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Romola in ihrem Boot versank aus ihren Träumereien in einen langen, tiefen Schlaf, und dann wieder aus dem tiefen Schlafe in ein wirres Träumen, bis sie zuletzt fühlte, wie sie ihre Arme im Hofe des Bargello ausstreckte, wo die flackernden Flammen der Kerzen immer heller und heller zu werden schienen, bis die düstere Scene durch einen Lichtglanz verwischt wurde. Ihre Augen öffneten sich, und sie sah, daß es das Licht des Morgens war. Ihr Boot lag noch in einer kleinen Bucht – rechts die fleckenlose Sapphirbläue des mittelländischen Meeres, links eine jener Scenen, die, einst und jetzt immer auf's Neue wiederholt, einem lieblichen Rhythmus an den Ufern des lieblichsten aller Meere gleichen.
In einem tiefen Einschnitt der Berge lag eine Strecke grünen Landes, von sanften, umbuschten, sich an die felsigen Höhen anlehnenden Abhängen verdeckt. Diese Abhänge empor konnte man hier und dort einen Pfad schimmern sehen, der zwischen den Baumwipfeln zu kleinen unregelmäßigen Baulichkeiten führte, die rasch den Bergrücken hinaufgeklettert zu sein und dort einen schwer zugänglichen Standpunkt eingenommen zu haben schienen, um den in zerstreuten Gruppen liegenden Häusern des Dorfes drunten ihren hohen Glockenthurm als eine schöne Aussicht zu zeigen. Die Strahlen der eben aufgegangenen Sonne schienen schräg auf die westliche Spitze dieses halbmondförmigen Winkels, alles Uebrige lag noch im thauigen Schatten. Kein Ton drang durch die Stille, die Wasser selbst schienen sich dort zur Ruhe gelegt zu haben.
Die köstlichen Sonnenstrahlen fielen auf Romola, und berührten sie sanft wie eine Liebkosung. Sie lag bewegungslos, kaum die Scenerie um sich her beachtend, sondern nur das Zugegensein von Frieden und Schönheit empfindend. Während wir noch jung sind, können bei frühem Erwachen Augenblicke über uns kommen, in denen das einfache Dasein schon eine Lethe ist, und die Köstlichkeit einer zarten unbestimmten Regung Wonnen schafft, die jeder Erinnerung und jedes Wunsches bar sind. Als die sanfte Wärme Romola's jugendliche Glieder durchströmte, als ihre Augen auf dieser von der Welt abgeschlossenen Pracht ruhten, war es ihr, als ob die beunruhigende Vergangenheit, wie jene düstere Scene im Bargello verschwunden war, daß die Nachmittagsträume ihrer Mädchenzeit wiedergekehrt seien. Einige Augenblicke lang war diese Vergessenheit ungestört; sie dachte nicht einmal daran, daß sie hierfür immer ruhen könne, sie fühlte eben nur, daß sie ruhte. Dann wurde sie sich deutlich bewußt, daß sie in dem Boote liege, welches sie während der Nacht hierher gebracht hatte. Statt sie dem Tode zuzuführen, war es die leise einlullende Wiege zu einem neuen Leben gewesen. Trotz ihrer Verzweiflung am Abend vorher war sie froh, daß der Morgen für sie wiedergekehrt war, froh, daß sie in dem ihr bekannten Sonnenlicht statt in den unbekannten Regionen des Todes weilte. Konnte sie denn nicht hier bleiben? Kein Ton von Florenz würde sie hier erreichen. Schon war ihr Vergessen gestört; hinter dem goldenen Nebel traten Dome, Thürme und Mauern, von einem Strome geschieden und von den grünen Hügeln umschlossen, hervor.
Sie erhob sich aus ihrer liegenden Stellung und setzte sich in dem Boot in die Höhe, um, wenn möglich, dem Andrange der Gedanken, die zugleich mit der Frage, wie weit das Boot sie wohl geführt haben mochte, auf sie einstürmten, zu widerstehen. Warum mußte sie sich aber darum kümmern? Dies hier war ein geschützter Winkel der Erde, wo nur einfache Landleute lebten, die ihr sicherlich kein Leid zufügen würden. Sie konnte wenigstens auf kurze Zeit hier ausruhen, ohne einen bestimmten Plan zu fassen. Jetzt wollte sie gehen und etwas Brot und Milch holen, um sich dann in der grünen Einsamkeit niederzulassen und zu fühlen, daß ein Ruhepunkt in ihrem Leben eingetreten sei. Sie wandte sich, das halbmondförmige Thal zu betrachten, um das beruhigende Gefühl von Frieden und Schönheit, das sie bei ihrem ersten Erwachen empfand, zurückzurufen.
Kaum hatte sie einige wenige Minuten in dieser betrachtenden Stellung zugebracht, als ein durchdringender Schrei die Stille unterbrach – kein kurzer Schrei, sondern ein lang anhaltender und immer stärker werdender Schrei. Romola war überzeugt, daß es der Schrei eines kleinen in Gefahr befindlichen Kindes, dem Niemand zu Hülfe kam, war. Sie sprang auf und setzte einen Fuß auf die Bootsplanke, bereit, hinaus und an's Land zu springen; aber sie hielt inne und lauschte; die Mutter des Kindes mußte in der Nähe sein und der Schrei bald verstummen. Allein er währte fort und zog Romola so unwiderstehlich nach sich, indem er ihr nach dem vorhergehenden Gefühl des Friedens um so klagender erschien, daß sie an's Land sprang und ziemlich weit vorwärts ging, ohne daß sie wußte, wohin sie ihre Schritte lenken sollte. Sie glaubte, der Schrei käme aus einer nahen Gartenanlage, ziemlich weit zu ihrer Rechten, wo sie eine halb verfallene Hütte gewahrte. Sie kletterte über eine niedrige zerbrochene Steinumfriedigung, und bahnte sich den Weg durch Flecken von grünem, mit Unkraut unterwachsenem Gras und reifem aber vernachlässigtem Korn. Das Schreien wurde deutlicher, und überzeugt, daß sie nicht fehl gegangen war, eilte sie der Hütte zu, aber selbst bei diesem raschen Gange fühlte sie einen bedrückenden Wechsel der Luft, indem sie sich von der See entfernte. Lauerte irgend eine Ansteckung zwischen der grünen Fülle, die ihr als ein so einladender Schutz gegen die Hitze des kommenden Tages erschienen war? Sie konnte jetzt die Oeffnung in der Hütte sehen, und der Schrei durchzuckte sie wie eine schmerzliche Empfindung. Im nächsten Augenblick überschritt ihr Fuß die Schwelle der Thür, aber der Anblick, der sich ihr in der düstern Beleuchtung darbot, bannte sie mit einem Gefühle des Entsetzens und der Furcht. Auf dem Stroh, mit dem der Fußboden bestreut war, lagen drei todte Körper, ein großer Mann, ein etwa achtjähriges Mädchen und eine junge Frau, deren langes schwarzes Haar von einem lebenden Kinde festgehalten und gezerrt wurde – es war das Kind, das jenes durchdringende Geschrei ausstieß. Romola's Erfahrungen in den Behausungen des Todes und der Krankheit beschleunigten Ueberlegung und That; sie hob das kleine Kind auf, und indem sie sich bemühte es an ihrem Busen zu beruhigen, beugte sie sich nochmals herab, um die Körper zu betrachten und zu sehen, ob sie wirklich todt seien. Die scharf ausgeprägten Züge der Abstammung und die eigenthümliche Tracht ließen sie vermuthen, daß es spanische oder portugiesische Juden waren, welche vielleicht von raubgierigen Matrosen, die ihr Eigenthum als Beute behielten, an's Land gesetzt und dort zurückgelassen wurden. Dergleichen begegnete den Juden, die von der Inquisition gezwungen waren, ihre Heimath zu verlassen, beständig; die Grausamkeit der Habsucht vertrieb sie von der See, und die Grausamkeit des Aberglaubens jagte sie wieder dahin zurück.
»Sicherlich werde ich doch,« dachte Romola, »irgend eine Frau im Dorfe finden, deren Mutterherz ihr gebieten wird, dieses hülflose Kind zu pflegen, wenn die wirkliche Mutter todt ist.«
Dieser Zweifel behauptete sich, weil, während der Mann und das Mädchen abgemagert aussahen und Spuren eines schon vor längerer Zeit erfolgten Todes zeigten, die Frau stärker gewesen zu sein und noch nicht ganz die Kraft ihrer Form verloren zu haben schien; Romola kniete und wollte ihr die Hand auf's Herz legen, als sie aber das Stück gelben Wollenzeuges, das über der Brust lag, aufhob, bemerkte sie die rothen, der Pest eigenthümlichen Flecken. Sie sah nun, daß, wenn die Dorfbewohner dies wußten, sie auf größere Schwierigkeiten, als sie erwartet hatte, stoßen würde, um Hülfe von ihnen zu erhalten; sie würden sogar vielleicht vor ihr, wenn sie mit diesem Kind auf dem Arm käme, zurückschrecken. Aber sie hatte ihnen Geld zu bieten, und sie würden es also wohl nicht abschlagen, ihr dafür etwas Ziegenmilch abzulassen.
Sie begab sich alsbald nach dem Dorfe, damit beschäftigt, das kleine dunkelfarbige Wesen zu beschwichtigen, und darüber nachdenkend, wie sie irgend eine Frau dazu bekommen sollte, sich desselben anzunehmen. Sie konnte nicht umhin, auf eine gewisse ehrfurchtsvolle Scheu zu bauen, die sie, wie sie bemerkt hatte, einflößte, wenn sie unbekannt und unerwartet in ihrem geistlichen Gewande erschien. Als sie eine Strecke bebauten Landes durchschritt, bemerkte sie mit Erstaunen, daß kleine Flecken Korn mit anderer Saat gemischt in Ueberreife stehen gelassen waren, ohne daß die Sense sie berührt hatte, und daß goldfarbige Aepfel und dunkle Feigen auf dem mit Unkraut bedeckten Boden lagen und verfaulten. Grasplätze waren sichtbar, aber weder eine Kuh, noch ein Schaf oder eine Ziege. Diese Stille fing an etwas Furchtbares für Romola zu haben; sie eilte weiter, dahin, wo die meisten Häuser neben einander standen, und wo am meisten Leben herrschen mußte, um für das hülflose Wesen auf ihren Armen zu bitten. Sie hatte zwei Feigen aufgehoben, und biß kleine Stücke von dem süßen Fleisch ab, um das Kind damit zu nähren.
Sie trat jetzt zwischen die beiden Häuserreihen. Es war an der Zeit, daß die Dorfbewohner längst hätten aufgestanden sein müssen, aber keine Menschenseele war sichtbar. Die Luft wurde immer schwüler, und schien wie von einer schrecklichen Unreinheit geschwängert. Eine Thür stand offen, sie blickte hinein und sah eine abschreckende Leere. Noch eine geöffnete Thür, und durch diese sah sie einen vollständig angekleideten Mann, den Kopf über einem Spatengriff, und einen irdenen Krug in der Hand, todt daliegen, als ob er plötzlich zusammengestürzt wäre.
Romola fühlte, wie das Entsetzen sie überfiel. War sie in einem Dorfe voll unbeerdigter Leichen? Sie wollte hören, ob nicht irgend ein schwacher Laut sich vernehmen ließe, aber nur das Kind schrie auf's Neue, als sie ihm nichts mehr reichte, und dieser Schrei erfüllte ihr Ohr. Endlich erblickte sie eine langsam aus einem Hause hervorkriechende Gestalt, die gleich darauf in sitzender Stellung gegen die Mauer zurücksank. Sie eilte auf dieses Wesen zu; es war eine junge Frau in Fieberqual, die gleichfalls einen Krug in der Hand hielt. Als Romola sich ihr näherte, fuhr sie nicht zurück; das eine Bedürfniß, das sie fühlte, war zu dringend gewaltig, als daß es eine andere Empfindung hätte aufkommen lassen.
»Wasser! schafft mir Wasser!« rief sie in klagendem Tone.
Romola beugte sich hernieder, um den Krug zu nehmen, und flüsterte ihr milde zu: »Ihr sollt Wasser haben; könnt Ihr mir zeigen, wo der Brunnen ist?«
Die Hand erhob sich und deutete nach dem äußeren Ende der kleinen Straße, dem Romola mit aller Eile, die ihr das Tragen des Kruges und das Speisen des Kindes erlaubte, zuschritt. Der Kleine aber wurde immer ruhiger, als die Bissen des süßen Fruchtfleisches stets wiederholt wurden, und ließ nach, sie mit seinem Jammern zu ängstigen, so daß sie die Gegenstände umher weniger zerstreut betrachten konnte.
Der Brunnen lag zwanzig Ellen oder darüber jenseits des Endes der Straße, und als Romola sich ihm näherte, richteten sich ihre Augen auf den gegenüberliegenden grünen Abhang, dicht unterhalb der Kirche. Hoch oben, auf einem kleinen Grasplatz zwischen den Bäumen, hatte sie eine Kuh und ein paar Ziegen bemerkt, und sie suchte einen Weg zu entdecken, der sie zu diesem erfreuenden Anblick führte, sobald sie ihr Werk am Brunnen verrichtet haben würde. Auf diese Weise beschäftigt, gewahrte sie gar nicht, daß sie dicht neben dem Brunnen war, und daß Jemand, der von der andern Seite gekommen war, sie mit erstaunten Blicken ansah.
Romola bot allerdings einen Anblick dar, der jetzt und hier Zaudern und Beben erregen mußte. Ihr starr auf den entfernten Abhang gerichteter Blick, die langen Falten ihres dicken grauen Gewandes, die ihrem Gang den Anschein des Dahinschwebens gaben, ihr zurückfallendes und auf der linken Seite von den Sonnenstrahlen erhelltes Haar, der olivenfarbige Säugling, der mit den pechschwarzen Augen von ihrem rechten Arm aus dareinschaute – dieses Alles war wohl danach angethan, den fünfzehnjährigen Knaben zu erschrecken, der gewohnt war, das Weihrauchgefäß vor einer minder schönen und wunderbaren Madonna, als diese hier war, zu schwingen.
»Sie trägt einen Krug in ihrer Hand, um für die Kranken Wasser zu holen. Es ist die heilige Mutter Gottes, die gekommen ist, sich der von der Pest Geschlagenen anzunehmen.«
Es war ein Ehrfurcht gebietender Anblick; vielleicht zürnte sie Denen, die nur für sich allein Wasser holten. Der Knabe warf voll Schrecken sein Gefäß von sich, und Romola, die jetzt merkte, daß Jemand in ihrer Nähe war, sah die schwarz und weiße Gestalt, als gälte es das Leben, dem Abhang, den sie eben betrachtet hatte, zufliehen. Da sie aber der verschmachtenden Kranken dachte, füllte sie rasch ihren Krug zur Hälfte und eilte zu ihr zurück.
Als sie in das Hans trat, um eine kleine Schaale zu suchen, sah sie eingesalzenes Fleisch und Mehl; es war keine Spur von Mangel in der Wohnung. Mit einer gewandten Bewegung setzte sie den Säugling zu Boden und reichte der Kranken eine Schaale Wasser; diese trank mit gierigen Zügen, schloß dann die Augen, ihr Haupt zurücklehnend und sich dem Gefühle der Linderung hinzugeben scheinend. Gleich darauf aber öffnete sie ihre Augen, und fragte Romola mit schwacher Stimme:
»Wer seid Ihr?«
»Ich komme,« antwortete diese, »über's Meer, und zwar erst heute Morgen; sind alle diese Häuser ausgestorben?«
»Ich glaube, alle Bewohner sind krank – das heißt die, welche nicht todt sind. Mein Vater und meine Schwester liegen oben todt, und Niemand ist da, der sie begräbt. Ich werde nun wol auch bald sterben.«
»Das wollen wir nicht hoffen,« entgegnete Romola, »ich bin gekommen, Euch zu pflegen. Ich bin mit der Pest vertraut und fürchte mich nicht. Aber es müssen doch noch Einige übrig geblieben sein, die nicht krank sind. Ich sah einen Knaben dem Berge zulaufen, als ich nach dem Brunnen ging.«
»Ich weiß davon nichts. Als die Pest kam, zogen eine Menge Leute fort und trieben ihre Kühe und Ziegen mit sich. Gebt mir noch mehr Wasser!«
Romola, welche muthmaßte, daß, wenn sie die Richtung einschlüge, nach welcher der Knabe entflohen war, sie noch einige gesunde und rüstige Männer und Frauen finden würde, entschloß sich, dieselben alsbald aufzusuchen, damit sie diese wenigstens dahin bringen könne, sich des Kindes anzunehmen, und ihr es so ermöglichten, zurückzukommen und nachzusehen, wie viel Lebendige Hülfe und wie viel Todte Bestattung bedurften. Sie verließ sich auf ihre Ueberredungsgabe, den Beistand der Furchtsamen zu gewinnen, wenn sie nur einmal wußte, was sie zu thun hatte.
Nachdem sie der Kranken versprochen hatte, zu ihr zurückzukehren, nahm sie das kleine Geschöpf wieder auf den Arm und schritt dem Abhang der Anhöhe zu. Sie fühlte jetzt keine besondere Last, keine Sehnsucht nach dem Tode. Sie dachte daran, daß sie zu den übrigen Leidenden gehen könne, wie sie zu dieser vom Fieber heimgesuchten Frau gegangen war.
Aber mit dem Kinde auf dem Arm war es ihr nicht so leicht wie gewöhnlich eine Anhöhe zu erklimmen, und es schien ihr lange zu dauern, ehe die Windungen des Pfades sie zu der Kuh und den Ziegen führten. Sie fing an vor Hitze, Hunger und Durst zu ermatten, und als sie an eine Doppelwendung des Weges gelangte, blieb sie stehen, um zu überlegen, ob sie nicht lieber neben der Kuh warten solle, da doch bald Jemand kommen müsse, um dieselbe zu melken, statt sich bis zu der Kirche empor arbeiten zu müssen, ehe sie ein wenig geruht hätte. Indem sie ihre Augen erhob, um die steile Entfernung zu messen, sah sie zwischen den Büschen, ungefähr fünf Ellen von ihr entfernt, ein breites, rundes Gesicht hervorlugen, welches sie aufmerksam beobachtete, und weiter unten den schwarzen Saum eines Priestergewandes, sowie eine Hand, welche einen kleinen Eimer hielt. Sie betrachtete diese Erscheinung schweigend und das Gesicht blieb gleichfalls regungslos. Romola war oft Zeuge der überwältigenden Kraft der Angst in Pesthütten gewesen und benahm sich daher höchst vorsichtig.
Indem sie ihre Stimme im Tone sanfter Bitte erhob, sagte sie: »Ich komme über's Meer; ich und das Kind hier, wir sind hungrig; wollt Ihr uns nicht etwas Milch geben?«
Romola hatte einen Theil der Wahrheit errathen, nicht aber die Gedanken des Priesters, welcher ihren Worten eine seltsame Bedeutung unterlegte. Eben erst hatte der jugendliche Gehülfe dem Padre die Botschaft gebracht, daß er die heilige Mutter Gottes mit dem Kindlein gesehen habe, wie sie Wasser für die Kranken holte; sie war so groß wie die Cypressen, ein Licht schimmerte über ihrem Haupte, und sie blickte nach der Kirche empor. Der Ortspfarrer hatte ohne besondern Glauben diese Erzählung mit angehört; er lebte mehr als fünfzig Jahre in der Welt, ohne je eine Erscheinung der Madonna gehabt zu haben, und er war der Meinung, daß der Knabe das unerwartete Erscheinen einer Dorfbewohnerin mißdeutet haben mochte. Er war aber dennoch beunruhigt und hatte, ehe er sich herabwagte, seine Kuh zu melken, eine gute Anzahl Ave's hergesagt. Sein Gewissen setzte ihm gleichfalls zu; er zitterte vor der Pest, aber auch vor dem Gedanken an die Mutter mit dem gnadenreichen Antlitz, indem er recht wohl fühlte, daß jene unsichtbare Gnade noch etwas mehr von ihm verlangte, als Gebete und Segenssprüche. In dieser Stimmung – unfähig, das Bild, welches der Knabe von der Mutter mit der Glorie und die Kranken pflegend gemacht hatte, aus seiner Seele zu verbannen – war der Pievano (Ortspriester) herabgekommen, seine Kuh zu melken, und war plötzlich Romola's an dem sich theilenden Wege ansichtig geworden. Ihre flehenden Worte, mit ihrer Feinheit in Ton und Ausdruck, hatten, statt die Sache zu erläutern, für ihn einen übernatürlichen Klang. Doch war er nicht davon überzeugt, die heilige Mutter vor sich zu sehen; er befand sich in einem Zustande beunruhigenden Zweifels. Geschah etwas Wunderbares, so glaubte er nicht zu anmaßend zu sein, wenn er dieses Wunder zu seinen Gunsten auslegte. Er wagte weder zu fliehen, noch vorwärts zu gehen.
»Komm herab!« rief Romola nach einer kleinen Pause, »fürchtet Euch nicht; fürchtet Euch eher, den Hungrigen die Nahrung zu verweigern, wenn sie Euch darum bitten.«
Im nächsten Augenblick theilte sich das Gebüsch und die vollständige Gestalt eines untersetzten Priesters mit einem runden, gutmüthigen Gesicht, die schwarze Kutte sehr abgetragen und beschmutzt, stand mit dem Eimer in der Hand vor ihr, sie furchtsam anblickend und sich noch immer etwas fern haltend, indem er den Weg, der zur Kuh führte, schweigend einschlug.
Romola folgte ihm und beobachtete ihn stumm, als er sich neben die angebundene Kuh setzte und, nachdem er mit unsicherer Hand einige Milch gewonnen hatte, ihr dieselbe in einer kupfernen, im Eimer liegenden Schaale darreichte. Als Romola diese Schaale an die Lippen des gierig schlürfenden Kindes brachte und dann selbst etwas Milch trank, betrachtete sie der Padre von seinem hölzernen Schemel mit einer Furchtsamkeit, die sich jetzt in etwas verändert hatte. Er erkannte jetzt das Kind als ein hebräisches; er war überzeugt, daß er ein wirklich menschliches weibliches Wesen vor sich hatte, dennoch war noch immer etwas Seltsames und Unbegreifliches in Romola's Erscheinen an diesem Ort, und der Padre hatte eine Ahnung, daß die Dinge für ihn eine andere Wendung nehmen würden. Obendrein stand dieser hebräische Säugling in einem schrecklichen Zusammenhang mit der Pest.
Nichtsdestoweniger gehorchte er weniger ängstlich wie vorher, als Romola, über den Kleinen, der seine mit Milch benetzten Lippen leckte, lächelnd und die kupferne Schale von Neuem hinreichend, sagte: »Gebt uns mehr, guter Vater!«
Romola war ihrerseits auch nicht unaufmerksam, und als die zweite Milchlieferung gleichfalls verzehrt war, blickte sie auf den rundköpfigen Mann hernieder, und sagte mit sanftem Ernst:
»Und nun erzählt mir, Vater, wie diese Pest hier ausbrach, und warum Ihr Eure Leute ohne die Sacramente sterben und unbegraben liegen ließet. Denn ich bin über's Meer gekommen, Denen zu helfen, die noch am Leben sind, und Ihr werdet ihnen jetzt ebenfalls beistehen.«
Er theilte ihr die Geschichte der Seuche mit; inzwischen war der Knabe, der sich vorher aus dem Staube gemacht hatte, nach und nach, gaffend und vorwärts schreitend, immer näher gekommen, bis er endlich an Ort und Stelle war und hinter einem dicht dabei befindlichen Gebüsch der ganzen Scene mit beiwohnte.
Die jüdische Familie, zwanzig Köpfe stark, von denen einige schon von der Pest befallen waren, war vor vielen Wochen an's Land gesetzt worden. Die Dorfbewohner, so erzählte der Priester, hatten sich natürlich geweigert den Ungläubigen Obdach zu geben, und ihnen einen abgesondert liegenden Schuppen unter Haufen von Stroh angewiesen. Als die Fremden aber an der Seuche gestorben waren, und mehre aus dem Volke die Leichen in's Meer geworfen hatten, hatte dieses bei einem heftigen Sturm sie wieder an's Land zurückgebracht, worüber Alles vom Entsetzen ergriffen war. Ein Grab wurde gegraben und die Leichen darin beerdigt; nun aber befiel die Pest auch die Christen, und der größere Theil der Dorfbewohner zog von dannen über die Berge, ihr weniges Vieh und Mundvorrath mit sich nehmend. Der Priester war nicht geflohen; er war geblieben und hatte für das Volk gebetet, und er hatte den Knaben Jacopo vermocht, bei ihm auszuharren. Er gestand aber, daß eine Todesangst vor der Seuche sich seiner bemächtigt und er es nicht gewagt hätte, in's Thal hinabzusteigen.
»Ihr werdet Euch nicht länger fürchten, Vater,« sagte Romola im Tone ermuthigender Autorität. »Ihr werdet mit mir hinabgehen und wir werden sehen, wer noch lebt, und nach den Todten schauen, um sie zu begraben. Ich bin Monden lang gewesen, wo die Pest hauste, und sehet da, ich bin kräftig und gesund. Jacopo wird Euch begleiten,« fuhr sie fort, dem zuschauenden Knaben zuwinkend, der langsam hinter dem bergenden Gebüsch hervorkam, als ob er von unsichtbaren Fäden gezogen würde.
»Komm, Jacopo,« wiederholte Romola, ihn anlächelnd, »Du wirst das Kind für mich tragen, denn Deine Arme sind stark und ich bin ermattet.« Dies war ein schrecklicher Vorschlag für Jacopo wie für den Priester, aber Beide standen unter einem unerklärlichen Einfluß, der sie zum Gehorsam zwang. Die Vermuthung, daß Romola ein übernatürliches Wesen sei, war entschwunden, dafür war ihr Geist von dem wirksamen Gedanken ergriffen, daß sie ein menschliches Geschöpf sei, das Gott über das Meer geschickt hätte, ihnen Befehle zu ertheilen.
»Jetzt wollen wir die Milch hinuntertragen,« sagte Romola, »und sehen, ob Jemand ihrer bedarf.«
So stiegen sie alle Drei den Abhang hinab, und an diesem Morgen sahen die Kranken Hülfe in ihrer verzweifelnden Lage. Es waren im ganzen Thale kaum noch Zwanzig am Leben, aber diese wurden sämmtlich getröstet, die meisten von ihnen gerettet, und die Todten beerdigt.
Auf diese Weise verstrichen für Romola Tage, Wochen und Monate, bis die Männer wieder gruben und säeten, bis die Weiber ihr zulächelten, indem sie, ihre großen Krüge auf dem Kopfe, zum Brunnen gingen, und der hebräische Säugling ein stolpernder, trippelnder Christ war, Benedetto mit Namen, da er in der Kirche am Berge getauft worden war. Um diese Zeit aber litt sie selbst von der Ermüdung und Ermattung, die nach immer fortwährender körperlicher und geistiger Anstrengung eintreten mußte. Sie hatte in einem, von den Eigenthümern verlassenen, von der Dorfstraße etwas abseits gelegenen Hause ihre Wohnung aufgeschlagen, und so auf einem hohen Haufen reinen Strohes – ein köstliches Lager für alle Die, welche nicht von Daunen träumen – war sie froh, die meisten Tagesstunden hindurch ruhig liegen zu können, während eine Frau, welche die Pest zur Wittwe gemacht hatte, sie und den kleinen Benedetto pflegte.
An jedem Tage besuchten sie der Padre, Jacopo und die kleine Schaar der Dorfbewohner, um die gesegnete Dame zu sehen, und ihr ihr Bestes als Geschenk darzubringen: Honig, frische Kuchen, Eier und Maisbrei. Es war ein Anblick, den Keiner von ihnen jemals vergessen konnte und von dem sie Alle noch in ihren alten Tagen sprachen – wie die liebliche und fromme Dame mit ihrem schönen Antlitz, mit dem goldigen Haar und den braunen Augen, in denen der Segen lag, von ihren Anstrengungen ermattet dalag, indem sie über das Meer gesendet worden war, ihnen in ihrer höchsten Noth zu helfen, und wie der drollige kleine, braune Benedetto neben ihr um das Stroh umherkroch und Alles verlangte, was ihr gebracht wurde, und wie sie ihm stets einen Bissen von Allem abgab, was sie nahm, und ihnen sagte, daß, wenn man sie liebe, man auch freundlich gegen Benedetto sein müsse.
Manche Sagen wurden noch in später Zeit erzählt von jener heiligen Dame, die über das Meer kam; das waren aber Sagen, durch die Alle, welche sie hörten, erfahren mußten, daß in früheren Tagen ein Weib dort schöne Liebeswerke verrichtet, und Die, welche dem Tode nahe waren, erlöst hatte.