Gustav Falke
Aus dem Durchschnitt
Gustav Falke

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VII.

Früher als sonst stellte sich der Frühling ein. Dem späten, aber immer noch winterlichen Ostern folgten warme Tage. Was an Sträuchern im März schon seine ersten vorsichtigen Taster ausgestreckt hatte, wagte sich im April zuversichtlich heraus.

Ueberall ein Schwellen und Knospen. Grüner Hauch über Busch und Baum. Es gab schon einzelne heiße Tage, an denen der Ueberzieher lästig wurde, und man an die Sommergarderobe dachte.

Eine weiche, milde Luft wehte, und die Wittfoth öffnete ihr die Thür ihres Kellergewölbes. Mit der zunehmenden Wärme stand diese den ganzen Tag auf. Fräulein Mimi hatte dann ihren beständigen Sitz hinter der Tonbank, weil die Glocke nicht mehr die eintretenden Kunden melden konnte.

Die Dienstmädchen, die jetzt durch die immer geöffnete Thür bequem »mal vorspringen« konnten, hatten ihre sommerlichen, kurzärmeligen Kattunkleider angelegt, die ihnen so gut stehen. Die frischen, vollen Arme waren nicht mehr blau und rot gefroren.

An der Ecke gegenüber, beim Gastwirt Tetje Jürgens, der unter dem Parterre des Behnschen Hauses einen »Bier- und Frühstückskeller« seit Jahren hatte, hielt schon die erste offene Break mit Ausflüglern. Singend waren sie angekommen, singend fuhren sie nach einem hastigen »Stehseidel« weiter.

Es war Frühling, sonnenwarmer Frühling.

Schon in den ersten Tagen des Mai konnte der alte Behn auf dem Holsteinischen Baum, einem Bier- und Tanzetablissement in der Nachbarschaft, sein Glas Grogk im Freien, unter der breiten, glasbedachten Veranda, trinken und den Uebergang von diesem Wintergetränk zum sommerlichen Trunk kühlen Augustinerbräus bewerkstelligen.

Im Winter pflegte er allabendlich in dem geräumigen, gemütlichen Gastzimmer zwischen neun und zehn Uhr, nach dem Abendessen, seinen Steifen zu trinken.

Einmal in der Woche hielt er eine längere Skatsitzung ab.

Den Karten wurde auch im Sommer geopfert. Oft saßen die Frauen und Kinder in der Veranda bei einem Glas Bier oder einer Flasche Brauselimonade, während sich die Männer und Väter im Gastzimmer beim Spiel erhitzten.

Es war an einem solchen Skatabend, einem Mittwoch, als Lulu Behn mit der Mutter und Schwester in der Veranda des Holsteinischen Baums die milde Abendluft genossen. Es herrschte ein reges Leben um sie. An jedem Mittwoch war in den hintern Sälen großes Tanzvergnügen. Da sprachen die Köchinnen und Dienstmädchen, oft nur auf ein paar Minuten, vor, »nur einmal rum«. Zu Hause wartete indessen die Herrschaft auf den Belag zum Abendbrot.

Wer Ausgehtag hatte, kam auch wohl in Balltoilette, mit Blumen im Haar, geführt von sonntäglich geputzten jungen Burschen.

Schlachtergesellen in ihren gestreiften Leinenblousen, die Fleischmulde an der Thür absetzend, drängten sich zu einem kurzen Rundtanz in den Saal. Hausknechte traten im Vorübergehen ein, Kutscher ließen ihre Droschke halten, sprangen vom Bock und huldigten einen Augenblick den Freuden des Tanzes. »Damen« fanden sie immer im Ueberfluß im Saal vor, oder sie nahmen von den draußen stehenden die erste beste mit hinein. Es gab immer neugierige oder schüchterne am Eingang, denen es an Mut, Zeit oder Geld gebrach, sich in den erleuchteten Saal zu wagen. Es war wie vor einem Bienenkorb. Ein beständiges Kommen und Gehen.

Lulu, die leidenschaftlich gerne tanzte, beneidete im Stillen jedes Mädchen, das am Arm seines Liebhabers lachend und ungeduldig dem über alles geliebten Walzer entgegeneilte.

Nun fuhr auch noch der junge Beuthien mit seiner Droschke vor, der vier etwas angeheiterte junge Burschen entstiegen. Jeder von ihnen trug eine rote Nelke im Knopfloch, und auch Wilhelm war auf diese Weise geschmückt.

»Kumm mit, min Jung«, rief ihn einer seiner Fahrgäste an.

»Ne, ne, lat man«, sträubte er sich, sah aber den Hineinschwankenden unschlüssig nach.

Ein hübsches Dienstmädchen in hellrotem Kattunkleid und sauberer weißer Schürze mit Spitzenlätzchen, nickte ihm im Vorübergehen wie einem alten Bekannten zu. Die Kleine schien seinen Entschluß zu bestimmen, und er folgte ihr schnell.

Ob er Lulu bemerkt hatte? Es schien nicht so. Diese verging fast vor Tanzlust, Neid und Eifersucht.

Paula hatte sich neugierig bis an die Saalthür gedrängt und kam nun mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen zurück.

»Du, ich hab auch getanzt«, rief sie freudestrahlend und stolz.

»Du? Dummes Gör! Töf, dat vertell ik Vadder«, schalt die Mutter.

Die Kleine wurde etwas bestürzt.

»Es war man bloß Beuthien«, suchte sie sich zu entschuldigen. »Ich wollte erst gar nich, aber er zog mich hinein«.

Lulu wurde blutrot. Diese Krabbe hatte mit ihm getanzt.

»Wie gemein«, sagte sie naserümpfend.

»Ach Du«, warf ihr die Kleine verächtlich über die Schulter zu.

»Daß Du mich nu hier bleibst«, ermahnte die Mutter, der Nachbarn wegen, die am nächsten Tische aufmerksam geworden waren, hochdeutsch sprechend.

»Geh mich nich wieder weg, das sag ich Dich«, verspottete halblaut ein geschniegelter Kaufmannslehrling mit hellblauer Krawatte die scheltende Frau.

Lulu, die es hörte, errötete.

»Papa wird hoffentlich bald kommen, ich finde es unerträglich hier«, sagte sie laut und etwas affektiert, in dem Bestreben zu zeigen, daß man an ihrem Tisch auch ein reines Deutsch sprechen konnte.

Aber auch ihre gezierte Sprache fand ein spöttisches Echo an jenem Tisch ungezogener Grünschnäbel.

»Ich gehe nach Hause, ich bekomme Kopfweh hier«, klagte Lulu und stand auf.

Die Mutter, gewohnt, gegen den Willen der Tochter nichts auszurichten, ließ sie gewähren.

Am Ausgang wurde Lulu unsanft bei Seite gedrängt. Jenes hübsche Dienstmädchen, dem Beuthien in den Saal gefolgt war, hastete an ihr vorüber.

»Marie Marie!« rief der Eiligen ein amtsfreier Briefträger nach. Aber Marie hörte nicht.

Lulu, entrüstet über den Stoß, gewahrte, sich umsehend, auch Beuthien, eine Cigarre im Mund, langsam und wie gelangweilt aus dem Saal zurückkommen. Von neuen Ankömmlingen am Weiterschreiten gehindert, mußte sie ihn herankommen lassen. Sie berührten sich im Vorübergehen, aber er sah sie nicht, oder wollte sie nicht sehen.

Verstimmt zog sie sich zu Hause auf ihr Zimmer zurück.

Ihre Lampe war nicht gefüllt, und sie ließ ihren Aerger an Anna aus.

»Dat is Madamm ehr Sak, Se hebben mi nix to seggen,« widersprach das Mädchen.

»Dummes Ding,« fuhr Lulu auf, und eine Ohrfeige brannte auf der Wange der verdutzten Ungehorsamen.

Ohne ein Wort zu wagen, erfüllte die Gemaßregelte Lulus Befehle.

Diese plötzliche Energie des sonst so gleichmütigen, phlegmatischen Fräuleins imponierte ihr so, daß sie verstummte. Nur in der Küche ballte sie heimlich eine Faust und brach eine ganze Viertelstunde später vor Wut in Thränen aus.

Lulu hatte durch diese gewaltsame Entladung ihres aufgespeicherten Unmutes ihre Gemütsruhe wieder gewonnen. Sie stand schon lange auf keinen guten Fuß mit der Anna und freute sich, sie einmal »Mores« gelehrt zu haben.

Daß die Geschlagene die Züchtigung so ruhig einsteckte, hatte sie kaum erwartet. Das gab ihr Mut. Von jetzt an wollte sie anders auftreten.

Es war ihr, als hätte sie sich mit dieser Ohrfeige zugleich an allen anderen Mädchen gerächt, auf die sie erbost war, weil sie Beuthiens Umgang und Freundschaft genossen.

Sie lachte einmal im Genuß dieser eingebildeten Rachebefriedigung auf. Am liebsten hätte sie der Roten, mit der Beuthien vorhin getanzt, die Ohrfeige versetzt, und der Paula gleichfalls, dem dummen Gör. Sie hätte sie knuffen mögen, als sie so wichtig mit ihrem Erlebnis herausplatzte.

Anna hatte eigentlich die ihr zugefügte Schmach mit einer Kündigung beantworten wollen, besann sich aber mit Rücksicht auf die gute Stellung, die sie im Behnschen Hause hatte, eines andern.

Im Stillen nährte sie von jetzt an einen glühenden Haß auf Lulu, der sie so viel als möglich aus dem Wege ging.

Zwei Tage später war Lulu im Laden der Wittfoth zufällig Zeuge, wie jenes Mädchen, Beuthiens Tänzerin, erzählte, daß sie am Mittwoch mit dem jungen Fuhrmannssohn getanzt hätte.

»Das is aber'n Flotten«, schwärmte sie. »De danzt', dat's 'n Staat is«.

Am Sonntag wolle er wieder tanzen, erzählte sie weiter, im Ottensener Park. Leider aber hätte ihre Madam großen Kaffee, und so könne sie nicht fort.

»Und er bat mir doch so herzlich«, schloß sie bedauernd.

Wie der Blitz kam Lulu der Gedanke: Da ist Gelegenheit. Dort kennt dich niemand. Am Sonntag besuchst Du den Ottensener Park.

Sie dachte nach, wie sie diesen abenteuerlichen Plan am leichtesten verwirklichen könnte. Sie war wie besessen von der Idee.

Eine in Altona wohnende Freundin fiel ihr ein, die derartigen leichtsinnigen Unternehmungen nicht abhold sein würde. Allein getraute sie sich nicht zu gehen. Vielleicht hatte jenes Mädchen, eine Mäntelnäherin in einem großen Altonaer Konfektionsgeschäft, irgend einen bekannten jungen Mann, der sie begleitete. Schlimmsten Falles konnte man jenes Lokal auch ohne Herrenbegleitung besuchen.

Die Freundin ging sofort auf ihren Vorschlag ein, Feuer und Flamme für ein Unternehmen, das pikanteste Unterhaltung versprach.

Man verabredete alles schriftlich, und Lulu sah in fieberhafter Aufregung dem Sonntag entgegen.


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