Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Motto zu Kapitel 62 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 20):
He was a squyer of lowe degre,
That loved the king's daughter of Hungrie.
Old Romance.
Will Ladislaw hatte jetzt keinen andern Gedanken, als den, Dorothea noch einmal zu sehen und dann sofort Middlemarch zu verlassen. Am nächsten Morgen nach der aufregenden Zusammenkunft mit Bulstrode schrieb er ihr einen kurzen Brief, in welchem er ihr erklärte, daß verschiedene Gründe ihn länger hier in der Gegend hätten verweilen lassen, als er beabsichtigt habe, und sie um die Erlaubniß bat, sie noch einmal in Lowick zu einer von ihr möglichst bald zu bestimmenden Zeit besuchen zu dürfen, da er jetzt abreisen müsse, dies aber nicht gern thun wolle, bevor er sie noch einmal gesprochen habe. Er hatte den Brief auf der Redaction einem Boten mit dem Auftrage übergeben, denselben nach dem Herrenhause in Lowick zu bringen und auf Antwort zu warten.
Ladislaw fühlte recht wohl das Mißliche einer Bitte um einen zweiten Abschied. Sein erstes Lebewohl hatte er in Gegenwart von Sir James Chettam gesagt und hatte es selbst dem Butler als sein letztes bezeichnet. Es hat gewiß etwas das Gefühl der Würde eines Mannes Verletzendes, da wieder zu erscheinen, wo er nicht erwartet wird; ein erstes Lebewohl ist ergreifend, aber sich zu einem zweiten einzustellen, hat etwas Komisches; und es war möglich, daß bitter höhnische Bemerkungen über Will's längeres Verweilen im Schwange waren.
Und doch entsprach es im Ganzen seinen Gefühlen mehr, den directesten Weg, um Dorothea zu sehen, zu betreten, als sich eines Mittels zu bedienen, welches einer Zusammenkunft das Ansehn einer zufälligen Begegnung geben würde, während er doch wünschte, daß sie erfahre, wie sehr ihm eine solche Zusammenkunft am Herzen liege. Als er damals von ihr Abschied nahm, waren ihm die Thatsachen unbekannt gewesen, welche ihr Verhältniß in einem neuen Lichte erscheinen ließen und eine stärkere Schranke zwischen ihnen aufrichteten, als er sich hatte träumen lassen. Er wußte nichts von Dorothea's Privatvermögen, und wenig gewöhnt, wie er es war, über solche Dinge nachzudenken, hielt er es für ausgemacht, daß in Gemäßheit der Verfügungen Casaubon's, eine Heirath Dorothea's mit ihm, Will Ladislaw, soviel heißen würde, wie daß sie sich zu gänzlicher Mittellosigkeit verdamme. Das konnte er selbst im innersten Herzen nicht wünschen, selbst nicht, wenn sie um seinetwillen bereit gewesen wäre, ein solches Loos zu tragen.
Dazu kam der neue Schlag jener Enthüllung in Betreff der Familie seiner Mutter, deren Bekanntwerden für Dorothea's Verwandte einen neuen Grund abgeben würde, auf ihn als weit unter ihr stehend herabzublicken. Die geheime Hoffnung, daß er in einigen Jahren mit dem Bewußtsein würde zurückkehren können, daß er wenigstens einen persönlichen Werth habe, den er ihrem Reichthum als ebenbürtig entgegen stellen dürfe, erschien ihm jetzt wie die träumerische Fortsetzung eines Traumes. Diese Veränderung der Sachlage war doch gewiß eine genügende Rechtfertigung für ihn, wenn er Dorothea bat, ihn noch einmal zu empfangen.
Aber Dorothea war an jenem Morgen nicht zu Hause und konnte daher auf Will's Schreiben keine Antwort ertheilen. In Veranlassung eines Briefes ihres Onkels, in welchem derselbe seine Rückkehr nach Hause in acht Tagen meldete, war sie zunächst nach Freshitt gefahren, um die Nachricht dort mitzutheilen, und wollte dann weiter nach Tipton-Hof, um hier einige Ordres auszuführen, mit welchen ihr Onkel sie betraut hatte, da er, wie er schrieb, ›ein wenig geistige Beschäftigung dieser Art einer Wittwe für zuträglich halte‹.
Wenn Will Ladislaw etwas von der Unterhaltung in Freshitt an jenem Morgen hätte mit anhören können, so würde er alle seine Vermuthungen in Betreff der Geneigtheit gewisser Leute, über sein längeres Verweilen in der Gegend höhnische Bemerkungen zu machen, bestätigt gefunden haben.
In der That hatte Sir James, wenn er sich auch in Betreff Dorothea's sehr beruhigt fühlte, doch fortwährend ein wachsames Auge auf Ladislaw's Bewegungen gehabt, wobei ihm Herr Standish, den er in dieser Angelegenheit nothwendig ins Vertrauen ziehen mußte, als wohlunterrichteter Denunciant diente. Daß Ladislaw fast noch zwei Monate, nachdem er erklärt hatte, sofort abreisen zu wollen, in Middlemarch verweilte, war eine Thatsache, die wohl geeignet schien, Sir James in seinem Argwohn verbitternd zu bestärken oder wenigstens seine Antipathie gegen einen jungen Burschen zu rechtfertigen, den er sich als leichtfertig, wankelmüthig und als muthmaßlich so rücksichtslos vorstellte, wie es bei einer durch keine Familienbande und keinen ordentlichen Beruf befestigten Stellung nur zu natürlich war. Aber eben jetzt hatte er von Standish etwas gehört, was, während es einerseits seine Voraussetzungen in Betreff Will's rechtfertigte, andererseits ein Mittel darbot, alle Gefahr in Betreff Dorothea's zu vereiteln.
Ungewöhnliche Umstände machen uns Alle gelegentlich uns selbst unähnlich; die allermajestätischste Persönlichkeit kann in den Fall kommen, niesen zu müssen, und grade so unberechenbar ist die Wirkung unserer Gefühle auf unsere Handlungen. Der gute Sir James war sich selbst diesen Morgen insofern unähnlich, als er mit nervöser Reizbarkeit den Moment abpaßte, wo er Dorotheen etwas über einen Gegenstand würde sagen können, den zu berühren er gewöhnlich ängstlich vermied, wie wenn sie sich beide desselben zu schämen hätten.
Celia konnte ihm dabei nicht zur Vermittlerin dienen, da er nicht wünschte, daß sie etwas von dem Klatsch, um den es sich handelte, erfahre; er hatte sich daher vor Dorothea's Ankunft abgemüht, ein Mittel ausfindig zu machen, wie er bei seiner Schüchternheit und Schwerfälligkeit im Reden es möglich machen könne, seine Mittheilung anzubringen.
Ihr unerwartetes Erscheinen ließ ihn an seiner Fähigkeit, ihr irgend etwas Unangenehmes zu sagen, völlig verzweifeln: aber eben die Verzweiflung gab ihm ein Mittel an die Hand; er schickte den Stallknecht auf einem ungesattelten Pferde mit einem mit Bleistift geschriebenen Billet durch den Park zu Frau Cadwallader, welche den Klatsch bereits kannte und kein Bedenken tragen würde, denselben, so oft es gewünscht werde, zu wiederholen.
Dorothea war unter dem triftigen Vorwande, daß Herr Garth, den sie zu sprechen wünschte, im Laufe der nächsten Stunde in Freshitt Hall erwartet werde, aufgehalten worden, und so unterhielt sie sich noch im Vorgarten mit Caleb, als Sir James, der auf dem Posten stand, um die Frau des Pfarrers zu erwarten, diese kommen sah und sie mit den nöthigen Winken empfing.
»Genug! ich verstehe schon,« sagte Frau Cadwallader; »Sie sollen ganz unschuldig bleiben, ich bin eine solche Mohrin, daß ich gar nicht schwärzer werden kann.«
»Ich lege der Sache gar keine weitere Bedeutung bei,« erwiderte Sir James, dem der Gedanke unangenehm war, daß Frau Cadwallader zu viel aus der Sache machen werde. »Nur ist es wünschenswerth, daß Dorothea erfahre, daß es Gründe giebt, weshalb sie ihn nicht wieder empfangen darf, und ich kann ihr dies wirklich nicht sagen. Ihnen aber wird es leicht werden.«
Und in der That wurde es ihr sehr leicht. Als Dorothea sich von Caleb trennte und sich umwandte, um wieder zu den Uebrigen zu gehen, fand es sich, daß Frau Cadwallader ganz zufällig durch den Park gekommen war, um gemüthlich mit Celien ein wenig über das Baby zu plaudern.
Herr Brooke komme also wieder? das sei ja herrlich! hoffentlich werde er nun von seinem Parlamentsfieber und seinen Pioniergelüsten ganz geheilt sein. Apropos vom ›Pionier‹ habe jemand prophezeit, daß derselbe bald einem sterbenden Delphine gleichen und in seiner Hülflosigkeit in allen Farben schillern werde, weil Herrn Brooke's Protegé, der brillante junge Ladislaw, fortgereist sei oder im Begriff stehe fortzureisen. Ob Sir James davon gehört habe?
Sir James, der sich, während sie zu Dreien langsam auf dem Kieswege hinwandelten, nach der Seite wandte und sich an den Büschen zu schaffen machte, erwiderte, er habe allerdings etwas der Art gehört.
»Alles nicht wahr!« sagte Frau Cadwallader. »Er ist noch nicht fort und geht auch allem Anscheine nach gar nicht; der ›Pionier‹ behält seine Farbe, und Herr Orlando Ladislaw giebt zu einem abscheulichen Gerede Veranlassung, weil er fortwährend mit der Frau Ihres Herrn Lydgate zwitschert, die ein wunderhübsches Weib sein soll. Wie es scheint, findet Jeder, der in das Hans kommt, zu jeder Zeit diesen jungen Herrn entweder auf den Kaminteppich ausgestreckt oder am Klavier trillernd. Aber die Leute in Fabrikstädten reden immer schlecht von ihren Nebenmenschen.«
»Sie singen damit an, zu sagen, daß ein Gerücht falsch sei, Frau Cadwallader, und ich halte auch dieses für falsch,« sagte Dorothea mit der Energie der Entrüstung; »mindestens, davon bin ich überzeugt, beruht es auf einer falschen Darstellung der Thatsachen. Ich will es nicht mit anhören, daß irgend wie schlecht von Herrn Ladislaw gesprochen wird; er hat schon allzuviel von ungerechter Behandlung zu leiden gehabt.«
Wenn Dorothea's Empfindungen im Innersten aufgeregt waren, kehrte sie sich wenig daran, was man von ihren Gefühlsäußerungen denke; und selbst wenn sie im Stande gewesen wäre, ruhiger Ueberlegung Raum zu geben, würde sie es für kleinlich und ihrer unwürdig gehalten haben, aus Furcht mißverstanden zu werden, bei beleidigenden Aeußerungen über Will zu schweigen. Ihr Gesicht war hochroth geworden und ihre Lippen zitterten.
Sir James, der einen flüchtigen Blick nach ihr warf, bereute seine Kriegslist; aber Frau Cadwallader, die immer auf Alles gefaßt war, machte eine protestirende Bewegung mit den Händen und sagte:
»Du lieber Himmel, mein bestes Kind! ich glaube immer gern, daß alle böse Nachreden über alle Menschen falsch sind. Aber schade ist es, daß der junge Lydgate eines von diesen Middlemarcher Mädchen geheirathet hat. Wenn man bedenkt, daß er von guter Familie ist, hätte man ihm eine nicht zu junge Frau von guter Herkunft, die sich in seinen Beruf gefunden hätte, wünschen mögen? Da ist zum Beispiel Clara Harfayer, mit der ihre Familie nichts anzufangen weiß und die etwas Vermögen hat. Dann hätten wir sie in unsere Gesellschaft bekommen. Indessen! – es nützt nichts, für andere Leute klug zu sein. Wo ist Celia? Bitte, lassen Sie uns hineingehen.«
»Ich muß nach Tipton-Hof fahren,« sagte Dorothea in einem etwas hochfahrenden Ton. »Adieu.«
Sir James, der sie an den Wagen geleitete, vermochte nichts zu sagen. Er war schließlich sehr unzufrieden mit dem Ergebniß eines Manövers, das er schon mit dem geheimen Gefühl einer innern Demüthigung in's Werk gesetzt hatte.
Dorothea sah und hörte, als sie längs den von Beeren strotzenden Hecken und abgemähten Kornfeldern hinfuhr, nichts von dem, was um sie her vorging. Thränen rollten ihr die Wangen herab, ohne daß sie dessen inne wurde. Die Welt erschien ihr häßlich und hassenswürdig, und sie sah keine Stätte für ihr Vertrauen.
»Es ist nicht wahr! es ist nicht wahr!« sprach eine innere Stimme, aber gleichzeitig konnte sie sich einer Erinnerung nicht erwehren, an die sich immer ein vages Unbehagen für sie geknüpft hatte, die Erinnerung an jenen Tag, wo sie Will Ladislaw mit Frau Lydgate gefunden und seine vom Klavier begleitete Stimme gehört hatte.
»Er hat gesagt, er wolle nie etwas thun, was ich mißbillige; ich wollte, ich hätte ihm sagen kennen, daß ich das mißbillige,« sagte die arme Dorothea zu sich und fühlte sich dabei in einem sonderbaren Conflikt zwischen dem Zorn gegen Will und dem leidenschaftlichen Verlangen, ihn zu vertheidigen.
»Sie versuchen es Alle, ihn bei mir anzuschwärzen, aber ich will mich durch nichts irre machen lassen, wenn ihn kein Tadel trifft. Ich habe ihn immer für gut gehalten.« – Das waren ihre Gedanken, als der Wagen durch den Thorweg beim Pförtnerhause in Tipton-Hof einfuhr. Rasch trocknete sie ihre Thränen und fing an, sich ihrer Aufträge zu erinnern.
Der Kutscher bat um die Erlaubniß, eine halbe Stunde ausspannen zu dürfen, weil an dem Hufbeschlag des einen Pferdes etwas nicht in Ordnung sei, und Dorothea, der eine Ruhepause willkommen war, legte, während sie sich an eine Statue in der Vorhalle lehnte und mit der Haushälterin sprach, Hut und Handschuhe ab.
Nach einer Weile sagte sie:
»Ich muß mich hier ein wenig aufhalten, Frau Kell. Ich will in die Bibliothek gehen und Ihnen, wenn Sie so gut sein wollen, mir die Läden zu öffnen, einiges zur Notiz aus dem Brief meines Onkels abschreiben.«
»Die Läden sind offen,« erwiderte Frau Kell, während sie Dorotheen, die beim Reden vorangegangen war, folgte. »Herr Ladislaw ist drinnen, um nach etwas zu sehen.«
Will war gekommen, um sich eine Mappe mit seinen Skizzen zu holen, die er beim Einpacken seiner Sachen vermißt hatte und nicht gern zurücklassen wollte.
Dorothea traf diese Mittheilung gerade in's Herz, aber äußerlich war ihr nichts anzumerken. In Wahrheit empfand sie bei der Nachricht, daß Will hier sei, die höchste Befriedigung, wie wir sie bei dem Anblick eines kostbaren Gegenstandes, den wir verloren glaubten, empfinden.
Als sie an der Thür anlangte, sagte sie zu Frau Kell:
»Gehen Sie voran und sagen Sie Herrn Ladislaw, daß ich hier bin.«
Will hatte seine Mappe gefunden und hatte dieselbe auf den am äußersten Ende des Zimmers stehenden Tisch gelegt, um die Skizzen zu durchblättern und sich wieder an dem Anblick jenes denkwürdigen Blattes zu erfreuen, dessen Auffassung der Natur Dorothea damals als für sie unverständlich bezeichnet hatte. Er lächelte eben noch in der Erinnerung an jenen Vorgang und schmeichelte sich beim Ordnen der Skizzen, daß er in Middlemarch ein Billet von ihr finden werde, das ihm die erbetene Zusammenkunft bewillige, als die dicht an ihn herangetretene Frau Kell sagte:
»Frau Casaubon ist hier, Herr Ladislaw.«
Will wandte sich rasch um, und schon im nächsten Augenblick trat Dorothea ein. Als Frau Kell die Thür hinter sich geschlossen hatte, gingen sie auf einander zu. Sie sahen einander an, und Beide vermochten kein Wort zu reden. Es war nicht Verwirrung, was sie schweigen ließ; denn sie fühlten Beide, daß der Abschied nahe sei, und ein trauriger Abschied verscheucht jede Schüchternheit.
Sie ging mechanisch auf den vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl ihres Onkels zu, und Will trat, nachdem er den Stuhl für sie ein wenig unter dem Schreibtisch hervorgezogen hatte, einige Schritte zurück und stellte sich ihr gegenüber hin.
»Bitte setzen Sie sich,« sagte Dorothea, indem sie die Hände auf dem Schoß faltete; »ich freue mich sehr, Sie hier zu treffen.«
Will fand, daß ihr Gesicht gerade so aussehe wie damals, als sie ihm in Rom zuerst die Hand reichte; denn ihre am Hut befestigte Wittwenhaube hatte sie mit diesem abgelegt, und er konnte sehen, daß sie kürzlich geweint hatte. Aber was sich von Zorn in ihre Aufregung gemischt hatte, war verschwunden; sie hatte sich gewöhnt, in seiner Gegenwart Vertrauen und jene glückliche Freiheit des Geistes zu fühlen, die uns gegenseitiges Verständniß verleiht. Und wie sollten die Reden andrer Menschen jetzt plötzlich diese Wirkung verhindern? Wenn Musik, die eine wunderbare Gewalt über uns übt und uns freudig stimmt, wieder erschallt – was macht es uns, ob wir inzwischen tadelnde Bemerkungen über diese Musik vernommen haben?
»Ich habe heute ein Billet nach Lowick geschickt, in welchem ich Sie um die Erlaubniß bitte, Sie besuchen zu dürfen,« sagte Will, indem er sich ihr gegenüber setzte. »Ich bin im Begriff abzureisen und hätte nicht fortgehen können, ohne Sie noch einmal gesprochen zu haben.«
»Ich dächte, wir hätten Abschied von einander genommen, als sie vor Wochen nach Lowick kamen; Sie wollten damals gleich abreisen,« sagte Dorothea mit etwas zitternder Stimme.
»Ja, aber ich wußte damals noch nichts von Thatsachen, die mir jetzt bekannt sind, Thatsachen, welche mich anders über meine Zukunft denken lassen. Als ich Sie zum letzten Male sah, schmeichelte ich mir mit der Hoffnung, eines Tages wiederkommen zu können. Jetzt glaube ich nicht, daß das jemals der Fall sein wird« – hier hielt Will inne.
»Und sie wünschten, mich den Grund Ihrer Sinnesänderung wissen zu lassen?« fragte Dorothea schüchtern.
»Ja,« sagte Will ungestüm, indem er den Kopf in den Nacken warf und mit dem Ausdruck der Gereiztheit die Blicke von ihr abwandte. »Natürlich muß ich das wünschen. Ich bin sowohl Ihnen als Andern gegenüber gröblich insultirt; mein Charakter ist auf das Niedrigste verdächtigt worden. Ich wünsche, daß Sie wissen, daß ich mich unter keinen Umständen so weit erniedrigt haben würde, daß ich unter keinen Umständen den Leuten die Möglichkeit gegeben haben würde, zu sagen, daß ich das Verlangen nach Geld hinter dem Vorwande versteckt habe – etwas Anderes zu suchen. Es bedurfte keiner anderen Schutzwehr gegen mich, die Schutzwehr des Reichthums genügte.«
Bei dem letzten Wort stand Will auf und ging, ohne selbst recht zu wissen, wohin, nach dem ihm zunächst liegenden, in den Garten hinaus gebauten Fenster, welches grade wie vor einem Jahr, als er und Dorothea vor demselben gestanden und mit einander gesprochen hatten, geöffnet war. Ihr ganzes Herz war in diesem Augenblick von Sympathie für Will's Entrüstung erfüllt; sie hatte nur das eine Verlangen, ihn zu überzeugen, daß sie nie ungerecht gegen ihn gewesen sei, und nun schien er sich von ihr abgewandt zu haben, als ob auch sie der ihm feindseligen Welt angehöre.
»Es wäre sehr unfreundlich von Ihnen,« fing sie an, »wenn Sie glauben wollten, daß ich Sie je einer niedrigen Gesinnung für fähig gehalten habe.« Dann aber stand sie, in ihrer feurigen Weise von dem Verlangen getrieben, sich mit ihm auseinander zu setzen, auf, stellte sich an ihren alten Platz in der Fensterbrüstung ihm gegenüber und sagte: »Meinen Sie, daß ich jemals den Glauben an Sie verloren habe?«
Als Will sie vor sich stehen sah, fuhr er zusammen und trat aus der Fensterbrüstung heraus einige Schritte zurück, ohne sie anzusehen. Dorothea fühlte sich durch diese Bewegung, die mit dem zornigen Ton seiner letzten Worte im Einklang stand, verletzt. Sie war im Begriff zu sagen, daß es ebenso hart für sie wie für ihn sei und daß sie sich hülflos fühle; aber die sonderbaren Umstände ihres Verhältnisses, deren Keines von ihnen ausdrücklich Erwähnung thun konnte, ließen sie beständig fürchten, zu viel zu sagen.
In diesem Augenblick glaubte sie nicht, daß Will sie unter irgend welchen Umständen hätte heirathen wollen, und sie scheute sich etwas zu sagen, was der Möglichkeit einer solchen Voraussetzung Raum gegeben hätte. Sie sagte daher nur, an seine letzten Worte anknüpfend, ernst:
»Ich bin überzeugt, daß es nie einer Schutzwehr gegen Sie bedurft hat.«
Will antwortete nicht. In dem wogenden Sturm seiner Gefühle erschienen ihm diese Worte grausam indifferent, und er sah jetzt, im Gegensatz zu seinem zornigen Ausbruch von vorhin, bleich und elend aus. Er trat an den Tisch und band seine Mappe zu, während Dorothea ihm von ihrem Platze aus nachblickte.
Sie vergeudeten diese letzten Augenblicke in einem jammervollen Schweigen. Was konnte er sagen, da das Gefühl, das so beharrlich in ihm die Oberhand behauptete, die leidenschaftliche Liebe zu ihr war, die auszusprechen er sich selbst untersagt hatte. Was konnte sie sagen, da sie ihm keine Hülfe anbieten konnte, da sie gezwungen war, das Geld, welches ihm hätte gehören müssen, zu behalten, da er heute nicht, wie er es zu thun pflegte, auf ihr volles Vertrauen und ihre Neigung einzugehen schien.
Aber endlich trat Will von seiner Mappe zurück und näherte sich wieder dem Fenster.
»Ich muß gehen,« sagte er, mit jenem eigenthümlichen Blick, der zuweilen der Begleiter bitterer Empfindungen ist, wie wenn die Augen von zu anhaltendem Sehen in ein Licht erschöpft und heiß geworden sind.
»Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?« fragte Dorothea schüchtern. »Haben Sie noch dieselben Absichten wie bei unserm letzten Abschiede?«
»Ja,« sagte Will, in einem Ton, der den Gegenstand als uninteressant von der Hand zu weisen schien. »Ich werde das Erste, was sich mir bietet, ergreifen. Ich glaube, man gewöhnt sich am Ende daran, sich auch ohne Glück oder Hoffnungen zu behelfen.«
»O, was für traurige Worte!« sagte Dorothea in einem Ton, der eine bedenkliche Neigung zum Schluchzen verrieth. Dann versuchte sie es zu lächeln und fügte hinzu: »Wir pflegten darin übereinzustimmen, daß wir uns Beide gern zu starker Ausdrücke bedienen.«
»Jetzt eben habe ich mich aber nicht zu starker Ausdrücke bedient,« sagte Will, an die Fensterecke gelehnt. »Es giebt gewisse Dinge, die man nur einmal in seinem Leben durchmachen kann, und Jeder muß sich früher oder später sagen, daß die besten Momente für ihn vorüber sind. Ich habe diese Erfahrung schon sehr jung gemacht; das ist Alles. Das, was mir mehr am Herzen liegt, als alles Andere in der Welt, ist mir absolut versagt – ich meine nicht blos, weil es unerreichbar für mich ist, sondern selbst wenn es mir erreichbar wäre, versagt durch meinen Stolz und meine Ehre, durch Alles, worauf meine Selbstachtung beruht. Natürlich werde ich fortan leben wie ein Mensch, der in einem Augenblick der Verzückung den Himmel offen gesehen hat.«
Will hielt inne, überzeugt, daß es für Dorothea unmöglich sein müsse, ihn mißzuverstehen; in der That glaubte er sich sagen zu müssen, daß er mit sich selbst in Widerspruch gerathe und thue, was er selbst nicht billigen könne, indem er sich so deutlich gegen sie ausspreche – und doch war es eine eigenthümliche, fürwahr eine unheimliche Art, um ein Weib zu werben, daß er ihr sagte, er werde niemals um sie werben.
Aber Dorotheen drängte sich bei einem raschen Rückblick auf die Vergangenheit eine ganz andere Vorstellung auf, als die ihn erfüllte. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke, daß sie es sei, die Will als das ihm Theuerste bezeichnet hatte, aber alsbald regte sich der Zweifel; die Erinnerung an das Wenige, was sie mit einander durchlebt hatten, verblaßte und schrumpfte zusammen vor einer anderen Erinnerung, welche sie daran denken ließ, wie viel lebhafter wohl der Verkehr zwischen Will und einer andern Frau gewesen sein möge, mit welcher er fortwährend umgegangen sei. Alles, was er gesagt hatte, mochte sich auf dieses Verhältniß beziehen, und Alles, was zwischen ihm und ihr vorgegangen war, ließ sich vollkommen durch das, was sie stets als seine rein freundschaftliche Zuneigung betrachtet hatte, und durch das grausame, mit der beleidigenden Verfügung ihres Mannes gegebene Hinderniß dieser Freundschaft erklären.
Dorothea stand, die Augen träumerisch zu Boden gesenkt, schweigend da, während sich ihr Bilder zudrängten, welche ihr die betrübende Gewißheit gaben, daß Will bei seinen Worten Frau Lydgate im Sinne gehabt habe.
Aber warum betrübend? Er wollte sie wissen lassen, daß auch in dieser Beziehung sein Benehmen über jede Verdächtigung erhaben gewesen sei.
Will war von Dorothea's Schweigen nicht überrascht. Auch sein Gemüth war von Gefühlen bestürmt; sein Geist war geschäftig, und er gab sich, während er sie beobachtete, der verzweifelten Empfindung hin, daß etwas geschehen müsse, ihre Trennung zu hindern, und wäre es auch ein Wunder, da sich offenbar aus ihren wohlüberlegten Reden ein solches Hinderniß nicht ergeben wollte. Und doch – liebte sie ihn denn eigentlich? – er konnte sich selbst nicht glauben machen, daß sie sich gern ohne diese schmerzliche Empfindung vorstellen möchte. Er konnte sich nicht verhehlen, daß allen seinen Aeußerungen ein geheimes Verlangen nach der Versicherung ihrer Liebe zu Grunde liege.
Keines von Beiden wußte, wie lange sie so dagestanden hatten. Endlich erhob Dorothea die Augen und war im Begriff zu reden, als sich die Thür öffnete und der Diener mit der Meldung eintrat, daß der Hufbeschlag beschafft sei und der Wagen bereit stehe.
»Gleich,« sagte Dorothea und wandte sich dann zu Will mit den Worten: »Ich muß noch einige Notizen für die Haushälterin niederschreiben.«
»Ich muß fort,« sagte Will, nachdem der Diener wieder hinausgegangen war, indem er auf sie zutrat: »Uebermorgen verlasse ich Middlemarch.«
»Sie haben in jeder Beziehung recht gehandelt!« sagte Dorothea, der sich das Herz so zusammenpreßte, daß sie Mühe hatte zu reden, in leisem Ton.
Sie reichte ihm die Hand, und Will ergriff dieselbe für einen Augenblick, ohne ein Wort zu sagen; denn ihre Worte waren ihm grausam kalt und wie gar nicht zu ihr passend erschienen. Ihre Augen begegneten sich, aber in den seinigen sprach sich Unzufriedenheit, in den ihrigen nur Trauer aus.
Er wandte sich ab und nahm seine Mappe unter den Arm.
»Ich bin nie ungerecht gegen Sie gewesen. Bitte, vergessen Sie mich nicht,« sagte Dorothea indem sie einen Seufzer unterdrückte.
»Warum sagen Sie das?« fragte Will gereizt. »Als ob ich nicht in Gefahr wäre, alles Andere zu vergessen.«
Er empfand in diesem Augenblick wirklich eine Regung des Zorns gegen sie, die ihn trieb, ohne Weiteres fortzugehen.
Auf Dorothea wirkte das Alles wie das Zucken eines Blitzes – seine letzten Worte – seine Verneigung gegen sie an der Thür – das Bewußtsein, daß er fort sei. Sie sank in einen Stuhl und saß einige Augenblicke da wie eine Statue, während ihr Inneres von Bildern und Gefühlen bestürmt wurde. Ihr erstes Gefühl war das der Freude, trotz des drohenden Gefolges dieser Freude – Freude darüber, daß sie es wirklich sei, die Will liebe und der er entsage, daß er von keiner anderen, weniger erlaubten, tadelnswerthen Liebe hingenommen sei, aus deren Banden sich loszureißen ihn die Ehre treibe. Freilich waren sie nun getrennt, aber – und bei diesem Gedanken athmete Dorothea tief auf und fühlte – ihre Kräfte wiederkehren – sie durfte wieder, ohne sich einen Zwang aufzuerlegen, an ihn denken.
In diesem Augenblick war der Abschied leicht zu ertragen; denn das erste klare Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, bannte den Kummer. Es war ihr, als ob eine harte Eisrinde von ihrem Herzen geschmolzen sei und ihr Bewußtsein sich jetzt wieder frei entfalten könne; ihre Vergangenheit war ihr mit vollem Verständniß wiedergekehrt. Die Freude wurde nicht gemindert, vielleicht war sie eben jetzt nur um so vollständiger durch die Unwiderruflichkeit der Trennung; denn sie brauchte sich keinen Vorwurf und kein geringschätziges Erstaunen in den Augen oder auf den Lippen irgend Jemandes vorzustellen. Er hatte so gehandelt, daß jeder Vorwurf verstummen und jedes Staunen ein Staunen der Achtung sein mußte.
Wer sie in diesem Augenblick beobachtet hätte, würde gesehen haben, daß ein stärkender Gedanke in ihr lebendig sei. Gerade wie wir, wenn eine schöpferische Kraft mit frohem Behagen in uns arbeitet, einem kleinen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit zu genügen vermögen, als ob wir nur dem Sonnenlichte eine Spalte zu öffnen hätten, so wurde es Dorotheen jetzt leicht, ihre Notizen niederzuschreiben.
Sie gab der Haushälterin ihre letzten Ordres in heitrem Ton, und als sie sich in den Wagen setzte, strahlten ihre Augen und glühten ihre Wangen von frischem Roth unter ihrer trübseligen Wittwenhaube. Sie schlug die schweren Trauerbänder über ihren Hut zurück und dachte, indem sie zum Wagen hinausblickte, welchen Weg Will wohl eingeschlagen haben möge. Es entsprach ganz ihrem Wesen, daß sie stolz darauf war, daß ihn kein Vorwurf treffe, und alle ihre Gefühle waren von dem einen beherrscht, mit dem sie der Gedanke erfüllte.«
»Ich hatte Recht, ihn zu vertheidigen.«
Der Kutscher war gewohnt, seine Grauschimmel gut traben zu lassen, weil Casaubon, der, so bald er nicht an seinem Schreibtische saß, verdrießlich und ungeduldig war, immer bei jeder Fahrt so rasch wie möglich nach Hause befördert werden wollte. Und so rollte der Wagen auch jetzt im Fluge dahin. Die Fahrt war angenehm, denn der während der Nacht gefallene Regen hatte den Staub beseitigt, und ein schönes Blau überspannte hoch den Himmel, während tief am Horizonte dicke Wolkenmassen vorüberjagten. Die Erde sah aus wie eine glückliche Stätte unter dem weiten Himmel, und Dorothea wünschte, sie möchte Will einholen und ihn noch einmal sehen.
Und wirklich sah sie ihn bei einer Biegung des Weges mit seiner Mappe unter dem Arm dahingehen; aber schon im nächsten Augenblick fuhr sie, während er den Hut zog, an ihm vorüber und empfand es schmerzlich, daß sie in einer Art höherer Stellung dasitze und ihn gehen lasse. Sie konnte sich nicht nach ihm umsehen. Es war, wie wenn eine Masse gleichgültiger Gegenstände sie getrennt und verschiedene Wege zu gehen gezwungen hätte, die sie immer weiter von einander entfernten und es nutzlos gemacht haben würden, sich umzusehen. Sie konnte ihm so wenig ein Zeichen geben, das ihm gesagt haben würde: »Müssen wir uns denn trennen?« wie sie den Wagen anhalten lassen konnte, um auf ihn zu warten. Ja, eine Welt von Gründen stürmte auf sie ein, um sie zu hindern, an eine Zukunft zu denken, die vielleicht die Entscheidung dieses Tages umstoßen würde.
»Ich wünschte nur, ich hätte es früher gewußt – ich wünschte nur, er wüßte es! Dann könnten wir Beide, jedes in dem Gedanken an den Andern, ganz glücklich sein, obgleich wir für immer von einander getrennt sind. Und wenn ich ihm nur das Geld hätte geben und ihm das Leben leichter hätte machen können!« – das waren die sehnsüchtigen Verlangen, die sich ihr immer wieder aufdrängten.
Und doch! so schwer lastete die Welt mit ihren Vorurtheilen auf ihr, trotz ihrer energischen Unabhängigkeit, daß dieser Gedanke an Will's Bedürftigkeit und ungünstige Stellung in der Welt immer von der Vorstellung an das Unpassende eines näheren Verhältnisses zwischen ihnen, wie es allen ihr Näherstehenden erschien, durchkreuzt wurde. Sie war durchdrungen von der gebieterischen Natur der Motive, welche Will's Benehmen leiteten. Wie konnte er sich träumen lassen, daß sie der Schranke, die ihr Gatte zwischen ihnen aufgerichtet hatte, spotten würde? – Wie konnte sie je zu dem Entschluß gelangen dieser Schranke zu spotten?
Was Will empfand, als er den Wagen sich immer weiter entfernen sah, war viel bitterer. Sehr geringfügige Dinge reichten hin, ihn in seiner reizbaren Stimmung zu verbittern, und der Anblick Dorothea's, wie sie an ihm vorüberfuhr, während er sich als ein armer Teufel erschien, der sich abplagte, eine Stellung in der Welt zu erringen, die ihm in seiner gegenwärtigen Stimmung wenig bot, was er begehrenswerth fand, ließ ihn sein Benehmen als eine Sache der reinen Nothwendigkeit betrachten und nahm ihm alles, was einem Entschlusse Halt zu geben vermag. Hatte er doch am Ende durchaus keine Gewißheit, daß sie ihn liebe. Konnte irgend jemand behaupten, in einer solchen Lage darüber froh zu sein, daß er der allein leidende Theil sei?
Den Abend brachte Will noch bei Lydgate's zu; am nächsten Abend reiste er ab.
Ende des dritten Bandes.