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»Hält in der Hand den Sommerhut,
Und duldet still der Sonne Glut,
Und weiß nicht, was beginnen.«
Jesabell schritt in tiefen Gedanken durch den abendstillen Schloßpark. Glühend roth sank der Sonnenball in der westlichen Thalebene, eine grelle, flammende Beleuchtung über das alte Gemäuer und die lautlosen Wipfel gießend, als seien sie in ein Meer von Gold und Purpur getaucht. Droben in dem terrassenartigen Garten zog sich eine halbzerfallene ehemalige Brüstung hin; jäh am senkrechten Abgrund stieg sie auf, mit bemoostem Gestein hinabschauend, wo sich der wilde Gebirgsbach mit schäumenden Wellen seine Bahn brach. Breite Epheuranken hingen über die Crenelirung, durchwachsen von der schlanken Waldrebe, und hie und da sogar lieblich geschmückt durch einen Strauch Heckenrosen, welche unbehindert ihr Gezweig über die Granitblöcke breiteten. Jesabell setzte sich sinnend auf die Mauer nieder und ließ den Blick über das üppige Gemälde schweifen, welches sich vor ihr in voller Farbenpracht entrollte; sie hatte den Sommerhut an den Arm gehängt und duldete achtlos, daß der leichte Lufthauch um die weiße Stirn wehte.
Dicht zur Seite erhob sich das dunkle Eisengitter, welches den Kiosk und seine verwilderten Gartenanlagen von dem Schloß und Park trennte. Die Comtesse hatte ihm den Rücken gewandt und dachte mit geneigtem Haupt über die letzten Tage nach, welche so viel Veränderung in dem stillen Schloß mit sich gebracht hatten. Wie wird das glänzende Gebäude bestehen, welches die Gräfin und Lothar mit leichtsinnigen Händen aufbauten, voll bunter Bilder und gleißender Illusionen, unter welchen ein fundamentloser Boden schwankte? Eine namenlose Angst preßte plötzlich ihr junges Herz zusammen und mit tiefem Aufseufzen hob sie die dunkeln Augen zum Himmel empor: »Hilf Du uns, Du lieber Vater droben!«
»Welch ein tiefer Seufzer! Darf man fragen, wohin er flog, Jesabell?« erklang plötzlich eine sonore Männerstimme hinter ihr, und die Rosenzweige raschelten, als würden sie von einer starken Hand zur Seite geschoben.
Das junge Mädchen schrak empor und wandte sich hastig um, glühendes Roth der Verlegenheit lohte über die klare Kinderstirn.
»Bruder Desider! Hast Du es von dem Irrgeist gelernt, urplötzlich aus der Erde zu steigen?« Und lächelnd trat sie einen Schritt vor und reichte ihm die Hand entgegen, »welch seltene Freude, Dich einmal zu sehen!«
Graf Echtersloh faßte die schmalen Finger mit festem Druck. »Eine Freude? Ist es Dir wahrlich eine Freude mir zu begegnen, Schwesterchen, oder bringst Du nur ein paar schöne Worte aus der Residenz mit, um für den Einsiedler auf Casgamala eine höfliche Redensart bereit zu haben?«
Jesabell blickte voll zu ihm empor und schüttelte treuherzig das Köpfchen. »Nein, Desider, wahrlich nicht! Im Gegentheil, ich möchte Dir einmal so recht zeigen, wie gut ich es im Herzen mit Dir meine, und wie glücklich ich sein würde, dürfte ich Dir im wahren Sinne des Wortes eine Schwester sein.«
Leises Roth stieg in die Wangen des jungen Mannes, er trat hastig zu der Mauer und setzte sich auf die moosbewachsenen Steine nieder. »Bist Du das nicht schon?« fragte er ohne aufzublicken, »Du nanntest mich ja stets Bruder, Jesabell, Du verleugnetest mich noch nie!«
»Nein, aber Du mich!« Die Comtesse nahm ihren alten Platz ihm gegenüber wieder ein und wies mit leisem Vorwurf auf das hohe Eisengitter, »dort, jene starren trotzigen Stäbe und Riegel drängen sich zwischen unsere Herzen, und die Scheidewand, welche Du so auffällig zwischen Neubau und Kiosk gezogen hast, wohl schon in einer Vorahnung auf seine jetzigen Eindringlinge, die trennt auch unsichtbar den Sohn von der Familie, und jeder Schlüssel, der sich voll eisiger Abwehr in den Schlössern dreht, der zerreißt zu gleicher Zeit das letzte schwache Band der Liebe, das Dich bis jetzt an uns gefesselt hielt!«
Graf Desider neigte düster das Haupt, sein gewaltiger breitrandiger Strohhut hüllte Stirn und Augen in tiefen Schatten und gab dem Antlitz dadurch wohl unwillkürlich schon ein ernsteres Aussehen.
»Du weißt ja, Jesabell, wie ich mit der Mutter stehe!« sagte er gepreßt, »sie hat mir niemals zärtliche Gefühle entgegengebracht und keine von mir verlangt, sie hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie den Stiefsohn haßt, den Erstgeborenen, welcher dem eigenen Kind durch die Rechte der Natur das Majorat abgewonnen hatte. Es ist in mir zu Fleisch und Blut geworden, Gräfin Echtersloh als meine Feindin zu betrachten! Schrick nicht empor, Schwesterchen, Dir soll es nie ein Vorwurf sein, Du warst des Vaters Liebling, Du hast jenen einen, edlen Tropfen seines Blutes geerbt, seine milde Güte zu mir!« – Graf Desider zog den Hut von der erhitzten Stirn und athmete tief auf, wie schimmerndes Gold fiel sein reiches Blondhaar in die Stirne und zum ersten Male schaute Jesabell in seine Augen. O, welch' wunderbare Augen waren das! Und wie sich jetzt dieser ernste, traurige Blick auf ihr Antlitz heftete und der junge Mann ihr seine Hand entgegenbot, mit den leisen, fast flehenden Worten: »Und um unseres Vaters willen, bleibe mir auch gut!« – Da brauste es voll niegekannter Innigkeit durch ihre Seele und seine Hand fest in die ihren schließend, hob sich das rosige Gesichtchen.
»Ja, Desider, ich will es, so wahr mir Gott helfe!« rief sie mit glühenden Wangen, »ich habe Dich lieb und weiß, daß Du meiner Seele näher stehst, als all' die Menschen im Schlosse drüben, welchen mich das Schicksal durch seine natürlichsten Bande so eng verkettet hat! Mag Lothar immerhin sagen, daß unsere Züge sich ähnlich sehen, unsere Gedanken sind so verschieden wie Tag und Nacht, und wenn die Mutter mir auch schmeichelnd versichert, ich sei ihre Lieblingstochter und ein Stück von ihrem Herzen, eins drängt sich dennoch schroff und kühl zwischen uns, das Bild meines Vaters, dessen liebe Augen mich plötzlich wieder anschauen, dessen Stimme wieder zu mir spricht, dessen treue Hände ich wieder hier in den meinen halten darf, dessen Ebenbild Du bist, Desider, und dessen Schutz und Liebe mir in Dir wiedergeschenkt sind, wie ich es fühle, jetzt, in diesem Augenblick!« Und in schmerzlicher Leidenschaft schlang sie den Arm um seinen Nacken und schaute mit thränenfeuchten Augen zu ihm auf. »Und wenn sie auch Alle sagen, Du wärest ein Sonderling, und wenn kein Mensch Dein Thun und Handeln begreifen kann, ich zweifle nicht an Dir, ich blicke in Deine Augen und weiß es, daß all' die Worte jener Menschen gelogen haben!«
Ein Beben durchflog die hohe Gestalt des Grafen, mit zitternder Hand bog er das lockige Köpfchen zurück und schaute in die reinen Züge, wie ein Dürstender, welcher sich endlich an dem süßen Quell der Treue und Aufrichtigkeit satt trinken will.
»Du sagst mir viel, Kind,« entgegnete er leise, »mehr, als Du vielleicht willst, mehr, als wie mir nach dieser langen Zeit der Einsamkeit gut ist, Gott segne Dich für jedes liebes Wort.«
Jesabell richtete sich empor und lächelte: »Deine Einsamkeit soll nun ein Ende haben, Bruder, wir wollen uns oft sehen jetzt, und wenn Du nicht zu uns in das Schloß kommen willst, so kennst Du ja nun meinen Lieblingsplatz hier, auf dieser Mauer sitze ich jeden Abend.«
»Und wenn ich mich nach einem freundlichen Worte sehne, so komme ich zu meinem Schwesterchen?«
Das junge Mädchen nickte heiter. »Wir haben einander noch viel zu erzählen, Desider, bedenke, wie lange wir im Leben getrennt waren!«
Hand in Hand saßen die beiden schönen Gestalten in dem purpurnen Abendschein, so verschieden und dennoch geistig in voller Harmonie; die kleinen Epheuranken schaukelten im Winde und der gelbe Mauerpfeffer schmiegte sich um die schlanken Finger Echterslohs, welche sich mechanisch auf das bröckelnde Gestein stützten. Noch hatte er das Haupt nicht wieder bedeckt und seine Züge zeichneten sich scharf gegen das strahlende Firmament ab.
»Wie geht es Lothar?« fragte er nach kurzer Pause.
»Besser, er ist heute für den ganzen Nachmittag aufgestanden; wirst Du gar nicht einmal persönlich nach ihm sehen?« Fast bittend blickte Jesabell empor. Graf Echtersloh drückte mit hastiger Bewegung wieder den Hut auf das Haupt.
»Ich selber? Du verlangst viel. Kind!« Er sprach fast herb. »Lothar und ich haben uns niemals nahe gestanden, er möchte meine Annährung falsch auslegen!«
Die Comtesse richtete sich mit jähem Entschluß empor. »Der Aeltere, der Klügere und – Bessere bietet stets zuerst die Hand zur Versöhnung!« sagte sie mild, »und dieser Bessere bist Du, Desider! Und noch ein anderer Grund,« fuhr sie zögernd fort, »welcher Dir wohl ebenso wenig gleichgültig sein kann, wie mir und jenen Andern im Schlosse drüben, der ist folgender: In den nächsten Tagen erwarten wir Besuch aus der Residenz. Die Verhältnisse hier sind wunderlich genug, Bruder, um sie auch noch durch unser Zerwürfniß bis zur Unerträglichkeit zu steigern. Man hat in letzter Zeit genug den Namen Echtersloh zerfleischt und ich fürchte, Lothar wird auch noch dafür sorgen, ihn in der Leute Mund zu bringen. Laß die Welt drum nicht auch noch in das Elend unserer vier Mauern schauen, wo sich der Sohn von der Mutter, der Bruder von den Geschwistern durch ein eisernes Gitter trennt. Die Welt hält Dich für einen Sonderling, Desider, aber sie soll sich überzeugen, daß sie Dir Unrecht gethan hat!«
Ueber das ernste Gesicht des Majoratsherrn flog ein schnelles Lächeln. »Wie klug doch meine kleine Schwester ist!« sagte er fast heiter, »und wie schwer, ihrer lieben Stimme zu widerstehen. Wohlan, Jesabell, ich werde Dir und unserm alten Namen zu Liebe in das Schloß zu den Deinen gehn. Wen erwartet ihr?«
»Eine Pensionsfreundin von mir, Fräulein, Dagmar von der Ropp – o ich freue mich unendlich darauf!«
Es war gut, daß in diesem Augenblick der Hut der jungen Dame von der Mauer glitt und seitwärts in die Rosenranken fiel. Jesabell neigte sich ihm nach und gewahrte nicht, wie Desider emporschrak bei dem Klang dieses Namens, todtenbleich, wie von einem Dolch getroffen. Regungslos verharrte er einen Augenblick, seine Brust rang mühsam nach Athem.
»Dagmar von der Ropp?« wiederholte er endlich wie ein Träumender, »hat sie einen Bruder, der Kadett war?«
»Ja gewiß, der Fritz!« lachte die Comtesse leicht auf, »ein tolles Bürschchen, der nach einem halben Jahr bereits aus dem Corps fortgeschickt wurde und jetzt in holländischen Diensten in Ostindien steckt, warum? kennst Du sie vielleicht?«
Graf Echtersloh erhob sich fast ungestüm. »Ich muß jetzt zurück, Jesabell, ich habe noch zu thun, verzeih, mir!« stotterte er hastig, ihr die Hand entgegen reichend, »die Sonne geht wundervoll unter, wir werden morgen gutes Wetter haben!« und dabei rückte er den Hut so tief in die Stirn, daß kaum noch Nase, Lippen und Kinn unter dem breiten Rand zu sehen waren; aber die Lippen waren bleich und zitterten.
Jesabell schaute erstaunt empor. »So eilig plötzlich? Leb wohl, Bruder! und –« sie hielt seine Hand fest und sah ihn flehend an, »nicht wahr, Du kommst zu uns ins Schloß?«
In maßloser Verwirrung schaute Desider unter sich, »hatte ich es Dir schon versprochen?«
»Ganz gewiß, eben im Augenblick!«
Die schlanke Gestalt des Grafen richtete sich hoch und stolz auf, ein finsterer, fast trotziger Zug lagerte auf dem bleichen Antlitz. »Dann werde ich mein Wort auch halten. Auf Wiedersehen, Jesabell!« und mit festen Schritten ging er durch Ranken und Gestein, durch die blühenden Gebüsche an dem eisernen Gitter entlang.
Das junge Mädchen aber schaute ihm kopfschüttelnd nach.
»Sonderbar, was trieb ihn so plötzlich fort? warum war er mit einem Male wie umgewandelt? Ob er vielleicht Fritz gekannt hat, ihn wegen seines Leichtsinnes haßte? Da geht er mit großen, hastigen Schritten davon, als brenne der Boden unter seinen Füßen, nicht einmal schaut er zurück, und wenn ich jetzt eine Fremde wäre, dann würde ich sagen: »ja, er ist doch ein wunderlicher Mensch!« So aber bin ich seine Schwester und getreue Freundin, die überzeugt ist, daß alles, was ihn in andern Augen verrückt erscheinen läßt, dennoch einen tief geheimen Grund und Ursache hat!« und damit stand die Comtesse auf, hing den Hut wieder an den Arm und schritt langsam durch den Park zurück, dicht neben der Mauer her.
Ihr zur Seite führte der Fahrweg nach Casgamala empor. Leichter Hufschlag klang an ihr Ohr. »Es lebe was auf Erden stolzirt in grüner Tracht!« wurde dazu gepfiffen, und neugierig trat das junge Mädchen wieder an die Brüstung zurück, bog vorsichtig die duftigen Fliederzweige auseinander und schaute hinab.
Ein junger Jägersmann ritt gemächlich den Berg hinauf. Die Büchse hing über seiner Schulter, ein knappes, dunkelgrünes Jagdkleid war über der Brust in breitem Revers aufgeschlagen, und auf dem hellblonden, an den Seiten leicht gekrausten Haar saß keck der weiche Filzhut mit dem hohen Spielhahn. Er klopfte seine kurze Pfeife aus, und steckte sie zurück in die Tasche, dann warf er den Kopf in den Nacken und zuckte aufmunternd die Zügel.
Wie zufällig streift sein Blick das Mauergebüsch, um plötzlich überrascht an reizendstem Bild zu haften: ein dunkles Lockenköpfchen, welches neugierig durch die blühenden Zweige lugt.
Jesabell blickt verwirrt zu ihm nieder, zu diesem frischen Jünglingsgesicht, welches ihr mit den lustigsten Blauaugen entgegen lacht, sie sieht, wie er den Hut zieht und ihn mit übermüthigem Gruß ihr entgegen schwenkt, da schrickt sie glühend zurück und die Zweige schlagen Blüthen streuend über dem moosigen Gestein zusammen. Das Rößlein auf der Landstraße aber griff munter aus und von der nächsten Wegbiegung schallte es noch einmal zu ihr herüber: »Es lebe was auf Erden stolzirt in grüner Tracht!«