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Elftes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 53 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 11):

It is but a shallow haste which concludeth insincerity from what outsiders call inconsistency – putting a dead mechanism of »ifs« and »therefores« for the living myriad of hidden suckers whereby the belief and the conduct are wrought into mutual sustainment.


Herr Bulstrode hatte, als er ein neues Interesse an Lowick zu gewinnen hoffte, sehr natürlich den besonderen Wunsch gehegt, daß der neue Geistliche ein Mann ganz nach seinem Sinne sein möchte, und er betrachtete es als eine Züchtigung und einen Verweis für seine eigenen und für die Fehler der ganzen Nation, daß grade um die Zeit, wo er in den Besitz der Papiere gelangte, welche ihn zum Eigenthümer von Stone Court machten, Farebrother als Geistlicher in die zierlich kleine Kirche eingeführt wurde und seine erste Predigt vor der aus Pächtern, Tagelöhnern und Dorfhandwerkern bestehenden Gemeinde hielt.

Nicht als ob Herr Bulstrode die Absicht gehabt hätte, schon in nächster Zeit die Kirche in Lowick regelmäßig zu besuchen, oder in Stone Court zu wohnen; er hatte die herrlichen Ländereien und das schöne Haus einfach als einen Ruhesitz gekauft, den er nach und nach erweitern und verschönern würde, bis es der Ehre Gottes dienlich erscheinen möchte, daß er denselben zu seinem dauernden Aufenthalte wähle, sich theilweise von seiner gegenwärtigen geschäftlichen Thätigkeit zurückziehe und das Gewicht seines Landbesitzes, welchen die Vorsehung durch unerwartete Kaufgelegenheiten vielleicht noch vergrößern würde, noch augenscheinlicher zu Gunsten der evangelischen Wahrheit geltend mache.

Eine starke Förderung dieser Absichten schien durch die überraschende Leichtigkeit, Stone Court zu erwerben, gegeben zu sein, während man doch allgemein geglaubt hatte, Herr Rigg Featherstone werde an diesem Besitze wie an einem Paradiese festhalten. Das hatte auch der alte Peter selbst geglaubt, der sich oft an der Vorstellung geweidet hatte, wie er dereinst durch die über ihm lagernden Erdschollen hindurch, mit unbehinderter Aussicht, seinen Erben mit dem Froschgesicht, zur beständigen Ueberraschung und Enttäuschung anderer Ueberlebender, sich des schönen alten Besitzes erfreuen sehen würde.

Aber wie wenig wissen wir, was unsere Nebenmenschen als ein Paradies betrachten! Wir urtheilen nach unsern eigenen Wünschen, und unsere Nebenmenschen selbst sind nicht immer aufrichtig genug, ihre Wünsche auch nur andeutungsweise zu erkennen zu geben. Der kühle, kluge Josua Rigg hatte seinen Vater nicht merken lassen, daß Stone Court ihm nicht als das höchste erreichbare Gut erschien, und hatte auch sicherlich den Wunsch gehabt, diesen Besitz sein eigen zu nennen.

Aber wie Warren Hastings bei dem Anblick von Gold stets an den Wiederankauf des alten Familiensitzes Daylesford dachte, so dachte Josua Rigg bei Stone Court an den Ankauf von Gold. Er hatte eine sehr bestimmte und intensive Vorstellung von dem, was ihm als das höchste Gut erschien, indem die starke, ihm angeerbte Habgier in Folge besonderer Umstände eine bestimmte Gestalt angenommen hatte – und dieses höchste Gut bestand für ihn darin, Geldwechsler zu sein.

Von der Zeit seiner ersten Anstellung als Laufbursche in einem Seehafen an, hatte er in die Schaufenster der Geldwechsler geblickt, wie andere Knaben in die Fenster eines Kuchenladens sehen; der Zauber, den dieser Anblick auf ihn übte, hatte sich allmälig in eine wahre Leidenschaft verwandelt.

Er gedachte, wenn er sich ein Vermögen werde erworben haben, vielerlei Dinge zu thun, unter Anderem auch, ein gentiles junges Frauenzimmer zu heirathen; aber das waren doch nur Nebendinge und Freuden, deren seine Einbildungskraft allenfalls entrathen konnte.

Die einzige Freude, nach welcher seine Seele dürstete, war, einen an einem stark frequentirten Quai gelegenen Geldwechslerladen zu haben, sich von Schlössern umgeben zu sehen, zu denen er die Schlüssel hätte, und mit einem Ausdruck erhabener Kälte die Münzen aller Nationen durch seine Finger gleiten zu lassen, während ihm ohnmächtige Gier von der andern Seite eines Drahtgitters aus neidisch dabei zusehen würde.

Die Stärke dieser Leidenschaft hatte ihm die Kraft verliehen, sich in den Besitz aller der Kenntnisse zu setzen, welche nothwendig waren, um dieser Leidenschaft zu fröhnen. Und während Andere glaubten, daß er sich für die Dauer seines Lebens auf Stone Court niedergelassen habe, hoffte Josua selbst, daß der Augenblick nicht mehr fern sei, wo er sich mit den besteingerichteten feuerfesten Geldschränken und Schlössern auf dem North Quai niederlassen werde.

Genug. Uns interessirt der Landverkauf von Josua Rigg nur aus dem Gesichtspunkte Bulstrode's, und dieser betrachtete denselben als eine erfreuliche Fügung, in welcher vielleicht die Sanction eines Zweckes liege, den er seit einiger Zeit ohne äußere Ermunterung verfolgte; freilich war er bei dieser Betrachtungsweise nicht allzu vertrauensvoll und gab seinem Danke gegen diese Fügung in reservirten Phrasen Ausdruck.

Seine Zweifel hatten ihren Grund nicht in dem Einfluß, den der Kauf möglicher Weise auf Josua Rigg's Geschick üben könnte, welches in das Bereich jener unvermessenen Gegenden gehörte, von welchen das göttliche Regiment wie von entferntem Coloniallande höchstens sehr indirect Notiz nehme; sondern diese Zweifel rührten von der Besorgniß her, daß auch diese Fügung eine Züchtigung für ihn werden möchte, wie es die Ueberweisung der Pfründe an Farebrother offenbar war.

Das sagte Bulstrode nicht etwa zu irgend Jemandem, um ihn zu täuschen; sondern er sagte es sich selbst – es war wirklich seine Art, Ereignisse aufzufassen, mit der er es ebenso aufrichtig meinte wie Ihr, die Ihr vielleicht nicht mit ihm übereinstimmt, es mit einer Eurer Theorien meint. Denn der Egoismus, der sich in unsere Theorien eindrängt; thut ihrer Aufrichtigkeit keinen Eintrag; man kann vielmehr behaupten, daß in dem Grade, wie unser Egoismus bei einem Glauben seine Rechnung findet, dieser Glaube stark sein wird.

Wie dem aber auch sein mochte, ob es eine Sanction seiner Zwecke oder eine Züchtigung für ihn war, gewiß ist, daß Herr Bulstrode kaum fünfzehn Monate nach Peter Featherstones Tode der Eigenthümer von Stone Court geworden war, und was Peter davon denken würde, ›wenn er gewürdigt wäre, es zu wissen‹, – das bildete einen unerschöpflichen und tröstlichen Gegenstand der Unterhaltung für seine enttäuschten Verwandten.

Das Blatt hatte sich jetzt in Betreff des lieben verstorbenen Bruders gewendet, und die Vereitelung seiner Schlauheit durch die noch größere Schlauheit des Laufes der Dinge war für Salomon ein entzückender Gegenstand der Betrachtung. Frau Waule fand einen melancholischen Triumph in dem Beweise, daß es doch nicht angehe, falsche Featherstone's zu machen und die echten zu kränken, und Schwester Martha sagte, als sie die Nachricht in der ›kalkigen Niederung‹ empfing:

»O Du lieber Himmel! Dem Allmächtigen sind also doch am Ende die Armenhäuser kein so gefälliges Werk gewesen.«

Die ihren Gatten zärtlich liebende Frau Bulstrode freute sich besonders über den wohlthätigen Einfluß, den der Besitz von Stone Court hoffentlich auf seine Gesundheit üben werde. Selten verging ein Tag, an welchem er nicht hinausritt und einen und den andern Theil der Ländereien mit dem Verwalter in Augenschein nahm, und die Abende waren köstlich auf diesem friedlichen Fleck Erde, wo die den frischen Heuschobern und dem schönen alten Garten entströmenden Düfte die Luft erfüllten.

 

Eines Abends, als die goldenen Strahlen der schon tief am Himmel stehenden Sonne noch durch die Zweige der großen Wallnußbäume hindurch schienen, hielt Herr Bulstrode zu Pferde vor dem Gitterthor des Guts und wartete auf Caleb Garth, der verabredetermaßen herausgekommen war, um ihm seine Ansicht über die Drainirung der Ställe mitzutheilen, und der eben jetzt mit dem Verwalter auf den Hof gegangen war, auf welchem die Getreideschober standen.

Bulstrode war sich einer guten geistlichen Stimmung bewußt und in dem Genuß seiner harmlosen Erholung ungewöhnlich heiter. Er war dogmatisch überzeugt, daß er durchaus ohne Verdienst sei; aber diese dogmatische Ueberzeugung kann ohne peinliche Empfindungen bestehen, wenn das Bewußtsein der Verdienstlosigkeit keine bestimmte Gestalt in der Erinnerung annimmt und nicht den Nachklang der Scham oder das dumpfe Gefühl der Gewissensangst wieder auffrischt. Ja, diese Ueberzeugung kann zur höchsten Befriedigung gereichen, wenn die Unergründlichkeit unserer Sündhaftigkeit uns nur zum Maßstabe der Unerschöpflichkeit der göttlichen Gnade und zum schlagenden Beweise dafür dient, daß wir die besonderen Werkzeuge der göttlichen Absichten sind. Unser Gedächtniß hat gerade so viele Launen wie unser Gemüth und läßt seine Bilder in raschem Wechsel an uns vorüberziehen wie in einem Diorama.

In diesem Augenblick war Bulstrode zu Muthe, als ob der Schein der untergehenden Sonne derselbe sei, wie jener Sonnenschein längstvergangener Abende, wo er als ein noch sehr junger Mann über Highbury hinauszugehen pflegte, um zu predigen. Und gerne würde er auch jetzt die Erfüllung dieses begeisterten Dienstes vor sich gehabt haben. Die Texte, über welche sich sprechen ließ, waren noch immer dieselben und auch seine Fertigkeit in Erklärung derselben war noch die gleiche.

Aus diesem kurzen Traum wurde er durch Caleb Garth aufgeschreckt. Dieser, der gleichfalls zu Pferde war, wollte eben den Zügel anziehen, bevor er wieder fortritt, als er ausrief:

»Mein Gott! Was ist das für ein schwarz gekleideter Mensch, der da herkommt? Er sieht aus wie einer von den Kerlen, die man bei den Wettrennen sieht.«

Bulstrode drehte sein Pferd und sah den Weg hinunter, erwiderte aber nichts. Der neue Ankömmling war der uns schon oberflächlich bekannte Raffles, dessen Erscheinung sich nicht weiter verändert hatte, als daß er heute einen schwarzen Anzug und einen schwarzen Flor um den Hut trug. Er war den Reitern jetzt auf zehn Schritte nahe gekommen, so daß sie wahrnehmen konnten, wie sich der Ausdruck eines plötzlichen Wiedererkennens auf seinem Gesichte malte, während er, den Blick fortwährend auf Bulstrode gerichtet, seinen Stock in der Luft schwang.

Endlich rief er aus:

»Bei Gott, Ihr seid es, Nick! Ich irre mich nicht, obgleich die fünfundzwanzig Jahre uns Beiden übel mitgespielt haben. Wie geht's Euch? Wie? Darauf waret Ihr wohl nicht gefaßt, mich hier zu treffen? Kommt, gebt mir die Hand.«

Wenn ich sagen wollte, daß das Benehmen des Herrn Raffles etwas Aufgeregtes hatte, würde ich damit nur in anderer Weise ausdrücken, daß es Abend war. Caleb Garth konnte bemerken, daß Bulstrode einen Augenblick mit sich kämpfte und zauderte. Schließlich aber reichte er Raffles kalt die Hand und sagte:

»Ich war in der That nicht darauf gefaßt, Sie hier auf diesem entlegenen Landsitze zu treffen.«

»Nun, derselbe gehört einem Stiefsohn von «mir,« erwiderte Raffles, der sich in seiner schwankenden Haltung in Positur setzte. »Ich war schon einige Male hier, um ihn zu besuchen. Ich bin nicht so überrascht, Euch hier zu treffen, alter Junge, weil ich vor einiger Zeit einen Brief auflas – was man eine providentielle Fügung nennen kann. Aber es ist doch ein rechtes Glück, daß ich Euch hier getroffen habe; denn ich mache mir nichts daraus, meinen Stiefsohn zu sehen; er ist nicht zärtlich gegen mich, und seine arme Mutter ist jetzt todt. Die Wahrheit zu sagen, bin ich aus Liebe zu Euch hergekommen, Nick; ich wollte mir Eure Adresse verschaffen. Denn – seht einmal her!«

Bei diesen Worten zog Raffles ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche.

Jeder andere Mensch als Caleb Garth würde sich vielleicht versucht gefühlt haben, noch ein wenig zu verziehen, um so viel wie möglich über einen Mann zu erfahren, dessen Bekanntschaft mit Bulstrode auf Momente in dem Leben des Banquiers hindeutete, welche, ganz verschieden von Allem, was über denselben in Middlemarch bekannt war, einen geheimnißvollen Charakter haben mußten, der wohl geeignet war, die Neugierde zu reizen.

Aber Caleb war ein eigenthümlicher Mensch; gewisse Neigungen, die bei den meisten Menschen sehr ausgeprägt sind, waren ihm fast völlig fremd und zu diesen Neigungen gehörte die Neugierde in Betreff persönlicher Angelegenheiten. Namentlich, wenn sich die Aussicht darbot, etwas Nachtheiliges über andere Menschen herauszufinden, zog Caleb es vor, dasselbe nicht zu erfahren, und wenn er in den Fall kam, einem Untergebenen zu sagen, daß eine Unrechtfertigkeit desselben entdeckt sei, so war er bei dieser Mittheilung verlegener als der Schuldige.

Jetzt spornte er sein Pferd und trabte mit den Worten »Guten Abend, Herr Bulstrode; ich muß nach Hause!« davon.

»Ihr habt diesem Briefe nicht Eure volle Adresse hinzugefügt,« fuhr Raffles fort, »das sieht einem so famosen Geschäftsmanne, wie Ihr es immer zu sein pflegtet, nicht ähnlich. ›Im Gebüsch‹ kann überall sein; Ihr wohnt wohl hier in der Nähe, wie? – Habt wohl das Londoner Geschäft ganz aufgegeben – seid vielleicht ein Landedelmann geworden – habt vielleicht einen Landsitz, auf den Ihr mich einladen könnt. Herr Gott, wie viele Jahre ist das her! Die alte Dame muß schon eine gute Weile todt sein – zu einem bessern Leben eingegangen, ohne den Kummer, zu erfahren, wie arm ihre Tochter war, was? Aber bei Gott, Ihr seht sehr blaß und käsig aus, Nick. Kommt, wenn Ihr nach Hause reitet, will ich neben Euch hergehen.«

In der That war Bulstrode's gewöhnlich blasses Gesicht fast todtenähnlich fahl geworden. Noch fünf Minuten vorher war sein ganzes vergangenes Leben in den Glanz eines Abendsonnenscheins getaucht gewesen, welcher mit seinen Strahlen auch die Erinnerungen seines Lebensmorgens erfüllte; Sünde war ihm als eine Frage des Glaubens und der inneren Buße, Erniedrigung als eine geistliche Uebung im einsamen Kämmerlein und sein Verhalten im Leben als eine Angelegenheit seiner eigenen Anschauung, welche sich nur nach geistlichen Beziehungen und nach seiner Auffassung der göttlichen Absichten zu, richten habe, erschienen.

Und jetzt war auf einmal, wie durch einen widerwärtigen Zauber, diese laute rohe Gestalt, über die er keine Gewalt besaß, vor ihm aufgestiegen – ein verkörpertes Stück Vergangenheit, welches in seiner Vorstellung der ihm gewordenen Züchtigungen keinen Platz gefunden hatte.

Aber Bulstrode's Gedanken waren geschäftig, und er war nicht der Mann, voreilig zu handeln oder zu reden.

»Ich war im Begriff, nach Hause zu reiten,« sagte er. »Aber ich kann meinen Ritt ein wenig verschieben. Und Sie können, wenn es Ihnen recht ist, hier ausruhen.«

»Danke,« erwiderte Raffles mit einer Grimasse. »Es liegt mir jetzt nichts daran, meinen Stiefsohn zu sehen. Ich möchte lieber mit Ihnen nach Hause gehen.«

»Ihr Stiefsohn, wenn Sie Herrn Rigg Featherstone meinen, wohnt nicht mehr hier. Das Gut gehört jetzt mir.«

Raffles machte große Augen, gab seiner Ueberraschung durch einen langen Pfiff Ausdruck und sagte endlich:

»Nun gut, ich habe nichts dagegen. Ich habe an dem Marsch von der Landstraße her genug gehabt. Ich bin nie ein großer Freund weder vom Gehen noch vom Reiten gewesen. Ich lobe mir ein hübsches Fuhrwerk mit einem muntern Pferde. Ich habe immer ein bischen schwer im Sattel gesessen. Welch eine angenehme Ueberraschung muß es für Euch sein, mich zu sehen, alter Junge,« fuhr er fort, als sie dem Hause zugingen. »Ihr sprecht es nicht aus; aber Ihr habt Euch nie recht über Euer Glück gefreut – Ihr waret immer darauf bedacht, die Gelegenheit noch zu verbessern. – Ihr hattet immer eine eigene Gabe, Euer Glück zu verbessern.«

Raffles schien sich ungemein über seinen eigenen Witz zu freuen und machte seine schwankende schwingende Bewegung mit dem Bein, die für die kluge Gelassenheit seines Begleiters doch ein Bischen zu viel war.

»Wenn ich mich recht erinnere,« bemerkte Bulstrode in einem kalten, grimmigen Tone, »hatte unsere Bekanntschaft vor vielen Jahren nicht den Charakter der Intimität, mit welcher Sie mir jetzt gegenübertreten, Herr Raffles. Wenn Sie wünschen, daß ich Ihnen irgend einen Dienst leisten soll, so werde ich das um so bereitwilliger thun, wenn Sie einen Ton der Vertraulichkeit vermeiden, der in unserm frühem Verkehr zwischen uns nicht üblich war und der schwerlich durch eine mehr als zwanzigjährige Trennung gerechtfertigt erscheinen möchte.«

»Ihr mögt nicht Nick genannt werden? Ich habe Euch immer in meinem Herzen Nick genannt und Euch immer, wenn ich Euch auch aus dem Gesichte verloren hatte, ein zärtliches Andenken bewahrt. Bei Gott, meine Gefühle für Euch sind durch das Alter nur wärmer geworden – wie schöner alter Cognac. Ich hoffe Ihr habt welchen im Hause. Josh hat mir das letzte Mal meine Flasche gut gefüllt.«

Bulstrode wußte noch nicht, daß selbst der Geschmack am Cognac bei Raffles nicht stärker war als der Geschmack am Leuteverdrießen und daß die Andeutung einer durch seine Worte hervorgerufenen unangenehmen Empfindung ihm immer nur als Stichwort zu einem neuen Angriff diente. Aber soviel wenigstens war Bulstrode klar geworden, daß jede fernere Einwendung nutzlos sein würde, und er gab daher seine Ordres an die Haushälterin für die Aufnahme des Gastes mit einer entschlossen ruhigen Miene. Es war ihm dabei ein tröstlicher Gedanke, daß diese Haushälterin bereits in Rigg's Diensten gestanden hatte und daß sie sich daher in die Vorstellung finden werde, daß Herr Bulstrode Raffles nur als einen Verwandten ihres frühern Herrn bei sich aufnehme.

Als Speise und Trank vor seinem Gaste in dem getäfelten Wohnzimmer aufgetischt standen und kein Zeuge zugegen war, sagte Bulstrode:

»Ihre Gewohnheiten sind so verschieden von den meinigen, Herr Raffles, daß wir uns schwerlich einer in des andern Gesellschaft wohlfühlen können. Es wird daher das Klügste für uns Beide sein, wenn wir uns sobald wie möglich wieder trennen. Da Sie sagen, daß Sie mich zu treffen wünschten, so haben Sie vermuthlich ein mit mir abzumachendes Geschäft im Sinne. Unter den obwaltenden Umständen aber will ich Sie einladen, die Nacht hier zuzubringen und will morgen früh zeitig wieder hieher reiten – noch vor dem Frühstück, wo ich dann jede Mittheilung, die Sie mir etwa zu machen haben, entgegennehmen kann.«

»Mit dem größten Vergnügen,« sagte Raffles, »es ist sehr behaglich hier – ein wenig still für einen längern Aufenthalt, aber für eine Nacht geht es ganz gut mit diesem guten Getränk und der Aussicht, Euch morgen früh wiederzusehen. Ihr seid ein viel besserer Wirth, als es mein Stiefsohn war; aber Josh grollte mir ein wenig, weil ich seine Mutter geheirathet hatte, und zwischen Euch und mir haben immer nur freundliche Beziehungen bestanden.«

Bulstrode, der hoffte, daß die eigenthümliche Mischung von Heiterkeit und Hohn in Raffles' Wesen zu einem guten Theil auf Rechnung des genossenen Getränks zu setzen sei, hatte beschlossen, seine völlige Ernüchterung abzuwarten, bevor er sich weiter mit ihm einließe.

Er ritt aber mit einer unheimlich klaren Vorstellung von der Schwierigkeit, mit diesem Manne zu einem Arrangement zu gelangen, bei dem er sich dauernd würde beruhigen können, nach Hause zurück. Natürlich mußte er wünschen, John Raffles los zu werden, wenn er auch dessen Wiedererscheinen nicht als außerhalb der göttlichen Absichten liegend betrachten durfte. Der Geist des Bösen mochte ihn geschickt haben, um die Vernichtung Bulstrode's als eines Werkzeugs des Guten anzudrohen; aber diese Drohung mußte doch zugelassen sein und war eine neue Art von Züchtigung.

Es war eine angstvolle Stunde für ihn, sehr verschieden von den Stunden, in welchen er seine inneren Kämpfe in voller Sicherheit in sich hatte durchmachen können und welche stets mit dem Bewußtsein geendigt hatten, daß seine geheimen Missethaten verziehen und seine Dienste angenommen seien. Und selbst als er diese Missethaten beging – waren sie nicht auch damals halb geheiligt durch die Aufrichtigkeit seines Wunsches, sich selbst und Alles, was er besaß, der Förderung der göttlichen Absichten zu widmen? Und sollte er nach alledem doch nur ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Aergernisses sein? Denn wer würde für das Wirken des göttlichen Geistes in ihm ein Verständniß haben? Wer würde nicht, wenn sich ein Vorwand darböte, ihm Schimpf anzuthun, sein ganzes Leben und die Wahrheit, deren Diener er geworden war, unterschiedslos in einen Haufen von Schimpf vermengen?

In seinen innersten Betrachtungen kleidete Bulstrode's Geist, nach einer lebenslänglichen Gewohnheit, seine selbstsüchtigsten Aengste in das Gewand doctrineller Beziehungen zu göttlichen Zwecken. Aber selbst während wir über die Erdbahn und das Sonnensystem reden und nachdenken, beziehen sich unsere Empfindungen doch auf den festen Erdball und auf den wechselnden Tag. Und jetzt, inmitten all' der sich automatisch in ihm abspielenden theoretischen Phrasen drängte sich ihm, deutlich und aus dem tiefsten Innern heraus, wie das Frösteln und der Schmerz eines Fiebers, das an uns heranschleicht, während wir über abstrakte Schmerzen discutiren, die Voraussicht der Schande vor seinen Nebenmenschen und vor seinem eigenen Weibe, auf.

Denn der Grad des Schmerzes sowohl wie die Schätzung des öffentlichen Urtheils über Schande hängt davon ab, wieviel man sich schon davon zu ertragen gewöhnt hat. Menschen, welche nur danach trachten, der Strafe für ein schweres Verbrechen zu entgehen, erscheint außer dem Kerker nichts als Schande. Aber Herr Bulstrode hatte danach getrachtet, ein ausgezeichneter Christ zu sein.

 

Es war erst halb acht Uhr, als Bulstrode am nächsten Morgen wieder in Stone Court eintraf. Das schöne alte Gut hatte nie so sehr den Eindruck eines köstlichen Daheim gemacht wie in diesem Augenblick; die großen weißen Lilien waren in Blüthe, die Nasturtien, deren hübsche Blätter alle mit silberglänzenden Thautropfen bedeckt waren, rankten sich über die niedrige Steinmauer hinweg; selbst die rund umher erschallenden Geräusche athmeten den tiefsten Frieden. Aber an dem Herrn des Guts, der jetzt auf dem Kieswege dem Hause zuschritt, um Raffles zu erwarten, mit welchem er zu frühstücken verurtheilt war, ging das Alles verloren.

Nicht lange nachher saßen sie bei einander in dem getäfelten Wohnzimmer bei Thee und geröstetem Brot; denn mehr verlangte Raffles zu so früher Stunde nicht. Gleichwohl war der Unterschied zwischen seiner Morgen- und Abendstimmung nicht so groß, wie Bulstrode sich vorgestellt hatte; sein Vergnügen am Leuteverdrießen war heute vielleicht noch größer, weil seine Lebensgeister weniger angeregt waren. Jedenfalls machte seine Art und Weise bei Tageslicht einen noch widerwärtigeren Eindruck.

»Da ich wenig Zeit habe, Herr Raffles,« sagte der Banquier, der nur an seinem Thee nippte und sein geröstetes Brot in Stücke brach, ohne etwas davon zu genießen, »so würde ich Ihnen verbunden sein, wenn Sie mir ohne weiteres die Veranlassung Ihres Wunsches, mich zu sprechen, mittheilen wollten. Ich nehme an, daß Sie anderswo eine Häuslichkeit besitzen und froh sein werden, dahin zurückzukehren.«

»Nun, soll ein Mann, der nicht ganz herzlos ist, nicht Verlangen danach tragen, einen alten Freund wiederzusehen, Nick? – Ich muß Euch Nick nennen – wir nannten Euch ja immer den jungen Nick, als wir wußten, daß Ihr daran dächtet, die alte Wittwe zu heirathen. Einige behaupteten, Ihr hättet eine hübsche Familienähnlichkeit mit dem alten Nick Old Nick: Vulgärer Ausdruck für: Teufel., aber daran ist Eure Mutter Schuld; sie nannte Euch Nicolaus. Freuet Ihr Euch nicht, mich wiederzusehen? Ich hatte auf eine Einladung von Euch gerechnet, Euch längere Zeit auf einem hübschen Besitzthum zu besuchen. Meine eigene Häuslichkeit ist jetzt zerstört, meine Frau ist todt. Ich habe kein besonderes Attachement für irgend einen Aufenthaltsort; ich möchte mich ebensogern hierherum niederlassen als anderswo.«

»Darf ich fragen, warum Sie von Amerika zurückgekehrt sind? Ich hatte geglaubt, daß der lebhafte Wunsch, den Sie zu erkennen gaben, dorthin zu gehen, sobald Ihnen die dazu erforderliche Summe geboten würde, so gut sei wie die Uebernahme einer Verpflichtung dort für immer zu bleiben.«

»Ich habe noch nie gehört, daß der Wunsch, irgendwo hinzugehen, so viel heiße, wie dort bleiben wollen. Aber ich bin so was wie zehn Jahre drüben geblieben, länger gefiel es mir nicht. Und ich gehe nicht wieder hin, Nick.«

Bei diesen Worten sah Raffles Bulstrode an und zwinkerte langsam mit den Augen.

»Wünschen Sie die Mittel zu irgend einem Geschäfte? Was ist jetzt Ihr Beruf«

»Danke, mein Beruf ist, mich so gut wie möglich zu amüsiren. Ich trage kein Verlangen danach, noch wieder zu arbeiten. Wenn ich irgend etwas unternehmen möchte, so wäre es, kleine Reisen für ein Tabacksgeschäft zu machen oder etwas derart, was Einen in angenehme Gesellschaft bringt. Aber nicht ohne den Rückhalt einer unabhängigen Existenz, die ich immer wieder aufnehmen könnte. Das brauche ich; ich bin nicht mehr so stark, wie ich war, Nick, wenn ich auch mehr Farbe habe als Ihr. Ich muß eine unabhängige Existenz haben.«

»Die würde man Ihnen verschaffen können, wenn Sie sich verpflichten wollten, sich an einem entfernten Orte niederlassen,« sagte Bulstrode, vielleicht ein wenig zu beflissen in seinem leisen Tone.

»Das muß mir ganz überlassen bleiben,« erwiderte Raffles kühl. »Ich sehe nicht ein, warum ich nicht einige Bekanntschaften hier in der Gegend machen sollte. Ich brauche mich meiner vor Niemandem zu schämen. Ich habe meinen Koffer, ehe ich herkam, in dem Chausseehäuschen gelassen – darin habe ich andere Wäsche – fein – parole d'honneur! nicht blos Chemisetten und Manschetten, – und mit diesem Traueranzug, mit Strippen und Allem, was dazu gehört, würde ich Euch bei den feinen Leuten hier Ehre machen.«

Bei diesen Worten betrachtete Raffles, der seinen Stuhl vom Tische abgerückt hatte, sich selbst und besonders seine Strippen. Seine Hauptabsicht war Bulstrode zu ärgern; aber er glaubte wirklich, daß seine Erscheinung einen guten Eindruck hervorbringen müsse und daß er nicht nur hübsch und witzig sei, sondern daß ihm auch sein Traueranzug ein durchaus respectables Aussehen gebe.

»Wenn Sie in irgend einer Beziehung auf mich rechnen, Herr Raffles,« sagte Bulstrode nach einer kurzen Pause, »so werden Sie darauf gefaßt sein müssen, sich meinen Wünschen zu fügen.«

»O gewiß,« erwiderte Raffles in einem ironisch herzlichen Tone, »habe ich das nicht immer gethan? Herr des Himmels, Ihr habt 'was Schönes aus mir gemacht, und ich habe nur wenig dafür bekommen. Ich habe seitdem oft daran gedacht, ob ich nicht vielleicht besser gethan hätte, der alten Frau zu sagen, daß ich ihre Tochter und ihr Enkelkind aufgefunden habe; das hätte besser zu meinen Gefühlen gestimmt; ich habe ein weiches Herz. Aber seitdem habt Ihr wohl die alte Dame zu Grabe getragen – für sie ist jetzt Alles einerlei. Und Ihr habt Euer Vermögen von jenem profitablen Geschäfte her, bei dem so viel Segen war. Ihr seid ein vornehmer Mann geworden, habt Land gekauft, seid ein Landpascha! Gehört Ihr noch immer zu den Dissenters, wie? Seid Ihr noch immer extra fromm? Oder seid Ihr, weil es doch gentiler ist, ein Mann der Staatskirche geworden?«

Dieses Mal war Raffles' langsames Augenzwinkern und leichtes Anstoßen mit der Zunge schlimmer als ein Alp, weil es dem davon Betroffenen die Ueberzeugung aufdrängte, daß er von keinem Alp, sondern von einem wachen Elende gedrückt werde.

Bulstrode durchschauerte es, wie vor einem Ausbruch der Seekrankheit, aber er sagte nichts, sondern überlegte sich ruhig, ob es nicht vielleicht gerathener sei, Raffles thun zu lassen, was er wolle, und seinen Verläumdungen einfach Trotz zu bieten. Der Mann würde sich bald als so unrespektabel erweisen, daß die Leute ihm nicht glauben würden. ›Außer wenn er häßliche und wahre Dinge von Dir zu erzählen hat;‹ raunte ihm die Stimme seines scharf urtheilenden Gewissens zu. Andererseits schien es doch wieder nicht unrecht, Raffles fern zu halten. Aber Bulstrode schreckte vor der directen Unwahrheit zurück, wahre Angaben zu leugnen. Es war doch etwas sehr Verschiedenes: auf vergebene Sünden zurückblicken, ja, eine bestreitbare Aneignung laxer Gewohnheiten erklären – oder sich wohlüberlegter Weise in die Nothwendigkeit einer Unwahrheit finden.

Während aber Bulstrode schwieg, suchte Raffles die ihm gegönnte Zeit auf's beste auszubeuten.

»Ich habe, bei Gott, kein solches Glück gehabt wie Ihr! In New-York ist es mir verflucht schlecht gegangen; die Yankees sind unverschämte Kerle, und ein Mann, der wie ein Gentleman fühlt, hat da wenig Aussicht, zu etwas zu kommen. Als ich zurück kam, heirathete ich eine nette Frau mit einem Tabacksgeschäft, die mich sehr lieb hatte; aber das Geschäft war beschränkt. Sie war vor einer Reihe von Jahren von einem Freunde etablirt worden; aber ich mußte da einen Sohn mit in den Kauf nehmen. Josh und ich wurden nie gut mit einander fertig. Indessen wußte ich doch das Beste aus meiner Stellung zu machen und habe mein Glas Wein immer in guter Gesellschaft getrunken. Es ist Alles ehrlich bei mir zugegangen; ich bin so offen wie der Tag. Ihr werdet es nicht übel nehmen, daß ich Euch nicht früher aufgesucht habe. Ich habe ein Leiden, das mich Alles ein bischen auf die lange Bank schieben läßt. Ich dachte, Ihr wäret noch immer in London als Geschäftsmann und Prediger, und fand Euch dort nicht. Aber Ihr seht, Nick, der Himmel hat mich Euch gesandt – vielleicht zum Segen für uns Beide.«

Raffles sprach die letzten Worte in scherzhafter Nachahmung frömmelnder Redner durch die Nase. Kein Mensch konnte seinen Geist erhabener über scheinheiliges Gewinsel fühlen als er, und wenn die berechnende Schlauheit, welche auf die niedrigsten Gefühle der Menschen speculirt, Geist genannt werden kann, so besaß er etwas davon; denn unter dem scheinbar derb herausplatzenden, zuversichtlichen Tone, welchen er gegen Bulstrode annahm, verbarg sich doch eine vorsichtige Auswahl der angegebenen Thatsachen, als hätte es sich um ebenso viele Schachzüge gehandelt.

Inzwischen war Bulstrode sich über seinen Schachzug schlüssig geworden, und er sagte mit gesammelter Entschlossenheit:

»Sie werden gut thun, sich wohl zu überlegen, Herr Raffles, daß man leicht in dem Bemühen, sich unrechtmäßige Vortheile zu sichern, über sein Ziel hinausschießt. Obgleich ich keinerlei Verpflichtung gegen Sie habe, bin ich doch bereit, Ihnen ein Jahresgehalt – in vierteljährlichen Zahlungen zu bewilligen, wenn Sie versprechen, sich in einer gewissen Entfernung von dieser Gegend aufzuhalten, und so lange Sie dieses Versprechen erfüllen. Sie haben zu wählen. Wenn Sie darauf bestehen, auch nur auf kurze Zeit hier zu bleiben, so bekommen Sie nichts von mir. In diesem Falle kenne ich Sie nicht«

»Hahaha!« rief Raffles mit einem affectirten Lachen. »Das erinnert mich an den drolligen Hund eines Diebes, der erklärte, den Constabler nicht kennen zu wollen.«

»Ihre Anspielungen treffen mich nicht, mein werther Herr,« sagte Bulstrode hitzig. »Das Gesetz kann mir weder mit Ihrer noch mit irgend eines Andern Hülfe etwas anhaben.«

»Ihr versteht keinen Spaß, mein guter Freund. Ich meinte nur, daß es mir nie einfallen würde, Euch nicht zu kennen. Aber laßt uns ernsthaft reden. Eine vierteljährliche Zahlung würde mir nicht conveniren. Ich liebe meine Freiheit.«

Bei diesen Worten stand Raffles auf und stolzirte zwei- oder dreimal im Zimmer auf und ab, indem er die Beine von sich warf und eine Miene überlegenen Nachdenkens annahm.

Endlich blieb er vor Bulstrode stehen und sagte:

»Ich will Euch etwas sagen; gebt mir ein paar hundert Pfund – kommt, das ist doch bescheiden – und ich gehe fort – parole d'honneur! – nehme meinen Koffer und gehe fort. Aber für eine elende vierteljährliche Zahlung gebe ich meine Freiheit nicht auf. Ich muß kommen und gehen können, wie es mir gefällt. Vielleicht convenirt es mir, wegzubleiben und mit einem so guten Freunde zu correspondiren, vielleicht aber auch nicht. Habt Ihr das Geld bei Euch?«

»Nein, ich habe nur hundert,« erwiderte Bulstrode, der sich durch die Aussicht, den lästigen Menschen sofort loszuwerden, zu sehr erleichtert fühlte, als daß er dieselbe im Hinblick auf die Ungewißheit der Zukunft hätte von sich weisen sollen. »Ich will Ihnen die andern hundert schicken, wenn Sie mir eine Adresse aufgeben wollen.«

»Nein, ich will hier warten, bis Ihr mir sie bringt,« entgegnete Raffles. »Ich werde hier ein wenig umherschlendern und etwas zu mir nehmen, bis dahin seid Ihr wieder hier.«

Bulstrode, dessen schwächlicher Gesundheitszustand durch die Aufregungen, die er seit dem vorigen Abende durchgemacht hatte, sehr angegriffen war, fühlte sich elendiglich in der Gewalt dieses zudringlichen, unempfindlichen Menschen. In diesem Augenblicke schnappte er wie nach Luft nach einer gleichviel wie zu erreichenden momentanen Ruhepause.

Er wollte eben aufstehen, um zu thun, was Raffles ihm an die Hand gegeben hatte, als der Letztere, wie wenn ihm plötzlich etwas einfalle, den Zeigefinger erhob und sagte:

»Ich habe Euch noch nicht erzählt, daß ich mich seit jener Zeit noch einmal nach Sarah umgesehen habe; ich machte mir Gewissensskrupel wegen der hübschen jungen Person. Ich fand sie nicht, aber ich erfuhr den Namen ihres Mannes und notirte mir denselben. Aber hol's der Henker, ich habe mein Taschenbuch verloren. Wenn ich ihn aber hörte, würde er mir sogleich wieder einfallen. Mein Geist ist noch so klar, als wäre ich der jüngste Mensch, aber Namen kann ich, bei Gott, nicht mehr behalten! Bisweilen komme ich mir vor wie ein verfluchter Steuerbogen, ehe die Namen darauf ausgefüllt sind. Indessen, wenn ich etwas von ihr und ihrer Familie höre, so sollt Ihr es erfahren, Nick. Ihr würdet gewiß gern etwas für sie thun, jetzt wo sie Eure Stieftochter ist.«

»Ohne Zweifel,« sagte Bulstrode mit dem gewöhnlichen festen Blick seiner hellgrauen Augen, »obgleich ich in Folge dessen weniger gut im Stande sein würde, Sie zu unterstützen.«

Als er zur Thür hinausging, blinzelte ihm Raffles langsam nach und stellte sich dann ans Fenster, um dem Banquier, der jetzt thatsächlich in seinen Händen war, wegreiten zu sehen. Seine Lippen umspielte ein Lächeln, das sich bald in ein kurzes triumphirendes Lachen verwandelte.

»Aber wie zum Teufel war doch der Name?« sagte er jetzt laut vor sich hin, indem er sich dabei den Kopf kratzte und die Augbrauen zusammenzog. Das Vergessen dieses Namens hatte ihm keine Sorge gemacht, bis es ihm einfiel, denselben zu gebrauchen, um Bulstrode damit in die Enge zu treiben.

»Er fing mit L an – mir ist, als wären es beinahe lauter L's gewesen,« fuhr er fort, indem ihm war, als würde er des aalglatten Namens bald habhaft werden; aber er wollte sich doch nicht fassen lassen, und Raffles wurde dieser geistigen Jagd bald müde, denn es gab wenige Menschen, die so wenig sich allein zu beschäftigen im Stande waren oder so sehr das Bedürfniß gehabt hätten, sich fortwährend hören zu lassen wie Raffles. Er zog es vor, seine Zeit damit zuzubringen, sich angenehm mit dem Verwalter und der Haushälterin zu unterhalten, von denen er über Bulstrode's Stellung in Middlemarch soviel erfuhr, wie er zu wissen wünschte.

Bei alledem blieb aber doch immer noch ein langweiliges Stück Zeit übrig, welches er mit einer Erquickung an Brod, Käse und Ale ausfüllen mußte, und als er mit diesem Zeitvertreib allein in dem getäfelten Wohnzimmer saß, schlug er sich plötzlich auf's Knie und rief: »Ladislaw!«

Die Thätigkeit seines Gedächtnisses, die er in Gang zu bringen versucht, dann aber in Verzweiflung wieder aufgegeben hatte, hatte sich plötzlich ohne bewußte Anstrengung vollzogen – wie es so oft vorkommt und immer einem vollendeten Niesen vergleichbar erleichternd wirkt, selbst wenn das dem Gedächtniß Entfallene und Wiedergefundene von keinem Werth ist.

Raffles zog sofort sein Notizbuch aus der Tasche und notirte sich den Namen, nicht weil er denselben benutzen zu können glaubte, sondern nur um nicht wieder in Verlegenheit zu gerathen, wenn er desselben vielleicht noch einmal bedürfen sollte. Er wollte Bulstrode den Namen nicht mittheilen: von einer solchen Mittheilung sah er für den Augenblick keinen Nutzen und für Charaktere wie Raffles hat ein Geheimniß immer die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Nutzens für sich.

Er war für jetzt mit seinem Erfolge zufrieden, und um drei Uhr Nachmittags hatte er seinen Koffer aus dem Chausseehäuschen wieder an sich genommen, den Postwagen bestiegen und Bulstrode's Augen von einem häßlichen Fleck in der Landschaft von Stone Court, aber nicht von der Furcht befreit, daß der schwarze Fleck wiedererscheinen und sich unvertilgbar in das Bild seines häuslichen Heerdes einnisten könne.



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