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Der Ostermorgen versprach einen heiteren, wenn auch etwas kühlen Festtag. Voller Sonnenschein lag über der herben Frühlandschaft, als die Glocken von St. Gertrud die Gläubigen und Erbauungsbedürftigen zum Gottesdienst riefen.
Auch die Wittfoth, in Begleitung Theresens, befand sich unter den Kirchgängern. Seit sie die Kirche so bequem zur Hand hatte, daß sie sie in zehn Minuten erreichen konnte, versäumte die kleine, lebenslustige, keineswegs fromme Frau nie, wenigstens an den hohen Feiertagen die Predigt zu hören und sich an dem Gesang des Kirchenchors zu erbauen.
»Das ist man sich schuldig«, sagte sie. »Ich gehöre durchaus nicht zu den Betschwestern, aber mal will der Mensch doch auch etwas Höheres haben. Und für mich hat es immer so etwas Feierliches, wenn die Knaben singen und die Orgel dazu spielt.«
Therese begleitete die Tante regelmäßig in die Kirche, besuchte auch häufig allein den Gottesdienst. Ihr war die Erbauung aufrichtiges Herzensbedürfnis. Sie hatte den Glauben der hier auf Erden zu kurz Gekommenen an den Himmel und seine ausgleichenden Freuden. Wie alle Angelegenheiten des Herzens, umfaßte sie auch diese Dinge mit großer Innigkeit und fühlte sich dabei in schmerzlichem Gegensatz zur Tante, die auch hier ihre Oberflächlichkeit nicht verleugnete.
»Ach, ich glaub an gar nichts«, erklärte die Wittfoth einmal. »Mir soll's auch einerlei sein. Sterben müssen wir alle, und von oben ist noch keiner lebendig wieder runter gekommen«.
Eine geheime Angst hatte die kleine Frau vor dem Lebendig-begraben-werden. Wenn es irgend anginge, sollte man sie nach ihrem Tode verbrennen, nur nicht »einpurren«.
»Dann könnt Ihr meine Asche in alle Winde streuen. Dann seid Ihr mich los«, sagte sie. »An mein Grab kommt ja doch niemand, da ist es besser, Ihr verbrennt mich gleich«.
Vor der Kirchenthür trafen Therese und ihre Tante auf Frau Behn mit ihren Töchtern.
»Na, Frau Behn, auch'n bischen hier?« fragte die Wittfoth.
»Dat is ja nu mal de Dag dorto«, meinte die Angeredete, die zum Aerger ihrer vornehmen Aeltesten gerne platt sprach.
Fräulein Lulu musterte mit lässigem Gruß die Toiletten der Tante und Nichte.
»Dann beten Sie man recht«, lachte die Wittfoth der Mutter zu, glätte schnell die Falten ihres vergnügten rundlichen Gesichts zu andachtsvollem demütigem Ausdruck und drängte sich mit dem allgemeinen Strom durch den etwas engen Eingang in die freundliche, erst neu erbaute Kirche.
Mimi Kruse hütete inzwischen den Laden. Ihr war die Kirche nichts als ein Haus mit einem Turm. Seit ihrer Konfirmation hatte sie nur einmal wieder eine Predigt gehört, das heißt, eine solche in den Kauf genommen zu dem Gesang des Kirchenchors, um dessen willen eine Freundin sie mit in die Kirche »geschleppt« hatte. Denn der Kirchenchor war gerade Mode geworden.
»Wenn das Herz man gut ist, das Beten thut's nicht«, behauptete sie, und entschlug sich im Vertrauen auf ihr gutes Herz aller christlichen Uebungen.
Auch jetzt hatte sie statt des Gesangbuches den Generalanzeiger neben sich auf dem Fensterbrett liegen und überflog den Roman im Feuilleton. Ihre Gedanken weilten jedoch nur zur Hälfte bei der schnöde verlassenen Gräfin, die andere Hälfte gehörte dem blauen Kleid, das sie am Nachmittag anziehen wollte, und an dem noch allerlei kleine Ausbesserungen und Aenderungen vorzunehmen waren.
Mimi wollte hübsch sein an Hermanns Seite, der mit seinem sonntäglichen, dunkelblauen Ueberzieher, dem weichen hellgrauen Filzhut, den »Bismarckfarbenen« und der goldnen Brille immer so nobel aussah.
Wenn er nur nicht so langweilig sein wollte, so lästig durch seine unaufhörliche Kurmacherei. Am meisten zuwider war ihr sein beständiges, verliebtes Anlächeln. Ihr Schlag am Freitag Abend war ernst gemeint gewesen. Sie haßte diese »Antatzerei«, wie sie es nannte. Als er dann der Länge nach auf dem Fußboden lag, war er ihr sehr lächerlich erschienen.
Heute aber, zum Ausgehen, war er ihr gut genug. Er war nicht »angewachsen«, gab gerne und mit einer gewissen Prahlerei. Mimi dachte schon an die Chokolade, Törtchen und Liqueure, die er ihr am Nachmittag spendieren würde.
Ein wenig Schatten in ihre Vorfreude warfen nur die Wolken, die in kürzeren oder längeren Zwischenräumen die Sonne überzogen. Besorgt sah sie auf. Es wäre doch zu ärgerlich, wenn sich das Wetter nicht halten würde. Wenn es regnete, was sollte sie dann anziehen?
Und wirklich fielen jetzt große, schwere Tropfen, denen sich bald weiche, zerfließende Schneeflocken beimischten, gegen die Scheiben.
Mimi nahm eine Rolle Zwirn und warf sie wütend durch das ganze Zimmer. Ihre Stirn legte sich in bitterböse Falten, und dem unmutig verzogenen Mund entfuhr ein derbes Wort.
Die Flocken verdichteten sich, die Sonne verschwand ganz. Wirbelnd fegte der lose Schnee um die Straßenecken, als wäre es Weihnachtszeit und nicht Ostern.
Trotzdem stellte sich Hermann am Nachmittag zur bestimmten Stunde ein, in Gummischuhen und dickem Flausrock. Statt des hellen, weichen Künstlerhutes schwenkte er eine steife, bienenkorbartige Kopfbedeckung heftig in der Hand, um sie von den Schneeflocken zu befreien. Da die benäßte, angelaufene Brille ihn am Sehen hinderte, blieb er unbeholfen in der Thür stehen.
»Eine schöne Bescherung, meine Damen, der reine Winter«, näselte er verschnupft.
»Wie schade«, bedauerte Therese. »Aber vielleicht klärt sich's noch auf.«
»Klärt sich was«, brummte Mimi. »Wird'n netter Matsch sein.«
»O, ich stelle Ihnen meine Galoschen zur Verfügung, gnädiges Fräulein«, scherzte Hermann.
»Höchst ungnädiges Fräulein«, verbesserte Therese. »Mimi trauert um ihr helles Kleid.«
»Fällt mir nicht ein«, leugnete diese. In Wahrheit war sie sehr mißgestimmt, sich nicht nach Vorhaben putzen zu können. Auch Hermann sah nicht so aus daß man viel Staat mit ihm machen konnte. Eine verfehlte Partie, dachte sie.
»Meinetwegen laßt uns zu Hause bleiben,« meinte aufrichtig Therese.
»Mir ist's auch gleich«, stimmte Mimi bei, und die Partie drohte wirklich noch im letzten Augenblick zu Wasser zu werden, als die Wittfoth den Ausschlag gab.
»Was?« schalt sie. »Das sind junge Leute, und fürchten sich vor Schnee? Marsch, fort mit Euch!«
»Man nich so eitel, Fräulein«, wandte sie sich direkt an Mimi. »Sie sind noch lange hübsch genug. Wenn der Rechte kommt, sieht er nicht erst aufs Kleid.«
»Das mein ich auch«, bekräftigte Hermann eifrig. »Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten.«
»Nun wird's Zeit«, rief die Wittfoth, »wenn Schiller erst redet.«
»Rückert, liebe Tante«, belehrte Hermann.
Die liebe Tante überhörte diese Belehrung und wandte sich an Therese: »Daß Du Dich mir warm anziehst, Kind. Du weißt, Du bist gleich erkältet. Und daß Ihr mir fahrt heute Abend, hörst Du Hermann? Die Abendluft ist so gefährlich.«
Mimi, die sich mürrisch zum Ankleiden entfernt hatte, kam wie verwandelt wieder. Sie lachte über das ganze Gesicht.
Sie trug ein schlichtes graues Kleid, eine knapp anschließende schwarze Plüschjacke, ein schwarzes, langhaariges Müffchen und ein dunkelbraunes kokettes Pelzbarett, das ihr allerliebst stand. Ein Blick in den Spiegel hatte sie schnell über das blaue Kleid getröstet, und höchst zufrieden fand sie sich wieder bei den andern ein. Sie war der Wettermacher. Ihre Stimmung war immer ausschlaggebend, sie hatte etwas mitreißendes, dominierendes in ihrem Wesen.
Hermann war glücklich über diesen schnellen Umschlag ihrer Laune und bemerkte mit Wohlgefallen ihr vorteilhaftes Aussehen. Therese freute sich, wenn andere sich freuten, und so nahm man gut gelaunt von der Tante Abschied.