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Das Motto zu Kapitel 47 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 5):
Was never true love loved in vain,
For truest love is highest gain.
No art can make it: it must spring
Where elements are fostering.
So in heaven's spot and hour
Springs the little native flower,
Downward root and upward eye,
Shapen by the earth and sky.
Der eben erzählte kleine Disput zwischen Ladislaw und Lydgate hatte an einem Sonnabend Abend stattgefunden. Auf Ladislaw hatte derselbe die Wirkung, daß er die halbe Nacht aufsaß und in der gereizten Stimmung, in die ihn das Gespräch versetzt hatte, alles, was er sich bereits wiederholt in Betreff seiner Niederlassung in Middlemarch und seiner Verbindung mit Herrn Brooke gesagt hatte, auf's Neue überdachte. Das Schwanken, welches seinem Entschlusse, jenen Schritt zu thun, vorangegangen war, hatte sich seitdem in Empfindlichkeit gegen jede Andeutung, daß er richtiger gethan haben würde, den Schritt nicht zu thun, verwandelt, und daraus erklärte sich seine leidenschaftliche Aufwallung gegen Lydgate, eine Aufwallung, die ihn jetzt noch wach erhielt.
Machte er sich nicht zum Narren? – und das zu einer Zeit, wo er sich mehr als je bewußt war, in Wahrheit kein Narr zu sein? Und zu welchem Zweck? Nun, zu keinem bestimmten Zweck. Er hatte zwar Momente, wo er von entfernten Möglichkeiten träumte. Es giebt keinen von Leidenschaften und Ideen bewegten Menschen, der nicht unter dem Einfluß seiner Leidenschaften dächte, in dessen Einbildungskraft nicht Bilder auftauchten, welche seine Leidenschaften durch Hoffnungen beschwichtigten oder durch Furcht aufstachelten.
Aber dieser Einfluß der Phantasie und der Leidenschaft auf unser Denken und Thun, dem wir Alle unterliegen, macht sich bei Einigen in einer ganz besondern Weise geltend, und Will war keiner von denen, deren Geist auf der allgemeinen Heerstraße einherwandelte; er fand auf Seitenwegen seine eigenen kleinen Freuden. Die Weise, wie er sich aus seinen Empfindungen für Dorothea eine Art von Glück bereitete, war ein deutliches Beispiel davon.
Es mag sonderbar erscheinen, aber es ist thatsächlich wahr, daß die gewöhnliche gemeine Hoffnung, die ihm Casaubon in seinem Argwohn zutraute, – die nämlich, daß Dorothea Wittwe werden könnte und daß dann das Interesse, welches Will ihr einzuflößen verstanden habe, sie dahin bringen könnte, ihn zu heirathen –, keine verlockende und fesselnde Gewalt auf ihn übte; seine Phantasie beschäftigte sich nicht damit, sich, wie es die meisten Männer an seiner Stelle gethan haben würden, eine solche Möglichkeit bis in alle Einzelheiten auszumalen. Nicht nur daß ihm der Gedanke, sich dem Vorwurf einer niedrigen Gesinnung auszusetzen, höchst peinlich, ja daß es ihm schon unbehaglich war, sich gegen den Vorwurf der Undankbarkeit rechtfertigen zu müssen, – das schlummernde Bewußtsein vieler anderer Schranken, die noch außer dem Vorhandensein ihres Gatten zwischen Dorotheen und ihm bestanden, hatte ihn dahin geführt, daß seine Einbildungskraft der Beschäftigung mit dem, was Casaubon zustoßen könnte, geflissentlich aus dem Wege ging.
Noch mehr. Wir wissen, daß Will den Gedanken, es könne an seinem Edelstein eine unreine Stelle zum Vorschein kommen, nicht zu ertragen vermochte. Die ruhige Unbefangenheit, mit welcher Dorothea ihn ansah und mit ihm sprach, hatte etwas zugleich Erbitterndes und Entzückendes für ihn, und sie sich vorzustellen, gerade wie sie war, gewährte ihm einen so reinen Genuß, daß kein Verlangen nach einer Veränderung seines Verhältnisses zu ihr, welche nothwendig eine Veränderung ihres Wesens hätte nach sich ziehen müssen, in ihm rege werden konnte.
Gehen wir nicht einer Lieblingsmelodie aus dem Wege, wenn sie von einer Drehorgel gespielt wird? Erschrecken wir nicht, wenn wir erfahren, daß ein Kunstwerk, – etwa eine kleine Ciselirarbeit oder ein Kupferstich –, dessen wir in der Erinnerung an die flüchtigen Augenblicke, die es uns vergönnt war, seiner ansichtig zu werden, mit Entzücken gedenken, in der That keine Seltenheit ist und von Jedermann leicht erworben werden kann? Unser Glück hängt von der Tiefe und Beschaffenheit unserer Empfindungen ab, und für Will, einen Menschen, der wenig Sinn für das, was man die soliden Güter des Lebens nennt, desto mehr Sinn aber für die feinern Seiten des Lebens hatte, war der Besitz von Empfindungen, wie er sie für Dorothea hegte, so viel werth wie ein ererbtes Vermögen.
Was Andere vielleicht die Nichtigkeit seiner Leidenschaft genannt haben würden, erhöhte für ihn nur den Reiz derselben; er war sich bewußt, nur edle Regungen in sich zu nähren und jene höhere Liebespoesie, welche früher seine Phantasie bezaubert hatte, jetzt an sich selbst zu verwirklichen. Dorothea, sagte er sich, throne für immer in seiner Seele, kein anderes Weib könne sich über die Höhe ihres Fußschemels erheben, und wenn er der Wirkung, die sie auf ihn übte, unsterbliche Worte hätte leihen können, würde er vielleicht nach dem Beispiel des alten Drayton sich gerühmt haben, daß ›Königinnen künftig froh sein könnten, von den Brosamen des ihr überreich gespendeten Preises zu leben‹ Aus dem sechsten Sonett der Sammlung » Idea« (1619) des englischen Dichters Michael Drayton (1563-1631). – Anm.d.Hrsg.. Aber ein solches Ergebniß war freilich zweifelhaft.
Und doch, was konnte er für Dorothea thun? Was war seine Ergebenheit ihr werth? Es war unmöglich, das zu sagen. Er wollte ihr Bereich nicht verlassen. Er sah unter ihren Verwandten keinen, mit dem sie, wie er glaubte, in einer so einfach vertrauensvollen Weise rede wie mit ihm. Sie hatte einmal zu ihm gesagt, daß sie es gern sehen würde, wenn er bliebe, und bleiben wollte er, und wenn auch noch so viele feuerschnaubende Drachen sie umzischten.
Mit diesem Entschluß hatte Will jedes Mal seinem Schwanken ein Ende gemacht. Aber es fehlte auch nicht an Momenten, wo er sich mit seinem eigenen Entschluß in Widerspruch befand und sich gegen denselben auflehnte. Schon oft hatte es ihn wie heute Abend unangenehm aufgeregt, wenn er aus gewissen fremden Kundgebungen entnehmen mußte, daß sein öffentliches Auftreten unter der Aegide des Herrn Brooke nicht den Eindruck der Hochherzigkeit mache, den er gewünscht hätte, und diesem Verdrusse gesellte sich immer der andere hinzu, daß er trotz seines Dorotheen gebrachten Opfers an persönlicher Würde sie fast nie sah. In solchen Momenten, wo er sich außer Stande sah, diese unliebsamen Thatsachen in Abrede zu stellen, gerieth er in Widerspruch mit seiner eigenen prononcirtesten Lebensrichtung und sagte sich: »Ich bin ein Narr.«
So war es auch in diesem Fall. Gleichwohl schloß auch in diesem wie in früheren Fällen sein innerer Kampf, der sich natürlich wieder um Dorothea gedreht hatte, doch nur damit, ihn um so lebhafter empfinden zu lassen, was ihre Gegenwart ihm sei; und als ihm plötzlich einfiel, daß morgen Sonntag sei, beschloß er nach der Kirche in Lowick zu gehen, um sie zu sehen.
Mit diesem Entschluß schlief er ein; als er sich aber am nächsten Morgen beim nüchternen Tageslicht ankleidete, wandte eine innere Stimme ein:
»Das wird einer thatsächlichen Verhöhnung von Casaubon's Verbot, Lowick zu besuchen, gleichkommen und wird Dorotheen mißfallen.«
»Unsinn!« entgegnete eine andere Stimme, »es wäre doch zu ungeheuerlich, wenn er mich verhindern wollte, an einem Frühlingsmorgen in eine hübsche Dorfkirche zu gehen, und Dorothea wird sich freuen.«
Worauf die erste Stimme wieder einwandte:
»Es wird Casaubon klar sein, daß Du gekommen bist, entweder um ihm zu trotzen oder um Dorothea zu sehen.«
Dagegen erhob sich wieder die zweite Stimme mit den Worten:
»Es ist nicht wahr, daß ich hinausgehe, ihm zu trotzen; und warum sollte ich nicht hingehen, um Dorothea zu sehen? Muß denn alles so gehen, wie er es will und wie es ihm gefällt? Ihm kann ja auch einmal, wie andern Leuten so oft, etwas unangenehm sein. Ich habe die eigenthümliche Kirche mit ihrer Gemeinde immer gern gehabt; überdies kenne ich die Tuckers und kann in ihrem Kirchenstuhl sitzen.«
Nachdem Will so alle innern Bedenken durch die Gewalt eines unvernünftigen Raisonnements zum Schweigen gebracht hatte, ging er nach Lowick, wie wenn ihn sein Weg dem Paradiese entgegen geführt hätte, quer über die Wiese bei Halsell und am Rande des Waldes hin, wo das Sonnenlicht in breiten Massen unter den knospenden Zweigen hervorquoll und Moos und Flechten und das frische Grün an den braunen Stämmen schön beleuchtete. Alles um ihn her schien den Sonntag zu verkünden und ihm auf seinem Wege nach der Lowicker Kirche beifällig zuzunicken. Will fühlte sich leicht glücklich, wenn nichts seine gute Laune störte; und jetzt war ihm der Gedanke, Casaubon zu ärgern, eher ergötzlich und gab seinem Gesichte den heiter lächelnden Ausdruck, der so anmuthig anzusehen war wie Sonnenschein auf dem Wasser – wenn auch die Veranlassung nicht gerade die allerlöblichste war.
Aber wir sind Alle leicht geneigt, den Mann, der uns im Wege steht für hassenswerth zu halten, und bereiten ihm nicht ungern ein wenig von den unangenehmen Empfindungen, welche seine Person in uns erweckt.
Will ging seines Weges, ein kleines Buch unter dem Arme und die Hände in den Seitentaschen, las nie, sondern sang ein wenig, während er sich ausmalte, wie es in der Kirche und beim Austritt aus derselben zugehen werde. Er machte Versuche, selbstgedichtete Worte zu componiren oder sie vorhandenen Melodien unterzulegen. Die Worte bildeten nicht gerade eine geistliche Hymne, aber sie brachten seine sonntäglichen Empfindungen gut zum Ausdruck:
Fürwahr, die Freuden sind nur klein,
D'ran meine Lieb' sich nährt.
Ein Schatten ist's, ein Ton, ein Schein,
Wonach mein Sinn begehrt.
Träumen, daß, die ich liebe rein
Nah sei und ich sie hört',
Ahnen, daß ich ihr werth könnt' sein,
Weilen wo wir verkehrt;
Nachzittern rasch gebannter Pein,
Wenn ich dem Zorn gewehrt! –
Fürwahr, die Freuden sind nur klein,
D'ran meine Lieb' sich nährt.
Bisweilen, wenn er seinen Hut abnahm, seinen Kopf in den Nacken warf und seinen feinen Hals beim Singen zeigte, sah er aus wie eine Verkörperung des Frühlings, dessen Wehen die Luft erfüllte – ein heiteres, von unsichern Verheißungen überströmendes Wesen.
Die Kirchenglocken erklangen noch, als er in Lowick eintraf. Ohne Weiteres trat er in den Kirchenstuhl des Pfarrgehülfen, in welchem noch Niemand war und wo er auch allein blieb, als sich bereits die ganze Gemeinde versammelt hatte. Der Kirchenstuhl des Pfarrgehülfen lag vor dem kleinen Altar dem Kirchenstuhl des Pfarrers gegenüber, und Will hatte Zeit genug zu fürchten, daß Dorothea nicht kommen würde, während er seine Blicke über die Gruppen von ländlichen Gesichtern schweifen ließ, welche Jahr aus Jahr ein innerhalb dieser weiß getünchten Mauern und alten dunkeln Kirchenstühle die Gemeinde bildeten und kaum mehr Veränderungen erfahren, als wir sie an den Aesten eines Baumes beobachten, der an einzelnen Stellen Spuren des Alters zeigt, der aber doch noch junge Schößlinge treibt.
Freilich war das Froschgesicht des Herrn Rigg ein fremdartiges und unerklärliches Element in dieser Versammlung; aber neben dieser Störung des althergebrachten Zustandes der Dinge saßen noch immer die Waule's und der ländliche Zweig der Powderell's in ihren Kirchenstühlen dicht neben einander; Bruder Salomon's Wangen waren von derselben purpurrothen Fülle wie immer und die drei Generationen respectabler Dorfbewohner erschienen wie vor Alters mit dem Bewußtsein pflichtschuldiger Ergebenheit gegen ihre höher gestellten Mitmenschen, während die kleineren Kinder Herrn Casaubon, der den schwarzen Ornat trug und die Kanzel bestieg, wahrscheinlich als den Höchstgestellten und den in seinem Zorne Schrecklichsten betrachteten.
Selbst im Jahre 1831 war Lowick in einer durchaus friedlichen Stimmung und durch die Reform nicht mehr erregt, als durch den feierlichen Ton der Sonntagspredigt. Die Gemeinde war früher daran gewöhnt gewesen, Will in der Kirche zu sehen, und Niemand nahm viel Notiz von ihm mit Ausnahme des Sängerchors, der von ihm in seinem Gesange unterstützt zu werden hoffte.
Endlich erschien auf diesem wunderlichen Hintergrunde die Gestalt Dorothea's in ihrem weißen Filzhut und grauen Mantel, –denselben, den sie im Vatican getragen hatte –, und durchschritt das kleine Schiff der Kirche. Da ihr Gesicht schon beim Eintritt in die Kirche dem Altar zugekehrt war, so erkannten selbst ihre kurzsichtigen Augen Will bald; aber ihre Empfindungen äußerten sich nur durch eine leichte Blässe, und mit einer ernsten Verneigung ging sie an ihm vorüber.
Zu seiner eigenen Ueberraschung fühlte sich Will plötzlich unbehaglich und wagte es nicht, Dorothea noch weiter anzusehen, nachdem sie einander begrüßt hatten. Zwei Minuten später, als Casaubon aus der Sakristei trat und sich in seinem Kirchenstuhl Dorotheen gegenübersetzte, fühlte Will sich noch vollständiger gelähmt. Er vermochte seine Blicke nirgendwo hinzukehren als nach dem Sängerchor über der kleinen Gallerie auf der Sacristei; vielleicht, dachte er, fühle sich Dorothea peinlich berührt und er habe einen groben Verstoß gemacht.
Jetzt erschien es ihm nicht mehr ergötzlich, Casaubon zu ärgern, der insofern gegen ihn im Vortheil war, als er ihn beobachten und wahrscheinlich sehen konnte, daß er den Kopf nicht zu wenden wage. Warum hatte er sich das nicht vorher vorgestellt? Aber er war nicht darauf gefaßt gewesen, in dem großen Kirchenstuhle allein zu sitzen, ohne irgend welche Erleichterung durch die Gesellschaft eines Mitgliedes der Tucker'schen Familie, die offenbar Lowick ganz verlassen haben mußte; denn ein neuer Pfarrgehülfe stand vor dem Lesepulte.
Gleichwohl schalt sich Will selbst jetzt albern, weil er nicht vorausgesehen habe, daß es ihm unmöglich sein würde, Dorothea anzusehen – ja, daß sie sein Kommen vielleicht wie eine Impertinenz empfinden würde. Aber da half nichts; er mußte in seinem Käfige ausharren!
Er folgte der Liturgie in seinem Gebetbuche mit der peinlichen Aufmerksamkeit einer Schulvorsteherin, und noch nie war ihm der Morgengottesdienst so endlos lang erschienen. Er kam sich äußerst lächerlich vor und fühlte sich gründlich verstimmt und unglücklich. Dazu kann ein Mann kommen, wenn er ein Weib anbetet! Der Vorleser bemerkte mit Erstaunen, daß Herr Ladislaw sich dem Kirchengesange nicht anschloß, und dachte sich, er möge wohl erkältet sein.
Casaubon predigte heute nicht selbst, und Will's Situation blieb unverändert, bis der Segen gesprochen war und Alle aufstanden, um die Kirche zu verlassen. Es war in Lowick Sitte, daß die vornehmsten Leute zuerst hinausgingen. Plötzlich entschloß sich Will, den Zauber, der ihn bannte, zu brechen, und sah Casaubon gerade ins Gesicht. Aber die Augen dieses Herrn waren fest auf den Griff der Thür des Kirchenstuhls gerichtet, welche er öffnete, um Dorothea hinauszulassen und ihr dann sofort zu folgen, ohne seine gesenkten Augenlider auch nur einen Augenblick zu erheben.
Will's Blick begegnete den Blicken Dorothea's, als sie aus dem Kirchenstuhl trat, und abermals verneigte sie sich, aber dieses Mal mit einem Ausdruck von Aufregung, als ob sie Thränen zurückdränge. Will folgte ihnen, aber sie gingen bis zu der kleinen Pforte, die von dem Kirchhof in die Gebüschwege führte, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.
Es war unmöglich für Will, ihnen noch weiter nachzugehen, und es blieb ihm nichts übrig, als am Mittag auf demselben Wege, auf welchem er am Morgen so hoffnungsvoll dahergeschritten war, betrübt zurückzukehren. Alles sowohl in seinem Innern wie um ihn her war jetzt anders beleuchtet.