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Lulu Behn entsprach so ziemlich ihrem Ruf. Vom Vater verzogen, dessen Liebling die ihm ähnliche Erstgeborene geblieben war, der schwachen, etwas beschränkten Mutter an Verstand weit überlegen, genoß sie nach Kräften die bequemen Tage, die die gute Lebensstellung der Eltern ihr ermöglichte. Ihr Hang zur Bequemlichkeit artete in Trägheit aus, je weniger die unter harter Arbeit groß gewordene Mutter vom Selbstwirtschaften ablassen wollte, trotzdem der in den letzten Jahren oft kränkelnden Frau von dem gutmütigen Mann in jeder Weise Erleichterung zu Gebote gestellt wurde.
Mit Hilfe eines Dienstmädchens und der zweiten, vierzehnjährigen Tochter Paula, die in allem der Mutter ähnelte, konnte sie recht gut den Pflichten des schlicht bürgerlichen Hauswesens nachkommen, ohne auf die Unterstützung der älteren Tochter angewiesen zu sein.
Lulu, die früh gute Anlagen zum Lernen zeigte, hatte eine für ihre Verhältnisse sorgsame Ausbildung genossen. Sie war zwei Jahre in einer auswärtigen Pension gewesen, wohin sie der Vater des Hausfriedens wegen schickte, da Mutter und Tochter sich schlecht vertrugen.
Auch Musikunterricht hatte Lulu gehabt. Als Dame war sie ins Elternhaus zurückgekehrt.
Die Schwester war in allem das Gegenteil. Sie zeigte unüberwindliche Abneigung gegen jedes Lernen, aber alle Talente der Mutter zum Hauswesen. Hoch aufgeschossen, kräftig, kerniger als die Mutter, arbeitete sie, wenn es galt, mit dem Dienstmädchen um die Wette. Gab es nichts zu scheuern, putzen, spülen oder schrapen in der Küche, so spielte sie lieber auf der Straße mit ihren Altersgenossen, am liebsten mit den Knaben, als hinter den Schulbüchern zu sitzen.
Der Vater, der sich vom einfachen Maurergesellen zum Hausbesitzer hinaufgearbeitet hatte, war vernünftig genug, die Kleine, ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechend in die Volksschule zu schicken.
»Die wird noch mal 'ne fixe Köksch,« pflegte er zu sagen. »Jeder nach seiner Art.«
Trotzdem blickte er mit Stolz auf seine gebildete Tochter. Mit der wollte er höher hinaus.
Schon zweimal hätte Lulu eine anständige Partie machen können, aber beide Freier waren kleine Handwerker, Anfänger, und der alte Behn wollte für seine Lulu einen »Herrn«.
Glücklich war er, wenn ihm das Mädchen vorspielte. Das Blumenlied von Gustav Lange, der Kußwalzer von Strauß und die Ouverture zum »Kalifen von Bagdad« waren seine Lieblinge und Lulus Parforcestücke. Diese und zwei oder drei andere hatte sie aus der Pension mit nach Hause gebracht und seitdem nur noch Ludolf Waldmanns gerade populär gewordenes Lied »Fischerin, Du kleine« hinzugelernt, Paulas Leiblied, zu dem sie jedesmal zu Lulus Aerger den Text mit ihrer hellen, blechernen Kinderstimme heruntersang, eine Liebhaberei, die sie mit Anna, dem Dienstmädchen, teilte.
Lulu war trotz der Pensionserziehung im Grunde ordinär geblieben. Auf dem Niveau ihres musikalischen Geschmacks stand ihr ganzes Seelenleben.
Sie kleidete sich mit einem Hang zum Auffälligen und sah infolge ihrer Trägheit und Unordnung in jedem neuen Kostüm bald schlampig und gewöhnlich aus. Gefallsüchtig, trug sie doch eine gewisse Nonchalance in Betreff ihrer äußern Erscheinung zur Schau. Sie wußte, daß sie hübsch war und auch ohne tadellose Toilette die Augen der Männer auf sich zog.
Ihre mittelgroße, wohlproportionierte Figur mit den schwellenden, etwas zur Ueppigkeit neigenden Formen, der zarte, rosige Teint mit dem feinen Sommersprossengesprenkel, die zierliche, gerade Nase, die blauen, eigenartig verschleiert glänzenden Augen, das satte Blond ihrer Haare und vor allem der sinnlich müde, lüsterne Ausdruck ihres Gesichtes machten sie jedem Manne interessant.
Das in der Pension verwöhnte Mädchen hatte nach der Rückkehr ins Elternhaus dem Herrenkreis, mit dem sie durch ihre Familie in Berührung kam, wenig Beachtung geschenkt. Lulu ließ deutlich durchblicken, daß sie höhere Ansprüche machte, und schreckte manchen ehrlichen Bewerber ab.
Als aber auch bei ihr dann das Liebesbedürfnis sich einstellte und sie, der vornehmen Maske müde, Annäherung suchte, war man in ihren Kreisen ihrer überdrüssig geworden.
Die Mutter war besorgt, die Tochter könnte auf diese Weise ganz leer ausgehen. Ihr Mann aber meinte, mit neunzehn Jahren hätte Lulu noch keine so große Eile.
»Tid hätt se, Vadder, aber'n Baron krigt se doch nich«, gab die Frau zu.
»Du mit Din Baron«, schalt er, »för'n Discher is se mi to god«.
»De Hugelmann wär'n flietigen Minschen«, verteidigte sie sich. »De Deern is man krütsch«.
»Kann se ok«, behauptete er. »För'n Discher is se nich in de Pangschohn wesen.«
»Du mit Din Discher«, brummte Mutter Behn.
Während die Eltern über die Frage, ob »Discher« oder »Baron« noch manchmal viel überflüssige Worte verloren, segelte Lulu bereits mit vollen Segeln in dem Fahrwasser einer Leidenschaft, dessen Quelle weit zurück lag, in ihren Kindertagen entsprungen war.
Der alte Behn hatte als Polier geheiratet und damals ein bescheidenes Häuschen in Barmbeck bewohnt, in unmittelbarer Nachbarschaft des um zwei Jahre früher verheirateten, älteren Schulfreundes Heinrich Beuthien, der mit einer Droschke und zwei Pferden sein bescheidenes Fuhrgeschäft eröffnet hatte.
Hier hatten die Kinder, der zehnjährige Wilhelm und die neunjährige Lulu im täglichen Verkehr Freundschaft geschlossen, die die ersten Trennungen, durch Wohnungsveränderungen bedingt, überstand, bis allmählich der intelligentere, vom Glück begünstigte Behn einen zu weiten Vorsprung vor seinem früheren Schulkameraden gewann und »das Pensionsfräulein« dem »Droschkenkutscher« entfremdet wurde.
Als nun der Zufall beide Familien wieder in einer Straße vereinigte, war die einstige Vertraulichkeit zwischen den Eltern längst erkaltet. Die Väter begrüßten sich noch gewohnheitsmäßig mit Du, nannten sich aber nicht mehr beim Vornamen, wie sonst.
Lulu war natürlich für den Spielkameraden aus der Barmbecker Zeit jetzt das Fräulein Behn, wie er für sie Herr Beuthien.
So peinlich ihr diese Nachbarschaft war, die auch der alte Behn nur aus zwingenden Geschäftsrücksichten auf sich genommen hatte, und so sehr sie durch vornehme Zurückhaltung das frühere Verhältnis in Vergessenheit zu bringen bemüht war, so wenig schien er von der Nähe der Jugendfreundin und deren jetzigen Vornehmheit geniert. Ja, er that, als hätte er sie garnicht mit auf der Rechnung. Der hübsche, von allen Weibern beachtete junge Mann schien durchaus keinen großen Abstand zu empfinden zwischen einem Droschkenkutscher und der in einer Pension erzogenen Tochter eines fünffachen Hausbesitzers. Er grüßte sie, wie er ihre Anna, das Dienstmädchen, grüßte und die Krämersfrau oder die Wittfoth und andere Frauen und Mädchen aus den Geschäfts- und Wohnkellern der Nachbarschaft, mit der gleichgiltigen überlegenen Herablassung eines siegesüberdrüssigen Don Juans.
Er war ihr gegenüber entschieden im Vorteil. Das ärgerte sie.
Als es mit der Vornehmheit nicht glücken wollte, suchte sie den Unterschied ihrer Stellungen durch ein Herabsteigen aus ihrer Höhe auszugleichen.
Als auch hier der Erfolg ihren Erwartungen nicht entsprach, und ihm Fräulein Lulu Behn noch immer mit Stiene und Mine rangierte, erwachte die gekränkte Eitelkeit.
Aus diesem Kampf um seine Anerkennung erwuchs ihr Interesse für ihn zu einer fast krankhaften Leidenschaft.
Fuhr er aus, er mußte immer an ihrem Hause vorbei, war sie gewiß am Fenster. Sie lauerte ihm förmlich auf.
Der junge Beuthien war begehrliche Blicke gewohnt. Er wußte bald, wie er mit Fräulein Lulu Behn daran war. Aber er hatte auch seinen Stolz.
Sie gefiehl ihm wohl. Er verstand sich auf Weiber. Aber sie war ihm nicht mehr als hundert andere hübsche Mädchen auch.
Freilich, wenn er einmal mit ihr zu Tanz gehen könnte, wie mit der Anna, er würde etwas darum geben. Es wäre ihm ein Gaudium. Und dann sie stehen lassen, wie jede andere Lise.