Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsundfünfzigstes Capitel.
Die andere Frau.


Die Morgenwärme fing bereits an für Romola drückend zu werden, als sie, nach einem Gang längs der Mauern, auf ihrem Wege von San Marco wieder durch die Querstraßen dem Thor von Santo Croce zuschritt.

Die Vorstadt La Croce war so still, daß sie ihre eigenen Schritte auf dem Pflaster in dem sonnigen Schweigen hören konnte, bis sie in der Nähe einer Straßenbiegung einige Ellen vor sich ein kleines, etwa dreijähriges Kind gewahrte, welches keine andere Bekleidung als sein weißes Hemdchen hatte und, von einem trippelnden Laufe ausruhend, um sich herblickte. Im ersten Augenblicke, als sie näher kam, konnte sie nur einen derben, vierschrötigen Knabenrücken, von einer Fülle röthlichbrauner Locken überhängt, sehen; im nächsten Augenblicke kehrte er sich nach ihr um, und sie konnte seine großen, in Thränen schwimmenden Augen und seine aufgeworfene und bebende Lippe bemerken, während seine starken, gebräunten Fäustchen rathlos das Hemd gepackt hielten. Der Anblick einer großen schwarzen, einen Schatten über ihn werfenden Gestalt steigerte seine scheue Angst auf das Höchste, und mit einem lautschreienden Schluchzen rollten ihm die dicken Thränen über die Backen.

Romola entblößte, mit jenem mütterlichen Instinkt, welcher eine geheime Quelle ihrer leidenschaftlichen Zärtlichkeit war, alsbald ihr Haupt, und indem sie sich auf das Pflaster herniederbeugte, schlang sie ihre Arme um ihn und legte ihre Wange an die seinige, während sie in liebkosendem Tone mit ihm sprach. Zuerst wurde sein Schluchzen immer lauter, aber er versuchte nicht ihr zu entkommen, doch bald hörte dieser Ausbruch der Angst mit jener seltsamen Plötzlichkeit auf, welche kindlichen Schmerzen und Freuden eigenthümlich ist; sein Gesicht verlor den verzerrten Ausdruck und starrte Romola mit offenem Munde an.

»Du hast Dich verirrt, Kleiner,« sagte sie, ihn küssend, »sei aber nur ruhig; wir werden das Haus schon wiederfinden; vielleicht kommt uns Mutter entgegen.« Sie errieth, daß er in einem Augenblicke, wo die Mutter nicht nach ihm gesehen hatte, entwischt war, und dachte, daß man ihn wahrscheinlich bald suchen würde.

»Welch' ein schwerer Bursche!« rief sie, indem sie versuchte, ihn aufzuheben, »ich kann Dich nicht tragen; komm, Du mußt schon neben mir nach Hause gehen.«

Die geöffneten Lippen bewegten sich nicht vor scheuem Schweigen, und die eine gebräunte Hand hielt das Hemd noch eben so fest, wie vorher, während die andere sich willig der wundervoll weißen, starken, aber weichen Hand Romola's überließ.

»Du hast doch eine Mutter?« fragte Romola, als sie sich auf den Weg machten, indem sie mit einer gewissen unruhigen Spannung auf den Knaben herabblickte. Aber er blieb stumm. Ein Mädchen hätte unter ähnlichen Verhältnissen vielleicht hinreichend geplaudert, nicht so der kleine breitschultrige Mann mit dem dicken Wulst von Locken.

Er paßte aber gleich bei der ersten Spur seines Weges auf. Bei einer Biegung der Straße San Ambrogio gegenüber zog er Romola dahin, indem er zu ihr aufblickte.

»Ah, das ist also Dein Weg nach Hause?« fragte sie lächelnd. Er aber streckte sein Köpfchen voran und zerrte, gleichsam zum Schnellergehen mahnend.

Es kam noch eine andere Ecke, um die er durchaus biegen wollte, und als dies geschehen, befand Romola sich in einer kleinen, auf ein freies Gartenfeld führenden Straße. Vor einem am Ende derselben befindlichen Hause blieb der Kleine stehen, indem er sie nach einigen steinernen Stufen hinzog. Er hatte offenbar nicht die mindeste Neigung, daß sie seine Hand loslassen möge, und sie hätte ihn auch nicht verlassen, ohne sich vorher vergewissert zu haben, daß sie ihn den Seinigen überlieferte. Sie stiegen die Treppen hinan, bei dem plötzlichen Heraustreten aus dem Sonnenlicht nur undeutlich sehen könnend, bis, als sie an ihrem Bestimmungsorte angelangt waren, ein besonders heller Lichtstrom aus einem offenen Thorweg hervordrang. Durch eine kleine Vorhalle kamen sie an eine zweite offene Thür, wo Romola stehen blieb. Ihr Kommen war nicht bemerkt worden.

Auf einem niedrigen Stuhl, am äußersten Ende des Zimmers, dem Licht gegenüber, saß Tessa, die eine Hand auf dem Rand der Wiege, den Kopf etwas seitwärts geneigt und fest eingeschlafen. Neben einem der Fenster, den Rücken der Thür zugewendet, saß Monna Lisa bei ihrer Arbeit des Salatzubereitens, in tauber Unbewußtheit. Romola's Auge bedurfte nur eines Augenblicks, um diese ganze Scene zu überblicken; denn Lillo riß seine Hand aus der ihrigen und eilte auf seine Mutter zu, ohne sie absichtlich aufzuwecken, aber nur sein Köpfchen an ihren Arm lehnend und von dieser Entfernung aus Romola ernsthaft anblickend.

Tessa öffnete die Augen, als Lillo gegen sie anrannte, und sah erschrocken um sich; aber kaum war ihr Blick auf die an der Thür gegenüberstehende Gestalt gefallen, als sie aufsprang, tief erröthete und zu zittern anfing, ohne zu sprechen oder einen Schritt vorwärts zu thun.

»Wir haben einander schon vordem gesehen,« sagte Romola lächelnd und näher tretend, »es freut mich, daß es Euer Knabe war. Er weinte auf der offenen Straße; wahrscheinlich ist er davon gelaufen. So gingen wir ein Stückchen Weges zusammen, dann fand er sich zurecht und, führte mich hierher. Ihr habt ihn aber wol nicht vermißt? Das ist gut, sonst würdet Ihr Euch abgeängstigt haben.«

Der Schreck darüber, daß Lillo fortgelaufen war, drängte für den Augenblick jedes andere Gefühl bei Tessa in den Hintergrund. Die Farbe wich ihr wieder aus dem Gesicht, als sie, Lillo's Arm ergreifend, mit ihm zu Monna Lisa lief und halb schluchzend, halb mit lauter Stimme dieser in's Ohr rief:

»O Lisa, wie seid Ihr nichtsnutzig! warum sitzt Ihr mit dem Rücken gegen die Thür? Lillo war weggelaufen, weit auf die Straße hinaus.«

»Heilige Mutter Gottes!« rief Monna Lisa in ihrem weichen, dumpfen Ton, und indem der Löffel ihren Händen entsank; »wo wart Ihr denn? ich glaubte, Ihr wäret da und hättet ein Auge auf ihn.«

»Ihr müßt aber doch wissen, daß ich einschlafe, wenn ich das Kind wiege,« entgegnete Tessa ärgerlich.

»Gut, gut! wir müssen künftig die äußere Thür schließen, oder ihn anbinden;« sagte Monna Lisa, »denn er wird bald eben so schlau sein wie der Teufel, das ist heilig wahr. Aber wie kam er denn wieder?«

Diese Frage erinnerte Tessa wieder an Romola's Anwesenheit Ohne zu antworten, wendete sie sich zu ihr, von Neuem schüchtern und erröthend, und Monna Lisa's Blicke folgten ihrer Bewegung. Die alte Frau machte einen tiefen Knix und sagte:

»Gewiß hat ihn die edle Dame zurückgebracht;« dann fuhr sie, Romola etwas näher tretend, fort: »ich schäme mich für ihn, daß er nur mit einem Hemde an gefunden wurde; aber er schlug um sich und wollte die anderen Kleider nicht anziehen, und die arme Mutter will nicht, daß man ihn schlägt. Was soll aber eine alte Frau ohne Stock ausrichten, wenn die Beine des Jungen so stark werden? Sehen Euer Gnaden nur die Beine an!«

Lillo, welcher merkte, daß von seinen Beinen die Rede war, hob sein Hemd noch etwas mehr in die Höhe, und sah mit gleichgültigen neugieriger Miene auf ihre olivenfarbige Rundung. Romola lachte und beugte sich herab, um ihn liebkosend zu schütteln und zu küssen, und diese Handlung gab Tessa vollständig ihre Sicherheit wieder, die sie schon bei Monna Lisa's Anrede an Romola in etwas wiedergewonnen hatte. Denn als Naldo die Begebenheit vom Carneval erfuhr und Tessa ihn gefragt hatte, wer wol die himmlische Dame sein könne, die gekommen war, als sie ihrer gerade bedurft, und die sich so bald wieder entfernt hatte, und ob sie vielleicht die heilige Madonna selbst gewesen sei? hatte er geantwortet: »Nicht gerade die Madonna, nur eine Heilige,« und weiter hatte er sich nicht darüber ausgelassen. So stand in der träumerischen Zusammenstellung der geringen Erfahrungen, die Tessa's Ideenkreis ausfüllten, Romola auf eine unbestimmte Art mit den Kirchengemälden in Zusammenhang, und als sie jetzt wieder erschien, hatte die dankbare Erinnerung an ihren Schutz einen leisen Anflug heiliger Scheu – aber nur einen leisen Anflug, denn Tessa fürchtete sich hauptsächlich vor häßlichen und bösen Wesen. Es kam ihr unwahrscheinlich vor, daß gute Wesen zornig werden und sie züchtigen könnten, wie es Nofri's und des Teufels Art war. Und jetzt, – da Monna Lisa ganz frei von Lillo's Beinen gesprochen und Romola gelacht hatte, war Tessa ganz leicht zu Muthe.

»Ninna ist in der Wiege,« sagte sie, »o, die ist auch allerliebst.«

Romola ging näher, um die schlafende Ninna zu sehen, und Monna Lisa, eine der ausnahmsweise stillen tauben Menschen, die nie beanspruchen angeredet zu werden, kehrte zu ihrem Salat zurück.

»Ah, sie wacht; sie hat ihre blauen Aeugelein geöffnet,« sagte Romola, »Ihr müßt sie aus der Wiege nehmen, und ich werde mich auf diesen Stuhl setzen, ich darf doch? und Lillo pflegen. Komm hierher, Lillo!«

Sie hatte sich in Tito's Sessel gesetzt, und hielt dem Knaben die Arme entgegen, dessen Augen an ihr hingen. Er zauderte und sagte, indem er seinen kleinen Finger halb bestürzt, halb zornig gegen sie ausstreckte: »Das ist Babbo's Stuhl!« indem er nicht recht wußte, was nun geschehen würde, wenn Babbo käme und Romola auf seinem Platze fände.

»Aber Babbo ist nicht hier und ich gehe bald wieder. Komm, ich will Dich herzen, wie er gewöhnlich thut,« sagte Romola, sich jetzt erst im Stillen wandernd, was für eine Art Mann dieser Babbo war, dessen Frau in bäuerlicher Tracht, aber mit einer gewissen Zierlichkeit gekleidet war, welche Nichtarbeiten und Vermöglichkeit andeutete. Lillo ließ es sich endlich gefallen, aufgenommen zu werden, und da er den Sitz in ihrem Schoose sehr behaglich fand, so fing er an, ihren Anzug und ihre Hände zu untersuchen, um zu sehen, ob sich noch anderer Schmuck außer dem Rosenkranz vorfinde.

Tessa, welche bis dahin damit beschäftigt gewesen war, Ninna ihre mürrische Laune beim Erwachen durch Liebkosen zu benehmen, setzte sich jetzt auf ihren niedrigen Stuhl neben Romola's Schoos, Ninna's kleines Persönchen auf's beste herauszuputzen, da sie eifersüchtig darüber war, daß die fremde Dame, eben so wie Naldo, dem Knaben die meiste Aufmerksamkeit schenkte.

»Lillo wäre beinahe böse auf mich geworden, weil ich mich in Babbo's Sessel gesetzt hatte,« sagte Romola, indem sie sich herniederbeugte, um Ninna's Füßchen zu küssen, »wird er am Ende bald kommen und den Sessel brauchen?«

»O nicht doch,« antwortete Tessa, »Ihr könnt lange darin sitzen; es wird mir leid thun, wenn Ihr geht. Als Ihr zuerst kamt, um mich auf dem Carneval zu beschützen, so erschien mir das wunderbar: Ihr kamt und ginget gar so schnell. Naldo sagte mir: Ihr wäret vielleicht eine Heilige, und das machte mich beben, obgleich die Heiligen, wie ich weiß, sehr gut sind; und Ihr waret auch gut gegen mich, und jetzt habt Ihr Euch auch Lillo's angenommen. Vielleicht kommt Ihr immer und nehmt Euch meiner an. So hatte Naldo es vor langer Zeit gethan; er kam und beschützte mich an einem Johannistag, als ich in großer Angst war. Ich konnte mir gar nicht klar machen, woher er kam, er war gar so schön und gut, und das seid Ihr gleichfalls.« Mit diesen Worten schloß Tessa, zu Romola mit frommer Bewunderung aufschauend.

»Naldo ist Euer Gatte. Seine Augen gleichen denen Lillo's;« sagte Romola, auf des Knaben, für sein Alter ungewöhnlich dunkel gezeichnete Augenbrauen blickend. Sie sprach nicht im Tone der Frage, sondern mit einer ruhigen Sicherheit der Schlußfolgerung, welche für Tessa natürlich mysteriös war.

»Ah, Ihr kennt ihn!« rief sie, etwas verwundert inne haltend, »vielleicht kennt Ihr auch Nofri und Peretola, und unser Haus auf dem Hügel und alles Andere. Ja, die Augen sind wie die Lillo's, aber nicht sein Haar. Sein Haar ist lang und schwarz,« fuhr sie in einiger Erregung fort, »wenn Ihr es kennt, so seht her!«

Sie hatte ihre Hand an eine dünne, rothe Seidenschnur gelegt, die um ihren Hals hing, und zog aus ihrem Busen das kleine alte pergamentene Breve, das rothe korallene Horn und eine, an einem Ende sorgfältig angebundene und mit jenen mystischen Schätzen zusammen angehängte lange, dunkle Locke hervor. Sie hielt sie Romola entgegen, und aus dem Bereiche von Ninna's sich danach ausstreckender Hand.

»Es ist eine frische, ich habe sie erst neulich abgeschnitten. Seht nur, wie sie glänzt!« sagte sie, indem sie dieselbe auf den weißen Hintergrund von Romola's Fingern legte, »sie verlieren an Glanz, und dann läßt er mich immer eine andere abschneiden, wenn sein Haar gewachsen ist. Ich habe es mit dem Amulet zusammengethan, weil er oft lange Zeit fort ist, und dann ist es mir behülflich, mich zu schützen.«

Ein leiser Schauer durchfuhr Romola, als die Locke ihre Finger berührte. Als Tessa zuerst erwähnte, daß ihr Mann geheimnißvoll, sie wußte nicht woher, gekommen sei, hatte sich eine Vermuthung in Romola's Geist erhoben, welche ihr Herz schneller schlagen machte; denn für Jemanden, der ängstlich nach einem gewissen Gegenstand sucht, gewinnen die oberflächlichsten Ahnungen eine besondere Bedeutung. Und als ihr die Locke hingehalten wurde, erschien es ihr einen Augenblick ein höhnendes Gaukelbild der Locke, welche sie vor fünf Jahren ihm abgeschnitten hatte, um sie mit einer der ihrigen zusammenzuflechten. Sie behauptete aber ihre äußere Ruhe, da sie nicht allein die Wahrheit erfahren, sondern auch dazu gelangen wollte, ohne diesem armen, vertrauensvollen, unwissenden Geschöpfe, mit der Kinderseele im Körper des Weibes, wehe zu thun. Thöricht und unwissend – ja, in so fern glich sie dem Bilde in Baldassarre's Schilderung.

»Das ist eine schöne Locke,« sagte sie, dem Triebe, ihre Hand zurückzuziehen, widerstehend, »Lillo's Locken werden vielleicht ähnlich werden, denn seine Wangen sind ja auch dunkelbraun. Und Ihr wißt nicht, wohin Euer Mann geht, wenn er Euch verläßt?«

»Nein,« erwiderte Tessa, indem sie ihre Schätze vor den Kindern in Sicherheit brachte, »aber ich weiß, Messer Sanct Michael schützt ihn, denn er hat ihm ein schönes Gewand, von lauter kleinen Ketten gemacht, gegeben, und wenn er das anzieht, kann ihn Niemand tödten. Und vielleicht, wenn« – Tessa stockte, indem ihr das ursprüngliche Traumwunder, hinsichtlich Romola's, das durch trauliches Plaudern verschwunden war, wieder in den Sinn kam – »wenn Ihr wirklich eine Heilige wäret, so würdet Ihr ihn auch schützen, da Ihr Euch ja meiner und Lillo's angenommen habt.«

Eine brennende Röthe überflog Romola's Antlitz in dem ersten Augenblick der Gewißheit, aber sie hielt ihre Wangen an Lillo's Haupt gepreßt. Das Gefühl, welches sich in dieser Röthe Luft machte, schien eine Art Triumph bei dem Gedanken zu sein, daß die Bürde der Gattin von ihren überladenen Schultern genommen werden könnte, daß dieses kleine unwissende Geschöpf in der That Tito's rechtmäßige Frau sei. Seltsamer Triumph, zu dem ein stolzes und edelgeborenes Weib gebracht wurde! Es schien dies Romola aber der einzige Ausweg, der die Pflicht für sie zu etwas Anderem, als zu einer unlösbaren Aufgabe machen konnte. Dennoch blieb sie nicht taub für Tessa's letzte flehende Worte, sondern sagte, das Haupt erhebend, mit klarer Stimme:

»Ich werde stets für Euch sorgen, wenn ich sehe, daß Ihr meiner bedürft. Aber jenes schöne Gewand trug Euer Mann doch nicht, als Ihr zuerst verheirathet wurdet? Vielleicht pflegte er damals nicht so lange von Euch entfernt zu bleiben?«

»O ja, das that er dennoch, – ja, noch viel, viel länger, so daß ich glaubte, er käme gar nicht wieder. Ich pflegte zu weinen, ach, und da wurde ich geschlagen – es ist schon lange her, in Peretola war's, wo wir die Ziegen und Maulthiere hatten.«

»Und wie lange waret Ihr verheirathet, ehe Euer Mann dieses Kettengewand trug?« fragte Romola unter immer rascheren Herzschlägen.

Tessa sah nachdenkend aus, und begann an ihren Fingern zu zählen, und Romola paßte auf ihre Finger, als ob sie ihr das Geheimniß ihres Schicksals mittheilen sollten.

»Die Kastanien waren reif, als wir Hochzeit machten,« sagte Tessa, den Daumen und die Finger nochmals überzählend, während sie sprach, »und dann waren sie wieder reif in Peretola, ehe er zurückkehrte, und dann nachher nochmals auf dem Hügel. Und bald darauf kamen die Soldaten und wir hörten die Trompeten, und da hatte Naldo das Gewand.«

»Ihr seid also länger als zwei Jahre verheirathet. In welcher Kirche wurdet Ihr verheirathet?« fragte Romola, zu sehr mit einem Gedanken beschäftigt, um eine weniger unmittelbare Frage zu thun, Vielleicht konnte sie schon am nächsten Morgen zu ihrem Pathen gehen und ihm sagen, daß sie nicht Tito Melema's rechtmäßiges Weib sei – daß die Gelübde, welche sie verpflichtet hatten, nach einer unmöglichen Verbindung zu streben, schon vorher nichtig geworden waren.

Tessa fuhr etwas betroffen bei diesem neuen Tone in Romola's Fragen zurück, und sah sie mit einem Ausdruck des Zögerns an. Bisher hatte sie geplaudert, ohne zu wissen, daß sie Enthüllungen machte, sie that dies ungefähr so, als wie sie der Monna Lisa alte Geschichten immer wieder und wieder erzählte.

»Naldo sagte mir, ich solle darüber nie sprechen,« antwortete sie mit Stocken, »meint Ihr, daß er nicht böse wird, wenn ich Euch davon erzähle?«

»Ihr thut Recht, mir dies mitzutheilen. Erzählt mir Alles,« sagte Romola, sie mit mildgebietendem Ernst ansehend.

Wäre der Eindruck der Befehle Naldo's frischer gewesen, als er wirklich war, so würde die zwingende Wirkung des mysteriösen Einflusses, den Romola ausübte, ihn dennoch überwunden haben; aber das Gefühl, daß sie etwas mittheilte, was sie nie zuvor erzählt hatte, machte, daß sie mit schwächerer Stimme also anhub:

»Es war nicht in einer Kirche, sondern beim Feste der Natività, als der Jahrmarkt war, und alle Leute über Nacht hingingen, um die Madonna in der Nunciatakirche zu sehen, und meine Mutter war krank und konnte nicht gehen, und ich nahm das Bündel Cocon's für sie; und dann trat er in der Kirche zu mir und sagte: Tessa! Ich kannte ihn, weil er sich meiner beim Johannisfeste angenommen hatte, und dann gingen wir auf die Piazza, wo der Jahrmarkt war, und ich bekam einige Berlingozzi, denn ich war hungrig und er war sehr gut gegen mich; am äußersten Ende der Piazza war ein ehrwürdiger Pater und ein Altar, wie sie ihn bei Processionen außerhalb der Kirche haben. So verheirathete er uns, und Naldo brachte mich wieder in die Kirche und verließ mich; und ich ging nach Hause, und meine Mutter starb, und Nofri fing an mich noch mehr zu schlagen, und Naldo kam gar nicht wieder. Und ich weinte immer fort, und einmal im Carneval, da sah ich ihn und folgte ihm, und er war sehr böse und sagte mir, er werde schon kommen, ich solle nur noch warten. So ging ich und wartete; aber, ach! es währte lange Zeit, ehe er kam; aber er wäre gekommen, wenn er gekonnt hätte, denn er war gut; und dann nahm er mich fort, weil ich weinte und sagte, ich könne es nicht länger bei Nofri aushalten. Ach, was war ich da froh, und seitdem bin ich immer glücklich gewesen, denn ich mache mir aus den Ziegen und Maulthieren gar nichts mehr, weil ich Lillo und Ninna habe, und Naldo ist nie böse; nur glaube ich, liebt er Ninna nicht so sehr, als Lillo, und sie ist doch so allerliebst.«

Tessa, welche ganz vergaß, daß sie ihre Rede beim Anfange derselben für sehr gewichtig hielt, fiel jetzt förmlich mit Küssen über Ninna her, während Romola schweigend und starr vor sich hinblickend dasaß. Es war unvermeidlich, daß sie in diesem Augenblicke der drei vor ihr befindlichen Wesen hauptsächlich nur insofern denken konnte, als dieselben mit ihrem eigenen Schicksal in Verbindung standen, und sie hatte die eisige Empfindung der Enttäuschung, daß ihrer schwierigen Lage durch kein äußeres Gesetz abgeholfen werden könne. Sie hatte Lillo losgelassen und stützte ihr Haupt mit der Hand, ohne das, was um sie her vorging, zu sehen. Lillo dagegen bemerkte schnell eine ihm nicht angenehme Veränderung; er hatte ihre Liebkosungen noch nicht erwidert, aber er wollte sie nicht entbehren, und indem er seine beiden braunen Arme ausstreckte, um ihren Kopf an sich zu ziehen, rief er: »Spiele doch wieder mit mir.«

Romola, aus ihrer Selbstvergessenheit aufgescheucht, zog den Knaben wieder an sich, und sah von ihm auf Tessa, welche jetzt mit Küssen aufgehört hatte und zu dem ruhigeren Vergnügen, das Antlitz der himmlischen Dame zu betrachten, zurückgekehrt schien. Ueber dieses Antlitz aber war eine kaum bemerkbare Veränderung, wie das stufenweise Aufdämmern eines wärmeren, sanfteren Lichtes gekommen. Romola nahm jetzt eine Scheere aus ihrer Gürteltasche, und schnitt eine ihrer langen, wellenförmigen Locken ab, während die drei Paare weitgeöffneter Augen ihrer Bewegung mit kätzchenähnlicher Aufmerksamkeit folgten.

»Ich muß jetzt von Euch gehen.« sagte sie, »aber ich lasse Euch diese Haarlocke zurück, um Euch an mich zu erinnern, weil, wenn Ihr je in Noth seid, Ihr denken könnt, daß Gott mich vielleicht sendet, um wieder für Euch Sorge zu tragen. Ich kann Euch nicht sagen, wo Ihr mich finden werdet, aber sobald ich erfahre, daß Ihr meiner bedürft, so werde ich kommen. Addio

Sie hatte den kleinen Lillo rasch auf den Boden gesetzt, und reichte ihre Hand Tessa dar, welche dieselbe mit einer Mischung von Ehrfurcht und Trennungsweh küßte. Romola's Geist war von Gedanken niedergedrückt; sie mußte so bald wie möglich allein sein, aber mit ihrer gewöhnlichen Sorge für die am mindesten Glücklichen kehrte sie sich um, und legte freundlich die Hand auf Monna Lisa's Schulter, indem sie ihr ein Lebewohl zuwinkte. Ehe die alte Frau ihre Verbeugung geendet hatte, war Romola verschwunden.

Monna Lisa und Tessa gingen wie von gleichem Antrieb bewegt auf einander zu, während die Kinder das Gewand der Mutter faßten, als ob auch sie diese Atmosphäre ehrfurchtsvoller Scheu fühlten.

»Meinst Du, daß sie wirklich eine Heilige ist?« fragte Tessa, in Lisa's Ohr sprechend und ihr die Locke zeigend.

Lisa verwarf diese Meinung sehr entschieden, indem sie ihre Finger rückwärts bewegte und dann, das rollende Lockengold streichelnd, sagte:

»Sie ist eine hohe, edle Dame; ich habe deren in meiner Jugend gesehen.«

Romola kehrte heim und saß dort während der heißen Stunden dieses Tages einsam und mit der Ueberzeugung, daß ihr Geschick unverändert war. Sie war wieder auf den Widerstreit zwischen den Ansprüchen eines äußeren Gesetzes, das sie als eine sich weit verzweigende Verpflichtung betrachtete, und zwischen deren innere sittliche, immer mehr gebieterisch auftretende Thatsachen zurückgetrieben. Sie hatte den Geist der Lehre, durch die Savonarola sie vermocht hatte, zu ihrer Stellung zurückzukehren, tief in sich aufgenommen. Sie fühlte, daß die, allen engeren Verbindungen, besonders aber dieser allerengsten innewohnende Heiligkeit, nur der in äußeren Gesetzen sich kundgebende Ausdruck jenes Ergebnisses sei, dem alle menschliche Güte und Erhabenheit freiwillig sich zuwenden müsse, und daß das leichte Aufgeben von angestammten oder freiwillig übernommenen Verbindungen, wenn dieselben nicht mehr angenehm sind, einer Entwurzelung jeder gesellschaftlichen und persönlichen Tugend gleichkomme. Was war Tito's an Baldassarre begangenes Verbrechen anders, als dieses sich bis zum scheußlichsten Gipfelpunkt der Falschheit und Undankbarkeit ausbildende Aufgeben!

Das begeisternde, ihr durch Savonarola's Einfluß eingeprägte Bewußtsein, daß ihr Geschick innigst mit dem allgemeinen verbunden sei, hatte selbst die kleineren Einzelnheiten der Verpflichtungen zu einer Sache religiösen Glaubens gemacht. Sie ging einen Weg mit einer gewaltigen Heerschaar; sie fühlte die Wichtigkeit eines gemeinsamen Lebens. Waren Opfer nothwendig, und es war ungewiß, auf wen das Loos fallen möchte, so fühlte sie sich bereit zu antworten, wenn ihr Name gerufen wurde. Sie hatte lange Zeit ausgehalten; sie hatte hart gekämpft ihre Pflicht zu erfüllen, aber alle Bedingungen, welche diese Erfüllung ermöglichten, schwanden eine nach der andern dahin. Ein Resultat ihres Ehebandes schien die vernichtende Oberherrschaft eines Charakters, den sie verachtete, zu sein. Alle ihre Bemühungen, ein einiges Zusammenleben wieder herbeizuführen, hatten die Unmöglichkeit desselben immer schroffer herausgestellt, und die Verbindung war für sie einfach zu einer entwürdigenden Sklaverei geworden. Das Gesetz war heilig – ja, aber die Empörung konnte eben so heilig sein. Der Gedanke trat vor ihre Seele, daß ihre Aufgabe wesentlich der Savonarola's gleiche – nämlich zu wissen, wo die heilige Verpflichtung des Gehorsams endete und die der Empörung begänne. Für sie wie für ihn war einer jener Augenblicke im Leben gekommen, wo die Seele wagen mußte, nach ihrer eigenen Eingebung zu handeln, nicht nur ohne ein äußeres Gesetz, auf das sie sich berufen konnte, sondern auch gerade einem Gesetze gegenüber, welches mit den Blitzstrahlen der Gottheit bewaffnet ist, Blitzstrahlen, die hernieder schmettern können, wenn die Eingebung eine falsche war. Ehe die Sonne untergegangen war, war sie zu einem Entschlusse gekommen.

Sie wollte sich weder bei ihrem Pathen, noch bei Savonarola Raths erholen, bis sie einen ernsten Versuch gemacht hatte, offen mit Tito zu sprechen und seine Zustimmung dafür zu erhalten, daß sie von ihm getrennt leben könne. Sie wollte nicht heimlich von ihm gehen, oder Florenz verlassen. Sie wollte ihm sagen, daß sie, wann immer er ihrer bedürfe, zu ihm zurückkehren würde. War das nicht die Treue gegen ihre Verpflichtung, die man von ihr verlangen konnte? Eine schaudernde Ahnung überkam sie, er möge eine abschlägige Antwort in die höhnische Aufforderung kleiden, daß sie in ein Kloster gehen solle, da dieses die einzige kein Aergerniß gebende Art sei, ihn zu verlassen. Er wußte recht wohl, daß ihr Geist sich gegen dieses Auskunftsmittel empören würde, nicht nur wegen ihres eigenen Widerwillens gegen die einengende Regel, sondern auch, weil alle die lieben Erinnerungen an ihren Vater sie davon abhalten würden, eine Lebensbahn zu wählen, welche seinen tiefsten Kummer und seinen bittersten Abscheu erregt hatte.

Tito hatte gesagt, daß er an diesem Abende nach Hause kommen würde. Sie wollte ihn also erwarten, und ihm gleich sagen, was sie ihm zu sagen hatte, denn es war sehr schwierig, am Tage seine Aufmerksamkeit für etwas zu erlangen. Wenn er die leiseste Ahnung hatte, daß über persönliche Beziehungen verhandelt werden sollte, so entschlüpfte er mit dem Anschein unvorbereiteter Leichtigkeit. Als sie Maso kommen ließ und ihm sagte, daß sie auf seinen Herrn warten wolle, bemerkte sie, daß der alte Mann sie ansah, und mit einer Mischung von Zögern und verwunderter Besorgniß im Zimmer verweilte; da sie aber keine Frage an ihn richtete, wandte er sich langsam zum Gehen. Wozu sollte sie auch fragen? Vielleicht wußte Maso oder errieth nur einen Theil dessen, was sie bereits wußte.

Es war spät, ehe Tito kam. Romola schritt in dem langen Zimmer, welches einst die Bibliothek gewesen war, auf und ab; sie hatte die Fenster geöffnet und trug statt ihres gewöhnlichen schwarzen Gewandes ein weites weißes Leinenkleid. Sie freute sich dieses Wechsels nach den langen Stunden der Hitze und regungslosen Nachdenkens; aber die Kühle und die Bewegung hielten sie im höchsten Grade wach, und als sie mit der Lampe in der Hand Tito die Thür öffnete, hätte er wohl über die Lebhaftigkeit ihres Blicks und den Ausdruck schmerzlichen Entschlusses, der auf eine seltsame Weise gegen ihre gewöhnliche, selbstbeherrschende Ruhe ihm gegenüber abstach, bestürzt sein können. Es schien aber, als ob er eben diese Aufregung erwartete.

»Ah, Du bist es, Romola. Maso ist schlafen gegangen?« sagte er ernst und ruhig, indem er statt ihrer sich wendete und die Thür schloß. Dann fuhr er fort, indem er sich zu ihr kehrte und ihr voller in's Gesicht sah als gewöhnlich: »Ich sehe, Du weißt Alles.«

Romola bebte. Er war es also, der die Initiative ergreifen wollte – er war bei Tessa gewesen. Sie ging ihm voran durch die folgende Thür, setzte die Lampe nieder, und wendete sich abermals nach ihm um.

»Du mußt aber darum nicht gleich das Schlimmste wegen der Folgen denken;« sagte Tito in einem Tone beschwichtigender Ermuthigung, über welchen Romola staunte, bis er fortfuhr: »Die Angeklagten haben zu große Familienverbindungen unter allen Parteien, als daß sie nicht noch gut davonkommen sollten, und Messer Bernardo del Nero hat außer seinem Alter noch Anderes, was zu seinen Gunsten spricht.«

Romola fuhr zurück und stieß einen Schrei aus, als ob sie plötzlich von einer scharfen Waffe getroffen worden wäre.

»Wie? Du wußtest nichts davon?« fragte Tito, sie unter den Arm fassend, um sie zu einem Sitze zu führen; sie schien aber seine Berührung nicht zu bemerken.

»Sage mir!« rief sie, »sage mir, was ist das?«

»Ein Mann, dessen Namen Du vergessen kannst: Lamberto dell' Antella, der verbannt war, wurde innerhalb des Gebietes erwischt. Man fand einen Brief von gefährlicher Wichtigkeit für die Häupter der medicäischen Partei bei ihm; und der Schurke, der einst ein Lieblingshund Piero de' Medici's war, ist jetzt bereit, gegen ihn oder seine Freunde auszusagen, was man von ihm verlangt. Einige sind entflohen; aber fünf sind jetzt im Gefängnisse.«

»Mein Pathe?« rief Romola mit kaum hörbarem Flüstern, als Tito inne hielt.

»Ja, ich bedaure, es sagen zu müssen; aber mit ihm sind noch drei, deren Namen selbst bei der Volkspartei bedeutend in's Gewicht fallen: Niccolo Ridolfi, Lorenzo Tornabuoni und Giannozzo Pucci.«

Der Strom von Romola's Empfindungen war jetzt gewaltsam in einen andern Kanal geleitet. In dem Aufruhr dieses Augenblicks konnte sie nicht mehr den Worten gebieten, welche sich als Aeußerung ihres lange angehäuften Grolls Luft machten. Als Tito die Namen der Männer genannt hatte, deren Genosse er, wie sie sich überzeugt fühlte, war, rief sie mit einer Geberde des Ekels und dumpfer Bitterkeit:

»Und Du – Du bist sicher und ungefährdet?«

»Du bist in der That eine liebenswürdige Gattin, meine theure Romola,« sagte Tito mit eiskalter Ironie, »ja, ich bin sicher und ungefährdet.«

Beide wendeten sich schweigend von einander ab.



 << zurück weiter >>