der Tante sehen lassen, zu deren und Theresens großer Verwunderung. Nur Mimi wußte, warum er nicht kam.
Sie fühlte keine Reue über ihre Ablehnung seiner Werbung. Sie hatte sich nach Fertigstellung ihres Briefes, dessen nach ihrer Meinung elegante Redewendungen ihr nicht leicht geworden waren, mit dem Gefühl zur Ruhe gelegt, als hätte sie etwas Rechtes, etwas Großes gethan.
Am nächsten Morgen hatte sie nur noch das eine Gefühl der Neugier: Was wird er wohl sagen? Was wird er nun thun?
Pohlenzens Bemühungen um sie fanden einen fruchtbaren Boden. Schnell schoß das neue Verhältnis unter dem befruchtenden Segen der vierzigtausend Mark in die Halme, das bescheidene Grün der alten Beziehungen zu Hermann überwuchernd und erstickend.
Mimi hatte zum zweiten Renntag, dem Sonntag, eine Einladung von Pohlenz angenommen. Sie hatte am ersten Tag Hermann in Begleitung einiger Freunde vorbeifahren sehen, hatte jedoch Therese und deren Tante nicht auf ihn, der sich wie absichtlich abwandte, aufmerksam gemacht.
Ob sie ihn wohl auch am Sonntag auf dem Rennplatz treffen würde? Sie wünschte es beinah. Es wäre pikant. Auf jeden Fall würde sie an der Seite ihres neuen Verehrers dem Abgedankten imponieren.
Pohlenz wollte ein Cabriolet nehmen und selbst fahren. Hermann hätte sich das nicht leisten können, hätte auch wohl kaum zu fahren verstanden.
Den ganzen Tag lag ihr nichts mehr im Kopf, als diese mögliche Begegnung zwischen ihr und Hermann. Wie eine Theaterszene malte sie es sich aus.
Sie war nie beim Rennen gewesen und brannte vor Ungeduld. Sorgfältig beobachtete sie die Insassinnen der vorüberrollenden Equipagen und Mietsfuhrwerke und dachte sich an deren Stelle, vornehm nachlässig zurückgelehnt, chic gekleidet, alle Blicke auf sich ziehend.
Pohlenz hatte ihr ein neues Kostüm geschenkt, in dem sie ohne Frage gefallen würde. Sie hatte nach kurzem Bedenken diese »kleine Aufmerksamkeit« von ihm angenommen.
Ihn hatte sie gebeten, sich zu kleiden, wie damals in Buxtehude, und geschmeichelt hatte der überaus Eitle es versprochen. Er hatte ihr zu sehr in diesem Anzug gefallen. Er hatte so etwas exotisches darin. Reiche Brasilianer und indische Nabobs, Helden früher von ihr gelesener Romane, lebten in ihrer Erinnerung auf. Der tief brünette Pohlenz mit dem großen Panamahut, dem weißen Röckchen, eine seiner feinen Cigaretten rauchend, eigenhändig den schlanken Traber lenkend, sie neben ihm im neuen Kostüm, immer wieder kehrten ihre Gedanken zu diesem Bilde zurück.
Da fuhr Hermann vorüber in einer gewöhnlichen Droschke, etwas krumm, vornübergeneigt, wie immer, wenn er es sich bequem machte Er sah sehr blaß aus, wie übernächtig. Auch die drei Herren neben ihm waren keineswegs elegante Erscheinungen. Der eine erregte sogar ihre Heiterkeit durch eine geschmacklose kirschrote Krawatte.
Wie gewöhnlich das ganze Fuhrwerk aussah. Sie möchte sich nicht darin unter diese eleganten Equipagen mischen.
Hermann hatte Mimi schon von weitem auf ihrem Schemel stehen sehen, neben seiner kleinen Tante, die einen Stuhl erklettert hatte, um besser sehen zu können. Rechtzeitig wandte er sich ab, um nicht ihrem Blick zu begegnen.
Ihre Absage hatte ihm sehr weh gethan. Er liebte sie wirklich und konnte sie nicht vergessen. Selbst der ungebildete Stil ihres Schreibens, der kleine grammatikalische Schnitzer, beleidigten ihn nicht. Es war ihm ja nicht unbekannt, daß ihre Bildung keine lückenlose war, ihr Charakter nicht ohne Schwächen. Aber welches Weib hat nicht seine Schwächen. Vom Weibe verlangt man etwas anderes, als Charakter und Grammatik. Eine vollkommene Frau hätte ihn gar nicht gereizt. Er hatte es sich so schön geträumt, Mimi allmählich zu erziehen, zu veredeln, die schlummernden guten Anlagen zu wecken.
Der Traum war aus.
Hermann mied das Haus der Tante seit Mimis Brief. Er suchte Zerstreuung und überredete auch seine Freunde, gemeinschaftlich das Rennen zu besuchen. Er hoffte die Geliebte dort oder beim Vorüberfahren zu sehen. Er malte sich eine Begegnung aus: Kühler, höflicher Gruß von seiner Seite, mit einem leisen Anflug von Schmerz. Farbe der Resignation. Männliche Gefaßtheit. Sie errötend, dann erblassend, mit dem bekannten schnippischen Wurf ihres hübschen Köpfchens die Sache schnell und geringschätzig abthuend.
Einen Augenblick hatte er geglaubt, das Spiel noch nicht verloren geben zu sollen. Mimi würde sich wohl noch besinnen, er müsse ihr Zeit lassen. Sie wäre auch gar zu wenig vorbereitet gewesen.
Vielleicht bedauerte sie schon ihre Abweisung seines Antrags, der nur edle selbstlose Motive zu Grunde lagen. Das Leben ist so furchtbar ernst, hatte sie geschrieben. Sie war nicht schlecht, sie hatte ein gutes Herz. Vielleicht empfand sie auch selbst ihre Unbildung und glaubte, nicht für ihn zu passen. Und er sah sie in Gedanken blaß, traurig, weinend in ihrem engen Stübchen sitzen, das ihm immer ihrer so wenig würdig vorgekommen war.
Aber solchen Illusionen konnte er sich nicht länger hingeben, seitdem ihm einer seiner Freunde auf Ehre versicherte, Mimi mit Herrn Pohlenz Arm in Arm, im Zoologischen Garten getroffen zu haben.
Also doch! Im Grunde glaubte er ja auch selbst nicht an seine Beschönigungen. Warum sich belügen? Sie war eine Kokette, seiner nicht wert. Er mußte sie vergessen.
Als er sie jedoch am zweiten Renntage auf dem Rennplatz wieder traf, an der Seite des verachteten Nebenbuhlers, entflammte aufs neue der heftigste Schmerz in ihm.
Mimi sah auch entzückend aus. Er hatte sie nie in diesem Kostüm gesehen. Es musste ganz neu sein und schien ihm über ihre Verhältnisse zu gehen. Sollte sie sich bereits von dem Probenreiter kleiden lassen?
Mimi trug ein enganschließendes, taubengraues Kleid von vornehmer Einfachheit. Eine leuchtende rote Rose schmückte die anmutig volle Büste. Ein kleiner runder, grauer Herrenfilz mit weißem Taubenflügel saß kokett auf dem hübschen Blondkopf.
Und nichts von Trauer, Gedrücktheit oder Nachdenklichkeit lag auf diesem frischen, lebhaften Mädchengesicht. Das war ganz die muntere, sorglose, genußfreudige Mimi, die ihn immer so bezaubert hatte mit ihrer Lebenslust.
Er mußte sich zusammennehmen, damit der aufwühlende Schmerz ihm keine Thränen entlockte, der Schmerz und die Wut auf den verhaßten Sieger. Er trennte sich von den Freunden, um aus Mimis Nähe zu kommen.
Die Tribüne verlassend, traf er auch die Behnsche Familie, die vom Wagen aus dem Derby zusah. Er grüßte hinauf, ohne von den ganz von der Sportlust in Anspruch Genommenen einen Gegengruß zu erhalten. Nur von Lulu erhaschte er einen matten, ausdruckslosen Blick.
Es fiel ihm auf, wie blaß das Mädchen aussah, fast leidend.
Seit ihrer Tanzbodenbegegnung hatte er Lulu nur dann und wann flüchtig am Fenster gesehen, von der Wohnung der Tante aus. Er hatte sich damals seine eigenen Gedanken über sie gemacht, nicht zu ihrem Vorteil. Er hatte keine hohe Meinung von ihr. Ein leichtsinniges Mädchen, das sicher auch andere Vergnügungen nicht verschmähen würde, wenn es sich nicht für zu gut hielt, mit diesem Droschkenkutscher die Tanzböden zu besuchen.
Auch in dem kleinen Kreis der Tante Wittfoth herrschte keine andere Ansicht über Lulu. Er hatte immer nur geringschätzig über sie sprechen hören.
Was stimmte ihn nun auf einmal so günstig für das Mädchen? Wie Mitleid überkam es ihn. Sie hatte so bedrückt, so unglücklich ausgesehen.
Seine Einbildungskraft suchte nach Ursachen, anknüpfend an jenes Ottensener Abenteuer und auf dem Faden ihres Verhältnisses zu Beuthien allerlei romantische Vermutungen aufreihend.
Er wird sie betrogen haben, dachte er, und lachte bitter auf: Tout comme chez nous, mit vertauschten Rollen.
Es that ihm wohl, eine Leidensgefährtin in Lulu zu haben, wenn auch nur in seiner Einbildung. Er wog Lulu gegen Mimi und gab ihr den Preis vor dieser, mit einer Art schmerzlichen Wollustgefühls befriedigter Rache.
Lulu war ihm das Opfer ihrer Liebe, ihrer Leidenschaft, Mimi eine herzlose, oberflächliche Kokette, eine käufliche Dirne.
Ja, eine Dirne war sie, verkauft hatte sie sich diesem Affen, diesem Knopfkrämer.
Wie ekel war ihm das Leben, wie schal, wie kindisch erschien ihm das ganze Treiben hier, diese Hetzjagd um den Preis, dieses Wetten und Spielen.
Er kam sich einsam unter der Menge vor. Er strebte dem Ausgang zu.
Da ward ihm ein Gruß.
Es war Beuthien, der mit anderen Rosselenkern zusammenstand, jeder ein halbgeleertes Bierseidel in der Hand, fachmännische Gespräche mit derben Witzen würzend.
Wie roh sahen die Leute aus. Selbst Beuthien, der alle um Haupteslänge überragte, von Hitze und Biergenuß gerötet, stieß ihn ab. Lulus Geschmack war ihm unverständlich.
Und doch, was wollte er denn?
Kaufkraft und Muskelkraft, das sind ja die Kräfte, vor denen die Weiber Respekt haben.
Lulu Behn hatte sich vergeblich gesträubt, mit zum Rennen zu fahren. Sie hatte Kopfschmerz vorgeschützt, ihr häufiges Uebel, aber der Vater hatte es nicht gelten lassen wollen und gemeint, das gäbe sich unterwegs, in frischer Luft, am besten.
So gutmütig er war, so verlangte er doch von anderen dieselbe Härte gegen kleine körperliche Unbequemlichkeiten, die er gegen sich selbst übte.
Lulu, um nicht unnötige Besorgnis zu erregen, die ihr aus guten Gründen gefährlich schien, gehorchte und nahm ihren Sitz in der offenen Droschke neben der Mutter ein, während Paula mit dem Vater auf dem Rücksitz Platz nahm.
Es war dieselbe Droschke, in der sie mit Beuthien ihre häufigen heimlichen Fahrten gemacht hatte, der alte wohlbekannte Braune, und, was ihr das Schrecklichste, war, Wilhelm fuhr selbst.
Nach jenem Besuch des Horner Wäldchens hatten sie sich erst einmal wieder gesehen. Beuthien wich ihr aus, und sie schämte sich vor ihm. Dieses eine Mal aber mußte sie ihn sprechen, um ihm zu sagen, was sie befürchtete.
Er hatte sie ausgelacht und ihr allerlei Ratschläge gegeben und die Geängstigte beruhigt.
Wie er es so leicht nahm und so zuversichtlich sprach, ward auch sie gefaßter. Beuthien würde sie nicht sitzen lassen, er würde sie heiraten.
Heute aber fuhr sie mit der Gewißheit des ihr Bevorstehenden durch die bunte Menge nach Horn hinaus, in der Stimmung eines Verbrechers, der nach dem Schauplatz seiner That geführt wird.
Wie meisterlich sich Beuthien beherrschte. Nicht einmal errötet war er, als Lulu mit leichtem Neigen des Kopfes an ihm vorbei in den Wagen stieg. Und wie gleichmütig er dort oben auf dem Bock saß, und wie sicher er seinen Gaul durch das Gewirr der Fuhrwerke lenkte.
Der alte Behn wurde unterwegs doch besorgt, als Lulu mehrmals die Augen schloß und sich erblassend zurücklehnte.
»Willst Du doch aussteigen?« fragte er. »Du kannst noch bequem mit der Pferdebahn zurückfahren.«
Sie wehrte ab. Sie wollte es jetzt durchsetzen. Beuthiens stoische Ruhe hatte sie geärgert, und sie wollte es ihm nachthun.
Bevor der Weg nach dem Rennplatz abbog, sah sie in der Ferne jenes Wäldchen liegen, wie ein niedriges, schwarzes Buschwerk ragte es über die welligen Felder hinweg.
Ob er hinüber sah?
Sie beobachtete ihn, aber er hatte keinen Blick für die Umgebung. Er mußte seine ganze Aufmerksamkeit auf das Fahren richten.
Sie aber mußte immer wieder hinüber sehen nach dem schwarzen Fleck dahinten, über dem jetzt eine einzelne weiße Wolke, wie ein fabelhaftes Ungetüm, schwebte.
Wie unheimlich diese einsame Wolke aussah. Wie verloren schwebte sie im blauen Luftmeer, wie ein verschlagenes Segel im grenzenlosen Ocean.
Ein wunderliches, nie gekanntes Gefühl der Vereinsamung überkam Lulu. Mühsam beherrschte sie sich.
»Was guckst Du immer nach der Wolke?« fragte Paula.
Lulu schrak zusammen.
»Ich?« fragte sie. »Das ist doch man so.«
Sie wußte es kaum, daß sie beständig dort hinüber starrte.
»Lulu trinkt nachher etwas Selterwasser«, meinte die Mutter. »Das frischt ihr auf.«
Der Vater wollte sie jetzt mit der Droschke zurückschicken, Beuthien sollte dann zum Schluß des Rennens zurückkommen.
Fast heftig lehnte Lulu ab. Um keinen Preis wäre sie jetzt mit ihm allein gefahren.
Ein dumpfer Widerstand gegen seine Macht über sie begann sich seit ihrer letzten Unterhaltung zu regen.
Er kam ihr so anders vor, als sonst. Es war ihr, als sähe sie schärfer, wie durch ein Vergrößerungsglas.
Zuerst fielen ihr die vielen Fältchen unter den Augen auf, und das häufige nervöse Zucken der Lider. Eine kleine warzenartige Erhöhung auf dem Rand der linken Ohrmuschel, die sie nie gesehen zu haben meinte, drängte sich ihren Augen förmlich auf. Die breite Hautfalte über dem kräftigen gebräunten Nacken, dicht unter dem kurzgehaltenen schwarzen Haar, gab seinem Kopf, von hinten gesehen, etwas brutales.
Sie hatte während der ganzen Fahrt fast immer diese wulstige Nackenfalte ansehen müssen, und den etwas fettigen Kragen seines Rockes.
Wie garstig!
Als sie jedoch auf dem Rennplatz, mit einem flüchtigen Blick vom Wagen aus, ihn zwischen seinen Kollegen stehen sah, stattlich vor allen, und sah, wie er in einer kurzen scherzhaften Balgerei seine überlegenen Kräfte anstrengungslos brauchte, fühlte sie sich wieder auf seinem Arm, wehrlos seinem Willen unterworfen, und wie eine glühende Welle stieg das alte Gefühl für ihn wieder in ihr auf.
Teilnahmlos verfolgte sie das Rennen, nur mit sich beschäftigt. Die vorgeschützten Kopfschmerzen hatten sich nun wirklich eingestellt, infolge der Gemütsbewegung und der Hitze, die auf dem freien Felde herrschte. So war sie froh, als man sich für den Heimweg rüstete.
Auf der Rückfahrt gab der Ausfall der verschiedenen Rennen Stoff zur lebhaften Unterhaltung, in die auch Beuthien hineingezogen wurde. Man hatte nicht trockenen Gaumens in der Sonne des Sommernachmittags ausgehalten, und das genossene Getränk hatte namentlich auf Paula seine erregende Wirkung nicht verfehlt.
Sie hatte gebeten, bei Beuthien auf dem Bock sitzen zu dürfen, und der alte Behn war froh gewesen, erhitzt wie er war, die Breite des Sitzes für sich allein benutzen zu können.
Paula, schon von Natur nicht mundfaul, war infolge der genossenen Anregungen beständig im Schwätzen mit Beuthien, der sich an dem Mädchen ergötzte, das ihn oft mit so eigentümlichen leuchtenden Blicken anblitzte.
»Die wird noch mal«, dachte er. »Zwei Jahre weiter spielen wir mit.«
Der große, derbknochige Backfisch mit den fliegenden blonden Haaren, dem weißen, sommersprossigen Teint, den breiten sinnlichen Lippen und dem runden, festen Kinn, versprach, sich mehr nach seinem Geschmack zu entwickeln, als Lulu es gethan, deren weiche, kraftlose Formen ihn nicht auf die Dauer reizten.
Paula sah heute besonders vorteilhaft aus mit ihrer leuchtenden roten Bluse und der gleichfarbigen Federgarnitur des weißen Strohhutes.
»Brennende Liebe« taufte die Mode poetisch dieses flammende Rot.
Lulu sah das vertrauliche, lustige Plaudern der beiden und ward plötzlich eifersüchtig.
Es war nicht Paula, »das dumme Gör«, die sie fürchtete, aber in der Schwester personifizierte sich ihr die Gefahr, die ihr möglicherweise von anderer Seite drohen könnte.
Wenn Beuthien sie verließe?
Wieder kam einer jener Momente über sie, wo sie mit grauenhafter Deutlichkeit in die Zukunft sah. Entweder Schande, oder seine Frau, Kutschersfrau.
Wenn er sie nun nicht heiraten wollte, würde ihr Vater ihn zwingen? Würde er ihn als Schwiegersohn anerkennen?
Sie schloß die Augen, als könne sie sich dadurch gegen alles Widerwärtige absperren.
Stumpfsinnig hatte sie in den letzten Tagen dahingelebt. Das wollte sie weiter, die Sache an sich herankommen lassen. Es war ihrer Natur am angemessensten, sich treiben und schieben zu lassen. Mochte es gehen, wie es ging.
Aber dann störte wieder ein Blick auf Paula sie auf, die mit ihrer »brennenden Liebe« so auffallend dort oben paradierte. Die meisten Blicke aus dem Publikum galten dem »feurigen« Backfisch auf dem Kutscherbock, nur einige Offiziere, die in einem leichten Jagdwagen ihre Droschke überholten, musterten fast auffällig das blasse Mädchen in der weißen, gürtelumschlossenen Bluse, das mit so müden Blicken vor sich hinstarrte.
Lulu hatte kein Auge für die Herren. Sie war ganz mit sich beschäftigt. Etwas wie Haß auf die Schwester regte sich, die noch immer Beuthien mit ihrem naiven Geschwätz unterhielt, unschuldig, ein Kind noch, und doch schon seit jenem Tanz mit ihm mit einem Fuß in dem verbotenen Garten, von dessen Früchten sie selbst bereits genascht hatte.
Ein häßlicher Gedanke stieg in ihr auf und sprach sich in einem kurzen, höhnischen Blick aus.
Lach nur, mein Kind, dachte sie. Auch deine Zeit kommt.
Fräulein Mimi Kruse machte nach den Renntagen ihre Verlobung mit Herrn Emil Pohlenz bekannt und kündigte ihre Stellung bei der Wittfoth.
»Hab ich's nicht gleich gesagt?« meinte die Tante. »Mir such einer was zu verheimlichen.«
»Es war vorauszusehen«, betätigte Therese. »Wenn sie sich leiden mögen, kann man sich ja nur darüber freuen.«
»Meinen Segen haben sie«, sagte die Wittfoth. »So eine, wie Mimi, bekommen wir schon wieder.«
»Na«, zweifelte Therese. »Mimi war doch eigentlich im Geschäft recht tüchtig.«
»Alles was recht ist«, gab die Tante zu. »Das heißt, vergeßlich ist sie doch man, und nachräumen muß man ihr alles.«
»Ja, wo findest du eine ohne Fehler, liebe Tante.« Ein häßlicher Husten, der sie seit der Buxtehuder Ausfahrt quälte, unterbrach stoßweise Theresens Worte.
»Das ist auch man ebenso viel, zu ersetzen ist jede«, behauptete Frau Caroline. »Mich ärgert man bloß, daß das dumme Ding solch Glück hat. Aber man ist ja wohl eigentlich schlecht, so was zu sagen. Ich meine auch man bloß. Ich will ihn ihr nicht nehmen, und wenn sie ihn auf'n Teller bringt.«
»Du hast ja schon Dein Teil«, lachte Therese. »Am Ende hätte ich noch Onkel Pohlenz sagen müssen. Da ist mir doch Onkel Beuthien lieber.«
»Mich amüsiert man, daß wir nun doch noch 'ne Doppelverlobung zu Stande gekriegt haben. Nu mach auch man Anstalten«, meinte die Wittfoth.
»Ich werde Wilhelm einen Antrag machen«, scherzte Therese etwas verlegen. Die unzarte Bemerkung der Tante that ihr weh, für sie war ja das Verloben und Heiraten »nicht erfunden«, sie durfte zusehen.
Und doch war sie ebenso liebebedürftig, hatte ein ebenso empfängliches Herz, wie Mimi und die so viel ältere Tante.
Ihre Neigung zu Hermann brannte wie eine Kerze, mit gleicher, ruhiger, sanfter Flamme, sich selbst verzehrend.
Zu stolz und zu klug, sich Illusionen hinzugeben, hatte sie ein für allemal auf Liebesglück verzichtet, wenigstens sich mit dem begnügt, das auch unerwiderte Liebe zu bieten vermag.
Sie hatte, fast zu frühzeitig, doch ihre Stunden waren ja sehr in Anspruch genommen, eine Handarbeit zu Hermanns nächstem Geburtstag angefangen, sein Monogramm in Gold, umrahmt von einem Veilchenkranz in blauer Seide. Auf schwarzem Atlas gestickt, sollte das Ganze einem Taschenbuch zur Zierde gereichen.
Emsig arbeitete sie daran, und die Liebe machte ihre solcher feinen Arbeiten ungewohnten Finger geschickt.
Wenn sie ihn doch öfter erfreuen könnte, für ihn arbeiten, sich ihm nützlich erweisen.
Als er neulich einmal, ärgerlich über seine saumselige Wirtin, der Tante einige Strümpfe zum Stopfen brachte, war sie erfreut gewesen, dieser die Arbeit abnehmen zu dürfen, und hatte sich in dieser fraulichen Thätigkeit für den Geliebten glücklich gefühlt.
Konnte sie selbst Hermann nicht besitzen, so gönnte sie ihn doch nur einer Würdigen, und seine Neigung zu Mimi hatte nie recht ihren Beifall gefunden.
Sie war Mimi herzlich gut, ihrer vielen liebenswürdigen Eigenschaften wegen, zu welchen auch ein rücksichtsvolles, zartes Benehmen gegen die kränkliche Freundin gehörte, aber für Hermann schien sie ihr doch nicht die rechte Frau zu sein. Schon der Unterschied der Bildung machte sie bedenklich.
Freilich, sie selbst war auch kein Kirchenlicht, aber Mimi hatte ja nicht mal fürs Lesen Interesse, und die Bücher waren nun doch einmal Hermanns Rüst- und Handwerkszeug.
So war Therese denn im Grunde nur erfreut gewesen, daß Mimi durch ihre Verlobung mit Pohlenz das Verhältnis zu Hermann endgiltig abgeschlossen hatte.
Hermann, dieser liebenswürdige, gescheute, feine Mensch, würde gewiß bald ein anderes Mädchen finden, das ihn besser zu schätzen wüßte und ihn Mimi vergessen machte.
Sie billigte es, daß er nach Empfang des Korbes stolz vermied, mit dieser zusammen zu treffen, so schmerzlich sie selbst ihn vermißte. Wenn Mimi erst aus dem Hause wäre, würde ja wieder alles anders werden. Er würde sich wieder, wie früher, ihr allein widmen, ihr vorlesen, sie belehren und fördern. Wie freute sie sich darauf.
Die Tante hatte der Verlobten etwas spöttisch gratuliert und allerlei Bemerkungen von »stolz werden«, »vornehme Dame« und »einfachen Kellersleuten« fallen lassen, worauf Mimi ganz gekränkt ausrief: »Aber nein, Frau Wittfoth, wie reden Sie nur so«, und in Thränen ausbrach.
»Na, Herrjeses, was hab ich denn gesagt?« that die Wittfoth pikiert.
»Mimi vergißt uns nicht«, suchte Therese zu vermitteln. »Ohne uns hätte sie ihr Glück nie gemacht. Wenn ich Herrn Pohlenz nun gekapert hätte, oder Du, Tante hättest ihn ihr weggeangelt, was denn? Mimi muß uns ewig dankbar sein.«
Diese lustigen Worte brachten wieder Sonnenschein, und Mimi beteuerte, sie würde Zeit ihres Lebens an die schönen Jahre zurückdenken, die sie in diesen Räumen verlebt hätte.
»Auch an einen?« drohte Therese mit dem Finger, da die Tante das Zimmer verlassen hatte.
Mimi errötete. Dann aber legte sich eine feine Trotzfalte zwischen ihre Brauen.
»Ich konnte Herrn Heinecke nicht heiraten.«
»Das muß jeder selbst wissen, liebe Mimi. Das kann niemand von Ihnen verlangen«, versetzte Therese auf dies Geständnis. »Eine Ehe ohne Liebe denke ich mir entsetzlich.«
»Nicht wahr?« stimmte Mimi bei. »Dazu ist das Leben doch auch zu furchtbar ernst. Wenn ich Emil nicht liebte--«
»Dann werden Sie auch gewiß glücklich mit ihm,« unterbrach Therese sie schnell. »Hermann ist auch noch viel zu jung zum Heiraten«, fuhr sie fort. »Ein Lehrer mit seinem kargen Anfangsgehalt sollte noch nicht daran denken.«
»Das sage ich auch«, eiferte Mimi. »Was kostet das nicht alles! Pohlenz sagt auch, mit dreitausend Mark möchte er nicht heiraten.«
»Das kommt nun auf die Ansprüche an«, meinte Therese.
»Natürlich. Mit wie wenigem kann doch der Mensch eigentlich auskommen, wenn er nur will.«
»Sie werden nun Ihr gutes und reichliches Auskommen haben, liebe Mimi.«
»Ja, das haben wir nachher. Emil kann es ja«, sagte Mimi. »Ich hoffe, Sie besuchen uns denn auch mal.«
Frau Caroline hatte die Vorbereitungen zu ihrer Verlobungsfeier mit erklärlichem Eifer getroffen. Außer dem unvermeidlichen Platenkuchen hatte sie einen Puffer gebacken, groß genug, um die ganze Nachbarschaft abfüttern zu können. Trotzdem stand sie nicht davon ab, auch noch bei ihrem Brotträger einen gefüllten Kringel zu bestellen. »Der Mann soll auch was davon haben«, sagte sie.
»Aber wo sollen wir mit all dem Kuchen hin, liebe Tante«, wandte Therese ein.
»Man keine Angst, der wird schon alle werden. Kuchen muß sein«, erklärte die Wittfoth. »Wenn mal, denn mal. So'n powern Kram mag ich nicht.«
Die Feier dieses wichtigen Ereignisses war bis nach Mimis Abgang aufgeschoben worden, um Hermanns Teilnahme zu ermöglichen. Auch einem auswärtigen älteren Bruder des Bräutigams, der nicht früher hatte abkommen können, wurde auf diese Weise Gelegenheit gegeben, mitzufeiern.
Onkel Martin, ein kleiner Hufner in der Nähe von Oldesloe, kam denn auch schon am Morgen des Familienfesttages mit dem Frühzug an, mit ihm ein geräumiger Korb mit Eiern, Würsten und Speck.
»Min Lowise wär gor to girn mit kamen«, entschuldigte er seine Frau. »Aber de Lütt is erst veer Wochen, nu Se weten wull.«
»Na, gratuleer ok!« rief die Wittfoth. »In Se ehr Oeller.«
»Jau, eenunsöstig is 'n Oeller«, meinte er bedenklich.
»Wo veel hebbt Se denn, Beuthien?« fragte Frau Caroline.
»Neegen Stück.«
»Herr des Lebens! Therese«, rief die Wittfoth in die Küche hinein. »Denk Dir, Herr Beuthien hat neun Kinder.«
»Neun?« lautete die verwunderte Rückfrage.
»Und all fix und gesund, min Dochter«, sagte der Alte. Und als Therese in ihren Husten ausbrach, der sie noch immer hartnäckig belästigte, meinte der gutmütige Mann, sie solle nur mal zu ihm aufs Land kommen, da könnte sie sich mal ordentlich »rausessen«.
»Satt kriegt sie hier auch«, sagte Frau Caroline pikiert. Sie war in dieser Hinsicht etwas empfindlich.
»Glöw ick, glöw ick«, beruhigte Onkel Martin. »Aber de Hosten, de oll Hosten, de geföllt mi nich.«
»Ja, ich weiß gar nicht, was das mit dem Husten ist«, klagte die Tante. »Das geht nun schon wochenlang so. Wir müssen wirklich mal nach'n Arzt schicken.«
»Arzt! Arzt!« rief der alte Mann. »Wat sall de Keerl? Luft, frische Luft möt se hebben.«
»Bei Ihnen is es auch viel zu stickig, nehmen Sie mir das nich übel«, setzte er hinzu.
»O, Tante sitzt am liebsten bei offenen Thüren und Fenstern,« erklärte Therese, »aber meine Erkältung verträgt den Zug nicht.«
»Soll sie auch nicht«, entschied Onkel Martin. »Zug is schädlich. Aber frische Luft, de hätt noch keenen Minschen umbrögt.«
»Sag ich das nicht immer?« rief Frau Caroline. »Aber alles will immer gleich sterben, wenn ich nur mal die Thür aufmach. Mir soll's gleich sein. Ich sag nichts mehr.«
Nachmittags um fünf Uhr wurde das Geschäft geschlossen, das heißt, die Vorhänge vor den Schaufenstern wurden herabgelassen. Da der einzige Zugang zur Wohnung durch den Laden führte, mußte dieser geöffnet bleiben.
Um nun jede Störung durch Käufer fern zu halten, hatte Tetje Jürgens den Vorschlag gemacht, ein Plakat drucken zu lassen, mit der Aufschrift: Dieses Geschäft ist heute von fünf Uhr Nachmittags an wegen Verlobung der Inhaberin geschlossen.
Aber sein praktischer Vorschlag drang nicht durch.
Eine große Freude war es der Wittfoth und namentlich auch Therese, daß Hermann zugesagt hatte, zu kommen.
Sonst waren nur noch Tetje Jürgens nebst Frau Gemahlin gebeten.
Tetje, wie er kurz bei seinen Freunden hieß, versprach am Abend nachzukommen, da er seine Wirtschaft nicht den ganzen Nachmittag dem Mädchen und dem Kellner alleine überlassen mochte, für den Abend aber eine Schwester seiner Frau nach dem Rechten zu sehen versprochen hatte. Frau Sophie aber wollte sich schon zum »Puffer« einstellen.
Auch Wilhelm Beuthien hatte sich fürerst entschuldigen lassen müssen. Er hatte eine Fahrt nach Blankenese nicht abweisen können, da es sich um gute Kunden handelte, und war erst gegen acht Uhr zurückzuerwarten.
Frau Caroline hatte keine Mühe gescheut, es ihren Gästen gemütlich zu machen. Im Wohnzimmer war jeder Flicken, jedes Fädchen, jede Erinnerung an Geschäft und Arbeit, sorgfältig entfernt worden. Ein Bouquet Rosen und Reseda, mit dem Therese schon am frühen Morgen die Tante überrascht hatte, prangte in einer weißen Biskuitvase inmitten der in einem Kreis arrangierten Kaffeetassen, zwischen den Kuchenbergen und der Zuckerschale.
Reine Gardinen und sauberstes Tischzeug verstand sich bei der Reinlichkeitsfanatikerin, als welche Frau Caroline sich gerne ausgab, von selbst, ebenso die frisch gewaschenen, gehäkelten Sofaschoner, Hermanns größter Aerger. »Pfingstlappen« hatte er sie getauft, weil die Tante einmal an diesem hohen Festtag sämtliche Sitzmöbel mit solchem Zierat behangen hatte.
Im »besten« Zimmer war die Herrichtung fast blendend. Hier prangte mitten auf dem runden Sofatisch in einer blauen Sevre-Vase ein geschmackvoll gebundenes Bouquet aus roten und weißen Rosen, das der galante Bräutigam geschickt hatte. In einer gleichen Vase auf dem Spiegelschrank stand protzend ein mächtiger Strauß buntfarbiger Georginen, den Onkel Martin seinem ländlichen Garten entnommen hatte. Auch auf dem Fensterbrett prunkten in Wassergläsern kleinere Bouquets und ein vom Krämer gespendetes rosagarniertes Blumenkörbchen. Der praktische Mann hatte geglaubt, der Kundschaft wegen doch auch etwas thun zu müssen. Die angeheftete Visitenkarte trug unter seinem Namen Gotthilf Ochs zwischen zwei Ausrufungszeichen ein flott geschriebenes »!Viel Glück und Heil!«
Den zierlichen, geschnitzten Rauchschrank, eine Hinterlassenschaft ihres Seligen, hatte Frau Caroline mit Cigarren gefüllt, die Hermann hatte besorgen müssen.
Als die kleine Gesellschaft, außer Tetje und Wilhelm, um den Kaffeetisch versammelt war, traf noch ein Bouquet von auffallendem Umfang ein, mit Spitzen und Schleifen garniert.
Ein allgemeines Ah des Entzückens empfing die wundervoll duftende Gabe.
Hermann, der sie dem Boten abgenommen hatte, öffnete das beigegebene parfümierte Couvert.
»Mit herzlichem Glückwunsch von Emil Pohlenz nebst Braut«, las er von der kleinen Elfenbeinkarte ab.
»Liebe Tante.« Mit einer komisch sein sollenden Verbeugung überreichte er das Bouquet, dessen lautester und unermüdlicher Bewunderer.
Therese beobachtete ihn still.
Nachdem die Angriffskräfte auf die Kuchenberge erschöpft waren und auch die Unterhaltung über Wetter, Pferde, Kuchenbacken und den neuesten Raubmord auf St. Pauli ins Stocken kam, schlug Hermann einen kleinen Skat vor. Er sah wohl, daß die lange Zeit bis zum Abendessen sonst unerfüllbare Anforderungen an die geselligen Talente eines jeden stellen würde.
Die drei Herren zogen sich zum Spiel ins Nebenzimmer zurück. Der Cigarrenschrank wurde geöffnet, und Therese stellte einige Flaschen Löwenbier zur Hand.
Die Damen vertrieben sich die Zeit mit Häkeln, Albumbesehen und Küchengesprächen. Versiegten diese Quellen, waren die Fehler und Thorheiten der Nachbarinnen eine ergiebige Fundgrube interessantesten Unterhaltungsstoffes.
Die Krämersfrau war nun schon dreimal in vierzehn Tagen ins Theater gegangen. Eine Mutter von zwei kleinen Kindern hätte doch wahrhaftig andere Pflichten.
Die aus der zweiten Etage, die immer so vornehm that, kaufte neulich, Tante Tille hatte es mit ihren eigenen tauben Ohren gehört, für einen ganzen Pfennig Korinthen. Daß die Person sich nicht schämte. »Und dabei thut solch Volk, als ständen sie mit'n Bürgermeister auf Du und Du.«
Und als nun Frau Jürgens die »Behnsch« erwähnte, geriet Frau Caroline in eine kreiselnde Beweglichkeit.
»Wissen Sie schon das?« »Haben Sie schon dies gehört?« »Nu lassen Sie sich aber mal erzählen.« So schwirrte es durcheinander.
Es war eine Freude, wie gut die Zeit mit solchen angenehmen Gesprächen vertrieben wurde, und wie sehr die drei Damen in ihrer Lebensanschauung, in ihrem Urteil über Welt und Menschen übereinstimmten.
Nur Therese erlaubte sich dann und wann eine abweichende Meinung. Da sie sich jedoch sehr abgespannt fühlte und ihres Hustens wegen nicht viel sprechen wollte, ließ sie häufig fünf gerade sein und schwieg.
Auch das überlaute Sprechen, durch Tante Tilles Schwerhörigkeit bedingt, griff sie an. Sie ging ab und zu, machte sich mehr als nötig in der Küche zu schaffen und beobachtete das Spiel im Nebenzimmer, wo Hermann besonders vom Glück begünstigt wurde.
Auch einige Käufer, die sich von den herabgelassenen Vorhängen nicht hatten abschrecken lassen, beschäftigten sie zeitweilig.
Endlich kam auch Tetje Jürgens und gleich nach ihm Wilhelm. Die beiden nahmen die Plätze der Brüder am Spieltisch ein, und diese zogen sich zu den Damen zurück.
Die Gesellschaft erhielt allmählich einen immer nüchterneren Anstrich, hatte gar nichts Verlobungsfeierliches mehr. Es ward Zeit, daß man zur Hauptnummer des Festprogramms, den Tafelfreuden, überging.
Mit einigem Geräusch vollzog man den Umzug in das andere Zimmer.
Therese hatte die Tafel geschmackvoll arrangiert, die Bouquets zwischen dem kalten Aufschnitt und der süßen Speise geschickt aufgestellt und jedem Teller ein Extrasträußchen beigelegt.
Auf dem Sofa saß das Brautpaar, rechts von Frau Caroline Onkel Martin mit Frau Jürgens, links von dem Bräutigam Tante Tille und Tetje Jürgens, neben diesem Therese, Wilhelm gegenüber, dem sein Platz neben Frau Jürgens angewiesen worden war. Hermann hatte seinen Sitz unten am Tisch, zwischen Wilhelm und Therese, vor sich die Bowle, denn ihm war das Amt des Mundschenken übertragen worden.
Frau Caroline hatte für guten »Stoff« gesorgt, mit Hilfe Tetjes, der sich als Fachmann darauf verstand. Der Punsch war in der That vorzüglich und weckte gar bald die eigentliche Feststimmung.
Hermann brachte den ersten Toast auf das Brautpaar aus, dann folgte Rede auf Rede. Hermann sprach gern, etwas pathetisch und schulmeisterlich, mit reichlichem Citatenaufwand. Auch diesmal hatte er begonnen »Ehret die Frauen, sie flechten und weben«.
Tetje toastete auf Tante Tille, die erst von Frau Caroline darauf aufmerksam gemacht werden mußte, daß ihr das Hoch gelte. Wilhelm Beuthien, der im übrigen ziemlich wortkarg und zerstreut war, ließ die Damen leben, und selbst Onkel Martin schlug mit dem Messer an das Glas.
Er möchte doch auch ein paar Worte an die Brautleute richten und ihnen wünschen, daß es ihnen immer gut gehen möge, »in truge Fründschaft un Leev, un mit Gottes Segen.«
»Un upp de Nakommenschaft,« setzte er hinzu, als die Gläser aneinander klangen.
Die Stimmung ward immer gemütlicher. Hermann, der dem Punsch reichlich zusprach, hatte bereits mit Wilhelm Beuthien Duzbrüderschaft getrunken.
Tetje Jürgens hatte die alte Negendank sogar einmal mit »min oll söte Deern« angeredet, und Therese sich schon mehrmals die Stirn am Handstein in der Küche gekühlt, da sich Kopfschmerzen bei ihr einstellten.
Wilhelm Beuthien, dem anfangs schweigsamen, löste sich allmählich die Zunge, da Hermann ihm fleißig einschenkte, und er rückte mit allerlei gewagten Anekdoten und Rätseln heraus, die Tetje zu Theresens Aerger noch überbieten zu müssen glaubte.
Hermann, der den »Stoff« auf die Neige gehen sah, raunte der Tante seine Wahrnehmung zu.
Frau Caroline machte ein bedenkliches Gesicht und zuckte verlegen die Achsel.
Hermann erbot sich »die Sache schon zu machen«, und sie trug, gefolgt von ihm, die Terrine hinaus.
»Halt, wohin damit«, rief Tetje und folgte gleichfalls.
»In min Köök hebbt Se nix to söken«, drängte die Wittfoth ihn zurück und schloß die Thür.
Hier machte Hermann »die Sache« dann mit reichlicher Benutzung der Wasserleitung, einer Citrone und des letzten Restes einer von der Tante noch aufgefundenen Rumflasche.
Triumphierend trugen sie die neue Füllung auf den Tisch.
Vorsichtig probierte Tetje das erste Glas.
»Der schadt' nix, der is fromm«, lobte er ironisch, »für die Damens vielleicht noch 'n bischen zu feurig.«
Frau Caroline gab ihm einen leichten Klaps mit ihrer Serviette. Das bräutliche Glück und der genossene Punsch leuchteten ihr aus den kleinen Augen.
»Nu Musik«, meinte sie.
»Dat's 'n Wort«, rief Tetje, »Musik möten wie hebben.«
Man sprach schon seit geraumer Zeit meist platt.
»Wo hest Din Matrosenklaveer?« hieß es, und Wilhelm mußte seine Handharmonika holen. Es sollte getanzt werden. Man rückte Tische und Stühle zusammen und rollte den Teppich auf.
Wilhelm setzte sich hinter dem Tisch in die linke Sofaecke und begann den Spreewalzer zu spielen.
Das Brautpaar eröffnete den Familienball. Onkel Martin tanzte mit Frau Jürgens, und Tetje zerrte die sich sträubende Tante Tille einmal durchs Zimmer. Hermann tanzte abwechselnd mit seiner Tante und Frau Jürgens. Therese aber stand, an den Thürpfosten gelehnt, und sah, das Taschentuch, des Staubes wegen, vor den Mund pressend, mit müde flackernden Blicken und brennenden Backen zu. Sie fühlte sich sehr elend, klagte aber nicht, um die Fröhlichkeit nicht zu stören. Ihr Kopf schmerzte heftig, ebenso die Brust, infolge des anhaltenden Hustens, zu dem sie das viele Sprechen, der Staub und Tabaksqualm in den kleinen Räumen reizten.
Sie sehnte das Ende der Festlichkeit herbei, mußte sich aber noch vorher, von Abspannung überwältigt, zurückziehen.
Es war schon zwei Uhr nachts, als sich endlich auch die Tante zur Ruhe legte, beim Auskleiden die Leidende mit punschseliger Geschwätzigkeit quälend.
Der alte Behn war gleich nach dem Horner Rennen ins Bad gereist. Er pflegte alle zwei Jahre nach Karlsbad zu gehen. Aber als starker Esser stellte er den Erfolg seiner Kur gewöhnlich schon in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr auf eine Probe, die dieser nie bestand.
Die ganze Familie hatte ihm, wie immer, das Geleit an den Bahnhof gegeben.
Lulu, die in tausend Sorgen war, hatte das Gefühl, als wäre ein Aufpasser weniger im Hause. Sie atmete einen Tag lang auf. Schalt sich aber schon am nächsten thöricht. Wie lange konnte sie es denn noch verbergen? Ueber kurz oder lang mußte es zu Tage kommen, selbst wenn die Mutter blind wäre.
Wilhelm wich ihr gänzlich aus. Vergebens hatte sie eine Annäherung versucht, ihm auf der Straße aufgepaßt. Aber er hatte es ja so leicht, sie von seinem Bock aus zu übersehen, sie, schneller fahrend, hinter sich zu lassen.
Wollte er sich von ihr zurückziehen? Hatte er nur sein Spiel mit ihr getrieben?
Ihr schwindelte bei dem Gedanken.
Aber er sollte nicht glauben, sie wie jede andere Lise behandeln zu können.
Aber ihr Trotz, ihre Kampfstimmung hielt nicht lange vor. Sie war keine Heldin. Sie war nur stark im passiven Widerstand, im stumpfen Uebersichergehenlassen.
Nach den kurzen Augenblicken auflodernden Trotzes bemächtigte sich ihrer eine um so tiefere Niedergeschlagenheit.
Auf die Dauer konnte der Mutter Lulus verändertes Wesen nicht entgehen, die Ursache ihrer wechselnden Stimmung, ihres wechselnden Wohlbefindens nicht verborgen bleiben.
Sie hatte schon Verdacht, als sie sich noch immer schweigend, beobachtend verhielt.
Lulu, mit der Feinfühligkeit des schlechten Gewissens, merkte es der Mutter wohl an, daß diese sie erraten hatte.
Sollte sie ihr zuvorkommen, ihr alles gestehen?
Es drängte sie dazu. Aber der versteckte Trotz ihres Charakters erhob immer wieder Einsprache, unterstützt durch die Feigheit.
Lulu hatte ja auch mit der Mutter nie auf solchem Fuß gestanden, daß sie nun ein liebevolles Verzeihen, Mitfühlen, Verständnis, erwarten und beanspruchen durfte. Sie hatte der Mutter selten ein gutes Wort gegönnt, und sollte sich nun so vor ihr demütigen.
Ihre Seelenqualen wurden noch durch Paula vermehrt, die sich arglos beklagte, daß Wilhelm Beuthien sie gar nicht mehr beachte.
»Er thut immer, als sieht er mir nicht. Aber was ich mir dafür kaufe.«
Im Grunde aber ärgerte sich die Kleine sehr über Beuthien, dessen Benehmen sie sich nicht zu deuten wußte. Sie hatte sich etwas darauf eingebildet, daß er sie bisher überhaupt beachtet hatte. Es war ihr heimlicher Stolz gewesen. Nun sah er über sie hinweg, wie über jedes andere Schulmädchen. Ihre Eitelkeit war verletzt. Aber statt sich verschüchtert zurückzuziehen, setzte sie ihren Ehrgeiz darin, das verlorene Terrain wieder zu gewinnen. Beuthien war ihre fixe Idee. Sie verfolgte und beobachtete ihn und machte die Schwester, zu der sie in dieser Sache Vertrauen gewonnen hatte, zur Mitwisserin ihrer Entdeckungen.
»Du mit Deinem Beuthien«, rief Lulu dann manchmal gequält. »Was geht Dich Beuthien an.«
Aber sie war dann wenigstens froh, aus Paulas Antworten entnehmen zu können, daß diese keine Ahnung von ihrem Verhältnis zu Beuthien hatte.
Um so größer war ihre Angst vor der Mutter. Immer drängte sich das Geständnis auf die Zunge, aber immer schreckte sie wieder zurück. Und doch, irgend jemand mußte sie sich anvertrauen. Allein konnte sie es nicht mehr tragen.
Mehrmals schon war sie in ihrer Angst im Begriff gewesen, Minna, das Mädchen, ins Vertrauen zu ziehen. Einmal hatte sie sogar schon leichthin Andeutungen gemacht, aber Minna war zu dumm, zu »begriffsstützig.«
Nachher hatte Lulu sich gescholten. Schämte sie sich denn nicht, sich so gemein mit dem Dienstmädchen zu machen?
Dann aber kam der Tag, der allem ein Ende machte, ihr die Entscheidung aus der Hand nahm.
Frau Behn war ihrer Sache gewiß geworden und konnte nicht länger schweigen.
Im Comptoir des Vaters, unter vier Augen, sprachen sie sich aus.
Nur eine leise Andeutung der Mutter, ein fragender Blick, und Lulu brach in Thränen aus.
»Wo heet he?« fragte Frau Behn ruhig, aber energisch.
Lulu schwieg. Die Mutter schüttelte sie heftig am Arm.
»Wull Du reden. Wo heet de Keerl?«
Wo war Lulus Trotz? Wie ein Kind mußte sie sich schelten lassen?
Es war, als ob das Uebergewicht, das die sonst so schwache Frau plötzlich über die Tochter erlangt hatte, allem lange aufspeicherten Groll der Mutter die Riegel öffnete. Sie bebte vor Zorn.
»Wo heet de Keerl?« rief sie immer heftiger. »Ik will dat weten.«
Und als Lulu trotzte, »das sag ich nicht«, ohrfeigte sie sie.
»Das ist gemein«, fuhr Lulu auf.
»Was ist gemein?« Die Mutter rückte ihr fast auf den Leib. »Was ist gemein? Du, Du!«
Ein tiefes Erblassen, ein röchelndes Nachatemringen, ein unsicheres Umhertasten mit den Händen, und schwer sank Lulu an dem neben ihr stehenden Stuhl hin zu Boden.
Erschrocken sprang die Mutter zu. »Lulu! Kind!«
Sie riß die Thür auf und rief nach Minna und nach Wasser.
Das Mädchen brachte das Verlangte erstaunt.
»Is Fräulein krank?« fragte sie und half der Mutter, die Ohnmächtige auf den kleinen Lederdivan betten.
»Se is man beten flau«, war die Antwort. »Lat man dat Füer nich utgahn, hörst Du?«
Und Minna sah nach dem Herdfeuer, während Frau Behn der sich erholenden Lulu sanft über Stirn und Scheitel strich.
»Deern, Deern«, sagte sie vorwurfsvoll, aber mit weichem, warmem Herzenston. »Wat'n Sak, wat'n Sak.«
Seit dieser Stunde waren Mutter und Tochter ausgesöhnt, hatten sich wieder gefunden.
Die Verlobungsfeierlichkeit hatte Therese sehr angegriffen. Nach kurzem, unruhigem Schlaf war sie mit heftigem Husten und leichtem Schüttelfrost erwacht.
Frau Caroline war sehr besorgt.
Therese wollte durchaus aufstehen, da die Tante sonst den Tag über allein im Geschäft sein würde, denn das neue Fräulein sollte erst am andern Tage zugehen. Aber die Tante litt nicht, daß Therese das Bett verließ. Wenigstens wollte sie vorher mit dem Arzt sprechen.
Ein Kind aus der Nachbarschaft übernahm gern, für zwanzig Pfennig Botenlohn, diesen zu holen. Er kam und konstatierte eine Lungenentzündung. Therese müsse unter allen Umständen im Bett bleiben. Warum man nicht schon früher geschickt hätte. Auch dürfe die Kranke auf keinen Fall in dem dunklen feuchten Hinterzimmer bleiben. Er nahm die übrigen Räume in Augenschein und ordnete die Umbettung ins beste Zimmer an.
Frau Caroline war untröstlich und quälte Therese mit lautem Lamentieren.
Die gutmütige Frau scheute kein Opfer, aber es war ihre Art, alle Dinge zu vergrößern und über kleine Unbequemlichkeiten tagelang zu jammern.
»Was fang ich an. Wie sollen wir die Möbel umsetzen? Ich kann das nicht. Ich kann den schweren Schrank nicht tragen.«
Therese beruhigte sie, daß man Hilfe finden würde, niemand mute ihr zu, den schweren Schrank eigenhändig ins andere Zimmer zu tragen.
»Und wenn die Frieda uns nun sitzen läßt«, jammerte die Tante weiter. »Was soll ich anfangen. Alle Hände voll zu thun, und keine Hilfe.«
»Warum sollte Fräulein Frieda nicht kommen, liebe Tante?« tröstete die Kranke. »Du machst Dir viel zu viel unnötige Sorgen.«
»Du hast gut sprechen«, eiferte die Wittfoth. »Du liegst ruhig im Bett. Aber ich soll man alles allein fertig bringen. Die Küche sieht schon aus, daß ich mir die Augen aus'n Kopf schäme. Kein Stück ist rein.«
Therese schwieg. Sie wußte, daß in solchen Stunden mit der umständlichen Frau nicht zu reden war.
Natürlich ging alles besser, als Frau Caroline gedacht hatte. Vater Beuthien erwies sich beim Umsetzen der Möbel als treuer Bräutigam und Helfer in der Not, und auch Fräulein Frieda traf rechtzeitig ein, eine kleine schwarzäugige, bleichsüchtige Brünette, mit Anlagen zur Korpulenz.
Hermann, der sich zu erkundigen kam, wie das Familienfest den beiden Damen bekommen sei, erschrak, Therese bettlägerig zu finden. Er kam in der Folge öfter, und sie ließ es zuletzt zu, daß er vor ihrem Bett saß.
Sie befand sich nie besser, war nie hoffnungsfreudiger, als wenn er bei ihr war. Sie sprach mit Zuversicht von ihrer baldigen Genesung, und er unterstützte sie in diesem Glauben, obgleich er sehr besorgt war. Er sah sie abmagern, sah die kleinen roten Punkte auf den Wangen sich zu Flecken vergrößern.
Er hatte heimlich mit dem Arzt gesprochen, und der hatte ihm wenig Hoffnung gemacht. Die Schwindsucht, die bisher im Verborgenen geschlichen, wäre heftig zum Ausbruch gekommen, und es würde wohl schnell zu Ende gehen.
Hermann hatte der Tante nichts von seiner Unterredung mit dem Arzt gesagt, da er sie genügend kannte, um zu wissen, daß sie sich unverständigen, die Kranke schädigenden Gefühlsausbrüchen hingeben würde.
Frau Caroline erzählte überhaupt gern Krankengeschichten. Hatte jemand einen Schnupfen, so wußte sie unbedingt Fälle von tötlicher Ausartung dieser an sich gefahrlosen Erkältung. Bei einem Sterbefall erinnerte sie sich eines halben Dutzend anderer und wußte Ursache, Verlauf und Ende jeder Krankheit bis ins kleinste zu vermelden. Auch Lungenentzündungsfälle schwerer Art hatte sie genügend erlebt, um Therese die angenehme Aussicht auf möglicherweise unglücklichen Ausgang eines solchen Leidens naiv zu eröffnen.
Natürlich nahm sie Theresens Fall nicht für so ernst.
Durch ihr Geschäft, durch die Einführung und Anleitung des neuen Fräuleins vollauf in Anspruch genommen, blieb sie in ihrer Täuschung.
»Der Husten muß austoben«, sagte sie. »Wir wollen Dich schon wieder rauskriegen. Sei man ruhig.«
»Wenn ich nur vor dem Herbst wieder werde, damit ich das schöne Wetter noch genießen kann«, meinte Therese, und die Tante versprach ihr noch die schönsten Tage.
Vorläufig schienen diese sich auf die Wanderschaft begeben und diesen Bezirk griesgrämlicheren Vettern überlassen zu haben. Statt der Hitze der Hundstage war eine Regenperiode angebrochen, wie sie so oft den Sommer in Hamburg schmälert. Beständige Westwinde trieben immer neue Regenmassen herbei. Kein Tag verging ohne Niederschläge. Es waren unfreundliche, fast herbstliche Tage.
Traurig sah Therese von ihrem Lager aus den Regen herunterrauschen, gegen die Fenster prasseln, von dem Trottoir aufspritzen in kleinen glitzernden Bögen, Strahlen und Tropfen.
Wie freute sie sich, wenn ein Sonnenstrahl durch das trübselige Grau drang, an der Wand des Behnschen Hauses herunterglitt, über die Straße hüpfte, zu ihr ins Zimmer hinein.
Wie gern hätte sie ein Stück Himmel gesehen, aber sie mußte sich von ihrem Bett aus mit der beschränkten Aussicht auf das Straßenpflaster und das Parterre des Behnschen Hauses begnügen.
So kam es, daß sie sich häufiger mit dessen Bewohnern beschäftigte, namentlich mit Lulu.
Wie lange hatte sie Lulu nicht gesehen. Ob sie wohl noch mit Wilhelm Beuthien ein Verhältnis hatte, wie Mimi einmal behauptete. Therese konnte es nicht glauben. Mimi übertrieb immer, wenn sie erzählte.
Warum denn Mimi sich wohl gar nicht wieder blicken ließ. Es war doch unrecht. Ob sie doch stolz geworden war? Wie gerne hätte sie einmal etwas von ihr gehört.
Hermann schien doch besser über den Schmerz, den Mimi ihm zugefügt, hinweg zu kommen, als sie geglaubt hatte. Vielleicht war es auch keine tiefe, echte Neigung von ihm gewesen.
Ob er einer solchen überhaupt fähig war? Keinen Augenblick zweifelte sie daran.
Wie thöricht war es von Mimi, Hermann nicht festzuhalten. Aber es war doch gut so. Er würde als Verlobter Mimis nicht so viel Zeit für sie jetzt übrig gehabt haben.
Wie freute Therese sich auf sein nächstes Kommen, auf das sie sicher rechnen durfte. Er vergaß sie nie, und sie fühlte wohl, es war echte Teilnahme, was ihn zu ihr führte, nicht kaltes Pflichtgefühl. Das machte sie glücklich. Sie hatte Teil an seinem Herzen.
Manchmal aber bangte ihr heimlich, wenn sie erst wieder gesundet sei, seines Mitleids nicht mehr bedürfe, könnte das alles wieder anders werden. Und manchmal auch, aber selten, sehr selten, kam ihr die Furcht: wenn du nun stirbst?
Aber nur wie ein flüchtiger Schatten huschte das Bild des Todes durch ihre Gedanken. Ihre Hoffnungsfreudigkeit war nicht zu beeinträchtigen, und es war ein Glück, daß auch Frau Carolinens Sorglosigkeit keine trübe Stimmung aufkommen ließ.
Die Tante war auch viel zu viel mit sich selbst beschäftigt.
Nie hatte sie so viel zu thun gehabt, als gerade jetzt, da Therese im Bett liegen mußte. »Die Hausthür klingelt nur einmal am Tag«, sagte sie, um anzudeuten, daß die Ladenglocke überhaupt nicht zum Schweigen käme.
»Meine Beine, meine Beine! Noch einen Tag länger, und ich bin fertig.«
»Na, an mir ist ja auch nicht viel gelegen«, setzte sie oftmals hinzu.
Fräulein Frieda zeigte sich sehr unanstellig und unerfahren. Sie war natürlich »die Schlechteste, die man hätte kriegen können, zu nichts zu gebrauchen, nicht mal zum Kartoffelschälen.«
»Hätten wir doch Mimi noch«, klagte die Tante.
»Wärst Du nicht krank, sofort schickte ich die dumme Person weg. Jede Minute muß man sich ärgern. Aber wie kann ich jetzt wechseln. Dann ginge ja wohl alles zu Grunde.«
»Warte nur Tantchen, bis ich wieder besser bin, lange kann's ja nicht mehr dauern«, tröstete Therese.
»Zeit wird's«, seufzte Frau Caroline. »Alleine halte ich es nicht mehr aus. Ich bin am ganzen Körper wie zerschlagen. Wenn es so weiter geht, lege ich mich auch noch hin.«
Das klang gerade nicht sehr aufheiternd für Therese. Aber wenn diese die Bedauernswerte kurz nach solchen Klageliedern im Laden laut lachen, oder in der Küche mit Tellern unsanft umherstoßen hörte, war sie über Nerven und Glieder der Tante beruhigt.
Auf den inhaltsschweren Brief seiner Frau unterbrach der alte Behn sofort seine Kur und reiste zurück.
Lulu hielt sich in ihrem Zimmer auf, als der Vater eintraf. Die Begrüßung war fast wortlos. Es war ja auch nicht viel zu erzählen, die Frau hatte in ihrem Brief mit genügender Ausführlichkeit berichtet.
Lange hatte der Alte am Fenster gestanden und schweigend auf die Straße hinausgestarrt, das untrügliche Zeichen einer tiefen Erregung bei ihm, als er, ohne sich umzuwenden, fragten »Wo ist de Deern?«
»In ehr Stuv, Johannes.«
»Ik will se nich sehn«, stieß er hervor. »Nich vor Ogen.«
Wie tief auch die Geschichte an ihm fraß, so war es doch fast mehr noch die soziale, als die moralische Seite, worüber er nicht hinwegkommen konnte.
Er hatte Beuthiens nie verachtet, aber es war immer sein Stolz gewesen, den ehemaligen Schulkameraden überflügelt zu haben, er, der Umhertreiber und Thunichtgut von damals, den fleißigen, ordentlichen Musterschüler.
Wie oft war Heinrich Beuthien ihm von den Lehrern als Beispiel aufgestellt worden, wie oft hatte es geheißen. Das wird noch mal ein tüchtiger Mensch, aus Dir aber wird nie was Rechtes.
Nun war doch etwas Rechtes aus ihm geworden, durch Thatkraft und Umsicht, während Beuthien, der gute, ordentliche Mensch, es nicht weiter, als bis zum kleinen Droschkenkutscher gebracht hatte.
So waren sie allmählich auseinander gekommen. Jeder mied den andern, geniert durch das Mißverhältnis der Lebensstellungen.
Nun mußte so etwas zwischen ihren Familien vorfallen.
Wilhelm mußte seine Pflicht gegen Lulu erfüllen, da gab es keinen Ausweg. Der Alte war sich sofort klar, was er zu thun hatte. Aber es ward ihm schwer, furchtbar schwer.
Er hatte sich für Lulu einen andern gewünscht, als diesen Kutscher, diesen Liebling der Dienstmädchen.
Hatte er sie deshalb in die Pension geschickt?
Wenn der Bursche sich nun weigern würde, sein Vergehen zu sühnen, was dann? Unmöglich konnte er klagen, die Sache vors Gericht bringen. Aber so weit würde es ja nicht kommen, der alte Beuthien war ein Ehrenmann und würde seinem Sohn schon ins Gewissen reden.
Zweimal hatte Behn sich auf den Weg gemacht zu Beuthiens und war wieder umgekehrt. Aber es musste sein, und er ging zum dritten Mal.
Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, das Herz klopfte ihm auf diesem Gang, wie einem furchtsamen Schuljungen.
Und er hätte doch im Zorn die Straße hinunterstürmen und alles kurz und klein schlagen sollen, wie er es sicher gethan hätte, wenn er beim Empfang der ersten Nachricht an Ort und Stelle gewesen wäre.
Als er zu Beuthiens Wohnung hinaufstieg, die sich in dem einzigen Stockwerk über der Wagenremise befand, sah er, durch die halbgeöffnete Stallthür, Wilhelm beschäftigt, das Pferdegeschirr zu putzen.
Der Anblick des Sünders weckte seinen Grimm. Am liebsten hätte er sich gleich auf ihn gestürzt, aber er bezwang sich und stieg die schmalen, ausgetretenen Stufen der engen steilen Treppe hinauf. Die schwarze Katze, die sich unten gesonnt hatte, floh erschreckt vor ihm auf.
Heftig stieß er oben die Thür auf, gegen die rasselnde Schutzkette.
Tante Tille, in altmodischer weißer Haube, die sie nur des Nachts ablegte, ein Butterbrot in der Hand, öffnete ihm.
»Meine Güte, Herr Behn!« rief sie erstaunt. »Ik meen, Se sünd fort?«
Er fragte nach Beuthien.
»Kamen S' man rin, Heinrich vespert grad«, lud sie ihn ein.
Der alte Beuthien saß auf dem kleinen, abgenutzten Roßhaarsofa vor dem mit dunklem Wachstuch bedeckten Tisch und ließ sich es anscheinend gut schmecken.
Es war ein kleines, niedriges Zimmer, einfach aber freundlich möbliert, in das Behn eintrat. Alles war sauber. Die großgeblümten, mit selbstgehäkelten Spitzen eingefaßten Kattungardinen und der niedrige, braune Kachelofen gaben dem Raum etwas höchst gemütliches. Der frisch gescheuerte Fußboden zeugte von größter Reinlichkeit. Auch die beiden billigen Oeldruckbilder Kaiser Wilhelms II. und Kaiser Friedrichs, in schwarzem Rahmen, zu jeder Seite des schmalen goldenen Sofaspiegels, fügten sich ganz gut der Umgebung ein. Nur dieser Spiegel, mit der abgeblätterten Vergoldung und dem großen Spliß in der untern linken Ecke des Glases, störte etwas den wohlthuenden Eindruck des Ganzen.
Behn reckte und streckte sich beim Eintritt, als wollte er sich zu einer imponierenden Erscheinung aufrichten.
Erstaunt empfing ihn Beuthien.
»Behn?« fragte er gedehnt, sich erhebend.
»Sünd wi unner uns, Beuthien?« fragte dieser zurück.
»Ja, wat is?«
Er stand auf, horchte zum Korridor hinaus und schloß die Thür wieder. »Wat is, Behn?«
Kurz, heftig, stieß Behn seine Anklage heraus.
Beuthien war starr.
»Din Lulu?«
Einen Augenblick saßen sich die beiden Männer stumm gegenüber.
Beuthien stand auf.
»He sall kamen, gliek.«
Behn hielt ihn zurück.
»Wull Du noch wat?« fragte Beuthien.
»Ne, ne, he sall man kamen.«
Als Wilhelm die beiden Alten zusammensah, wußte er sofort, was seiner wartete. Aber er war nicht feige.
Er grüßte unbefangen und sah bald den einen, bald den andern an.
»Segg em dat sülfst«, sagte sein Vater.
»He weett't woll all«, bebte Behn, wütend über Wilhelms Ruhe.
»Wat denn?« fragte dieser keck, trotzdem ihm schon anfing, ungemütlich zu werden.
»Hund Du!« fuhr Behn auf, mit geballten Fäusten.
Wilhelm wich nicht zurück.
»Ik lat mi nich schimpen«, drohte er.
Der alte Beuthien legte seine Hand auf Behns Arm, wie beschwichtigend, der aber schleuderte sie heftig zurück.
»Du büst ja 'n ganz gemeinen Lumpen«, schrie er Wilhelm an, der kreideweiß wurde.
»Johannes, Johannes«, warf sich der alte Beuthien zwischen die beiden. »Woans hest Du Din Fru kregen?«
»Dat is wat anners«, keuchte Behn.
»Ne, Johannes, dat is een Sak«, sagte Beuthien ruhig. »Du hest se heiratet, un Wilhelm ward se ok heiraten.«
Wilhelm erklärte, er wüßte was recht wäre, aber er könnte seine Pflicht nicht thun.
»Wat?« rief Behn.
»Ik kann nich«, wiederholte Wilhelm.
»Du kannst nich?«
»Ne, ik kann nich.«
»Is se Di nich god nog mehr?« höhnte Behn bitter.
Wilhelm zögerte lange mit der Antwort.
»Ik häw all 'n Kind«, stieß er endlich hervor.
Wilhelm hatte gebeichtet. Anna, das frühere Behnsche Mädchen, war die Mutter seines Kindes.
Behn hatte es übernommen, dieser ihre älteren Rechte auf Wilhelm abzukaufen.
Er fand das Mädchen in einem Keller bei Hökersleuten einquartiert, in einem engen, dumpfigen Raum. In einem großen Wäschekorb lag das erst vierzehn Tage alte Kind, häßlich, klein, eine Frühgeburt.
Anna schämte sich vor ihrem ehemaligen Herrn, nahm aber, als sie hörte, um was es sich handelte, eine keckere Haltung an.
Lulu, der hochmütigen, gönnte sie ihr Unglück. Sie trug ihr noch immer die Mißhandlung nach. Ihr sollte sie weichen, der ihre Rechte abtreten? Nie!
Aber schließlich gelang es Behn doch, sie mit einer ansehnlichen Summe zufrieden zu stellen.
Die Rücksicht auf das kranke Kind mochte sie mit bestimmt haben, das ohne sorgfältigste Pflege nicht gedeihen konnte. Starb es aber, so waren ihr die tausend Mark von Behn noch lieber, als selbst Beuthien.
Welch ein Vermögen, tausend Mark! Behn hatte sie ihr bar auf den Tisch gezählt, zehn Hundert Markscheine.
So ausgesteuert, konnte sie, ihrer Meinung nach, ganz andere Freier bekommen, als Wilhelm war.
Dieser war froh, daß alles sich so gut arrangierte. Sollte er denn durchaus heiraten, so war ihm Lulu natürlich lieber, als Anna.
Lulu erfuhr durch ihre Mutter, daß Beuthien sie heiraten werde.
»Vadder hätt sik vel Möh geben«, setzte die einfältige Frau hinzu. »Dusend Mark hätt em dat kost't. Du kannst em nich dankbar nog sin.«
»Für Geld?« rief Lulu.
»Ne, so nich. Du versteihst mi falsch, Kind«, beruhigte die Mutter sie. Und dann erzählte sie, nach ihrer Meinung sehr schonend, die Geschichte mit Anna.
Lulu hatte nichts darauf erwidert und war sehr nachdenklich geworden.
Also Anna hätte sie es eigentlich zu verdanken, wenn sie vor Schande bewahrt blieb. Und das Mädchen wußte natürlich nun alles, empfand Schadenfreude, sah sie als ihresgleichen an.
Aber alle diese Gedanken kamen ihr nur so nebenher. Alles erdrückte die Gewißheit, daß Beuthien sie hintergangen, es schon mit der andern gehalten hatte, als er sie ins Unglück riß.
Wer sagte ihr, daß Anna die einzige sei? Und mit diesem Menschen sollte sie zeit ihres Lebens verbunden sein.
Ihr schauderte. Ihre Neigung zu Beuthien war in den Qualen der letzten Tage untergegangen. Nun empfand sie Ekel vor ihm.
Alle seine Fehler, seine Roheiten drängten sich plötzlich in ihr Bewußtsein. An diesen ungebildeten, brutalen Menschen hatte sie sich verloren.
Sie kam sich wie besudelt vor.
Sie konnte von ihrem Zimmer aus in die Küche der Nachbarhäuser sehen.
Jene Köchin mit den dicken, roten Armen, die eben mit plumper Geschäftigkeit auf dem Fensterbrett den Mörser handhabte, wie oft mochte sie in seinen Armen gelegen haben.
Und dort oben, in der dritten Etage, die kleine frech ausschauende Person, und da unten in Parterre die lange rothaarige, hat er sie nicht vielleicht alle schon mit seinen Zärtlichkeiten bedacht?
Es war ihr, als sähen alle zu ihr herüber, in ihr Fenster hinein, höhnisch, vertraut: Wir gehören zusammen, Fräulein.
Sicher sprach man jetzt überall von ihrer Schande. Würde Anna schweigen, Anna, die sicher noch ihren alten Haß hegte?
Welcher Einfall von dem Vater, sie von dieser Person frei zu kaufen. Hieß das nicht, die Sache erst recht unter die Leute bringen?
Mochte Beuthien doch das Mädchen heiraten. Sie, Lulu, wollte lieber aus dem Hause gehen, weit fort, arbeiten, für sich, für das Kind, oder sterben.
Es war das erste Mal, daß der Gedanke an den Tod ihr kam.
Sie hing ihm nach, malte sich es aus, den Schrecken der Familie, die Reue Beuthiens, das Mitleid der Nachbarn.
Natürlich, so lange wird man beklatscht, begeifert, gesteinigt, aber nachher, hat man es nicht mehr ertragen können, dann weinen sie ihre Heuchelthränen.
Wie ekelhaft ihr die Menschen waren. Nein, nicht leben mehr. Ein Sprung in die Alster, und alles ist gut.
Der Kopf war ihr so schwer, und die Augen schmerzten ihr vom Weinen.
Sie kühlte sich am Waschtisch Augen und Stirn.
Bei dem Blinken des Wassers mußte sie immer an die Alster denken.
Ein Sprung in die Alster.
Sie hatte einmal einen Ertrunkenen auffischen sehen. Das Bild trat ihr vor Augen. Sie schüttelte sich vor Grausen und atmete wie befreit auf. Wer zwang sie denn? Sie war ja frei.
Als die Mutter sie so müde und elend fand, redete sie ihr zu, doch etwas in die Luft zu gehen. Sie müsse sich Bewegung machen, auch des Kindes wegen.
Lulu wehrte ab.
Dann sollte sie wenigstens am Abend gehen, nach Dunkelwerden. Sie wollte sie begleiten, meinte die Mutter.
Ja, am Abend, jetzt nicht. Aber allein, sie ginge am liebsten allein, nickte Lulu.
»Is recht min Deern, dat deit di god«, sagte die Mutter.
Nirgends wurde die »nette Geschichte mit der Behn« eifriger besprochen, als im Wittfothschen Keller. Man war ja hier »der Nächste dazu«.
Frau Caroline stellte sich völlig auf den Standpunkt der Moral. Sie verurteilte Lulu und tadelte Wilhelm, ganz wie es sich für eine anständige Frau geziemte, und hätte sicher an beiden kein gutes Haar gelassen, wenn nicht die Aussicht, mit Behns verwandt zu werden, ihre sittliche Entrüstung etwas gemildert hätte.
Sie hatte sich immer von der vornehmen Lulu über die Achseln angesehn gefühlt. Nun rückte sie jener gegenüber gar in den Rang einer Schwiegermutter auf.
Frau Beuthien senior und Frau Beuthien junior würde es nun heißen.
Meine Schwiegertochter Lulu.
Der Wittfoth »lachte das Herz im Leibe« bei diesem Gedanken. Vielleicht nannte Lulu sie gar Mama.
»Es ist doch ein furchtbar leichtsinniges Ding, die Lulu«, sagte sie zu Therese. »Und Wilhelm ist ebenso. Aber es ist ja nun man 'n Glück, daß noch alles so gut abläuft.«
Therese nahm wenig Teil an dieser Affaire. Ihre immer mehr abnehmenden Kräfte bedurften der Schonung. Ihre Gedanken weilten ganz wo anders, als bei diesen kleinen Erdendingen. Seit einigen Tagen wußte sie, daß sie sterben würde. Sie hatte sich im Traum im Sarg liegen sehen und sah wiederholt an der Zimmerdecke Mäuse.
Das bedeutete den nahen Tod.
Therese wollte sonst nicht für abergläubisch gelten. Kartenlegen, Besprechen und anderen Altweiberunsinn belächelte und verspottete sie. Aber alles, was mit dem Tode zusammenhing, hatte ihr von je her ehrfurchtsvollen Schauder abgenötigt. So weit erstreckte sich ihre Aufklärung nicht. Daß der Tod entfernter Personen sich oftmals ankündigt, durch Herabfallen von Bildern, Stillstehen von Uhren, geheimnisvolles Rufen, galt ihr durch mehr als ein Vorkommnis für erwiesen.
Die Tante, der sie ihren Traum erzählte, hatte erst ein ganz bestürztes Gesicht gemacht und dann laut gelacht und ihr eifrig den »Unsinn« auszureden gesucht. Als ob Tante Caroline nicht ebenso steif und fest an dergleichen Vorbedeutungen glaubte.
Hermann gegenüber hatte Therese Scheu, davon zu reden. Aber einmal, gesprächsweise machte sie doch Andeutungen.
»Unsinn«, sagte er, ganz wie die Tante. Dann ergriff er ihre Hand, streichelte sie sanft und sagte bestimmt: »Du wirst noch wieder fix und gesund, Resi.«
Als sie ungläubig den Kopf schüttelte, sagte er wiederholt »Unsinn, Unsinn«, stand auf und sah lange zum Fenster hinaus.
Das sagte ihr genug.
Aber sie blieb ruhig und heiter.
Sie hätte vor einigen Wochen selbst nicht geglaubt, daß sie den Tod so ruhig erwarten könnte. Kein Zagen, kein Graun.
Nur am letzten Abend, als Hermann fortging und erst in zwei Tagen wiederkommen zu können erklärte, war ihr auf einmal so bange geworden, so zum Aufschrein angst. Es war ihr, als würde sie ihn nie wiedersehen, als müßte sie ihn mit Gewalt zurückhalten.
Frau Caroline, der auch vom Arzt, auf Hermanns Wunsch, noch nicht alle Hoffnung genommen worden war, glaubte, Therese würde die »Krisis« überstehen. Sie sprach viel von dieser Krisis, ohne sich eine klare Vorstellung davon zu machen.
Vielleicht würde ihr der Ernst der Krankheit mehr zum Bewußtsein gekommen sein, wenn nicht ihre persönlichen Angelegenheiten sie gar so sehr in Anspruch genommen hätten.
Die geschäftlichen Obliegenheiten lagen thatsächlich fast allein auf ihren Schultern, da Fräulein Frieda sich fortgesetzt unbrauchbar zeigte.
Dazu kamen die Heiratsgedanken.
Beuthien hatte auf baldige Heirat gedrungen, und man hatte schon allerlei Vorbereitungen getroffen. Nun schob Theresens Krankheit und die »leidige« Geschichte mit Wilhelm und Lulu alles wieder auf.
Die Behnsche Geschichte interessierte sie ungemein. Die Mädchen, die in ihren Laden kamen, sprachen davon und suchten von ihr mehr zu erfahren. Sie stand ja als so nahe Verwandte des Sünders mitten in der Aktion, und von je her war sie nie glücklicher gewesen, als wenn sie irgendwo »mit dazu gehörte.«
Als künftige Schwiegermutter der ins Unglück geratenen, bewahrte sie natürlich allen Ausfragern gegenüber die nötige Zurückhaltung, und half durch ihr geheimnisvolles Wesen nur noch mehr, einen dichten Schleier abenteuerlicher Gerüchte um diesen pikanten Vorfall zu weben.
Wie erschrak sie, als Mutter Behn früh morgens, um sechs Uhr, mit der ängstlichen Frage bei ihr vorsprach, ob sie Lulu nicht gesehen habe.
»Se is utgahn gistern Abend und is nich wedder an't Hus kamen.«
»Meine Güte, Frau Behn«, rief die Wittfoth »Ihr ist doch nichts passiert?«
Die Gemüsefrau von nebenan kam. »Hebben Se all hürt? Behns ehr Lulu is furt.«
Ein Dienstmädchen aus der Gärtnerstraße wollte »man bloß mal auf'n Augenblick einsehen«.
»Nu is se ja woll utrückt«, meinte sie. »Wat'n Upstand.«
Auch der alte Beuthien kam ganz verstört.
»Line, Line, wat'n Stück--wat'n Stück.«
Im Hinterzimmer schellte Therese, aber niemand hörte sie.
Fräulein Frieda stand mit offenem Mund und vor Erregung glühenden Wangen immer neben der Wittfoth.
»Wenn sie sich nur nichts angethan hat«, sagte sie.
»Ach was soll sie wohl«, fuhr Frau Caroline sie an. »Haben Sie schon die Schürzen gesäumt? Sie wissen ja, sie sollen doch bis ein Uhr fertig sein.«
Damit schüttelte sie diese kleine Klette energisch von sich ab.
Mittags kam Beuthien wieder. »Se hebbt se«. sagte er finster.
»Dod?« fragte die Wittfoth.
Beuthien gab mit dem Daumen über die rechte Schulter hinweg die Richtung an: »In'n Kanal.«
»Herr meines Lebens!« rief die erschrockene Frau. »Da muß ich mich erst mal setzen. Das ist mir ordentlich in die Beine gefahren.«
Ein lautes durchdringendes Schellen klang von hinten her.
»Mein Gott, Therese. Das ewige Klingeln. Es ist aber auch gar zu doll. Was sie nu wohl wieder hat.«
Damit haftete sie über den Korridor, steckte aber im Vorübereilen den Kopf durch die Thür des Arbeitszimmers:
»Sind Sie fertig, Frieda? Nein? Na halten Sie sich man nicht auf, und man ja nicht zu breit, hören Sie?«
Der alte Behn saß in seinem Comptoirzimmer vor dem Schreibtisch, die Ellbogen aufgestützt, das Gesicht mit den Händen bedeckend.
Schon geraume Zeit saß er so da.
Es war eine schwüle Luft in dem kleinen Raum.
Die Sonne schien voll ins Fenster, und die Strahlen brachen sich vielfarbig in den Kristallflächen des Tintenfasses und des Briefbeschwerers.
Das Gesumme einer Fliege, die wie in blinder Wut immer wieder gegen die Fensterscheiben flog, war das einzige Geräusch in der drückenden Stille.
Draußen, auf dem Korridor, wurden Schritte laut, gedämpfte Stimmen, ein Geräusch, als würde ein schwerer Gegenstand transportiert.
Jetzt wurde etwas hart niedergesetzt.
Dann war es wie ein leises Schrammen und Schurren.
Nach kurzer Pause wieder die Schritte, das flüsternde Sprechen, das Klingen der Korridorthür, und wieder die dumpfe Stille.
Noch immer saß Behn in unveränderter Stellung, wie schlafend.
Da wurde leise die Thür geöffnet, und die halblaute Stimme der Frau Behn rief nach ihm.
Mit fast pfeifendem Laut rang sich ein tiefer Atemzug aus der Brust des Mannes, aber er rührte sich nicht.
Sie trat zu ihm und legte ihm leise den Arm auf die Schulter.
»Johannes!«
Da sanken ihm die Arme, schwer fiel die Stirne auf die gekreuzten Fäuste, und der große starke Mann schluchzte wie ein Kind.
»Johannes, wat helpt dat?« sagte sie leise.
Er stand auf, ohne sie anzusehen, als schämte er sich seiner Thränen.
Er griff nach dem breiten, tintenbefleckten Lineal und legte es auf einen andern Platz, ordnete mechanisch allerlei auf dem Schreibtisch, den Tintenwischer, die Sandbüchse, tastete an sich herum, als suche er etwas in seinen Brusttaschen und folgte endlich tief aufatmend der geduldigen Frau.
»Ne, hier Johannes«, dirigierte sie ihren Mann, der in das unrechte Zimmer eintreten wollte.
Paula, die man aus der Schule zu Hause behalten hatte, erhaschte, wie die Eltern die beste Stube betraten, mit flüchtigem Blick einen Teil des Sarges, in dem man Lulu soeben gebettet.
Sie beugte sich nachher zum Schlüsselloch hinunter, sah aber nichts, als den breiten Rücken des Vaters.
Ihre Gedanken waren in großer Erregung. Lulu tot. Unfaßbar schien es ihr.
Es war das erste Mal, daß der Tod Paula so nahe trat.
Der Schmerz der Eltern hatte auch dem Kinde vorhin Thränen abgepreßt. Seine Augen waren noch rot und heiß vom Weinen, eine trockene, stechende Hitze in den Lidern.
Jetzt, nach dem ersten Gefühlsausbruch, kam auch die Neugier zu ihrem Recht.
Paula hätte gar zu gerne die Schwester im Sarg gesehen, aber die Mutter wollte es nicht leiden.
Wenn der Vater sich doch nur mal rühren wollte, dachte sie, am Schlüsselloch lauernd. Wie man nur so lange auf einem Fleck stehen konnte.
Ob wohl viele Kränze kommen würden? Sie sah immer in Gedanken den ganzen Pomp eines Begräbnisses vor sich.
Dazwischen kam ihr der Gedanke an ihren Geburtstag, der am nächsten Sonntag war.
Ob man ihn wohl feiern würde?
Sie hatte schon in der vorigen Woche Clara Wiencke und Emmi Hopf eingeladen. Clara würde ihr eine Papeterie schenken, das wußte sie schon.
Wie häßlich, wenn nun nichts aus dem Geburtstag würde.
Plötzlich fuhr sie vom Schlüsselloch zurück. Die Thür ward hastig aufgestoßen, und der Vater, blaß, zitternd, trat schnell heraus.
»Water, flink, Water«, ächzte er.
Minna stürzte aus der Küche und stieß unsanft mit Paula zusammen.
Doch der alte Behn war schon in der Küche, ehe die Mädchen recht begriffen, was er wollte.
Die Stirn gegen die Wand gestützt, kämpfte er mit einem erstickenden Würgen, in den kurzen Pausen des Anfalls mit dem Handrücken den kalten Schweiß von Stirn und Backen wischend.
So traf ihn der Briefträger, der in der allgemeinen Aufregung unbemerkt durch die nachlässig geschlossene Thür in die Wohnung gelangt war.
Behn streckte, ohne aufzusehen, den linken Arm nach dem Brief aus.
»Mi is nich god«, sagte er, wie entschuldigend.
»Macht woll die Luft, Herr Behn«, meinte der Briefträger. »So gewitterig heute.«
Frau Behn kam hinzu und nahm ihrem Mann den Brief ab.
»Is di beter, Johannes?«
Sie hielt das Couvert gegen den Tag, um dessen Inhalt zu erforschen.
»Von Schulze«, sagte sie. »Is woll de Reknung för dat Klaveerstimmen.«
Der Briefträger, noch ohne Ahnung von dem Unglück, das die Familie betroffen hatte, erfuhr erst davon auf der Straße, durch ein Mädchen des Nachbarhauses.
Er hatte auch für Frau Caroline Wittfoth einen Brief.
Er betrat den offenen Laden, und da niemand anwesend war, rief er laut. »Briefträger!«
Er mußte noch ein zweites Mal rufen, bevor Fräulein Frieda erschrocken erschien, mit langen, vorsichtigen Schritten, auf den Zehen balancierend.
Beide ausgestreckten Hände zur Höhe der Ohren erhebend, bedeutete sie ihm mit beschwichtigender Geberde leise zu sein.
»Na, was ist denn hier los?« fragte er verwundert.
»Unser Fräulein is tot.«
»Fräulein Therese? Was hat ihr denn gefehlt?«
»Schwindsucht«, flüsterte sie, als handle es sich um ein geheimnisvolles Verbrechen.
Mit bedauerndem Kopfschütteln entfernte er sich.
Eine Arbeiterfrau kam und forderte einen wollenen Unterrock.
Fräulein Frieda konnte sich nicht besinnen, in welchem Schubfach das Gewünschte zu finden war, und holte die Wittfoth.
Frau Caroline erschien, verweint, mit geröteter Nase, das Taschentuch in der Hand.
»Meine Nichte ist heute Morgen gestorben«, erzählte sie auf den fragenden Blick der Käuferin. »Da hab ich ja gar keine Ahnung von gehabt. Und wie hab ich sie gepflegt, als mein Kind. Aber gegen Gottes Willen kann man ja woll nicht an. Und dabei alle Hände voll zu thun. Ich weiß auch gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht.«
»Ja,« sagte die Frau, die geduldig alles angehört hatte. »Mit so'n Krankheit is dat ne egene Sak. Na, ik kam mal wedder lang.«
»Dohn Se dat«, bat Frau Caroline. »Ik sögg Se den Unnerrock rut.«
Zwei Tage später hielten zwei Leichenwagen an der Ecke des Durchschnitts, einer erster Klasse, der andere dritter.
Auf dem letzteren stand bereits ein schlichter Sarg, auf dessen Deckel vier Kränze nebeneinander befestigt waren. Die Morgensonne streute ihre goldenen Lichter darauf. Eine sorgliche Hand hatte die Kränze frisch besprengt, und die zitternden Tropfen lagen wie blitzende Diamanten auf den Blättern der weisen Rosen, den kleinen kugeligen Immortellenblüten und dem dunklen Grün der Kranzgewinde.
Zwei Droschken bildeten das ganze Gefolge.
Die erste bestieg Frau Wittfoth in tiefer Trauer, mit verweinten Augen, das Taschentuch aus feinstem Kammertuch, den Stolz ihres Wäscheschatzes, in der Hand.
Nachdem sie alles Nebensächliche, was bei ihr immer in erster Reihe zu kommen pflegte, überwunden hatte, die Störung ihres Hauswesens, die Beeinträchtigung des Geschäftes, die Wahl eines Trauerkostümes, ob Crépe oder Cachemir, und dergleichen Gedanken, war auch der wahre, aufrichtige Schmerz bei ihr zum Durchbruch gekommen.
Sie sah sehr elend und abgespannt aus, als sie langsam, mit niedergeschlagenen Augen die paar Schritte bis an den Wagenschlag zurücklegte, den Fräulein Frieda öffnete.
Diese, nicht im Besitz eines schwarzen Kleides, trug Halbtrauer, ihr winterliches Sonntagskleid aus hellgrauer schwerer Wolle, und hatte nur eine schwarze Moiré-Schürze angelegt, die Frau Caroline für diesen Zweck noch in letzer Mintute dem Schürzenkasten entnahm.
»Der Leute wegen.«
Der angeheftete Preiszettel war in der Eile vergessen worden, zu entfernen.
»Achten Sie auch recht auf'n Laden, Fräulein«, flüsterte sie aus der Droschke heraus dem Mädchen zu. »Und wenn die Frau mit dem Unterrock kommt, wissen Sie ja Bescheid.«
Der Wittfoth zur Seite nahm der alte Beuthien Platz, in schwarzem Gehrock und mit hohem, duffem, schon etwas ins rötliche schillerndem Cylinder.
In der zweiten Droschke fuhr Hermann allein. Er hatte es so gewollt, damit nicht nur ein einziger Wagen folgte.
Gleichzeitig nahm er auch damit der Tante einen Stein vom Herzen, die ungern zu dritt in einer Droschke gefahren wäre.
»Das soll man nie thun bei 'ner Beerdigung«, sagte sie. »Das bringt Unglück. Gewöhnlich stirbt denn einer von den Dreien. Immer 'ne gerade Zahl, das ist besser.«
Hermann war in diesen traurigen Stunden noch mehr als sonst bereit, die Schwächen seiner Tante zu schonen.
War ihm die Nachricht von Theresens Tod ja auch nicht unerwartet gekommen, so hatte sie ihn doch tief erschüttert. Er hatte alle seine freie Zeit der Tante zur Verfügung gestellt und ihr alle Vorbereitungen und Anordnungen zur Beerdigung abgenommen.
Tief ergriff ihn am Morgen des Trauertages die zufällige Entdeckung, daß er dem Herzen der Verstorbenen näher gestanden haben mochte, als sie ihn hatte merken lassen.
Am Fenster sitzend, auf Theresens gewohntem Platz, sah er in ihrem Nähkörbchen sein Bild liegen, eine Photographie in Visitenkartenformat, ein Geschenk, das er ihr ungefähr vor einem Jahre gemacht hatte.
»Ich fand's unter ihrem Kopfkissen«, erklärte die Tante. »Und noch etwas für Dich«, fuhr sie fort in einem Auszug kramend. »Hier, Du solltest es zum Geburtstag haben.«
Es war jene angefangene Handarbeit, das veilchenumkränzte Monogramm Hermanns.
Gerührt barg er beides, Bild und Handarbeit, sogleich in seiner Brusttasche, da seine Zeit ihm nicht erlaubte, nach dem Begräbnis noch in die Wohnung der Tante zurückzukehren.
Als sich der kleine Trauerzug in Bewegung setzte, trug man gerade aus dem Behnschen Hause den reichgeschmückten Sarg hinaus.
Ein durchdringender Geruch von Tubarosen und Coniferen überströmte die Straße, deren Trottoire von einer dichten Menge Zuschauer besetzt waren.
In langer Reihe hielten die Folgewagen fast die halbe Straße hinauf.
Nur wenige, flüchtige Blicke folgten dem einfachen Trauerzug Theresens. Die Neugierde konzentrierte sich auf das vornehme Begräbnis.
Eine dumpfe Teilnahme machte sich unter den Zuschauern bemerkbar. Man besprach halblaut den traurigen Fall. Unkundige wurden mit wichtiger Miene belehrt und blieben gleichfalls stehen.
Ein geheimnisvoller Bann ging von Lulus hohem, blumenüberhäuftem Sarg aus, der Zauber des Gräßlichen, der Reiz des Unglücks umstrickte die Seelen.
Der Wind warf den Staub unter die Menge, über den Sarg, über die Kränze, trieb mit dem schwarzen Bahrtuch sein Spiel und bauschte die tief herabhängenden Trauermäntel der Pferde wie Segel auf.
Die zwölf Träger, in ihren althergebrachten Pompgewändern, mit weißer Halskrause, Federbarett und Galanteriedegen, ordneten sich. Der Kutscher, neben den Pferden gehend, ergriff die Zügel, und der Trauermarschall, den lang herabwallenden Flor über den linken Arm tragend, trat an die Spitze des Zuges, der sich langsam in Bewegung setzte.
Aber kaum hatte der Leichenwagen den Durchschnitt verlassen, als eine plötzliche Verkehrsstörung wieder zum Halten zwang.
Zwischen dem ersten, kleineren Trauerzug und einem beladenen Bierwagen hatte ein leichtes Cabriolet in schnellem Trab vorbeizukommen gesucht.
Das Ungeschick des fahrenden Herrn, oder ein unglücklicher Zufall, ließ das leichte Gefährt mit dem schweren Lastwagen zusammenstoßen. Das zierlich gebaute Luxuspferd war von dem heftigen Anprall zu Boden gerissen worden, der Wagen querte den Weg, und der verzweifelte Lenker stand in größter Verlegenheit bei dem gestürzten Fuchs, der wild ausschlagend, alle Bemühungen, ihn aufzurichten, vereitelte.
Daneben stand, blaß, zitternd vor Schreck, eine junge Dame, die in der Angst den kühnen Sprung von ihrem gefährlichen Wagensitz gewagt hatte.
Hermann hatte aus seinem Coupé heraus einen Augenblick Mimi zu erkennen vermeint.
Schnell zog er sich in den schützenden Versteck des tiefen Fonds zurück. Keine Erinnerung hätte ihm heute peinlicher sein können als diese. Sie brachte einen schmerzlichen Aufruhr in seine ernste, wehmütige Stimmung. Die Augen schließend, träumte er in der langsam über das stoßende Pflaster holpernden Droschke von jenem Frühlingsabendgang zwischen den Weißdornhecken, von dem ersten Walzer und den ersten Küssen.
Mit schrillem Mißklang intonierte in einer Nebenstraße eine Drehorgel einen neuerdings beliebten Operettenwalzer.
Hermann schrak aus seinem Brüten auf.
Wie gemein waren diese Klänge.
Ein Straßenjunge sang im höchsten Diskant zu den Melodien des Leierkastens die geschmacklosen Verse des unterlegten Couplets. Noch bis zur nächsten Straßenecke hörte Hermann den Gesang des Bengels.
Wo hatte er doch die Melodie, diese Worte schon einmal gehört? War es damals im Ottensener Park? Er konnte sich's nicht entsinnen.
Bis auf den Kirchhof, bis ans offene Grab verfolgte ihn die Melodie, summten ihm die banalen Verse im Ohr, aufdringlich, marternd, im Walzerrhythmus:
»Meine Liebste ist in Bremen,
Ist 'ne Selterwasserdirn.«