Gustav Falke
Aus dem Durchschnitt
Gustav Falke

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XXII.

Die Verlobungsfeierlichkeit hatte Therese sehr angegriffen. Nach kurzem, unruhigem Schlaf war sie mit heftigem Husten und leichtem Schüttelfrost erwacht.

Frau Caroline war sehr besorgt.

Therese wollte durchaus aufstehen, da die Tante sonst den Tag über allein im Geschäft sein würde, denn das neue Fräulein sollte erst am andern Tage zugehen. Aber die Tante litt nicht, daß Therese das Bett verließ. Wenigstens wollte sie vorher mit dem Arzt sprechen.

Ein Kind aus der Nachbarschaft übernahm gern, für zwanzig Pfennig Botenlohn, diesen zu holen. Er kam und konstatierte eine Lungenentzündung. Therese müsse unter allen Umständen im Bett bleiben. Warum man nicht schon früher geschickt hätte. Auch dürfe die Kranke auf keinen Fall in dem dunklen feuchten Hinterzimmer bleiben. Er nahm die übrigen Räume in Augenschein und ordnete die Umbettung ins beste Zimmer an.

Frau Caroline war untröstlich und quälte Therese mit lautem Lamentieren.

Die gutmütige Frau scheute kein Opfer, aber es war ihre Art, alle Dinge zu vergrößern und über kleine Unbequemlichkeiten tagelang zu jammern.

»Was fang ich an. Wie sollen wir die Möbel umsetzen? Ich kann das nicht. Ich kann den schweren Schrank nicht tragen.«

Therese beruhigte sie, daß man Hilfe finden würde, niemand mute ihr zu, den schweren Schrank eigenhändig ins andere Zimmer zu tragen.

»Und wenn die Frieda uns nun sitzen läßt«, jammerte die Tante weiter. »Was soll ich anfangen. Alle Hände voll zu thun, und keine Hilfe.«

»Warum sollte Fräulein Frieda nicht kommen, liebe Tante?« tröstete die Kranke. »Du machst Dir viel zu viel unnötige Sorgen.«

»Du hast gut sprechen«, eiferte die Wittfoth. »Du liegst ruhig im Bett. Aber ich soll man alles allein fertig bringen. Die Küche sieht schon aus, daß ich mir die Augen aus'n Kopf schäme. Kein Stück ist rein.«

Therese schwieg. Sie wußte, daß in solchen Stunden mit der umständlichen Frau nicht zu reden war.

Natürlich ging alles besser, als Frau Caroline gedacht hatte. Vater Beuthien erwies sich beim Umsetzen der Möbel als treuer Bräutigam und Helfer in der Not, und auch Fräulein Frieda traf rechtzeitig ein, eine kleine schwarzäugige, bleichsüchtige Brünette, mit Anlagen zur Korpulenz.

Hermann, der sich zu erkundigen kam, wie das Familienfest den beiden Damen bekommen sei, erschrak, Therese bettlägerig zu finden. Er kam in der Folge öfter, und sie ließ es zuletzt zu, daß er vor ihrem Bett saß.

Sie befand sich nie besser, war nie hoffnungsfreudiger, als wenn er bei ihr war. Sie sprach mit Zuversicht von ihrer baldigen Genesung, und er unterstützte sie in diesem Glauben, obgleich er sehr besorgt war. Er sah sie abmagern, sah die kleinen roten Punkte auf den Wangen sich zu Flecken vergrößern.

Er hatte heimlich mit dem Arzt gesprochen, und der hatte ihm wenig Hoffnung gemacht. Die Schwindsucht, die bisher im Verborgenen geschlichen, wäre heftig zum Ausbruch gekommen, und es würde wohl schnell zu Ende gehen.

Hermann hatte der Tante nichts von seiner Unterredung mit dem Arzt gesagt, da er sie genügend kannte, um zu wissen, daß sie sich unverständigen, die Kranke schädigenden Gefühlsausbrüchen hingeben würde.

Frau Caroline erzählte überhaupt gern Krankengeschichten. Hatte jemand einen Schnupfen, so wußte sie unbedingt Fälle von tötlicher Ausartung dieser an sich gefahrlosen Erkältung. Bei einem Sterbefall erinnerte sie sich eines halben Dutzend anderer und wußte Ursache, Verlauf und Ende jeder Krankheit bis ins kleinste zu vermelden. Auch Lungenentzündungsfälle schwerer Art hatte sie genügend erlebt, um Therese die angenehme Aussicht auf möglicherweise unglücklichen Ausgang eines solchen Leidens naiv zu eröffnen.

Natürlich nahm sie Theresens Fall nicht für so ernst.

Durch ihr Geschäft, durch die Einführung und Anleitung des neuen Fräuleins vollauf in Anspruch genommen, blieb sie in ihrer Täuschung.

»Der Husten muß austoben«, sagte sie. »Wir wollen Dich schon wieder rauskriegen. Sei man ruhig.«

»Wenn ich nur vor dem Herbst wieder werde, damit ich das schöne Wetter noch genießen kann«, meinte Therese, und die Tante versprach ihr noch die schönsten Tage.

Vorläufig schienen diese sich auf die Wanderschaft begeben und diesen Bezirk griesgrämlicheren Vettern überlassen zu haben. Statt der Hitze der Hundstage war eine Regenperiode angebrochen, wie sie so oft den Sommer in Hamburg schmälert. Beständige Westwinde trieben immer neue Regenmassen herbei. Kein Tag verging ohne Niederschläge. Es waren unfreundliche, fast herbstliche Tage.

Traurig sah Therese von ihrem Lager aus den Regen herunterrauschen, gegen die Fenster prasseln, von dem Trottoir aufspritzen in kleinen glitzernden Bögen, Strahlen und Tropfen.

Wie freute sie sich, wenn ein Sonnenstrahl durch das trübselige Grau drang, an der Wand des Behnschen Hauses herunterglitt, über die Straße hüpfte, zu ihr ins Zimmer hinein.

Wie gern hätte sie ein Stück Himmel gesehen, aber sie mußte sich von ihrem Bett aus mit der beschränkten Aussicht auf das Straßenpflaster und das Parterre des Behnschen Hauses begnügen.

So kam es, daß sie sich häufiger mit dessen Bewohnern beschäftigte, namentlich mit Lulu.

Wie lange hatte sie Lulu nicht gesehen. Ob sie wohl noch mit Wilhelm Beuthien ein Verhältnis hatte, wie Mimi einmal behauptete. Therese konnte es nicht glauben. Mimi übertrieb immer, wenn sie erzählte.

Warum denn Mimi sich wohl gar nicht wieder blicken ließ. Es war doch unrecht. Ob sie doch stolz geworden war? Wie gerne hätte sie einmal etwas von ihr gehört.

Hermann schien doch besser über den Schmerz, den Mimi ihm zugefügt, hinweg zu kommen, als sie geglaubt hatte. Vielleicht war es auch keine tiefe, echte Neigung von ihm gewesen.

Ob er einer solchen überhaupt fähig war? Keinen Augenblick zweifelte sie daran.

Wie thöricht war es von Mimi, Hermann nicht festzuhalten. Aber es war doch gut so. Er würde als Verlobter Mimis nicht so viel Zeit für sie jetzt übrig gehabt haben.

Wie freute Therese sich auf sein nächstes Kommen, auf das sie sicher rechnen durfte. Er vergaß sie nie, und sie fühlte wohl, es war echte Teilnahme, was ihn zu ihr führte, nicht kaltes Pflichtgefühl. Das machte sie glücklich. Sie hatte Teil an seinem Herzen.

Manchmal aber bangte ihr heimlich, wenn sie erst wieder gesundet sei, seines Mitleids nicht mehr bedürfe, könnte das alles wieder anders werden. Und manchmal auch, aber selten, sehr selten, kam ihr die Furcht: wenn du nun stirbst?

Aber nur wie ein flüchtiger Schatten huschte das Bild des Todes durch ihre Gedanken. Ihre Hoffnungsfreudigkeit war nicht zu beeinträchtigen, und es war ein Glück, daß auch Frau Carolinens Sorglosigkeit keine trübe Stimmung aufkommen ließ.

Die Tante war auch viel zu viel mit sich selbst beschäftigt.

Nie hatte sie so viel zu thun gehabt, als gerade jetzt, da Therese im Bett liegen mußte. »Die Hausthür klingelt nur einmal am Tag«, sagte sie, um anzudeuten, daß die Ladenglocke überhaupt nicht zum Schweigen käme.

»Meine Beine, meine Beine! Noch einen Tag länger, und ich bin fertig.«

»Na, an mir ist ja auch nicht viel gelegen«, setzte sie oftmals hinzu.

Fräulein Frieda zeigte sich sehr unanstellig und unerfahren. Sie war natürlich »die Schlechteste, die man hätte kriegen können, zu nichts zu gebrauchen, nicht mal zum Kartoffelschälen.«

»Hätten wir doch Mimi noch«, klagte die Tante.

»Wärst Du nicht krank, sofort schickte ich die dumme Person weg. Jede Minute muß man sich ärgern. Aber wie kann ich jetzt wechseln. Dann ginge ja wohl alles zu Grunde.«

»Warte nur Tantchen, bis ich wieder besser bin, lange kann's ja nicht mehr dauern«, tröstete Therese.

»Zeit wird's«, seufzte Frau Caroline. »Alleine halte ich es nicht mehr aus. Ich bin am ganzen Körper wie zerschlagen. Wenn es so weiter geht, lege ich mich auch noch hin.«

Das klang gerade nicht sehr aufheiternd für Therese. Aber wenn diese die Bedauernswerte kurz nach solchen Klageliedern im Laden laut lachen, oder in der Küche mit Tellern unsanft umherstoßen hörte, war sie über Nerven und Glieder der Tante beruhigt.


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