Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Meine Kinderjahre

Biographische Skizzen

Les Souvenirs des vieillards a-t-on sont une part d'héritage qu'ils doivent acquitter de leur vivant.
            G. Lenôtre

Vorwort

Die Geschichte des Erstlingswerkes, die K. E. Franzos vor zwölf Jahren herausgegeben hat, brachte auch einen Beitrag von mir. Alles, was darin ausgesagt ist, unterschreibe ich heute noch, einen Irrtum aber muß ich berichtigen. Meine Erinnerungen an die Kinderzeit, meinte ich damals, sind nicht besonders lebhaft, und erfahre nun, daß sie, um es zu sein, nur geweckt zu werden brauchten. Es unterblieb zu jener Zeit; denn so alt ich schon war, lag doch noch etwas wie Zukunft vor mir, und auf sie, nicht zurück zur Vergangenheit, lenkten sich meine Gedanken.

Nun stehe ich am Ziel, der Ring des Lebens schließt, Anfang und Ende berühren sich. Mit einer Macht des Erinnerns, die nur das hohe Alter kennt, lebt die Kindheit vor mir auf. Aber nicht wie ein kräftig ausgeführtes Gemälde auf hellem Hintergrund, in einzelnen Bildern nur, die deutlich und scharf aus dem Dämmer schweben. Die Phantasie übt ihr unbezwingliches Herrscherrecht und erhellt oder verdüstert, was sie mit ihrem Flügel streift. Sie läßt manches Wort an mein Ohr klingen, das vielleicht nicht genauso gesprochen wurde, wie ich es jetzt vernehme; läßt mich Menschen und Begebenheiten in einem Lichte sehen, das ihnen eine an sich vielleicht zu große, vielleicht zu geringe Bedeutung verleiht. Ihrer über das Kindergemüt, dessen Entfaltung ich darzustellen suchte, ausgeübten Macht wird dadurch nichts genommen. Das Schwergewicht liegt auf dem Eindruck, den sie hinterlassen haben, und ihn bestimmt die Beschaffenheit des Wesens, das ihn empfing. Dieses Wesen ist treu geschildert, buchstäblich und im Geiste.

 

Rom, Januar 1905

Unter den Augen der Meinen, unter dem Einfluß ihrer verwöhnenden Liebe sind diese Skizzen entstanden. Ein Reflex der Teilnahme, die sie erweckten, fiel auf sie, und ich dachte: Ihr seid etwas.

Jetzt bin ich allein und bin in Rom, und hierher werden sie mir nachgesandt, wenn auch erst im Negligé der Korrekturbogen, doch schon als »Drucksache« und vorbereitet zur Fahrt in die Fremde. – Meine Kleinen, ihr kommt mir recht armselig vor mit eurem Geplauder von Puppen und Ammenmärchen. Mich beschäftigen andere Dinge als eure Geringfügigkeiten. Die Weltgeschichte spricht zu mir, ich lebe an der Stätte, an der Jahrhunderte hindurch ihr mächtiger Puls geschlagen hat, und bin da, ein dankbarer Gast, fortwährend zu hohen Festen und großartigen Schauspielen geladen . . . Ich kann durch den Steineichenhain auf die Höhe in der Villa Medici wandeln und die Sonne untergehen sehen hinter dem Janiculus. Majestätisch ist das Tagesgestirn versunken; in den feurigen Himmel ragt die Kuppel von Sankt Peter, und durch die Lüfte gleiten, andachtweckend, auf tönenden Schwingen die silbernen Klänge ihrer Glocken . . . Der graue Streifen, der links am Horizont emporzusteigen scheint, das ist das Meer, das Tyrrhenische, das auf seiner ruhelos wogenden Brust die Flotten Roms getragen hat, zur Eroberung vergänglicher Reiche und unvergänglicher Kunst . . . Und bei der Tassoeiche kann ich stehen und ihrem Gestöhn im Winde lauschen. Quercia del Tasso! Der Blitz hat sie getroffen und ihren Stamm zerspellt, der Sturm hat wild in ihrem Geäste gehaust, aber noch begrünt sich alljährlich ihr gelichteter Wipfel. Sie strotzte in Kraft, war jung und reich bekleidet, als der Poet sich todesmatt zu ihr herüberschleppte von Sankt Onofrio, wo er »im Verkehr mit den heiligen Vätern den Verkehr mit dem Himmel begonnen hatte«. Was galten ihm noch seine höchsten Erdenwünsche, die Dichterkrönung auf dem Kapitol, die Huld der angebeteten Frau? . . . Aber der Mai war nahe, in Duft und in Blüte stand die Welt, und Sehnsucht nach dem herben Glück der letzten Abschiedsgrüße zog ihn hierher in den Schatten seiner Eiche. Seine sterbenden Augen haben auf dem Bilde geruht, das vor uns liegt, und der Gedanke verleiht der traumhaften Schönheit des Anblicks eine wehmütige Verklärung. Ein Hauch ewigen Frühlings weht über den Geländen der holden Berge, aber der Monte Gennaro besinnt sich, daß Winter ist, und trägt seine Tiara aus Schnee . . . Und in der Tiefe liegt die Stadt, die heute noch keine Fabriken hat mit rauchenden Schlöten und keine berußten Dächer, und selbstleuchtend erscheinen im Abendlichte ihre schimmernden Mauern. Wie tot liegt sie da, die soviel verbrochen und soviel erduldet hat. Kein Laut dringt herauf, vernehmbar nur dem inneren Ohr ist ihre feierliche Sprache des Schweigens.

Mein stilles Fest auf dem Janiculus habe ich gestern begangen und heute auf dem Forum einige Stunden zugebracht, geleitet von einem liebenswürdigen und gar zuverlässigen Führer, dem jüngsten Buche meines verehrten Freundes, Professor Hülsen. Doch was sind einige Stunden auf dem Forum! Nicht mehr als ein eiliges Vorüberwandeln an Stätten, die durch herrliche Taten geweiht, durch entsetzliche Greuel gebrandmarkt worden. Von der Basilika Julia bin ich zum Heiligtum der Juturna gewandert, zu Santa Maria Antiqua, zum Atrium Vestae und hinauf zur Velia, zum schönsten der römischen Triumphbogen. Und dann auf dem Rückweg betrat ich die Sacra Via und meinte den Boden unter meinen Füßen erzittern zu fühlen und dröhnen zu hören vom Marsche der Legionen. Eine Riesenschlange, die Reiche erdrückt hat in ihren gewaltigen Ringen, bewegt sich der Siegeszug zum Kapitol, umbraust vom Zuruf der Menge. Goldene Beutestücke funkeln, die Ketten der Gefangenen klirren. Sie kommen am Tullianum vorbei, und dort, in seine »abschreckende Dunkelheit« hinabgeschleudert, verschwinden Heerführer, Fürsten, Könige. Niemals staut der Zug, unaufhaltsam strebt er vorwärts, dem Triumphwagen nach zur Höhe, auf der Jupiter in seinem Heiligtume thront . . .

Noch ganz erfüllt von den Eindrücken, die ich Tag für Tag empfange, hier in diesem großen Rom, kehre ich in meine Behausung zurück und sollte meine Skizzen vornehmen, auf die Druckfehlerjagd ausziehen und entgleisten Sätzen auf die Beine helfen. Das wird mir schwer. Mein Glauben an euer Etwas ist mir entschwunden, ihr armen Blätter. Weil ihr aber eure papiernen Flügel schon entfaltet habt, so fliegt denn, so gut ihr könnt. Heimwärts, rate ich euch, dorthin, wo ihr geboren seid und wo immerwache Liebe euch empfängt. Indessen wird Rom den Purpurmantel seiner Rosen umgetan haben, und bei uns zu Hause werden an Bäumen und Sträuchern die Knospen schwellen und Schößlinge in Unzahl hervorsprießen. Das ist dann auch für das grüne Seelchen, dessen Geschichte ihr erzählt, der richtige Augenblick, sich ans Licht zu wagen.

 

Meine Schwester Friederike war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt, als unsere Mutter starb. Dennoch hat eine deutliche Vorstellung von ihr uns durch das ganze Dasein begleitet. Ihr lebensgroßes Bild hing im Schlafzimmer der Stadtwohnung unserer Großmutter. Ein Kniestück, gemalt von Agricola. Er hat sie in einem idealen Kostüm dargestellt, einem bis zum Ansatz der Schultern ausgeschnittenen dunkelgrünen Samtgewand mit hellen Schlitzen und langen, weiten Ärmeln. Der Kopf ist leicht gewendet und etwas geneigt; der Hals, die auf der Brust ruhende Hand sind von schimmernder Weiße und gar fein und schön geformt. Das liebliche Gesicht atmet tiefen Frieden; die braunen Augen blicken aufmerksam und klug, und aus ihnen leuchtet das milde Licht eines Geistes so klar wie tief.

Zu diesem äußeren Ebenbilde stimmten die Schilderungen, die uns von dem Wesen, dem Sein und Tun unserer Mutter gemacht wurden. So einhellig wie über sie habe ich nie wieder über irgend jemand urteilen gehört. Wenn die Rede auf sie kam, hatten die verschiedensten Leute nur eine Meinung. Und gern und oft wurde von ihr geredet. Besonders hoch in Ehren stand ihr Gedächtnis auf ihrem väterlichen Gute Zdißlawitz, wo der größte Teil ihres Lebens verflossen war.

Ich glaube, daß meine Liebe zu den Bewohnern meiner engsten Heimat ihren Ursprung hat in der Dankbarkeit für die Anhänglichkeit und Treue, die sie meiner Mutter über das Grab hinaus bewahrten. Die Diener sprachen von ihr, die Beamten, die Dorfleute, die Arbeiter im Garten. Ein alter Gehilfe nannte ihren Namen nie, ohne das Mützlein zu ziehen: »Das war eine Frau, Ihre Mutter! . . . Gott hab sie selig.« Da wurde mir immer unendlich stolz und sehnsüchtig zumute: »Ich seh ihr ähnlich, nicht wahr? Geh, sag ja!« – Er zwinkerte mit den Augen und schob die Unterlippe vor: »Ähnlich? Ähnlich schon, aber ganz anders.« Es sollte sich niemand mit ihr vergleichen wollen, nicht einmal ihre eigene Tochter. – »Ja«, fuhr er nach einer Pause fort, »blutige Köpfe hat's gegeben bei ihrem Begräbnis; geschlagen haben sie sich um die Ehre, ihren Sarg zu tragen. – Das war eine Frau!«

Man hatte uns die Überzeugung beigebracht, daß sie vom Himmel aus über uns wache und uns als ein zweiter Schutzengel umschwebe in Stunden der Krankheit oder der Gefahr. Ich vergesse nie, mit welcher Zuversicht und mit welcher geheimnisvollen Glückseligkeit das Bewußtsein ihrer Nähe mich oft erfüllte.

In einem Punkte hatte ich dasselbe Schicksal erfahren wie sie. Auch ihr Leben war um den Preis des Lebens ihrer Mutter erkauft worden, und auch ihr war die auserlesene Schicksalsgunst zuteil geworden, für den schwersten Verlust den denkbar besten Ersatz zu finden – die liebreichste und gütigste Stiefmutter. Die ihre, unsere vortreffliche Großmutter Vockel, erreichte, unserer Kindheit zum Heile, vorgerückte Jahre. Sie blieb bei uns nach dem Tode ihrer Tochter; sie verließ uns auch dann nicht, als unser Vater sich wieder verheiratete.

In Wien bezog sie eine Wohnung im ersten Stock seines Hauses, dem sogenannten »Drei-Raben-Haus«, auf dem damals sogenannten »Haarmarkt«. Wir bewohnten den zweiten Stock. Im Sommer lebte sie mit uns auf dem Lande.

Sie war klein und mager und hatte einen für ihre zarte Gestalt etwas zu großen Kopf. Ihr Gesicht blieb noch im Alter schön. Ein edel und kräftig gebautes Gesicht. Die Stirn von klassischer Bildung, die Nase schlank und leicht gebogen, mit feinen, beweglichen Flügeln. Der Mund schmal und gerade, die Lippen fest geschlossen – so charakteristisch für die vereinsamte, stolze, schweigsame Frau. Ihre großen, tiefdunkeln Augen hatten einen schwermütigen Ausdruck. Ich habe ihn manchmal sich wandeln gesehen in einen schmerzlich-geringschätzigen; zu einem verachtungsvollen, verdammenden wurde er nie. Sie wunderte sich nicht leicht über ein Unrecht, das sie begehen sah; durch eine hochherzige Handlung, deren Zeugin sie war oder von der sie hörte, konnte sie so freudig überrascht werden wie durch ein unerwartetes selbsterlebtes Glück. Ein solches, ein eigenes, war ihr gleichsam nur im Vorübergehen zuteil geworden. Unser Großvater und sie hatten geheiratet aus Liebe – nicht zueinander, sondern zu einem Kinde, zu seinem Kinde. Und in dieser Liebe erst hatten sie sich gefunden, und ihr anfangs geschwisterliches Verhältnis reifte langsam zu einem schönen ehelichen heran.

Der Tod löste den Bund und nahm auch bald darauf der Verwitweten die einzige vielgeliebte Tochter. Diese hatte in ihrem Testamente ihren Gatten zum Herrn auf Zdißlawitz eingesetzt. So war nun unsere Großmutter ein Gast geworden in ihrem ehemaligen Haus und Heim. Sie beschied sich. Sie wünschte nichts mehr, als nur in der Nähe der Kinder ihres Kindes leben zu dürfen.

In der kleinen Erzählung Die erste Beichte habe ich eine Skizze von der herrlichen Frau entworfen. Die eigentümliche Art ist erwähnt, in der sie, die kaum je eine Besorgnis, geschweige denn eine Klage aussprach, Klagen aufnahm. »Alles geht vorüber, alles wird gut«, sagte sie halblaut vor sich hin. Und wenn es in ihrer Macht lag, das Üble und Traurige gutzumachen, dann wurde es gut.

Ausgesprochen hat sie es nicht, im stillen soll sie aber sehr gelitten haben, als unser Vater sich wieder vermählte und an die Stelle unserer Mutter eine jüngere und schönere Frau trat, »Maman Eugénie«, eine geborene Freiin von Bartenstein. Das erste Kind, das sie zur Welt brachte, war ein Knabe und das zweite wieder ein Knabe, während die Verstorbene ihrem Gatten nur Töchter geboren hatte. Nun würden wir nichts mehr gelten, besorgte die Großmutter. Zurückgesetzt würden wir werden und zu fühlen bekommen, daß es eigentlich uns, den Älteren, zugestanden hätte, männlichen Geschlechts zu sein.

Die Besorgnisse der lieben alten Frau erwiesen sich als ganz ungerechtfertigt. Unsere junge Mama schloß uns ebenso innig ins Herz wie ihre eigenen Kinder, die kleinen Brüder und das holde Schwesterlein, das ihnen nachfolgte. Wir ließen es uns sehr wohl sein unter der milden mütterlichen und großmütterlichen Herrschaft, und unser Übermut wäre allmählich stark ins Kraut geschossen, wenn ihn die Hand der temperamentvollen Kinderfrau nicht niedergehalten hätte.

Sei gesegnet noch in deinem Grabe, in dem du seit so langen Jahren ruhst, du brave Josefa Navratil, genannt Pepinka! Du hast dir ein unschätzbares Verdienst um uns erworben. Du hast uns zu einer Zeit, in der die weisesten Vorstellungen keinen Weg zu unserem Verständnis gefunden hätten, durch eine rechtzeitig angebrachte demonstratio directa bewiesen, daß der Schuld unerbittlich die Strafe folgt. Gewiß trifft das auch im Leben ein, aber oft so spät und in so verhüllter Weise, daß menschliche Augen den Zusammenhang nicht mehr entdecken. In unserer Kinderstube ging die Sache rasch und einfach vor sich. Wenn eine Tür heftig zugeworfen wurde, wenn es beim Spiel allzu lautes Geschrei oder arge Streitigkeiten gab, kam Pepi daher auf ihren großen, weichen Schuhen und hielt Gericht. Ohne erst zu fragen, wer der Schuldigste sei, teilte sie – darin ein ganz getreues Bild des Schicksals – ihre Schläge aus. Wir nahmen sie ohne Widerspruch in Empfang und liebten unsere Pflegerin und Richterin. Wir fürchteten sie nicht einmal sehr, so laut sie manchmal auch zankte und so zornig sie uns anfunkeln konnte mit ihren feurigen schwarzen Augen.

 

Hatte eine erziehliche Maßregel unserer Schicksalsgöttin sehr hart getroffen, dann ging man zu Anischa, meiner ehemaligen Amme, und weinte sich bei ihr aus. Sie war der lichte Stern unserer Kinderstube und immer freundlich und gut. Auch bildhübsch war sie und lieblich anzusehen in ihrer heiteren hannakischenHanna, zwischen der March und ihrem Zufluß, der Hanna, gelegener Landstrich in Mähren. Tracht. Sie verwandte viel Sorgfalt auf ihr Äußeres, sie schlang das bunte Tuch mit den langen Fransen kunstvoll um ihren Kopf, trug immer nur schimmernd weiße Halskrausen, seidene, mit Füttern benähte Leibchen und tadellos gesteifte und geplättete Röcke.

Pepinka brummte sie manchmal an: »Was putzen Sie sich so auf? Er kommt heute doch nicht.«

Die arme Anischa wurde jedesmal feuerrot und antwortete leise und demütig: »Heute nicht und morgen nicht.«

Er kam auch nicht. Hingegen erschien alljährlich im Herbste eine ältliche Frau, die wir, dem Beispiel Anischas folgend, »pani kmotřenka« nannten, in Zdißlawitz. Ein derber Junge in schmucker hannakischer Tracht begleitete sie. Er stand im selben Alter wie ich, und Pepi sagte, daß er eine Art Bruder von mir sei. So erwiesen wir ihm denn alle geschwisterlichen Ehren, fütterten ihn, beschenkten ihn, luden ihn ein, an unseren Spielen teilzunehmen. Er aß, was man ihm auftischte, er nahm, was man ihm anbot, aber er dankte nicht, er lächelte nicht; er verhielt sich uns gegenüber trotzig wie ein Bock. Leichten Herzens sagten wir ihm Lebewohl, wenn er sich wieder empfahl. Anischa begleitete ihren Besuch zum Wägelchen, das ihn vor dem Dorfwirtshaus erwartete. Sie hatte rote Augen, wenn sie zurückkam, war aber nicht mehr so bedrückt und befangen wie tagsüber während der Anwesenheit des wortkargen Bäuerleins.

Ein anderes Ereignis wiederholte sich gleichfalls alljährlich, dieses aber im Frühjahr und fast unmittelbar nach der Ankunft auf dem Lande. Da war es gewöhnlich unsere Großmutter, die eines Morgens eintrat und sagte: »Pepi, der Bader ist da«, worauf Pepi ihrem Schranke ein Pack Wäsche entnahm und das Zimmer verließ. An einem solchen Tage sahen wir sie nicht mehr; sie kam erst am folgenden wieder, hatte einen verbundenen Arm und speiste uns mit einer ausweichenden Antwort ab, wenn wir fragten, wo sie gestern gewesen sei und warum sie einen Verband trage.

Einmal aber schlichen Adolf, der ältere der Brüder, und ich ihr nach bis zum ersten Absatz der Treppe, und von dort aus sahen wir sie in eines der sonst immer verschlossenen ebenerdigen Zimmer treten.

Wir schlichen weiter bis zum nächsten Absatz und bis zum dritten und endlich bis zur Tür, hinter der Pepi verschwunden war. Drinnen im Zimmer wurden Sessel gerückt, es wurde Wasser in Gläser und in Lavoirs geschüttet, und eine fremde Männerstimme sprach höhnisch: »Fürchten S' Ihnen? Recht haben S'. Warten S' nur, was Ihnen heut geschieht!«

Du lieber Gott, was ging da vor? Von Angst und von Helfedrang ergriffen, warfen wir uns gegen die Tür. Sie war verschlossen. Wir schrien und klopften und hörten Papa klagen: »Jesses, die Kinder!«

»Ruh geben! Draußen bleiben!« wetterte die Männerstimme.

In starrem Entsetzen schwiegen wir eine Weile. Endlich wurde die Tür von innen aufgesperrt, geöffnet, und heraustrat das Stubenmädchen und hielt in der Hand eine große Schale voll Blut. Nun überstieg unsere Bestürzung alle Grenzen. Blut! Blut! Soviel Blut! Von wem das viele Blut?

»Von der Pepi«, antwortete das unbegreifliche Mädchen ganz gleichgültig. »Der Doktor hat ihr zur Ader gelassen. Und jetzt seien Sie still, sonst wird der Doktor auch Ihnen zur Ader lassen.«

»Zur Ader gelassen! Was ist das? Wie ist das? Muß man sterben, wenn man zur Ader gelassen bekommt?«

Sie lachte und riet uns, gleich hinaufzugehen, wenn wir nicht noch gestraft werden wollten für unsere Neugier.

Die Neugier blieb vorläufig ungestillt, aber unsere Seelenruhe wurde uns zurückgegeben, denn drinnen in der Stube erhob die Stimme Pepinkas sich in alter Kraft und befahl den »verdunnerten Kindern«, sogleich zur Anischa zu gehen.

Wir gehorchten und hatten dann noch einen sehr guten Tag fast uneingeschränkter Freiheit, und am Abend erzählte uns Anischa, viel länger als ihr sonst erlaubt wurde, schöne, wundervolle Märchen.

O welch ein Erzählertalent war unsere Anischa! Wie verstand sie zu schildern, zu spannen, ihre Phantasiegebilde klar und lebendig hinzustellen, sie aufsteigen, vorüberschweben, entschwinden zu lassen! Jammervoll nüchtern erscheint mir die Kinderstube, aus der die Märchenerzählerin »grundsätzlich« verbannt ist. Wir haben das Glück genossen, uns nach Herzenslust in einer Wunderwelt ergehen zu dürfen, sowohl als kleine wie später als größere Kinder. Es war uns ein stolzes Vergnügen, eine Menge zu hören und zu sehen, was andere nicht hörten und nicht sahen: im Gurgeln des Brunnens am Ende des Gemüsegartens die Stimme des Wassermanns; im Glanz, der im Hochsommer über die Ähren fliegt, huschende Lichtgeister, und Elfchen im Laube, wenn es leise zu rascheln beginnt. Diese Elfchen, wußte Anischa, sind zu Mittag nicht größer als Libellen. Aber sie wachsen sehr, sehr geschwind, und um Mitternacht sind ihre Flügel wie Adlerflügel, und das Laub stöhnt, wenn sie mit Windeseile hindurchfegen.

»Ja, gewiß! ja, es stöhnt!« Wir alle behaupteten es. Jedes von uns wollte einmal um Mitternacht wach gewesen sein und das Stöhnen vernommen haben. Nur unsere Sophie, die nicht; die wußte noch nichts von Wassermännern, Irrwischen und Elfen. Sie schlief schon lang, diese Kleine, zur Stunde des Märchenerzählens, und Anischa saß neben ihrem Bettchen, und wir saßen auf Schemeln zu ihren Füßen.

Ganz anders arg und grausig als das Stöhnen des Laubes beim Wehen leiser Lüfte waren die schrillen Schmerzenslaute, die sich erhoben, wenn ein heftiger Sturm die Ecke des Hauses, die wir bewohnten, umrauschte. Es brach aus ihm wie Schluchzen, flüsterte wie hastiges Flehen, glitt über die Fensterscheiben mit tastenden Fingern . . .

»Hört ihr?« fragte dann eines von uns die andern, »das ist Melusine, die ihre Kinder sucht, nach ihnen ruft, um ihre Kinder jammert und weint.« Melusine . . . Grad ist sie vorbeigeflogen; meine Schwester hat ihren weißen Schleier erblickt und sagt ganz leise: »Lösche das Licht, Anischa, daß sie uns nicht sieht; sie glaubt vielleicht, wir sind ihre Kinder, und holt uns.«

Ein Märchen gab's, das erzählte Anischa nur mir allein, weil ich so couragiert war. Meine Schwester, die kleinen Brüder durften nichts hören von der »zlá hlava«; sie hätten lang nicht einschlafen können und schwere Träume gehabt.

Diese »hlava«, das war ein Kopf, nichts weiter als ein Kopf, ohne alles Zubehör. Er hatte struppige Haare und einen struppigen, feuerroten Bart, Teufelsaugen und Ohren so groß, daß er sie als Flügel gebrauchen konnte. Aber nicht lange, weil er sehr schwer war und bald wieder zu Boden plumpste. Der Kopf war ein König und hatte ein Heer, und im Kriege rollte er ihm voran, eine fürchterliche Kugel, und biß den Menschen und den Pferden in die Füße, daß sie reihenweise tot hinfielen. Er hatte auch eine Königin, die neben ihm schlafen mußte auf demselben Polster und vor Schrecken über seinen Anblick ganz weiß wurde, immer weißer und endlich selbst ein Gespenst.

Greuliche Untaten beging die »hlava«, und eine ihrer schlimmsten war, daß sie der Großmutter Anischas, als diese einmal des Nachts von einem Botengang heimkehrte, auf der Hutweide nachgerollt kam . . . Die Großmutter hörte sie pusten, knirschen und schnauben und rannte! rannte! Bis zu ihrem Hause rannte sie; dort aber stürzte sie zusammen und wußte nichts mehr von sich, eine Stunde lang – o länger als eine Stunde! Am nächsten Tag ging der Großvater und mit ihm das halbe Dorf auf die Hutweide, und an der Stelle, wo die Großmutter das Scheuel zuerst pusten, knirschen und schnauben gehört, lag ein großer, runder, weißer Stein, den – man schwor darauf – noch niemand da gesehen hatte. Nur der Hirtenbub behauptete steif und fest, daß der Stein von jeher da gewesen sei. Aber der Hirtenbub war dumm und ein halber Trottel. Der Stein wurde eingegraben, und heute noch machen die Leute einen Umweg, wenn sie an dem Platz, wo er liegt, vorüberkommen.

Ich nahm natürlich Partei gegen den Hirtenbuben. Ich wäre am liebsten gleich nach Trawnik, wo Anischa zu Hause war, gefahren, hätte die Hutweide besucht und den gespenstischen Stein ausgegraben. Und je entsetzter Anischa sich stellte über meine Tollkühnheit, desto mehr fühlte ich sie wachsen und verstieg mich zu den Versicherungen: »Ach, ich möchte, ich möchte, daß die hlava einmal mir nachgerollt käme! Ich würde nicht davonlaufen, o nein! o nein! Ich würde stehenbleiben – ich! Ich würde mich umsehen und der hlava dreimal nacheinander recht ins Gesicht das heilige Zeichen des Kreuzes machen. Da wäre sie gleich weg. O ich fürchte mich nicht – ich weiß nicht, wie das ist, sich fürchten; ich hab eine große Courage!«

 

Es war viel Geflunker bei dieser Behauptung. Ich wußte sehr gut, was Furcht sei, denn in der Furcht vor dem Papa waren meine Schwester und ich aufgewachsen. Man hatte sie uns in der Kinderstube eingeflößt durch eine Drohung, die sich nie erfüllte, stets aber wirksam blieb: »Wartet nur, ich sag's dem Papa, und dann werdet ihr sehen!«

Was wir sehen würden, blieb in ein Dunkel gehüllt, das unsere Phantasie mit Schrecknissen bevölkerte. Kein Wunder. Den Zorn unseres Vaters zu erfahren wäre entsetzlich gewesen. Nicht nur kleinen, auch erwachsenen Leuten leuchtete das ein. So liebenswürdig Papa in guten Stunden sein konnte, so furchtbar in seinem unbegreiflich leicht gereizten Zorn. Da wurden seine blauen Augen starr und hatten den harten Glanz des Stahls, seine kraftvolle Stimme erhob sich dräuend – und vor diesen Augen, dieser Stimme hätten wir in den Boden versinken mögen, wenn wir uns auch nicht der geringsten Schuld bewußt waren.

Zum Schaden unseres Verhältnisses zu ihm ließ sich Papa in gereizter Stimmung manchmal zu dem unglückseligen Ausspruch hinreißen: »Nicht geliebt will ich sein, sondern gefürchtet!« Wie sehr er sich damit täuschte, lernten wir später einsehen; als Kinder nahmen wir die Sache als ausgemacht an und taten ihm den Willen, weit über seine eigene Erwartung. Wir zwei Schwestern zitterten und bebten vor ihm; die Brüder waren in seiner Nähe viel unbefangener, obwohl Pepi mit ihrer Drohung, sie der Strenge Papas zu überliefern, gegen sie besonders freigebig war.

Ich erinnere mich eines Tages, an dem meine Schwester das Mißgeschick erfuhr, beim Spielen mit dem Balle eine Fensterscheibe einzuschlagen. Nun war uns die peinlichste Sorgfalt für alles Zerbrechliche, das uns umgab, zum Gesetz gemacht worden, und die arme Kleine, die sich so schwer daran vergangen hatte, geriet in sinnlose Verzweiflung.

»Der Papa! Der Papa!« rief sie in Todesangst, kniete auf den Boden nieder, rang die Händchen, faltete sie und schluchzte herzzerreißend.

Wir umstanden sie betroffen und ratlos. Großmama, die neben uns wohnte, war auf Fritzis Geschrei herbeigeeilt, und sie und Pepinka sprachen der Armen Trost zu und bemühten sich, sie zu beruhigen. Ganz umsonst. Sie war schon blau im Gesichte, stoßweise rang sich der Atem aus ihrer Brust, in Bächen rannen die Tränen über ihre Wangen.

Großmama, sehr besorgt, tauschte leise einige Worte mit Pepi. Dann, nach einem neuen, vergeblichen Versuch, ihre kummervolle Enkelin zu beschwichtigen, verließ sie das Zimmer. Bald darauf betrat sie es wieder, und wer kam hinter ihr hergeschritten? Der unbewußte Urheber all dieses Leids und Schreckens – der Papa.

Lautlose Stille empfing ihn. Fritzi verstummte. Keines von uns regte sich. Der Blick des Vaters glitt über die Gruppe seiner bestürzten, angsterfüllten Kinder und blieb auf der kleinen Knienden haften. Sie war wie versteinert. Ihre prachtvollen braunen Augen starrten weitgeöffnet zum Vater empor; nur die Lippen des schmerzverzogenen Mundes zuckten. Und jetzt ließ sich eine überaus sanfte Stimme schmeichelnd, ja bittend vernehmen: »Fritzi, meine Fritzi, weine nicht! Meine Fritzi soll nicht weinen, meine Fritzi ist ja brav. Ich hab ja meine Fritzi lieb!« Und auf einmal sahen wir unsere Älteste hoch über uns erhoben in den Armen Papas und hörten sie wieder schluchzen, aber bei weitem nicht mehr so heftig wie früher.

Der Papa lachte: »Dummheit! Dummheit! Die Fritzi hat ein Fenster zerschlagen; das macht nichts. Der Papa ist ja gar nicht bös – der Papa . . . Schau her, Fritzi, schau, was der Papa tut!«

Er ließ sich ihren Ball reichen und schleuderte ihn durch das nächste Doppelfenster, dessen beide Scheiben er, wie aus der Pistole geschossen, durchflog. Eine Sekunde schweigender Überraschung, und dann lag an die Schulter des Papas geschmiegt Fritzis selig lächelndes Gesichtchen. Sie weinte noch, aber Tränen heller Freude und Dankbarkeit. Und Papa tanzte mit seinem Töchterchen in den Armen im Zimmer herum, und wir jauchzten und jubelten ihm zu.

Ich indessen, gelehrig wie ich nun einmal war, machte mir eine Nutzanwendung aus dieser Begebenheit.

Unser Frühstück bestand aus Milch und aus Königskerzentee, von uns Himmelbrandtee genannt. Die Blüten, aus denen er bereitet wurde, sammelten wir auf unsern Spaziergängen selbst und fanden das Getränk köstlich. Leider wurde uns der Genuß dieser Delikatesse sehr vergällt durch den Anblick der Kannen, in denen man sie auftrug. Sie gehörten zu den Überbleibseln eines Vieux-Saxe-Käferservices, das heute ein Vermögen wert wäre. Damals hatte der Fluch des Veralteten sie getroffen. Auf der »herrschaftlichen Tafel« prangte modernes englisches Steingutgeschirr; die Tische der Dienerschaft und der Kinder besetzte man mit beschädigtem Vieux-Saxe. Ich fand das unwürdig, ich fand, daß auch wir etwas Modernes haben sollten, ich feindete besonders unsere Teekanne an mit ihrem defekten Schnabel und ihren grauslichen fliegenden Käfern. Der Moment schien mir, nach der Erfahrung, die wir gestern gemacht hatten, äußerst günstig, um ihr den Untergang zu bereiten.

So wartete ich nur, bis unsere Tassen alle gefüllt waren; dann holte ich aus . . . Ein Schlag – die alte Kanne wankte, stürzte, und die Käfer taten ihren letzten Flug – auf den Boden.

Nun aber gestalteten sich die Folgen ganz anders, als ich es mir ausgedacht hatte. Meine Erwartung, daß Papa geholt werden und daß er sofort auch die Milchkanne zerschlagen würde, erlitt eine bittere Enttäuschung. Es kam unserer Pepinka dieses Mal nicht in den Sinn, eine höhere Instanz anzurufen. Sie wählte zur Bestrafung meines Angriffs auf die Sicherheit des Porzellans – das standrechtliche Verfahren.

 

Den ersten Unterricht im Lesen und Schreiben erteilte uns Herr Volteneck, der Verwalter von Zdißlawitz. Er hatte eine rundliche Gestalt und einen an den Schläfen eingedrückten, länglichen Kopf und nahm sich von weitem aus wie ein Zylinder mit einer kleinen Gurke darauf. Seine Leibfarben waren Braun und Gelb, braun die klugen, sanften Augen, das schlichte Perückchen, die Umgebung der unaufhörlich nach Schnupftabak verlangenden Nase und die Fingerspitzen, die ihr den aromatischen Staub zuführten. Gelb waren die kleinen Hände und das kleine Gesicht.

Die Seelenfarbe dieses Mannes aber kann nur das zarteste Apfelblütenrosa gewesen sein.

Schon unter meinem Großvater hatte er die Stelle der amtierenden Gerichtsperson auf dem Gute redlich und ehrenhaft versehen und genoß allgemeine Hochachtung. Dabei war er das Stichblatt schlechter Witze, die besonders unter den Schloßleuten unkrautmäßig wucherten. Er hatte eine eigene Manier, von Zeit zu Zeit seinen Rock an der Brust mit beiden Händen zu fassen und gegen den Nacken hinzuschieben. Die Gewohnheit, behauptete man, ist ihm vom Kuttentragen geblieben, denn die Kutte hat er getragen, er ist ein entlaufener Kapuziner.

Und nun hätte er seinen ganzen Lebensgang wahrheitsgetreu darstellen, hätte urkundlich nachweisen können, daß er nie einen Tag im Kloster zugebracht, geistliche Kleidung nie getragen hatte – alles umsonst! Sie wären nicht zu erschüttern gewesen in ihrer Überzeugung; er ist und bleibt ein davongelaufener Kapuziner.

Zum Unglück hatte der reizlose, ältliche Mann den Mut gehabt, eine hübsche junge Frau heimzuführen, die nicht gerade pedantisch gewesen sein soll im Festhalten an der ehelichen Treue. Darüber wurde oft gespöttelt, in verhüllter Weise sogar in seiner Gegenwart. Wir wußten natürlich nicht, um was es sich handelte; aber wir sahen, daß er ausgelacht wurde, und unsere Empörung darüber war groß, denn wir liebten diesen guten, alten Menschen und langmütigen Lehrer. Wir liebten ihn schon um seiner herrlichen Schrift willen. Da war keine, von der einfachen Kurrent bis zur Kyriliza, die er nicht hingemalt hätte in unsere Zensurenbüchlein, leicht und schwungvoll, daß die Feder hinschwebte in kleinen und großen Linien, Kreisen und Ovalen, wie durstige Schwalben spielend über dem Wasser schweben.

Im Zensurenbüchlein meiner Schwester wimmelte es von »ausgezeichnet«; ich brachte es selten zu einem »sehr gut«, und auch dieses war meist ganz mager hingehaucht, gleichsam der Schatten eines »sehr gut«. Dabei ging es vollkommen gerecht zu. Meine Schwester konnte schon geläufig lesen, während ich noch die Kunst des Buchstabierens nicht völlig innehatte.

Papa pflegte sich selten und auch dann nur oberflächlich nach dem Fortgang unserer Studien zu erkundigen. Ein kurzes: »Brav sein!« war alles, was er mir sagte, wenn er auf seine Frage »Sind sie fleißig?« die Antwort erhalten hatte: »Fritzi sehr, und Marie wird es auch werden.«

Einmal aber, wie es bei ihm meist geschah, machte etwas, das er oft übersehen und überhört hatte, ganz plötzlich Eindruck auf ihn.

»Werden? Oho, erst werden?« wiederholte er das letzte Wort, das Mama gesprochen hatte, wandte den Kopf und sah mich an.

Es war bei Tische. Obenan saß unsere liebe Mama, unsere Großmutter zu ihrer Rechten, unser Vater zu ihrer Linken. Dann war ein langer Zwischenraum an dem großen ovalen Tische, und dann kamen wir zwei, meine Schwester und ich.

»Kann sie vielleicht noch nicht lesen? Hat im Frühjahr angefangen, lernt jetzt schon den ganzen Sommer und kann noch nicht lesen?« setzte Papa sein Verhör fort, und ein Strafgericht drohte aus seiner Stimme.

Eine Verhandlung zwischen ihm und Mama folgte. Unsere Großmutter schwieg; sie mischte sich nie in eine Beratung der Eltern, die uns betraf.

Es ist mir später klargeworden, daß Papa die »Methode« des Herrn Verwalters angezweifelt und den Besitz einer besseren – sich selbst zugeschrieben hat. Zu meinem Entsetzen, zur – ich bemerkte es wohl! – stillen Unzufriedenheit Großmamas befahl er mir, morgen früh zu ihm zu kommen. »Allein«, schloß er nachdrücklich.

Das war ein Wort!

Wir betraten immer nur in corpore die Zimmer Papas zum Guten-Morgen- und zum Gute-Nacht-Sagen. Damals war nur ein Flügel an das Schloß angebaut; in dem befand sich unsere Wohnung. Die Papas lag am andern Ende der langgestreckten Front. Ihre Zimmer mündeten auf einen geschlossenen Gang, den wir täglich zweimal durchwanderten. Seine Fenster sahen auf den Hof; der Blumenhof hieß er, und er verdiente seinen Namen, denn er war von Blumengruppen und von hohen, mit blühenden Topfpflanzen besetzten Gestellen umschlossen. Aus dem Hofe führte ein breites Tor, das immer weit geöffnet blieb, in eine tiefschattige, von vier Reihen herrlicher Lindenbäume gebildete Allee. Als ich ein Kind war, da strotzte noch ihr Gezweige von Saft, da waren ihre Blätter hellgrün und weich wie Samt und ihre Blüten voll süßen Duftes. Damals prangten sie in ihrer Vollkraft. Aber Höhe ist Wende. Heute wehren ihre Wipfel den Sonnenschein nicht mehr völlig ab. Er dringt durch das dünn gewordene Laub und wirft den dunklen Stämmen goldige Lichter vor die Füße, wie spielend, wie übermütig fragend: Seht ihr? da sind wir nun doch! – Einst, wenn der Wind sich durch die Unzahl der Blätter drängte, da gab's ein weiches Rauschen, ein sanftes, harmonisches Flüstern. Anders ist das jetzt. Anders als in den jungen spielt der Wind in den alten Bäumen. Die Stimmen sind rauh, die er in ihnen erweckt. Ein Knistern und Knarren durchläuft das Geäst; da und dort zerbricht ein dürrer Zweig und fällt . . .

Auf dem Wege zu Papa begleitete uns die Kinderfrau und wartete im Vorzimmer auf unsere Rückkehr.

Wenn wir in der Frühe bei unserem Vater eintraten, saß er an seinem Schreibtisch, mit dem Rücken gegen die Tür, hatte große Wirtschaftsbücher vor sich liegen, rechnete und schrieb. Wir wurden meistens freundlich empfangen, küßten ihm eines nach dem andern die Hand, beantworteten seine Frage: »Seid's brav?« immer bejahend und so auch bald die darauffolgende: »Ist die Pepi da? Gut also, also geht.«

Manchmal durfte er in seiner Arbeit nicht unterbrochen werden. Da hieß es: »Seid ruhig, wartet.« Man wartete, rührte sich nicht und hatte Zeit, sich mit schüchterner Neugier im Zimmer umzusehen. Es kam mir größer vor als alle anderen im Hause, und jeder Gegenstand darin hatte etwas Eigentümliches und erregte mein ganz besonderes Interesse. Wie merkwürdig war schon der Lüster, der an vergoldeten Ketten von der Decke niederhing! Eine flache, mattgrüne, mit Arabesken aus Bronze geschmückte Schale. Aus ihr heraus streckten sich sechs magere, sehnsüchtige Arme und trugen in ihren Händen tulpenförmige kleine Urnen, aus denen vergilbte Wachskerzen emporragten. Einen sehr ernsten Eindruck machten die schwarzen Möbelgestelle, der umfangreiche, schwarze Schreibtisch und die Schwärze der ganzen Gesellschaft von Schränken und Etageren.

Über dem Kanapee, das rechts an der Längswand stand, hing ein Bild, das ich mit dem Blick eben nur zu streifen wagte, weil mir sonst heiße Tränen in die Augen schossen.

Es war eine schöne Radierung und stellte einen Invaliden der Grande Armée vor, einen alten Mann in verbrauchter Uniform. Er saß auf einem Bänkchen vor einer niedrigen Hütte. Sein kahles Haupt war gebeugt, seine Arme lagen auf den ausgespreizten Knien; er hielt sein Taschentuch in den Händen und ruhte aus von einer traurigen Arbeit. An der Wand neben ihm lehnte die Schaufel, mit der er eine Grube gegraben hatte für einen treuen Gefährten – seinen Hund. Der lag zu seinen Füßen, das gebrochene Auge noch auf den Herrn gerichtet. – Ich habe dich schwer verlassen, schien es zu sagen, aber ich mußte fort; es war ja hohe Zeit. Sieh mich nur an, lieber Herr. Bin ich nicht zum Kinderspott geworden, so alt und abgezehrt und häßlich? Mut, lieber Herr, steh auf und lege mich in die Grube, die du für mich gegraben hast. Ich werde da schlafen, und – Hunde träumen ja, weißt du – träumen, daß wir wieder jung sind, wir zwei, und schön und gesund. Entschließ dich, lieber Herr . . .

Endlich wird der Invalide doch aufstehen, nach der Schaufel greifen und den guten Hund begraben und dann keinen Freund und keinen Kameraden mehr haben und nichts mehr auf der Welt . . .

Noch andere Bilder hingen an den Wänden, Radierungen und Kupferstiche, lauter Erinnerungen an die Feldzüge gegen Frankreich, die unser Vater mitgemacht hatte, an Erzherzog Karl und an Napoleon. Und auf dem Schreibtisch befand sich ein Aquarellbildchen und stellte drei hübsche Offiziere in Uniform, drei junge Hauptleute, dar: unseren Vater und seine zwei Brüder, und diese seine zwei Brüder waren vor dem Feinde geblieben.

»Vor dem Feinde geblieben.« Ich hörte das sagen und fragte mich, was es bedeuten sollte. Es schien etwas Trauriges und Schönes zu sein. Papa sprach es immer in sehr ernstem und sehr stolzem Tone aus. Und auch das wirkte ergreifend auf mich und trug dazu bei, die ehrfürchtige Scheu zu erhöhen, mit der ich in seinem Zimmer stand.

 

Und nun galt's, wie Papa gestern befohlen hatte, mich allein in sein imponierendes Bereich zu begeben. Mama begleitete mich bis zur Schwelle des Eingangszimmers, blieb dort stehen und machte mir, als ich mich nach einigen Schritten umwandte und ihr Lebewohl zuwinkte, ein Zeichen, vorwärts zu gehen und dann anzuklopfen. Ich tat's, und: »Herein!« tönte es mir laut und barsch entgegen.

Ein ermutigender Empfang wurde mir nicht zuteil. Papa reichte mir zwar die Hand zum Kusse, ließ aber vom Moment meines Eintretens an fortwährend seinen Blick forschend und streng auf mir ruhen und fragte endlich: »Was ist dir denn? Was machst du für ein Gesicht? Mir scheint, du fürchtest dich. Du hast ein schlechtes Gewissen. Wer kein schlechtes Gewissen hat, fürchtet sich nicht.«

Nun war das Unglück fertig.

Nun mußte ich ja überzeugt sein, daß ich ein ganz elendes Gewissen hatte, denn wahrhaftig, ich zitterte vor Angst.

Ach, es war danach! Alles war danach. Was lag auf dem großen, schwarzen Schreibtisch, auf dem Platze, den sonst die Wirtschaftsbücher einnahmen? Eine Fleißarbeit Papas. Bewunderungswürdig im Grunde. Viereckige Blättchen von gleicher Größe aus Kartenpapier. Man sah ihnen die Sorgfalt und militärische Pünktlichkeit an, mit der sie zugeschnitten und reihenweise in gleichen Abständen voneinander geordnet worden waren. Jedes einzelne von ihnen trug ein dick und deutlich ausgeführtes Zeichen. Ein gut gekanntes und gut gehaßtes Zeichen – einen Buchstaben.

»Was ist das?« fragte Papa und wies, nicht ohne Wohlgefallen, auf das kleine papierne Pikett vor ihm.

Ich meinte, es seien Buchstaben.

»Ja, ja, Buchstaben, natürlich. Aber das Ganze da – das Ganze!«

»Buchstaben . . . viele Buchstaben . . .« Bei den Buchstaben blieb ich. Wie die Familie heißt, wenn sie vollzählig versammelt ist, wußte ich nicht. Ich wußte überhaupt bald gar nichts mehr, nicht einmal ein A von einem I zu unterscheiden und auch nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als Papa ein geringschätziges: »I! A!« ausstieß.

Der einzelnen Vorgänge bei diesem denkwürdigen Examen kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur einer großen Verwirrung, die in den Reihen der schnurgerade aufmarschierten Kärtchen eintrat, entsinne ich mich: sie wanden sich wie Schlangen, sie tanzten, bildeten Gruppen, stoben davon nach allen Richtungen. Und dabei deutete Papas Finger unbeweglich auf eine Stelle, die für mich abwechselnd von einem A, einem B, einem C besetzt war. Einen Buchstaben um den andern nannte ich, riet und riet und erriet nicht. Die Qual dauerte lang. Mein armer Papa, der Selbstbeherrschung doch so ungewohnt, nahm sich zusammen, wiederholte dieselbe Frage mehrmals, ohne die Stimme allzusehr zu erheben. Die meine aber wird wohl zuletzt gar keinen Laut mehr gehabt haben. Ich vermochte trotz aller Anstrengung nicht, auch nur ein vernehmliches Wort über die Lippen zu bringen, und nahm in hilfloser Bestürzung das Urteil entgegen, daß ich – ein großes Mädel von fünf Jahren – mich mit Schande beladen habe. Der kurze Spruch Papas schloß mit dem Befehl: »Hinaus!«

Ich besorge sehr, ihn mit unanständiger Geschwindigkeit und ohne Abschiedsgruß erfüllt zu haben.

Noch hatte ich auf meinem Rückzug das Eingangszimmer nicht durcheilt, als Papa mir nachkam, die Tür vor mir öffnete, mich hinausschob und mit einem raschen Wurf das ganze Alphabet über mich ausstreute. Dann flog die Tür hinter ihm zu, und ich kauerte auf dem Boden, sammelte hastig die Kartenblättchen in meine Schürze und lief, so rasch ich konnte, davon.

Und nun muß ich sagen: Dieser Buchstabensprühregen, den mein Vater mir damals nachschickte, ist die einzige »Gewalttat« gewesen, die ich je durch ihn erfuhr. Seine Hand hat mich nie unsanft berührt, er hat seine Stimme nie laut gegen mich erhoben, dieser fürchterliche, liebe, gute Papa.

 

Wie oft höre ich junge Leute und Kinder sogar behaupten: »Bei mir richtet man nur mit Güte etwas aus, aber mit Strenge nichts.« Das kommt mir vor, wie wenn eins sagte: »Vom schmeichelnden Lüftchen lasse ich mich allenfalls dirigieren, dem Orkan trotze ich.«

Du armes Reislein!

Ein Zornesausbruch unseres im Grund der Seele so guten Vaters schloß jeden Gedanken an Widerstand aus. Ob sich ein solcher Ausbruch zu dem, was ihn veranlaßt hatte, in einem halbwegs erklärlichen Verhältnis befand, die Frage stellten wir uns nicht. Wir meinten, daß man an der Handlungsweise seines Vaters Kritik nicht üben kann. In späteren Jahren verwandelte das »kann« sich in ein »darf«. – Einem jungen Menschen von heute muß es schwerfallen, unsere Empfindungsweise zu begreifen. Es gibt ja kaum etwas, das sich in einer Zeit, die ich zu überdenken vermag, so verändert hätte wie die Art des Verkehrs zwischen Eltern und Kindern.

Wenn unsere Großmutter von ihrer Mutter sprach, sagte sie »unsere Allergnädigste« und neigte leise das Haupt. Unsere Mutter sagte »Sie« zu ihrem Vater. Er war ihr geistiger Führer, ihr alleiniger Lehrer. Von ihrer Hand beschriebene Hefte, die sich bei uns zu Hause in der Bibliothek erhalten haben, geben Zeugnis von dem Ernst und der Gründlichkeit der Studien, die er sie treiben ließ. Aus jeder Zeile ihrer auch noch vorhandenen Briefe an ihn spricht unbegrenzte Ehrfurcht. Wir standen mit unserem Vater auf dem Duzfuße; er war aber ungefähr von der Sorte, auf dem sich das russische Bäuerlein mit dem Väterchen in Petersburg befindet. Von einer Seite ein unbeschränktes Machtgefühl, von der anderen Unterwürfigkeit. Heute ist das anders. Die Jugend steht obenan; sie wertet und entwertet. Das Alter sieht bewundernd oder grollend zu. Ich staune nur, wie rasch es abdiziert hat. Komisch fast ist die Eilfertigkeit, mit der es sich in die Ecke drückt, um dem vorbeibrausenden Zug der Jugend nur ja nicht im Wege zu sein. Dankbarkeit erhellt die Gesichter der Eltern, wenn ihre Söhne oder ihre Töchter auf der Jagd nach Brot, nach Glück, nach Ruhm einen Augenblick haltmachen, um den Alten einen Lappen ihrer kostbaren Zeit zu schenken. Und auch gute moderne Kinder haben dabei doch das Gefühl eines Zugeständnisses, das sie den unmodernen Eltern machen.

Es ist so, und je tiefer ins Greisenalter ich hineingerate, um so mehr Hochachtung bekomme ich vor dem, was ist. Mein Vater hätte sich zu ihr nie bequemt; was in seinen Tagen für das einzig Rechte und Gehörige galt, sollte in allen Tagen dafür gelten. Er hatte von Kind auf Subordination geleistet, hatte sie von seinem Jünglingsalter an pflichtgemäß zu fordern gehabt. Gehorsam! Wie ferner Donner rollte das R am Schluß der zweiten Silbe, wenn er dieses Wort befehlend aussprach.

Wie seine beiden Brüder, Josef und Fritz, war unser Vater Zögling der Theresianischen Ritterakademie gewesen und hatte sie verlassen, um Kriegsdienste zu nehmen. Josef, den Ältesten, traf bei Dresden 1813 die tödliche Kugel. Der Jüngste, Fritz, fand vor Parma 1814 einen Heldentod. Unser Vater, bei einer glänzenden Waffentat in der Nähe von Cléry an der Loire schwer verwundet, geriet in französische Gefangenschaft. Im Jahre 1816 trat er, noch nicht völlig hergestellt, in den Ruhestand. Das militärische Wesen, die gerade Haltung, den strammen Gang behielt er bis ins höchste Alter bei. Mit einem großen Vorrat an positivem Wissen hatte er sich nicht beladen und lebte in dieser Beziehung sozusagen von der Hand in den Mund. Doch litt er dabei keinen Mangel. Sein guter, klarer Verstand, sein Schönheitssinn, seine Schlagfertigkeit und Beobachtungsgabe ließen ihn nie im Stiche. Er verzichtete gern auf vieles, das sich erlernen läßt, weil er reich war an vielem, das sich nicht erlernen läßt. Er hatte Sinn für Poesie und war ein Freund der Musik; nur durfte sie nicht zu ernst sein. Vor allem aber war er ein Freund des Theaters, und für ihn wie für so viele ist das Burgtheater ein mächtiges Bildungsmittel gewesen. Bis kurz vor seinem Tode blieb er ein treuer Besucher des geliebten alten Hauses. Die Aufführung eines klassischen Stückes »in der Burg« versäumte er nie und verließ seine Loge nicht, bevor das letzte Wort gesprochen und der Vorhang gefallen war. Dabei schämte er sich aber durchaus nicht, zu gestehen, daß kein noch so großes »Vergnügen an tragischen Gegenständen« ihm die Wonne aufwog, ein Theaterstück Raimunds aufführen zu sehen. Raimund stand von allen Dramatikern seinem Herzen am nächsten. Und wieviel von seiner liebe- und verständnisvollen Sympathie für das Wesen, für das Schaffen, für den ergreifend wehmütigen Humor unseres altösterreichischen Dichters hat er uns vererbt! Lange bevor wir ins Theater geführt wurden, hatten wir die Bekanntschaft des Verschwenders, des Herrn Rappelkopf, des Barometermachers auf der Zauberinsel gemacht und verdankten sie den Erzählungen unseres Vaters, die er so gern und so oft wiederholte. Sein Reichtum an Geschichten und Anekdoten war unerschöpflich. Es gab ihrer von allen Sorten, lustige und traurige. Es gab auch lange komische Gedichte, von denen wir nie mehr als den Anfang zu hören bekamen. Das Schönste, uns Liebste blieben aber doch immer die Erzählungen Papas von seinen Erlebnissen während der Kriegsjahre. Schlicht, einfach und klar brachte er sie vor, mit edler Bescheidenheit. Der Ausdruck seines Gesichtes wurde mild und weich, und seine Augen, die er fest auf einen Punkt in der Ferne richtete, trübten sich, wenn er seiner Brüder gedachte. Ich habe im Ohr noch den Klang der Stimme, mit dem er von dem letzten Zusammentreffen mit ihnen sprach, das ihm beschieden gewesen war. Der nächste Morgen trennte sie; in wenigen Tagen standen sie alle vor dem Feinde. Josef, schon mehrmals verwundet und nur notdürftig geheilt, hatte Todesahnungen. Fritz sprach übermütig: »Die Kugel, die mich trifft, ist noch nicht gegossen!« Mein Vater forderte beide zu einem feierlichen Gelöbnis auf: »Der zuerst fällt, gibt den Überlebenden ein Zeichen. Wenn eine Möglichkeit dazu vorhanden ist, geschieht's.« Sie schworen es sich zu: Der fällt, grüßt die Überlebenden. Aus dem Jenseits grüßt eine Liebe, die stärker ist als der Tod.

Zwei der Brüder waren hinübergegangen, und der dritte hatte gehofft und geharrt und sich nach dem verheißenen Zeichen gesehnt. Es kam nicht – es konnte nicht gegeben werden . . . Den Behauptungen eines Verkehrs mit Verstorbenen setzte mein Vater den schroffsten Unglauben entgegen: »Es führt kein Weg von drüben zu uns, sonst hätten meine Brüder ihn gefunden«, sagte er.

Unter den vielen »Geschichtchen«, an denen wir uns nicht satt hören konnten, zeichnete sich besonders das von dem kleinen französischen Herrn mit dem blauen Mantel aus. Sein Schauplatz war Troyes. Dort hielt an einem kalten Märzmorgen der Zug der Gefangenen, die man nach der Normandie brachte, eine kurze Rast. Viele Leute eilten herbei, um ihn zu sehen; die Verwundeten erregten besondere Aufmerksamkeit. Der Leiterwagen, in dem man meinen Vater mit anderen Blessierten auf Stroh gebettet hatte, wurde umdrängt; Neugierige kamen herbei, Männer und Frauen – auch junge, hübsche. Peinlich für einen, der gewöhnt war, jungen Frauen ganz andere als mitleidige Gefühle einzuflößen. Und gerade er sah wohl unter allen Leidensgefährten am bedauernswürdigsten aus. Marodeure hatten ihn ausgeplündert, als er bewußtlos auf dem Schlachtfelde lag. Seine Wunden schmerzten, Fieberfröste schüttelten ihn, mühsam richtete er sich auf. Sein Blick wandte sich von den Leuten, die ihn umgaben, ab und begegnete dem eines kleinen alten Herrn, der in einiger Entfernung am Eingang eines Hausflurs stand. Er trug einen blauen Mantel mit schwarzem Kastorkragen, der am Halse mit einem Kettchen aus Stahl geschlossen war. Langsam löste der kleine alte Herr das Kettchen, schritt auf meinen Vater zu, nahm den Mantel von den Schultern und reichte ihn dem freudig Überraschten mit dem einzigen Worte: »Tenez!«

Er wartete den Dank nicht ab, er war gleich wieder in seinem Hausflur verschwunden.

Das war eine Wohltat, dieser fadenscheinige Mantel, dessen Eigentümer nicht danach aussah, als hätte er viele überflüssige Kleidungsstücke zu verschenken. –

Lieber kleiner alter Herr aus Troyes, dein Geschenk war königlich, deine ärmliche Spende so reich! Im Lichte bleibt dein Andenken für uns, die wir als Kinder dich verehren lernten.

Die Gefangenen kamen am Hauptquartier Napoleons vorbei. Sie sahen den Imperator. Er war zu Pferde, sehr blaß, prachtvoll sein Cäsarengesicht, die Gestalt schwer und aufgedunsen. Mit einigen der Unglücklichen im Zuge sprach er und ließ ihnen Geld reichen. Mein Vater erhielt dreihundert Francs, die ihm sehr zugute kamen während seiner Internierung in Caen. Dort fand er sich vortrefflich aufgehoben bei einem braven alten Ehepaare. Auch für diese beiden Leute hegte er eine unaussprechliche Dankbarkeit und konnte die soupe à l'oignon nicht genug loben, die zu kochen seine Hausfrau verstand. Als seine Wiederherstellung fortschritt und er auch feste Nahrung zu sich nehmen durfte, kaufte er ein Messer, mit dem er Brot in die Suppe einschnitt, ein großes Taschenmesser mit grauer Hornschale und mehreren Klingen. Es hat immer auf seinem Schreibtisch gelegen, und man brauchte es nur mit der Fingerspitze leise anzutippen und zu sagen: »Nicht wahr, Papa, das hast du in der Normandie gekauft?« Alsbald waren die alten Erinnerungen alle geweckt, und er ließ sie vor uns aufsteigen in deutlichen, farbigen Bildern. Wir sahen den Hauptmann Dubsky für tot auf dem Kampfplatz bei Cléry liegen, sahen die Marodeure herankommen, die ihn ausplünderten und ihn ganz tot gemacht hätten, wenn er nicht auf einige Worte, die sie an ihn richteten, in ihrer Sprache geantwortet hätte. »Laisse le vivre, il parle français«, sagte einer zum andern. Dann wurde er auf einen Wagen gehoben und fortgeführt in Feindesland. – Oh, wie litten wir mit ihm und sorgten jedesmal von neuem, daß es ihm nun schlecht ergehen werde! Aber bald kam trostreich der blaue Mantel zum Vorschein und imponierend der Anblick des Kaisers Napoleon und endlich zur Erquickung die soupe à l'oignon.

Wie unser Vater hielten auch wir seine Erinnerungen hoch in Ehren und stimmten ihm von Herzen bei, wenn er eine summarische Verurteilung der Franzosen nicht duldete. Er sprach immer mit der größten Anerkennung von ihnen, gegen die er jahrelang im Felde gestanden hatte. Es war damals allgemein so üblich: man schoß den Feind tot, aber man verleumdete ihn nicht.

 

Mein Vater besaß in hohem Grade die männliche Tugend der Gerechtigkeit. Eigensinn kannte er nicht. Wenn er, hingerissen von seinem leidenschaftlichen Temperament, ein zu hartes Urteil gefällt, eine zu strenge Strafe diktiert hatte, ruhte er nicht, bevor es ihm gelungen war, seine Schuld glänzend gutzumachen. Die Lüge verabscheute er, und daß man feig sein könne, begriff er nicht. Nicht einmal den Frauen verzieh er Furchtsamkeit, und was andere in Schrecken versetzt, löste bei ihm eine Wallung des Zornes aus. Viele starke und überzeugende Beispiele wüßte ich davon zu geben, doch will ich nur ein kleines anführen, weil es so charakteristisch ist.

In Zdißlawitz wurde das Eintreffen eines Trupps ungarischer Ochsen erwartet, die zur Mast eingestellt werden sollten. Wir Kinder hatten uns im Meierhof eingefunden, um ihren Einzug mit anzusehen. Papa beorderte uns auf die Rampe den Stallungen gegenüber und blieb mit den Beamten in der Nähe des breiten Hoftores stehen. Eine Staubwolke kündigte das Herannahen der Fußreisenden an. Sie kamen, geleitet von ihren Treibern, wegmüde, die ganze Herde mit den riesigen, spitzen Hörnern, den breiten Köpfen, mageren Leibern, eingefallenen Flanken. Der Burggraf, ein großer, stattlicher Mann, trat an die Tiere heran, rief den Treibern, den Stalleuten Befehle zu. Auf einmal hörte man ihn ein Angstgebrüll ausstoßen und sah ihn entfliehen . . . Die übrigen Beamten stoben auseinander wie Spreu, in die ein Windstoß fährt. Ein Ochse war wild geworden und stürzte schnaubend, den Kopf gesenkt, den Schwanz emporgereckt, auf den Platz zu, den sie früher eingenommen hatten und auf dem mein Vater jetzt allein stand. – Er aber, empört über die Frechheit des Gastes, sprang ihm entgegen, schwang das Spazierstöckchen und rief mit drohender Stimme: »Na – du!«

Uns stockte der Atem. Die erschrockenen Treiber schrien und ließen ihre Peitschen knallen. Der aufgeregte Sohn der Steppe besann sich, bog aus und schloß sich wieder seinen Gefährten an.

Noch eine Eigenschaft darf ich meinem Vater nachrühmen: die Treue. Wer seine Liebe errungen hatte, dem blieb sie ein unverlierbarer Besitz. Seine Frau war für ihn die einzige in der Welt. Leicht mochte er freilich auch der geliebtesten das Leben nicht gemacht haben; dazu war er zu sehr Kampfnatur, dem raschen Wechsel seiner Stimmungen zu sehr unterworfen. Die Ausgeglichenheit fehlte und auch der feine Blick für die Vorgänge im Gemütsleben selbst derer, die ihm am nächsten standen. Aber – nehmt alles nur in allem – er war ein Mann mit warmem Herzen, stark an Leib und Seele.

Im Jahre 1825 verheiratete sich mein Vater mit der verwaisten Tochter des in Österreich unvergessenen, um unsere Kunstindustrie hochverdienten Freiherrn von Sorgenthal. Die Ehe war von kurzer Dauer. Seine anmutige kleine Frau verließ ihn bald.

Er hat sie, dankbar für die schwärmerische Liebe, die sie ihm entgegenbrachte, innig betrauert, ein volles Glück aber doch erst in der Verbindung mit seiner zweiten Frau, meiner Mutter, gefunden. Liebreich und sorgsam hat sie alles Gute und Edle in ihm gehütet und entfaltet, hat mit kluger, sanfter Hand die Mängel seines Wesens in den Schatten gedrängt und seine Rauhigkeiten zu mildern gesucht. Die Jahre, in denen sie an seiner Seite gestanden, bildeten die Krone seines Lebens, und er hat die Erinnerung an sie heilig gehalten.

Nach ihrem Tode, der völlig unerwartet eintrat, rang er mit der Verzweiflung und wollte dem Leben ein Ende machen, das ihm fortan unerträglich erschien. Ein Zufall, die Dazwischenkunft eines Verwandten, der ihm die schon geladene Pistole entwand, vereitelte den unseligen Entschluß. Einige Wochen nach dem furchtbaren Verluste schrieb mein Vater an seine Schwester nach Wien: »Wie überglücklich bin ich gewesen! Sichtbarlich vom Himmel begünstigt, hatte ich alle Ursache zu fragen: Gibt es wohl einen glücklicheren Menschen auf dieser weiten Erde denn mich? Anders sieht es nun in mir aus. Aus allen meinen Himmeln geworfen, kann ich nun fragen: Wo ist wohl mehr Schmerz, Kummer und Leiden zu finden als in meinem Herzen, welches statt des ihren hätte aufhören sollen zu schlagen, da für meine armen Kinder der Verlust des Vaters gegen jenen einer solchen Mutter, wie meine Marie war, sowohl in der Gegenwart wie in der Zukunft bei weitem weniger empfindlich gewesen wäre!«

Die Zeit verging und übte ihre unwiderstehliche Macht aus. Der Daseinswille, die Sehnsucht nach einer Häuslichkeit erwachten von neuem; er kam zu dem Schlusse: »Wenn der Himmel mir mein Haus niederreißt, muß ich es mir wieder aufbauen.« So hat er denn auch das seine wieder aufgebaut, und abermals wurde es ihm nach kurzer Zeit zerstört. Erst seinem vierten Ehebunde war eine lange Dauer beschieden.

Er stand in hohem Greisenalter, als ihm sein Daheim mit grausamer Raschheit noch einmal verödet wurde. Und wenn dieser letzte schmerzvolle Schlag ihn auch in allen Seelentiefen erschütterte, fand der schwer Heimgesuchte allmählich doch seine Fassung und seine Kraft wieder. Sie wankte keinen Augenblick, als die Anzeichen des herannahenden Endes sich einstellten. Er hatte dem Tod in Jünglings- und in Mannesjahren so oft ins Auge geblickt; mit großer Ruhe, in tiefem Frieden sah er ihm nun entgegen. Als treuer Hausvater nahm er mit guten Worten Abschied von jedem einzelnen seiner Angehörigen und von jedem seiner Diener.

Der Priester, der ihm die letzte Wegzehrung gereicht hatte, wandte sich vom Sterbebette zu uns und sprach: »Ihr Vater stirbt wie ein braver Soldat.«

 

Von diesem, in wenigen Zügen nur entworfenen Bilde eines Starken wende ich mich wieder den kleinen Erlebnissen seiner Kinder zu.

Als meine Schwester ihre Wanderung ins sechste und ich die meine ins fünfte Lebensjahr zurückgelegt hatte, sollten wir eine Gouvernante bekommen.

Es war Spätherbst, und wir waren in Wien, und schon seit längerer Zeit hatte Pepinka ihre Drohungen mit den Strafgerichten Papas in Drohungen vor den Strafgerichten der Gouvernante umgesetzt.

»Wartet nur, was euch die Gubernante tun wird!« hieß es jetzt beim geringsten Anlaß zur Unzufriedenheit, den wir ihr gaben.

Kein Wunder, daß wir der Ankunft der neuen Machthaberin ohne Begeisterung entgegensahen.

Zu dem großen Ereignis wurden geziemende Vorbereitungen getroffen.

Unser wartete eine Art Proserpina-Schicksal. Schlafen sollten wir nach wie vor bei der Kinderfrau, tagsüber jedoch bei der Gouvernante bleiben in ihrem eigens für sie eingerichteten Zimmer. Es war kein Prachtgemach! Es hatte die Aussicht auf einen mit Glasfenstern versehenen Gang, der das Haus auf der Hofseite umlief. Nicht der geringste Ausblick ins Freie bot sich dem Fräulein; Zerstreuung konnte ihr nur die Betrachtung ihrer neuen Möbel bieten. Unter ihnen zeichnete sich ein großes Kanapee aus, das durch eine kunstreiche und zu jener Zeit noch ungewöhnliche Einrichtung spielend leicht in ein bequemes Bett umgewandelt werden konnte.

Ach, du lieber Gott! Auf diesem Kanapee werden wir neben der »Gubernante« sitzen müssen den ganzen Tag. Und den ganzen Tag wird sie uns erziehen, und wir werden von allem, was sie zu uns sagt, kein Wort verstehen, denn sie spricht nur Französisch, so eine »Gubernante«. Das alles sagte Pepinka, um uns recht angenehm vorzubereiten zum Empfang ihrer Nachfolgerin.

Sie kam, und als Mama uns zur Begrüßung zu ihr führen wollte, machte ich eine Szene, schrie und heulte und mußte über die kleine Stiege, die aus der Kinderstube ins Gouvernantenzimmer führte, getragen werden.

 

Wie freudig bin ich seitdem alle Morgen die fünf Stufen derselben kleinen Treppe hinabgehüpft, um gleich nach dem Frühstück zu Mademoiselle Hélène zu eilen! Wie bald haben wir sie liebgewonnen, diese Dritte im Bunde der Vortrefflichen, die unsere Kindheit schön und glücklich gemacht haben. Einige Jahre unserer Kindheit, sollte ich sagen, denn gar bald haben zwei von ihnen uns verlassen.

Mademoiselle Hélène Hallé war unsern Eltern durch die Gräfin Saint-Aulaire, die damalige französische Botschafterin, empfohlen worden. Sie stammte aus gutem Hause und war eine äußerst sympathische Erscheinung. Eine große junge Dame mit durchsichtigem, rosigem Teint, rötlich-blonden Haaren und sanften blauen Augen. Sanft und ruhig war auch ihre liebe Art und Weise. Sie gewann, ohne im geringsten darum zu buhlen, das Wohlwollen aller Hausgenossen, sogar das unserer eifersüchtigen Pepinka. Reinste Freude bot uns der Umgang mit ihr; eine »leçon« war helle Unterhaltung. Nach kurzer Zeit konnten meine Schwester und ich Französisch reden und lesen. Im Herbste noch, noch in Zdißlawitz, war es mir plötzlich und fast mit Leichtigkeit gelungen, den Inhalt deutscher Bücher zu enträtseln. Die Unterrichtsstunde bei Papa hatte doch wunderbar rasch gute Früchte getragen, und so standen nun geöffnet vor mir die Pforten zweier Weltliteraturen.

Aber nicht bloß Gelehrsamkeit galt es zu erwerben – auch mit »weiblichen Handarbeiten« sollte ich mich befassen: ich sollte stricken lernen. Warum mir das als eine Schmach erschien, ist mir heute noch unerklärlich. Ich wehrte mich heftig und lange, doch wurde mein Widerstand endlich besiegt. Der Abscheu, den ich vor der Strickkunst empfand, endete mit der Herstellung von Strumpfbändern für meine geliebte Mama. Sie waren das Mißratenste, was je auf diesem Gebiete geleistet worden; aber die größten Meisterwerke hätten nicht freudiger empfangen werden können als das klägliche Paar. Mit welcher Zärtlichkeit schloß mich Mama in ihre Arme und wischte mir die Tränen ab, die ich vergoß, indem ich ihr das Zeichen meiner Unterwerfung auf den Schoß legte!

Das Weihnachtsfest war nahe, wir konnten die Tage bis zum 24. Dezember schon an den Fingern abzählen, als sich etwas begab, das uns in die größte Aufregung versetzte. Vor unsern Nasen gleichsam verschwanden unsere Puppen. Auf einmal waren alle fort. Eine vollständige Puppenauswanderung hatte stattgefunden.

Das Bett, in das Fritzi gestern noch ihre älteste Tochter, die große Christine, schlafen gelegt hatte – leer. Die Angehörigen Christinens hinweggefegt, als ob sie nie dagewesen wären. Meine blonde Fanchette, die freilich von der Blondheit nur noch den Ruf besaß – denn eine geduldige Friseurin war ich nicht –, ebenfalls unauffindbar. Wir kramten vergeblich nach ihr in unsern Laden, durchforschten alle Schränke und Winkel. Wir liefen ins Kinderzimmer und klagten die armen kleinen Brüder des Raubes unserer Puppen an. Daß wir auch im vorigen Jahre kurze Zeit vor Weihnachten denselben Jammer erlebt und dann unter dem Christbaum ebenso viele Puppen, als wir vermißt hatten, mit glänzend lackierten Gesichtern, reichem Gelock und schön gekleidet sitzen sahen, fiel uns nicht ein. Oh, wir waren dumme Kinder! Ich glaube nicht, daß es heutzutage noch so dumme Kinder gibt.

Pepinka, ärgerlich über die Nachgrabungen, die wir nun auch in dem von ihr beherrschten Reiche zu unternehmen begannen, ließ sich zu einem unvorsichtigen Worte hinreißen. »Geht, geht! sucht eure Puppen dort, wo sie sind.«

»Weißt du, wo sie sind? . . . Ja, ja, du weißt es! Wo sind sie?« Wir ließen nicht nach, gaben ihr keine Ruhe, bis sie endlich, um uns loszuwerden, sagte: »Die kleine Greislerin hat sie gestohlen. Grad ist sie mit der Christine über die Gasse gelaufen.«

Gestohlen also! unsere Kinder gestohlen! durch die kleine Greislerin – oh, das leuchtete uns ein. Der konnte man alles Schlechte zutrauen. Ihre Mutter hatte einen Laden, gerade unter einem der Fenster des Kinderzimmers. Wir kauften dort die Glas- und Steinkugeln, mit denen wir eine Art Kriegsspiel spielten. Von der Mutter erhielten wir immer fünf Stück für einen Kreuzer, von der Tochter nur drei. Genügte das nicht, um uns ein Licht aufzustecken über das ganze Wesen dieser Person? Sie, natürlich, war die Puppenentführerin, sie lief herum mit der Christine, an ihr mußte Rache genommen werden. Es mußte! Ich war Feuer und Flamme dafür, und es gelang mir, meine Schwester davon zu überzeugen. Auch die sanfteste Mutter kann grausam werden, wenn es Kindesraub zu bestrafen gilt. Am liebsten würden wir die Missetäterin durchgeprügelt haben – woher aber die Gelegenheit dazu nehmen? Sie bei der Frau Greislerin verklagen? Ach, die tut ihr nichts, die fürchtet sich selbst vor ihr. Was also soll geschehen? Was für ein Gesicht soll unsere Rache haben? Ein schwarzes! machten wir endlich aus. Es war beschlossen, was der Diebin geschehen soll: Wir werden ihr Tinte auf den Kopf gießen.

Pepi war ins Nebenzimmer zu den Kleinen gegangen und hatte die Tür geschlossen; wir glaubten unser nichtsnutziges Vorhaben ungestört ausführen zu können. Ich holte eilends das Fläschchen herbei, das unsern Tintenvorrat enthielt; wir schoben in das Fenster, unter dem der Greislerladen sich befand, einen Schemel und bestiegen ihn. Fritzi öffnete den inneren Fensterflügel und mit Mühe nur ein wenig den äußeren, und ich steckte den mit der Tintenflasche bewaffneten Arm durch den Spalt. Jetzt – hinunter mit dem Guß! Hinunter auf die Greislerin, die natürlich nichts Besseres zu tun hat, als dazustehen und ihm ihr schuldiges Haupt darzubieten.

Die spanische Armada war einst nicht siegesgewisser ausgezogen als wir zu unserer Unternehmung – und ihr Schicksal teilten wir. Die Elemente erhoben sich wider uns. Es stürmte an dem Tage im Rotgäßchen wie anno 1588 auf dem Atlantischen Ozean, und noch dazu gab's ein Gestöber von weichem Schnee. Ein Windstoß entriß meiner Schwester den Fensterflügel und schlug ihn gleich darauf so schnell wieder zu, daß ich kaum Zeit hatte, meinen ausgestreckten Arm zurückzuziehen und das Tintenfläschchen vor dem Sturze zu retten. Sein Inhalt übersprühte die Glasscheibe, tropfte, mit Schnee und Regen vermischt, vom Fenstersimse herab, umhüllte meine Finger mit der Farbe der Trauer.

Laut und lebendig gestaltete sich der Schluß des ganzen Abenteuers. Pepinka mußte etwas von unserm Treiben vernommen haben, denn plötzlich stürzte sie herbei. Ihr Antlitz glich dem rot aufgehenden Monde, ihre Haubenbänder flogen – ich weiß noch recht gut, daß sie eidottergelb waren.

»Ihr Verdunnerten!« rief sie. »Jesus, Maria und Josef! Fenster aufreißen, mitten im Winter! Was fällt euch ein, ihr, ihr . . .« Der Rest sei Schweigen. Mögen die Ehrentitel, mit denen sie uns ausstattete, der Vergessenheit anheimfallen. Sie bildeten eine relativ milde Einleitung zu den in prophetischem Tone ausgesprochenen Worten: »Ihr könnt euch freuen. Gleich wird die Polizei über euch kommen!«

Da war mit einemmal alles erloschen, jeder Funke des Hasses gegen die Greislerin und bis aufs letzte Flämmchen unsere lodernde Racheglut. Nur noch einen heißen Wunsch hatten wir, nur mit einer Bitte bestürmten wir Pepinka: Nur die Polizei nicht hereinlassen! Nur der Polizei nicht erlauben, daß sie komme, uns »einzuführen«!

 

Der Winter verrann, das Frühjahr war nahe; wir begrüßten die ersten wärmeren Tage mit Freude und hofften auf unsere baldige Abreise nach Zdißlawitz. Sehr angenehm und wie ein Gruß aus der Heimat mutete es uns an, als wir eines Morgens einen schönen Hannaken im blauen Mantel auf dem Gange stehen sahen. Er schien zu warten, und bald kam denn auch Papas Jäger, von dem er sich vermutlich hatte anmelden lassen, und holte ihn ab. Wir liefen eiligst ins Kinderzimmer, um dort zu verkünden, daß der Franz soeben einen Hannaken zu Papa geführt habe. Pepi empfing unsere Nachricht ohne Überraschung. Anischa saß auf einer Fußbank neben dem Tischchen, an dem unsere kleinen Brüder spielten, und hatte die Augen voll Tränen. Als wir auf sie zutraten, nahm sie unsere Hände und küßte sie mit innigster Zärtlichkeit; aber unsere Frage, warum sie geweint habe, wollte sie nicht beantworten. Pepi schaffte uns bald und auffallend gebieterisch fort. Auch war die Zeit zur Unterrichtsstunde da. Nachher wurde der gewohnte Spaziergang auf die Bastei unternommen, dann Toilette gemacht und Schlag vier Uhr zu Tisch gegangen. Am Nachmittag, als wir mit Mademoiselle Hélène »die Kleinen« besuchen kamen, was sahen wir? – Sophiederl auf dem Arme eines fremden Mädchens, das mit ihr herumtanzte, während Pepi mit den Buben Verstecken spielte. Das tat sie sonst nie, das war Anischas Amt.

»Wo ist Anischa?« riefen meine Schwester und ich, von einer bösen Ahnung ergriffen. Pepi machte zuerst Ausflüchte, vertröstete uns, versicherte, Anischa sei nur für kurze Zeit weggegangen und würde bald wiederkommen. Wir brachten ihren Versicherungen den größten Unglauben entgegen. »Weggegangen?« – Anischa ging nie weg, ging nur am Sonntag in die Kirche, und heute war gar nicht Sonntag.

Auf einmal durchblitzte es mich . . . Wie pflegte Pepi, wenn sie ein wenig böse war, zu sagen? »Er kommt heute nicht.« Und wie pflegte Anischa zu antworten? – »Heute nicht und morgen nicht.«

Jetzt aber, ganz gewiß, jetzt war »er« gekommen und hatte sie hinweggeführt; denn »er«, das war kein anderer als der Hannak, den wir am Morgen gesehen hatten. Gern war sie nicht mit ihm gegangen; sie hätte sonst nicht so arm und verweint auf dem Fußschemel gesessen bei den Brüdern, sie hätte uns nicht so inbrünstig die Hände geküßt . . . Die Liebe! die Geliebte! Da hatte sie Abschied von uns genommen . . . Und wir nicht von ihr . . . warum hat man uns nicht Abschied nehmen lassen von ihr? Warum? fragte ich und wollte doch die Gründe nicht hören, die Pepinka dafür angab. Ich wollte auch nicht glauben, daß Anischa wiederkommen werde . . . Belogen und betrogen fühlte ich mich. Nein, nein! sie würde nicht wiederkommen, nie! Der grausliche Hannak würde sie nie mehr hergeben. Entrüstet klagte ich ihn an und Pepi, die ihm Anischa überliefert hatte, und benahm mich recht wie ein Unband beim Einzug des ersten bitteren Schmerzes in mein Leben.

 

Im Laufe des Sommers erkannte ich dann mit freudiger Beschämung, wie unrecht es von mir gewesen war, an einem Wiedersehen mit Anischa zu verzweifeln. Die schwer Entbehrte besuchte uns und brachte allerlei Eßwaren mit, die uns vortrefflich schmeckten. Sie lobte ihren Mann, ihren Sohn, ihre zwei braven Kühe und sah gut und zufrieden aus. Nur waren ihre Hände sehr abgearbeitet.

Manches Jahr hindurch ist sie so gekommen zur Sommerszeit, und bis zu ihrem Tode bin ich mit ihr im Verkehr geblieben. Meinerseits im schriftlichen; ihre Antworten auf meine Briefe bestanden in einigen Zeilen, die sie dem Herrn Pfarrer diktierte. Sie setzte nur ein kleines, meist recht schiefes Kreuz darunter, denn schreiben konnte die vortreffliche Erzählerin nicht.

Auf dem letzten Zettel, den ich von dem geistlichen Herrn bekommen habe, fehlte Anischas kleines Kreuz. Dafür stand ein anderes, ein größeres, auf einem Hügel des Friedhofs ihres Dorfes, und unter ihm ruhte die Getreue.

Mademoiselle Hélène hatte kaum zwei Jahre bei uns zugebracht, als es auch von ihr scheiden hieß. Ihre Familie rief sie nach Frankreich zurück. Sie trennte sich nicht leicht von uns Kindern; am schwersten aber, wir konnten uns darüber nicht täuschen, trennte sie sich von Mama. Sie schien von einer großen Besorgnis erfüllt und bat dringend und wiederholt, ihr nur gewiß in einiger Zeit Nachricht geben zu lassen . . . nur ganz gewiß! . . . Mama versprach's, umarmte sie, und beide hatten feuchte Augen.

Der Wagen war schon angemeldet worden, der Mademoiselle Hélène zum Postgebäude auf dem Alten Fleischmarkt bringen sollte. Von dort aus setzte sich die Diligence in Bewegung. Wöchentlich ein paarmal kam sie dick und gelb herbeigerasselt und fuhr über den Haarmarkt dahin, mit Reisenden besetzt, die sich auf dem Wege nach fremden, fernen Ländern befanden.

Heute trug sie uns einen köstlichen Besitz davon. Fritzi und ich knieten auf Stühlen am offenen Fenster. Mama stand zwischen uns und hatte ihre Arme um uns gelegt. In höchster Spannung blickten wir auf die Straße hinab, und leise begann in mir die Hoffnung sich zu regen: Vielleicht kann Mademoiselle Hélène sich doch nicht entschließen, von uns fortzugehen . . . Vielleicht kommt sie wieder zurück . . .

Nun rollte er heran, im Trabe zweier kräftiger Pferde, der breite, schwere Kasten, ein rosiges Gesicht neigte sich aus dem Schlage . . . und wir hatten die letzten Grüße getauscht mit unserer guten Hélène Hallé.

Als wir zurückkehrten in ihr verlassenes Zimmer, fiel eine große Traurigkeit uns aufs Herz. Die Möbel hatten ihre imposante Feierlichkeit für uns verloren, und wir meinten auch ihnen die Bekümmernis darüber anzusehen, daß sie der besten Mademoiselle nicht mehr dienen sollten. Auch die kleinen Brüder fragten betrübt nach ihr; von allen wurde sie schwer vermißt.

Was wir an ihr verloren hatten, die uns den Gehorsam zur Freude, das Lernen zum Genuß, das Leben leicht und heiter gemacht hatte, das ermaßen wir aber erst völlig, nachdem ihre Nachfolgerin eingetroffen war. Grausamer für uns hätte ein Tausch kaum ausfallen können.

Wer Mademoiselle Henriette unsern Eltern empfohlen hatte, wußten wir nicht, doch davon waren wir überzeugt: Beim Jüngsten Gericht wird er darüber zur Rechenschaft gezogen werden.

In seinem Zorne hatte Gott Mademoiselle Henriette zur Gouvernante geschaffen. Sie war schön und jung; darin bestand die einzige Ähnlichkeit, die sie mit Hélène Hallé hatte. In allem übrigen war sie ihr Widerspiel.

Äußerlich eine mittelgroße, schlanke Brünette, mächtiges Dunkel im Haar, Feuer in den Augen. Innerlich – ein Drache. Eine treue Anhängerin der Moral, die unsere Modernen erfunden zu haben glauben, eine Dienerin der Pflicht, »sich auszuleben«. Sehr unwillkürlich bildeten ihre Zöglinge dabei doch einige Hindernisse, und als solche hat sie uns herzlich gehaßt. Es regnete Strafen. Die ärgste diktierte sie mir, als ich einmal in offenen Aufruhr gegen sie geriet, weil sie statt les Autrichiens »les autres chiens« gesagt hatte. Hoch angerechnet soll übrigens der leidenschaftlichen Dame eines werden, und ihr zum Ruhme muß ich es besonders hervorheben: wohl hat sie uns hungern, hat uns bis zur Erschöpfung im Winkel stehen, viele Seiten aus Noël et Chapsal auswendig lernen lassen, von denen wir kein Wort verstanden – geschlagen hat sie uns nicht. Die Note fehlte in der Symphonie ihres Erziehungsprogramms. Trotzdem lernten wir durch sie aufs gründlichste erfahren, wie tief unglücklich Kinder sein können, die sich wehrlos einer böswilligen Macht überantwortet fühlen.

 

Wir würden nicht lange unter den Launen der Tyrannin gelitten haben, wenn Mama sich damals um uns hätte kümmern können. Aber sie konnte nicht, sie war krank und unsere Trennung von ihr durch mehrere Wochen eine vollständige.

Im Vorfrühling gab sie einem Kindlein das Leben, das sich sehr beeilte, auf alle Vorteile dieses Geschenks zu verzichten. Es brauchte keine Wiege, nur einen Sarg. Einige Wochen verflossen, und endlich durften wir zwei Großen zuerst, die drei Kleinen nach uns die arme, kranke Mama wieder besuchen und täglich ein bißchen länger, wenn auch nicht stundenlang wie sonst, bei ihr bleiben.

Und einmal wurde mir eine große, unaussprechlich große Freude zuteil. Mamas treue Pflegerin, Tante Helene, die Schwester unseres Vaters, brachte eine wundervolle Nachricht: Doktor Wierer hatte der Mama erlaubt auszufahren, und sie ließ sagen, daß ich, ich, die Marie, sie begleiten werde. Das war mir ein Glück, vom Himmel gefallen, das war mir die pure Seligkeit. Mich wollte sie mitnehmen bei ihrer ersten Ausfahrt, keines von meinen Geschwistern, nur mich, mich allein! So hat sie mich denn, machte ich sofort aus, am liebsten von uns allen. Günstlingsgefühle erfüllten mich. Daß Fritzi erstaunt und betrübt dreinsah, daß die Brüder schrien: »Auch ausfahren mit der Mama!« ließ mich ganz gleichgültig. Mochten sie nur spazierengehen auf der Bastei, ich fuhr mit Mama, denn ich – ich war ihr Liebling. Oh, sehr oft war es mir schon so vorgekommen. Jetzt wußte ich's.

Wir fuhren zum Belvedere. Papa hatte die noch schwache Rekonvaleszentin über die Stiege getragen und in den Wagen gehoben; er war unter der Einfahrt stehengeblieben, als der Schlag geschlossen worden, und hatte mir lächelnd zugerufen: »Achtgeben auf die Mama!«

Im Garten des Belvederes machte sie nur einige Schritte bis zur ersten Bank des großen Parterres und blieb dort sitzen und sprach nicht. Ich lief vor ihr hin und her, ich ahmte, entschlossen, sie zu zerstreuen, das Summen und Brummen der Mücken und der Fliegen nach, ich setzte mich zu ihr und schwatzte ihr allerlei vor und besaß doch sonst das Geheimnis, sie lachen zu machen. Heute versagten alle meine Unterhaltungskünste. Wohl nickte sie mir liebreich zu, blieb aber schweigsam und traurig, schlug den pelzverbrämten Mantel fester um ihre schmale Gestalt und fröstelte, obwohl die Sonne, die im Scheitel stand, so glühende Strahlen niedersandte, daß die Blumen ihre Köpfchen verdrießlich neigten und das junge Gras förmlich versengt aussah.

Am Abend, als wir durch das Kinder- in unser Schlafzimmer gingen, fanden wir dort Tante Helene im Gespräch mit Pepi, beide sehr aufgeregt. Pepi perorierte in ihrer heftigen Weise: »Ich hab's ja gesagt . . . Ausfahren lassen . . . Jetzt schon ausfahren! Gleich umbringen wäre gescheiter.« Sie schimpfte über Doktor Wierer, und als wir wissen wollten, was denn geschehen sei, bestand ihre Antwort in einem neuen heftigen Ausfall gegen den Arzt.

Und nun war's, wie es schon wochenlang gewesen: Mama war wieder krank. Der Eingang, durch den man aus dem Gouvernantendepartement zu ihr gelangte, blieb wieder verschlossen, das Speisezimmer blieb wieder unbenutzt. Es stieß an ihr Schlafgemach und befand sich wie dieses an der Vorderseite des Hauses. Ebenso der Salon und die Wohnung Papas.

Wenn unser Drache am Morgen Billette schrieb auf rosenfarbigem Papier, mit einem Blümchen in der Ecke, schlichen meine Schwester und ich uns davon, leise und gebückt über den Gang an den Fenstern Mademoiselles vorbei und weiter ans Ziel unserer Wünsche, in die Nähe Mamas, ins Speisezimmer. Auf zweien der Stühle, die dort in langer Reihe an der Wand links vom Eingang standen, nahmen wir Platz und – warteten.

Worauf? Nun, daß Mama uns rufen lasse. Sie würde uns doch gewiß einmal rufen lassen, und da wollten wir gleich bei der Hand sein. Wir saßen ganz still und rührten uns nicht, aus Furcht, weggeschickt zu werden.

Manchmal ging Papa an uns vorbei mit unhörbaren Schritten und mit gesenktem Haupte. Er öffnete vorsichtig die Tür des Krankenzimmers und trat auf ein Zeichen, das ihm von dort gegeben wurde, ein oder kehrte wieder zurück in seine Gemächer, ebenso lautlos, wie er gekommen war. Oder er trat an ein Fenster, lehnte die Stirn an die Scheiben und blieb so stehen, lang, lang, endlos schien es uns.

Regelmäßig zur selben Morgenstunde kam Doktor Wierer, den Pepi von jeher angefeindet hatte und den auch wir nicht liebten, weil er uns beim geringsten Unwohlsein auf schmale Kost setzte, auf »einen Spinat und eine Ponade«.

Unsere Großmutter Vockel war auch täglich da und holte Erkundigungen nach der Kranken ein. Und »Grandmaman« Bartenstein, Mamas Mutter! – Wenn sie erschien, brachte sie Trost und Zuversicht. Sie sprach nie eine Besorgnis, immer eine Hoffnung aus. Immer lag der Widerschein heldenmütig bewahrten Seelenfriedens auf ihrem durchsichtig blassen Gesichte, dem das ihrer Tochter so ähnlich war. Immer schritt sie gerade aufgerichtet, schmal wie eine Gerte, in ihrer tiefen Witwentrauer dahin, und keiner vermochte wahrzunehmen, welch eine schwere Sorgenlast auf ihren zarten Schultern ruhte.

Voll Angst, weggeschickt zu werden, lehnten wir uns zurück auf unsern Stühlen, sooft jemand eintrat, mucksten nicht und spielten uns auf die Unsichtbaren hinaus. Wenn aber eine unserer Großmütter kam, standen wir auf und küßten ihre Hände. Sie würden uns nicht fortwinken, diese lieben, alten Hände, das wußten wir. Auch die gute Tante Helene hatte nichts gegen unser Dableiben einzuwenden; sie brachte uns manchmal sogar einen Gruß von Mama. Eines unvergeßlichen Tages kam sie aus dem Krankenzimmer sorgenvoller und bekümmerter denn je. Mama sandte meiner Schwester eine zärtliche Umarmung, und mich – es kam merkwürdig zögernd heraus –, mich ließ sie zu sich rufen. Ich jauchzte auf, ich wollte zu ihr stürzen. Die Tante hielt mich an beiden Schultern fest. Merkwürdig ernst und fast feierlich sprach sie zu mir. Sie stellte mir vor, daß Mama das Fieber habe und sich infolgedessen manches einbilde, das gar nicht sei. So bilde zum Beispiel die arme Mama sich jetzt ein, daß ich ein großes Unrecht begangen habe. Dafür wolle sie mir einen Verweis erteilen, und was sie wolle, müsse geschehen; sie dürfte um keinen Preis durch einen Widerspruch aufgeregt werden. Der Doktor habe es strengstens verboten. Und so müsse ich, weil sie durchaus darauf bestand, zu ihr kommen, müsse die Vorwürfe, die sie mir machen würde, schweigend anhören, um Verzeihung bitten und dann sogleich fortgehen. Dringend legte mir die Tante das alles ans Herz, und ich versprach gern, es zu tun. Ach, unsagbar gern! Was lag mir daran, von Mama ausgezankt zu werden, wenn ich sie nur wiedersehen durfte!

Zitternd vor Glückseligkeit betrat ich ihr Zimmer und wollte auf sie zueilen. Da streckte sie den Arm abwehrend aus.

 

Sie lag auf dem Ruhebette, in einen Schal gehüllt, eine Decke über den Knien. Ihr Kopf war in die Kissen zurückgelehnt, und mit Schrecken sah ich, daß ihr schönes, ihr geliebtes Gesicht ganz klein und auch seltsam verändert, fast fremd geworden war. Ihre weichen braunen Haare, die sich sonst in weichen Locken an die Schläfen schmiegten und die Wangen umspielten, waren glatt gescheitelt und von einer kleinen, weißen Haube bedeckt.

Am ungewohntesten aber war der Ausdruck der Augen, die mich mit unruhig gequälten Blicken ansahen. Sie sprach mühsam, mit klangloser Stimme, und – klagte mich einer Lüge an. Einer Lüge, des, wie man uns immer sagte, Schimpflichsten? . . . Das war ja gar nicht möglich, das war ein grausamer Scherz, und wenn mir nicht ein Schluchzen die Kehle zugeschnürt hätte – ich hätte gelacht.

Ein Wort stieß ich heraus, oder vielmehr, es kam von selbst, es drängte sich auf meine Lippen: »Mama!« und obwohl Tante Helene, die hinter das Ruhebett getreten war, mir Zeichen machte zu schweigen, wiederholte ich doch immer: »Mama«, als wäre sie es nicht, neben der ich da stand, als müsse ich sie herbeirufen können. Mich zu verteidigen fiel mir nicht ein; ich dachte nicht einmal daran, daß mir unrecht geschah. Ich fühlte einen dumpfen Schmerz, eine grenzenlose Betroffenheit und hatte zugleich die Empfindung: Es muß ausgehalten werden, es geht vorbei. Auf einmal wird meine Mama mich in ihre Arme nehmen, und alles wird gut sein.

Immer wieder rief ich sie an, mit dem einen angstvoll ausgestoßenen Worte. Sie wollte nicht hören, sie wies mich zurück, sooft ich nähertrat und ihre Hand zu fassen suchte.

Ohne Erbarmen wurde ich zuletzt fortgeschickt.

Ich bin damals im siebenten Jahre gewesen und bin heute im fünfundsiebzigsten. Wenn aber die Erinnerung an jene Stunde lebhaft vor mir aufsteigt, erwacht noch ein Reflex der Qual, die damals mein Kinderherz zerriß. Damals, als ich, nach der Ausweisung aus dem Zimmer Mamas, mich nicht entschließen konnte, seine Schwelle zu verlassen, nicht zu rufen, nicht zu pochen wagte, nur den Mund an den Türspalt preßte, an dem meine Tränen herunterliefen, und hineinhauchte, leise und jammervoll: »Verzeih! Verzeih!«

Dieses Wiedersehen mit meiner viel-, vielgeliebten Mama blieb das letzte.

Von Tag zu Tag stiegen die Besorgnisse um sie. Der furchtbare Ausspruch: »Keine Hoffnung mehr!« wurde getan, und eines Morgens kamen Großmama Vockel und Tante Helena verweint und übernächtigt zu uns und brachten die Trauerbotschaft.

In der Nacht, während wir schliefen, hatte Mama uns für immer verlassen . . . Für immer? – das ließ sich nicht begreifen. Wie hatte sie uns für immer verlassen können, die uns so liebgehabt?

Unser Vater ließ sagen, daß er uns sehen wolle, und wir gingen zu ihm.

Im Speisezimmer trafen wir »Grandmaman« Bartenstein. Sie trat aus dem Gemach ihrer entschlafenen Tochter uns entgegen. Wir blieben stehen. Ich erinnere mich der fast scheuen Ehrfurcht, die mich bei ihrem Anblick ergriff. Auf den Mienen meiner Geschwister malte sich, bewußt und unbewußt, dasselbe Gefühl. Es lag in dem Augenblick etwas Überirdisches in der Erscheinung dieser Frau. Ein so großartiges Bild der Resignation hat sich mir nie wieder dargeboten.

Man sagte uns, sie sei am Morgen gekommen, einige Stunden, nachdem sie die Meldung vom Tode Mamas erhalten hatte. Sie sei niedergekniet am Bette und habe gebetet, das Gesicht in den Händen, lautlos, tränenlos. Kein Beben durchlief ihre Glieder, kein Schluchzen hob ihre Brust, aber allen Anwesenden war, als wohnten sie einer feierlich ergreifenden Andachtsübung bei. Endlich hatte sie sich erhoben, hatte einen langen Kuß auf die Stirn der Toten gedrückt und war hinweggeschritten, aufrecht wie immer.

Jener fernen Vergangenheit mußte ich gedenken, als diese stille Heldin vor nun auch schon vierzig Jahren nach Zdißlawitz kam zur Hochzeit ihrer Enkelin, unsrer Sophie. Da besuchte sie zum erstenmal das Grab ihrer Tochter. »Laßt mich dort allein!« sprach sie mit einer Bestimmtheit, der niemand entgegenzutreten wagte. Nicht einmal auf dem Wege zur Gruft wollte sie begleitet sein. –

 

Unser Vater hemmte nicht den Ausbruch seines Schmerzes. Der starke Mann war völlig gebrochen, seine Stimme versagte, als er mit uns sprechen wollte, und er weinte mit seinen Kindern wie ein Kind.

Wir aber – wie bald stellte sich die Reaktion ein gegen alle die dunkeln und herzzerreißenden Eindrücke, die wir an diesem Tage empfangen hatten! – Wir spielten am Abend ganz vergnügt in den Zimmern der Kleinen. Plötzlich entsann ich mich dessen, was geschehen war, und sagte zu meiner Schwester: »Jetzt ist diese beste Mama gestorben, wir werden sie nie wiedersehen – warum sind wir denn nicht traurig?«

»Warte nur«, erwiderte sie, »wenn erst die schwarzen Kleider kommen, dann werden wir schon traurig sein.«

So spät wie noch nie traten wir die Reise nach Zdißlawitz an. Sie nimmt heute sechs Stunden in Anspruch; damals dauerte sie anderthalb, und wenn das Wetter schlecht war, zwei Tage. Im Reisewagen, uns gegenüber, auf dem Platze, den sonst Mama an der Seite unseres Vaters eingenommen hatte, saß Tante Helene. Schwermütiger Ernst an der Stelle erquickender Heiterkeit. Die traurige Jugend, die sie durchkämpft und durchduldet hatte in Mühsal und Leid, warf einen Schatten über ihr ganzes Leben.

Es war kein geringes Opfer, das sie ihrem Bruder brachte, als sie sich entschloß, die Leitung seines Hauses und der Erziehung seiner Kinder zu übernehmen. Sie gab damit ihre Unabhängigkeit auf und den Frieden ihres kleinen, mit kunstvoller Sorgfalt geführten Haushalts, um an die Spitze eines großen zu treten, in dem die verschiedensten Elemente sich geltend machen wollten und dessen Herr ein unglücklicher, schwerlebiger Mann war.

Als ein langes Fest war uns sonst die Reise erschienen, und die Vorbereitungen zu ihr schon so angenehm. Das Einpacken, besonders das der Unterrichtsgegenstände, die immer zuerst in den Koffern verschwanden, welch ein Genuß! Und die Fahrt selbst, das Rollen über die Landstraße, an den Pappelbäumen vorbei, durch Ortschaften und Dörfer. Das Wechseln der Pferde auf den Poststationen, das lustige Trompetengeschmetter, mit dem die Postillone uns gern ergötzten, denn sie wußten: »fürs Blasen« gibt's ein Extra-Trinkgeld.

Zuletzt dann, die Krone des Ganzen, die Ankunft in Zdißlawitz. War das ein Drängen im Schloßhof, wenn unsere Wagen hereinfuhren! War das ein Willkommenrufen und Versichern, man hätte die Stunde, die uns wiederbringen sollte, kaum erwarten können! Nicht minder herzlichen Willkomm als die Menschen bot die traute heimische Natur, boten die Felder, die Wiesen, die blütenüberschneiten Bäume am Rande der Wege und im Garten jeder Halm und jeder Strauch. Kein schöneres Wiedersehen aber als das mit unserer Lindenallee, unserem liebsten Spielplatz an heißen Sommertagen – o wie herzlich habe ich oft gewünscht, ein Riese zu sein mit ungeheuern Armen, um alle diese Wipfel umfassen und an mein Herz drücken zu können!

 

Nicht heiter wie sonst gestaltete sich nach dem Tode Mamas unsere Ankunft auf dem Lande. Nur ernste Mienen, nur Kundgebungen der Teilnahme empfingen uns. Unser erster Weg führte in die Gruft, wo eine Nische mehr zugemauert worden war. Wir kannten diese Stätte des Friedens gar gut. Sie lag jenseits der Straße in einem schattigen Parke, den wir Kinder täglich besuchten. Meine Schwester und ich traten oft in den stillen, kühlen Raum, um dort andächtig unserer Toten zu gedenken. Nun kamen auch die »Kleinen« mit uns, und wir beteten zusammen, denn neben unserer unbekannten-wohlbekannten Mutter schlief jetzt auch die ihre: unser aller vielgeliebte Mama.

Unsere Unterrichtsstunden beim Herrn Verwalter wurden nicht wieder aufgenommen. Meine Schwester und ich waren nun des Lesens und – wie man so sagt – des Schreibens kundig. Auch einige Begriffe vom Rechnen und von der Geographie hatte im Laufe des Winters ein mit Geduld reichlich ausgestatteter Lehrer uns in Wien beigebracht. Mademoiselle Henriette gewährte sich und ihren Schülerinnen spärliche Einblicke in die Geheimnisse der französischen Grammatik und gab uns täglich eine Anzahl Verse und eine halbe Seite Prosa zum Auswendiglernen auf.

Die Grammatik hätte unsertwegen ihre Geheimnisse für sich behalten können. Das allmähliche Auswendiglernen einer Anthologie, die Fabeln von Lafontaine und viele hübsche Gedichte enthielt, machte uns Vergnügen.

Eine sprudelnde Quelle des Glückes aber wurde mir die Histoire universelle von Louis Richard dit Bressel. Es gibt nicht viele Menschen, deren Umgang mich erfreut und bereichert hat wie mein Umgang mit diesem Buche. Dickleibig, großoktav, eng bedruckt auf dünnem Papier, in blau und grün marmoriertem Pappendeckel – so präsentierte es sich. Aber welchen Schatz barg das Innere dieser schlichten Erscheinung: eine Wünschelrute, die mich auf einen Wink in Sagenwelten versetzte, in dunkle, in sonnighelle, die ältesten Zeiten in rätselhafter Ferne vor mir auftauchen, mich die alten miterleben ließ. Bis zum Untergang des römischen Kaiserreichs führte sie, und ich folgte ihr, ob leidend, schmerz- und haßerfüllt, ob in jubelnder Bewunderung – immer voll brennender Spannung.

Es gab eine Zeit, da konnte man das Werk meines Historikers wo immer aufschlagen, mir einen Satz vorlesen und mich auffordern, weiter fortzufahren, ich versagte nicht. Und bis heute ist so manche Stelle dieses lieben Buches meinem Gedächtnis eingeprägt geblieben.

Felsenfest stand meine Freundschaft mit dem biederen Bressel, als ein Wundermann sich unserem Bunde anschloß.

Er hieß Perrault.

Nach der Sage und der Geschichte fand eine neue Bereicherung meines Daseins, das holde Märchen, sich ein. Und auch dieses reizumflossene Wesen ließ allen seinen Schimmer und all seine Pracht einem ärmlichen Schreine entsteigen. Die jetzigen Kinder denken's nicht, wie kümmerlich die Hüllen gewesen sind, in denen unsere größten Reichtumsspender sich uns darstellten. Perraults Märchenhort, von Madame Foa für kindliche Leser eingerichtet, bildete den Inhalt von einigen unscheinbaren gelben Bändchen. Hie und da erschien im Texte ein schwarzer Fleck, und wenn man recht aufmerksam hinsah, ließen Konturen sich erblicken. Ein Kopf kam zum Vorschein, eine Gestalt, die man als zu ihm gehörend vermuten durfte, und – o welches Entzücken, wenn man in ihr einen winzigen, aber ganzen Prinzen Percinet entdeckte! Ein paar Seiten weiter, und da stand eine Dame im Schleppkleid, hatte die Form einer Stangenbohne und statt des Gesichts einen Patzen Druckerschwärze, war aber in unseren Augen die Prinzessin mit den goldenen Haaren und schön wie das Morgenrot.

Ja, damals war er noch ein ganz junges Bübchen, saß auf dem Schoße seiner Mutter, und sie erzählte ihm die Märchen, die er später versinnbildlichen sollte mit seinem begnadeten Griffel, der Genius Gustave Doré.

Wir hatten ihn noch nicht zum Führer und Lenker. In vollster Freiheit waltete unsere Phantasie und wurde da schöpferisch, wo sie heute nur eine Nachempfinderin zu sein braucht. Meine Illustrationen zu Bressel und Perrault malte ich mir selbst in die Lüfte.

Es waren schöne Stunden der Kunstbetätigung, und sie schlugen mir in der Zeit, die ich an Sonn- und Feiertagen bei meiner Großmutter nach ihrer Rückkehr aus der Kirche zubrachte.

Die Fenster ihres Zimmers sahen links auf den Gruftgarten und rechts über die Felder und die Wiesen. Weit gedehnt auf hügeligem Boden, senkten und hoben sie sich wie mit müdem, sachtem Schwunge der fernen Bergkette zu, aus der, nur bei ganz klarem Himmel wahrnehmbar, der Hostein majestätisch emporragt.

In der Vertiefung des einen Fensters stand auf zarten geschwungenen Beinen der Arbeitstisch unserer Großmutter und davor ihr Stühlchen, eine ganz eigentümliche Sitzgelegenheit mit niedrigen Seitenlehnen und ohne Rückenlehne. Über dem Arbeitstische hing das Bild der verstorbenen Levrette. Als sie noch ein schmales Hündlein gewesen war, hatte sie ihren Ruheplatz auf dem Stühlchen hinter ihrer Herrin erhalten und das Recht, sich dort breitzumachen, im Sinne des Wortes rücksichtslos ausgeübt. Sie betätigte ihre Ausdehnungskraft zuletzt derart, daß unsere arme Großmutter sich dos-à-dos mit ihr nur noch halb im Schwebesitz behaupten konnte. Jetzt hatte Dame Levrette das Irdische längst gesegnet und saß, in Öl »auf Leinwand verewigt«, ihrer ehemaligen Lagerstelle gegenüber.

Immer fleißig, häkelte und strickte die Großmutter schöne Bettdecken, feine Strümpfe für uns, warme, dauerhafte Kleidungsstücke für die Armen im Dorfe. An Sonn- und Feiertagen arbeitete sie nicht. Da holte sie einen Band der Stunden der Andacht von Zschokke aus dem Schranke und vertiefte sich in dieses Lebenswerk des schweizerischen Schulmannes und Dichters. Es stammte von unserem Großvater, der Protestant gewesen war, und seine gut katholische Witwe erbaute sich daran.

Während sie ihre sonntägliche Feier abhielt, war ich abgereist nach dem Land der Träume.

In der Ecke neben dem zweiten Fenster befand sich ein großer Fauteuil. Vor ihn stellte ich zwei fausthohe Pferdchen aus Pappe, türmte alle Polster des Diwans auf ihn, erklomm den hohen Sitz, und nun – leb wohl, Vaterhaus, leb wohl, Heimat! Meine Pferde werden lebendig, ihnen wachsen schimmernde, rauschende Flügel, der alte Fauteuil wird eine goldene Muschel mit weißen weichen Seidenkissen und breiten Schleiersegeln, und ich fliege schneller als die schnellste Schwalbe über die Berge und über ein weites Meer in mein himmlisch lichtes Märchenland.

Von den Abenteuern, die ich dort bestand, von den Wundertaten, die ich dort ausführte, habe ich viele Jahre später – es ist nun auch schon lange her – einem kleinen Neffen erzählt, von mir dabei in der dritten Person. So stark sein Glaube auch war – daß die kleine, alte Tante selbst die Heldin all der Märchenromane gewesen, bei denen ihn oft gruselte, hätte er vielleicht doch bezweifelt.

Manchmal, wenn es besonders lang still geblieben war in meiner Ecke, wandte die Großmutter sich nach mir um und fragte: »Bist du noch da? Was tust du?«

Scheinbar tat ich nichts. In Wirklichkeit hatte ich eben einen Drachen getötet oder die greuliche Stiefmutter Grognon in ein Faß voll giftiger Schlangen geschleudert.

 

Der Sommer und der Herbst vergingen. Wir fuhren wieder nach Wien, und dort wurden zwei neue Lehrkräfte für uns bestellt. Ihre Aufgabe war, bei meiner Schwester und mir Talente auszubilden, von denen ich keines besaß. Während Fritzi bald zu den besten Schülerinnen des Tanzmeisters Monsieur Minetti gehörte, erlebte er keine Freude an mir. Jaleo de Xeres! du Kind des stolzen Spaniens, welch ein Schmerzenskind warst du für mich! Deine Posen und Pas studierten wir ein beim Geklapper unserer Kastagnetten und bei den Mißklängen der Gitarre, die am Halse Herrn Minettis an einem Bande hing, das einst himmelblau gewesen war. Am 24. Februar, dem Geburtstage Papas, sollten wir ihn und eine kleine gebetene Gesellschaft mit der Aufführung des iberischen Tanzes ergötzen. Aber schon im Jänner raufte Minetti seine grauen Lockenhaare und bombardierte den Plafond mit grimmigen Blicken. Ein Fiasko prophezeite er mir und sich statt eines »Divertissements«, das wir darbieten sollten. Dabei fuhr er mit dem breiten Daumen so wild über die Saiten seines armen Klimperkastens, daß er dröhnte. Manchmal stampfte er auch mit dem Fuße, doch nicht ohne Zierlichkeit.

Nur der Mühe, die meine Schwester sich mit mir gab, nur der unerschöpflichen Geduld, mit der sie mich anhielt, den unseligen Jaleo immer von neuem mit ihr einzuüben, dankte ich den kleinen Erfolg, den ich schließlich im Schatten ihres großen Erfolges errang.

Indessen – meine Leiden beim Tanzunterricht zählten nicht im Vergleich zu denen bei den Klavierstunden, die eine Frau Krähmer uns erteilte. Eine strenge Lehrerin und nicht bloß gegen mich, die musikalisch völlig Unbegabte, sondern auch gegen meine Schwester, die, talentvoll und fleißig, eine freundliche Behandlung verdient hätte. Doch erlitten auch ihre Finger harte Zurechtweisungen mittels eines Stabes aus Elfenbein, den Frau Krähmer immer bei sich führte und meisterhaft zu gebrauchen verstand. Seine Aufgabe war, die Noten anzuzeigen, auf die man eben seine Aufmerksamkeit zu richten hatte, aber er trieb mit Eifer eine Nebenbeschäftigung. Er sauste mit einer Sicherheit, die nie verfehlte, und einer Kraft, die nie versagte, auf den Finger nieder, der sich einer Abirrung von der richtigen Taste schuldig machte. Er traf den Knöchel so hart, daß es klapperte, und flog gleich wieder zu den Noten empor, und die hätte man genau unterscheiden sollen, wenn einem die Augen in Tränen schwammen? Einen Einwand zu erheben, wagten wir nicht; dazu war Frau Krähmer viel zu imposant. Nur eine der anderen vertrauten wir an, daß wir doch recht arme Kinder wären mit einem Drachen als Gouvernante und einer mitleidslosen Klaviermeisterin.

Ganz regelmäßig schloß mein Morgengebet mit dem dringenden Flehen: »Lieber Gott, mache, daß Frau Krähmer heute nicht kommt!« Daran fügte ich ein Direktiv für unseren lieben Herrgott. Nicht etwa weil ein Unglück sie getroffen hat, weil sie vielleicht auf der Straße überfahren worden ist. Nein, nichts Böses soll ihr geschehen sein, im Gegenteil, etwas sehr Angenehmes, aber nur etwas, das sie abhält, heute zu kommen. Wie ein richtiger Bettler sorgte ich nicht über das Heute hinaus.

Mein Gebet wurde nie erhört. Jeden Morgen mit dem Glockenschlag der zehnten Stunde sahen wir von unserem Fenster aus die Gefürchtete pflichttreu und pünktlich auf den Gang treten. Sie trug einen großen schwarzen Hut mit weit ausladendem Schirm, der unter dem Kinn festgebunden war und den sie nie ablegte. Ihr edles, schmales Gesicht sah aus seinem Hintergrunde hervor wie aus der Tiefe einer sehr schattigen Laube. Auch von ihren unförmlich großen und dicken grauen Handschuhen trennte sie sich nicht. Nur den dunkeln Tuchmantel, der mehrere Kragen hatte, wie zu jener Zeit die Mäntel der Fiakerkutscher, zog sie aus. Seltsam war's, wenn sich aus dieser weitläufigen Umhüllung eine mittelgroße, feine Gestalt herausschälte, der man die Kraft nicht zugetraut hätte, eine so schwere Last zu schleppen. Mit augendienerischer Beflissenheit suchten wir uns dabei unserer Lehrerin nützlich zu machen. Dann nahm eine von uns beiden Platz am Klavier, die andere setzte sich ans Fenster, faltete ein Blatt ihres Grammaireheftes vierfach zusammen und trug in die so hergestellten Abteilungen die Conjugaison eines Verbes gedankenlos und mechanisch ein.

Beim Fortgehen ermahnte uns Frau Krähmer, fleißig zu üben, und trabte fort auf Stiefeln, in ihrer Art ebenso wuchtig wie der Mantel. Mademoiselle spöttelte ihr nach, sie trage die Kleider ihres verstorbenen Gatten zum Andenken an ihn. Dieser unwürdigen Zuhörerin hatte sie erzählt, daß ihr Mann ein ausgezeichneter Musiker gewesen, vom Unglück aber immer verfolgt worden war. Seine Familie blieb, als er starb, in Armut zurück. Seitdem erwarb die Mutter das tägliche Brot für sich und für ihre fünf Kinder. Um auch nur zu ahnen, was das heißt, waren wir nicht gescheit genug. Zwei ihrer Söhne wollten auch Musiker werden. »Der ältere ist ein Genie«, sagt Madame Krähmer, »und wird ein großer Künstler und sehr berühmt und reich werden.« Bis dahin muß sie aber »courir le cachet« und Unterricht geben im Klavier, das noch dazu gar nicht »son instrument« ist. Ihre Meisterschaft übt sie aus auf der – man denke! –, auf der Klarinette! Mademoiselle fand kein Ende mit Witzeleien über diese Klarinette. Es war ja doch »le comble du ridicule«, daß eine Frau sich's einfallen ließ, anders als zum Spaße mit gespitzten Lippen in ein hölzernes Rohr hineinzublasen. Wirklich, einer solchen Geschmacklosigkeit war nur eine Deutsche fähig! Wir in unserer Abneigung gegen Frau Krähmer gingen gern auf diese Scherze ein und freuten uns wie auf eine große Ergötzlichkeit, als Großmama uns eines Tages ankündigte: »Frau Krähmer gibt ein Konzert im Musikvereinssaale, und ihr dürft mich dahin begleiten.«

Viel zu früh kamen wir; unsere Ungeduld hatte sich nicht bändigen lassen. Fast noch leer gähnte der Saal uns an, als wir eintraten, und füllte sich nur langsam. Kleine Füße kamen angetrippelt; die Schüler und Schülerinnen der Konzertgeberin erschienen unter der Obhut ihrer Eltern oder des Erziehungspersonales. Ehrenplätze nahmen einige ältere Herren ein, die von vielen jungen Männern und jungen Fräulein respektvoll begrüßt wurden.

»Das sind die Professoren«, sagte die Großmama.

Du lieber Gott, wenn man vor so einem spielen sollte!

Von den Darbietungen derer, die bei diesem Konzerte aus Gefälligkeit mitgewirkt haben, weiß ich nichts mehr. Aber vor mir schwebt deutlich, unvergeßlich ein ergreifendes Bild: Frau Krähmer zwischen ihren beiden Söhnen. Der jüngere, ein Jüngling von etwa fünfzehn Jahren, handhabte seine Viola mit Ruhe und erstaunlicher Sicherheit, stillvergnügt in der Ausübung seiner Kunst. Der ältere, der Violinspieler, war hoch aufgeschossen, hager und hatte auffallend rote Flecke auf den Wangen. Er wandte die leuchtenden dunkeln Augen nicht von seiner Mutter. Fragend, erratend ruhten sie auf ihr, und aus ihnen sprach Vergötterung. Ja, ich habe das gesehen! – oder vielmehr damals nur geahnt. Die größte Zärtlichkeit, die ein Menschenherz empfinden kann, die hervorgeht halb aus Begeisterung, halb aus Erbarmen, leuchtete aus diesem Sohnesblick.

Und sie, seine Mutter . . . Schüchtern fast war die gefürchtete Meisterin vor ihre Schüler getreten und stand da, eng umschlossen von einem schwarzen Seidenkleide, das in spärlichen Falten an ihr niederhing. O gewiß! wenn Kleider sprechen könnten, das ihre hätte gesagt: Was zerrt ihr mich aus meiner Dunkelheit ans Tageslicht, das zum Verräter wird an meinem Gebrechen? Eine ähnliche Sprache hätte wohl das kleine Spitzentuch geführt, das über der Brust Frau Krähmers gekreuzt war. Auf dem Kopf trug sie eine weiße unter dem Kinn gebundene Haube, und jetzt sah man erst, wie schön braun ihre glatt gescheitelten Haare noch waren und wie rein das Oval ihrer Wangen sich erhalten hatte. Und ihre Hände, die wir heute zum erstenmal ohne Hülle erblickten, mußte man bewundern. Schlanke Hände mit seelenvollen Fingern. Ihre Spitzen berührten abwechselnd eine oder die andere der blanken Klappen des Instruments, aus dem die Meisterin wie mit leisen Küssen liebliche Töne hervorlockte.

Heitere Melodien erklangen; manchmal glaubte man das silberne Lachen eines Kindes zu hören. Es hob sich hell ab von dämmeriger Begleitung. Die Stimmen der Viola und der Violine schmiegten sich ihr an, trugen sie, blieben immer voll Hingebung dienend und untertan, ob ihr tiefernster Gesang in breitem Strome flutete und brauste, ob er kristallklar dahinglitt mit seidiger Geschmeidigkeit.

Es war traumhaft schön. Man konnte eine Landschaft vor sich hinzaubern unter grauem Himmel mit weitem Ausblick in die Ferne; alle Umrisse unbestimmt, die Farben ineinander verschmolzen. Aber verborgen in den Zweigen eines Baumes hatte sich ein Vogel – der sang. Sang Licht und Duft und Farbe in die graue Landschaft hinein . . . O du gebenedeites Kehlchen! Gebenedeit vor allem, die uns von seinen Wundertönen träumen läßt – die Klarinette Frau Krähmers.

Mit fanatischer Bewunderung sah ich zu der genialen Künstlerin im dürftigen Gewand empor, mit derselben Empfindung, meine ich, mit der ihr Sohn sie ansah. Auch in meine Bewunderung mischte sich ein namenloses Mitgefühl. Ich bin ja damals nur ein unwissendes Kind gewesen, aber davon hatte ich gehört: Todesrosen nennt man die roten Flecke, die auf den eingefallenen Wangen junger, hagerer Menschen brennen. Sah die Mutter die Rosen auf den Wangen ihres Lieblings, ihrer Hoffnung, ihres Stolzes, nicht?

Beim Nachhausekommen wurden wir von Fräulein Henriette mit Gespöttel über den Genuß, den wir gehabt hatten, empfangen. Sie schrieb unsere Versicherungen, daß es herrlich gewesen sei, einem esprit de contradiction zu, den sie versprach uns auszutreiben. Meine Schwester schwieg und bat auch mich zu schweigen. An dem Tage schluckte ich denn meinen Ärger hinunter; als Mademoiselle aber am nächsten wieder anfing, sich über das Konzert Frau Krähmers lustig zu machen, brach ich los. All mein Groll und Haß gegen sie machte sich Luft, ich tobte, ich ließ mich durch ihre Drohungen nicht einschüchtern. Schwören möchte ich nicht darauf, fürchte aber sehr, daß ich ihr eine Ohrfeige angetragen haben dürfte. Und als sie, nicht minder zornig als ich, zu Papa zu gehen und mich bei ihm zu verklagen drohte, riß ich, tollkühn vor Wut, die Tür auf und rief: »Gehen Sie! Gehen Sie!«

Sie machte von meiner Einladung keinen Gebrauch; sie fühlte sich doch nicht so ganz im Rechte; aber eine Reihe von Strafen kündigte sie mir an, die damit anfing, daß ich in die Ecke treten und dort stehen mußte, bis Frau Krähmer zur Stunde kam.

Wir hatten ausgemacht, meine Schwester und ich, daß wir auf sie zugehen und ihr die Hand küssen würden. Doch verging uns bei ihrem Anblick der Mut dazu. Wir brachten nur stammelnd heraus, daß es gestern so schön gewesen wäre – so schön. Sie wies uns kurz ab; sie war nicht mehr die herzbezwingende Künstlerin, sie war wieder die strenge Lehrerin. Emsig wie immer flog der Elfenbeinstab vom Notenblatt herunter auf die Knöchel meiner Finger. Indessen – das große Mitleid ist eine große Kraft, eine, die doppelt wirkt. Sie beschützt den, der sie erregt, sie macht den unverletzlich, der sie empfindet. Die Klapse taten nicht mehr weh.

Diese Unterrichtsstunde war eine der letzten, die Frau Krähmer in unserem Hause erteilt hat. Der Frühling brach an, und wir verließen Wien. Nach unserer Wiederkehr sollten die Klavierlektionen wieder aufgenommen werden. Die Lehrerin wurde berufen. Sie kam nicht. Sie war, sagten ihre Hausleute, nach dem Tode ihres älteren Sohnes verreist. Wohin wußten sie nicht, vermuteten nur: nach Deutschland. Einige ihrer Schüler hatten schon Erkundigungen eingeholt, aber nichts von ihr erfahren können.

Weil sie tot ist, weil sie ganz gewiß tot ist, bildete ich mir ein und malte mir aus, wie traurig ihr Sterben gewesen sein mußte, in der Fremde, in Armut und Einsamkeit. Ich dachte oft an sie, träumte von ihr, sah sie vor mir stehen im Konzertsaale auf dem Podium zwischen ihren Söhnen. Und die Erinnerung an diesen ergreifend wehmütigen Anblick ist zum Ereignis geworden in meinem Leben. Sie hat dazu beigetragen, es auf die Tonart zu stimmen, in der es sich abspielen sollte. Ein Begriff war mir aufgegangen von dem Leiden, das in der Welt ist und neben uns hergeht mit erhobenem Haupte und geschlossenen Lippen, von einer Armut, die darbt und ringt, ohne je zu sagen: Gib! Hilf! Ganz unbestimmt noch, eben nur als leises Vorgefühl, war ein trotziges und selbstsüchtiges Mitleid in mir erwacht, ein Wille zum Leiden. Nicht weil die anderen etwas davon haben, sondern weil mein Leiden mir das ihre erleichtert.

 

Im Frühjahr 1839 begleitete ein neuer Hausgenosse uns auf das Land: Just Dufoulon, ein neunzehnjähriger bildhübscher Franzose – ein Erzieher für unsere Brüder in Gestalt eines guten Kameraden. Seine Mutter war mit ihm von Paris nach Wien gekommen und dort unser täglicher Gast gewesen. Sie wünschte die Familie kennenzulernen, an die sie den einzigen Sohn hingab. Es bestand eine Ähnlichkeit zwischen ihrem Schicksal und dem der Frau Krähmer; auch Madame Dufoulon war Witwe, auch sie setzte auf das Haupt eines geliebten Kindes alle ihre Hoffnungen – und ebenso schmerzvoll sollten sie getäuscht werden.

Vom ersten Tage an erschien »Monsieur Just« uns Kindern wie ein älterer Bruder. Der Respekt war da, aber die Liebe überwog.

An Liebe hat es ihm überhaupt bei uns nicht gefehlt, und nur allzu heiße brachte ihm ein Herz im Sturme dar, denn es war ein gar feuriges, es war das Herz seiner Kompatriotin.

Monsieur Just wurde der Anführer aller unserer Spiele und mein besonderer Freund, obwohl meine Eitelkeit oft schwer durch ihn litt. Er behauptete regelmäßig den Sieg beim jeu de barre und beim Wettlauf, und schlug er mich einmal nicht, dann war meine Demütigung erst recht groß. Dann fühlte ich mich von ihm als ein albernes Kind behandelt, das man gewinnen läßt, und dann strafte ihn mein entrüstetes: »Monsieur, vous trichez!«

Ich hatte im Garten einen Umkreis ausgemittelt, den ich in zehn Minuten zu umlaufen vermochte. Ich allein, niemand sonst, nicht einmal Mademoiselle. Doch mußte ich meinen Ruhm mit Seitenstechen bezahlen, die sich nach vollbrachter Heldentat einstellten.

Und nun begab es sich, daß Monsieur Just, dem ich eine Wette angeboten hatte, denselben Weg in fünf Minuten zurücklegte.

Tief betrübt und beschämt sah ich ihn an. Er war sehr rot, und auf eine kleine Genugtuung hoffte ich doch noch und fragte: »Monsieur, avez vous des picotements?«

Er lachte nur, er war herrlich bei Atem, und meine Brüder, diese miserablen Kleinen, bejubelten ihn, bejubelten den Sieg ihres jungen Galliers über die hannakische Atalante.

Bald danach war aber Monsieur Just in Gefahr, sein Ansehen bei ihnen einzubüßen.

In dem kleinen Park, wo die Gruftkapelle sich erhebt, breitet ein üppiger Wiesengrund, von prachtvollen Kastanienbäumen und dichten Gebüschen umsäumt, seinen blumendurchwirkten Teppich aus. Dorthin hatten wir an einem heißen Sommernachmittag unsern Spielplatz verlegt. Ein »Cinquante et un« war eben im besten Gange, als plötzlich in dem Geäste und Gezweige über uns kreischendes Vogelgezwitscher laut wurde. Todesbang und kriegerisch zugleich, ein verzweifelter Schlachtruf, pflanzte es sich weit und weiter fort. Hunderte von kleinen Stimmen waren laut, piepsten, pfiffen, kleine Flügel rauschten, das gefiederte Völkchen schoß umher wie toll. Man kennt den Grund eines solchen Aufruhrs. »Ein Raubvogel! Ein Raubvogel!« riefen wir und rannten ins Freie, auf die Wiese hinaus.

Und richtig, wir sahen ihn. Ruhig und majestätisch und scheinbar regungslos schwebte auf ausgebreiteten Schwingen der Gefürchtete, der Gehaßte, der den jungen Vögeln im Neste die Mutter raubt, Wachteln würgt und Rebhühner und unsere armen Tauben . . . ein riesiger Geier. Monsieur Just, die Brüder wurden wie von einem Fieber ergriffen. – Ein Gewehr . . . O Gott, wer eines hätte und den Übeltäter herunterschießen könnte! Ein Gewehr . . . Ach, der Papa hat so viele Gewehre – aber niemand würde wagen, eines nur anzurühren ohne seine Erlaubnis . . .

Monsieur Just und Adolf, der schöne, starke, rotwangige Junge, sind ratlos; dem kleinen Viktor kommt ein Gedanke. Im Bedientenzimmer, da hängt an der Wand ein altes Geschütz, ein Tromblon, und ist immer geladen. Er weiß das. Also vorwärts! Her damit! Monsieur Just rennt, stürzt dem Schlosse zu, die beiden Büblein ihm nach . . . Sie kommen nicht weit, er ist schon hinter der Kapelle verschwunden, während sie kaum die Mitte der Wiese erreicht haben. Dort stehen sie und warten und »fippern« vor Spannung und Ungeduld, und wir stehen bei ihnen und warten und »fippern« auch. Der Geier hat einen Stoß nach abwärts gemacht, spreizt sich völlig herausfordernd: Zielt nur, trefft! Die Aufregung der Brüder ist unbeschreiblich. Adolf glüht vor Blutdurst, Viktors bis zur Pein gesteigerte Spannung gibt ihm einen Stich ins Gelbe; er möchte seine schmächtige Gestalt bis zum Geier hinaufdehnen können, er streckt sich, er hüpft ratlos bald auf der einen, bald auf der anderen Fußspitze. Mademoiselle ist dieses Mal eines Sinnes mit uns und verkündet jubelnd die Rückkehr Monsieur Justs . . . sie hat ihn zuerst erblickt auf dem Wege vom Schlosse her. Nur unsere Älteste will nicht, daß geschossen werde, und verstopft sich die Ohren. Aber da hilft nichts mehr, der Schütze kommt gestoben, rennt wie ein Verfolgter und ist es auch – es sind Leute hinter ihm her, sie schreien ihm nach, sie drohen . . . Mademoiselle Henriette versteht etwas Deutsch, etwas Böhmisch, sie ist auf die Warnungen aufmerksam geworden, die Monsieur Just zugerufen werden. Wir haben ihn mit Ausbrüchen der Begeisterung empfangen. Er steht da, den unförmigen Schießprügel in den Händen, sieht sieghaft empor, legt an . . . Da fällt Mademoiselle ihm in den Arm und schreit: »Au nom du Ciel, ne tirez pas!«

»Halt!« lassen sich nun schon aus der Nähe die Stimmen des Zimmerwärters und anderer Diener vernehmen. »Nicht schießen! Das alte Zeug platzt Ihnen in der Hand!«

Voll Entsetzen erklärt Mademoiselle dem jungen Mann, an den sie sich herandrängt, die Bedeutung dieser Worte. Er wehrt sie ab, zögert aber doch . . .

Und nun stürzt der kleine Viktor vor Monsieur Just auf die Knie. Er hebt die Arme zu ihm empor, er verschlingt krampfhaft die Finger und keucht und fleht: »Tirez! Je vous aimerai! je vous adorerai! Tirez! tirez!«

Der heiße Wunsch seines Kinderherzens blieb unerfüllt. Monsieur Just ließ sich überzeugen, daß es Unsinn wäre, die Muskete in Gebrauch zu nehmen, die soviel Neigung zeigte, aus Ärger darüber, daß man ihr eine Anstrengung zugemutet hatte – zu bersten.

»Aber der Geier! der Geier!« schreien die Buben. Die Leute beruhigen sie: »Geduld! Der Franz« – das war Papas Büchsenspanner – »kommt schon, wird gleich dasein, der holt ihn herunter.«

Der Franz! . . . Nun stehen alle unsere Hoffnungen auf dem Franz. Zum größten Glück läßt er nicht auf sich warten. Meine Brüder und ich, wir laufen ihm entgegen. »Hierher! da, sehen Sie, da!« Wir rufen alle durcheinander, jedes weiß den Platz am besten, auf dem Franz sich aufstellen soll. – »Da?«

Franz schaut in die Höhe, schaut und schaut und murmelt etwas, das einem Fluch zum Verwechseln ähnlich ist.

Der stolze Vogel hatte seine Feindesschar mit einem leichten Flügelschlag gegrüßt, in ruhiger Majestät einen großartigen Kreis umschrieben und war dann plötzlich wie ein abgeschossener Riesenpfeil am Himmel hingeflogen und verschwunden.

Viktor ballte sein Fäustchen gegen Monsieur Just. »Poitron, va!« sagte er.

Und noch von einem an Gemütsbewegung nicht minder reichen Erlebnis aus jener Zeit weiß ich zu berichten; von einer Begegnung mit einer Katze.

Von klein auf hatte ich einen Abscheu gegen das ganze Geschlecht dieser samtpfötigen Raubtiere, dieser Vogelmörder mit dem unhörbaren Schritt, den widerwärtig weichen Bewegungen, den falschen phosphoreszierenden Augen. Mich überlief's bei ihrem Anblick, Hände und Füße wurden mir eiskalt, ich zitterte am ganzen Leibe, wenn meine Geschwister ein Kätzchen ins Zimmer brachten. Das kam übrigens selten vor, auch mein Vater liebte diese Tiere nicht, man hielt sie nicht im Hause und verjagte sie aus dem Garten.

Eines Tages ging ich über den Hof, der Lindenallee entgegen an den hohen Blumengestellen vorbei. Zwischen einem von ihnen und den Gebüschen, die seine Rückwand verdecken, befand sich ein Bottich mit Wasser zum Begießen der Blumen. Da, wie gesagt, ging ich vorbei und vernahm plötzlich ein Kratzen und Plätschern, wie wenn sich etwas aus dem Wasser herausarbeiten wollte und immer wieder hineinplumpste; dazwischen, dünn und schrill, ein angstvolles, hilfeheischendes Miauen. Es durchblitzte mich . . . Eine Katze! Eine Katze ist ins Wasser gefallen – oder hineingeworfen worden . . . Es gibt böse Menschen, die so etwas tun, die grausam sein können gegen Tiere . . . Haben wir nicht unlängst eine Fledermaus gesehen, eine jämmerliche! Der Sohn des Gärtners hatte ihre Flügel an ein Brett genagelt . . . Wie sie pfiff, wie ihr kleiner Körper bebte, wie sie rang . . . Oh, herzzerreißend! – und dort die Katze, die krallt und miaut, ringt auch um ihr Leben . . . und das muß qualvoll anzusehen sein . . . Ich wandte mich und eilte vorbei. Aber bald regte sich das Gewissen und auch – die Eitelkeit. Soll ich sie zugrund gehen lassen, weil sie mir zuwider ist? Es wäre schlecht, es wäre feig! . . . Ich werde doch nicht feig sein – ich!

Also zurück durchs Gebüsch und mutig hinzugetreten an die Stätte des Grauens . . . Mutig, ja, das war ich im Vorsatz, in der Tat elend vor Angst. Es wurde schlimmer, je näher ich dem Bottich trat, es wurde Entsetzen, als ich, mich auf die Fußspitzen stellend, ein scheußliches Ding gewahrte, ein mit dunklem, struppigem Fell überzogenes Skelett . . . Es haut um sich mit langen, dürren Beinen, es krümmt einen fürchterlichen Rücken . . . Wie Knoten in einem Stricke stehen die Knorpel hervor . . . Und danach die Hand ausstrecken, es anrühren, das sollst du, das willst du? . . . Ich tu's! . . . Vom Fieber des Abscheus geschüttelt, ergreife ich das Ding und hebe es in die Höhe. – Aber da ringelt sich sein fadendünner Schwanz, da faucht es mich an, setzt an zum Sprung in mein Gesicht . . . Oh, du Miserables! Empört und schaudernd werfe ich es auf den Boden und laufe davon und bilde mir ein, daß es mir nachläuft . . . ja, ja, ich höre es, es faucht, es ist schon nahe, es wird mich erreichen, an mir hinaufspringen . . . Und ich renne mit klopfendem Herzen, mit versagendem Atem, ich Heldin, vor einem eingebildeten Verfolger durch Gartengänge, über Wege und Wiesen, bis meine Füße versagen und ich in Angstschweiß gebadet niederstürze . . .

Ich weiß die Stelle gar gut, und wenn ich an ihr vorbeikomme, gedenke ich noch oft lächelnd jener Schreckensstunde.

Am nächsten Tage fragte ich den alten Gartengehilfen: »Sag mir, wer wirft denn da bei uns Katzen ins Wasser?«

Ob ich das Vieh in dem Bottich meine? Ja, das hatte er hineingeworfen. Aber es krabbelte sich heraus, und da schlug er es tot.

Totgeschlagen hatte er's! Und womit denn? – »Ja, mit der Schaufel; mit der da. Was eine Katze ist, wird nicht geduldet im Garten. Und das war nicht einmal eine rechte, war so was Halbes.«

»Und was war denn die andere Hälfte? vielleicht ein Ratz?«

Er gab darüber keine Auskunft, und ich war im stillen ganz zufrieden mit dieser Lösung der Dinge, betrachtete aber doch das Mordinstrument mit Gruseln und auch ihn, der etwas erschlagen hatte.

Wie zur Rechtfertigung wiederholte er, daß Katzen im Garten durchaus nicht geduldet werden dürfen.

»Nicht einmal halbe?«

»Oh, die schon gar nicht!«

 

In dem Gedichte in Prosa Schattenleben gab ich Rechenschaft von einer eigentümlichen Vorstellung, mit der ich meine ganze Kindheit hindurch gespielt habe.

Da hat es mich denn sehr überrascht, als ich kürzlich in einer von Tolstoi erzählten Geschichte seiner Jugend die Schilderung der ganz gleichen Erscheinung fand. Auch er hat unter ihrem Banne gestanden, und ich habe seitdem gehört, daß es sich damit nicht um etwas Exzeptionelles bei Kindern handelt. So manche sollen von dem Zweifel an der Wirklichkeit dessen, was sie umgibt, heimgesucht sein. Bei mir hatte der Zweifel sich allmählich zur Überzeugung herangebildet.

Der Himmel, zu dem ich emporsah, die Sonne, der Mond, die Sterne und die Landschaft, die mich umgab, und was sie belebte oder vielmehr zu beleben schien, das alles war nicht. Meine Augen nur zauberten es hin. Wohin mein Blick fiel, wölbte sich das Firmament, breitete ein Stück Erdenwelt sich aus. Wohin aber mein Blick nicht drang, da war das Nichts, die Leere. Vor mir die Welt, hinter mir das schreckliche Nichts, grau, stumm, tot. Oh, wie brannte ich darauf, ihm einmal auf die Spur zu kommen, diesem Nichts! Unheimlich war's und häßlich, sich immer sagen zu müssen: Es gähnt hinter dir her, macht sich breit in seiner grenzenlosen Armut und unaussprechlichen Langweiligkeit.

Nein, ich wollte mich nicht beständig von ihm narren lassen, ich wollte es entlarven und ihm auf sein schnödes Geheimnis kommen.

Und ich rannte, so schnell ich nur konnte, in den Garten tief hinein bis an den Zaun, und dort, rasch wie ein Blitz, sah ich mich um . . . Aber da war schon wieder alles aufgestellt, die Gesträuche, die Bäume, Blumenbeete und Wiesen. Meine Augen waren immer zu langsam gewesen, kamen immer zu spät.

Manchmal faßte ich kühne Entschlüsse. Wenn die Menschen nicht sind, wenn ich sie mir nur einbilde, will ich sie mir so einbilden, wie sie sein müßten, um mir bequem und angenehm zu sein. Ich will mir einen Papa einbilden, den ich nicht fürchte, und eine Gouvernante, die mich nicht quält. Und einem in dieser Weise umgestalteten Papa, einer Mademoiselle Henriette, die eitel Liebe und Güte war, begegnete ich dann mit einer unbefangenen Vertraulichkeit, die äußerst mißfälliges Staunen erregte und mir manche Strafe zuzog. Das war gleichsam der stimmende Akkord zu der Erfahrung, die ich im späteren Leben so oft machen sollte. Über keines der Wesen, die ihre Existenz wirklich nur unserer Einbildungskraft verdanken, haben wir unumschränkte Macht. Wir können sie ins Leben rufen, sie aber nicht handeln lassen nach unserm bloßen Gefallen. Sind es Menschen, die den Namen verdienen, dann haben sie ihre eigenen Gesetze, müssen tun nach ihrer eigenen Natur und sich aus diesem Tun ihr Schicksal bereiten.

Zu jener Zeit, in der die irdische Welt mir zu einer Sinnestäuschung herabgesunken war, hatte ich mir eine andere, eine so schöne hergestellt, wie eine Kinderphantasie sie nur jemals erschuf. Sie befand sich weit drüben jenseits der Berge und eines großen Meeres. An heißen Sommertagen, wenn die Sonne im Scheitel stand und die Sonnenstäubchen glitzerten wie Diamanten – wenn ich da recht lang zum Himmel hinaufblickte, da glaubte ich in der leuchtenden Bläue mein Land sich spiegeln zu sehen. Seine Wälder blieben immer dicht, immer blühten seine Blumen und reiften seine Früchte. Die Männer waren hohe Göttergestalten, die Frauen alle wie Feenköniginnen. Die Hauptsache aber waren die unzähligen Kinder, von denen mein Land wimmelte. Sehr verschiedene Kinder und durchaus nicht alle gut und schön, aber alle so vollkommen frei wie junge Füllen auf unabsehbaren Weiden. Ich malte mir ihr buntes Treiben, ihre Spiele und ihre Kämpfe aus, ich dachte mich in sie hinein, ich war sie. Einmal die, einmal der, einmal das mit allen Tugenden geschmückte opferdurstige kleine Mädchen, einmal ein übermütiger, wilder Junge. Nicht immer konnte ich dann die Gestalt, in der ich eben einhergewandelt war, sofort ablegen. Es blieben Überreste von ihr an mir haften. Und wieder überraschte ich meine Umgebung durch ein Gebaren von ganz besonderer Art. Gewöhnlich holte meine Schwester mich herab von einem Gipfel der Vollkommenheit oder strafte mein keckes und bubenhaftes Benehmen, indem sie ein sehr trauriges Gesicht machte, mich mit schmerzlicher Mißbilligung ansah und sagte: »Du bist aber heute wieder so kurios!«

Damit brachte sie mich augenblicklich zu mir, denn »kurios« sein wollte ich um keinen Preis. Es erschien mir, ohne daß ich einen Grund dafür hätte anführen können, sehr schimpflich.

Allmählich genügte es mir nicht mehr, nur in Gedanken in meinem Lande zu weilen, und ich eröffnete eine Korrespondenz mit seinen Bewohnern. Ich schrieb kleine Briefe auf das feinste Papier, das ich auftreiben konnte, und übergab es den Lüften zur Besorgung. So wurde Uhlands guter Rat: »Gib ein fliegend Blatt den Winden« von mir befolgt, bevor er mir zur Kenntnis kam.

Glückwünsche zu dem beseligten Leben, das meine fernen Freunde führten, Ausbrüche der Sehnsucht und Grüße bildeten den Inhalt meiner Briefe. Ich schrieb jeden mehrmals ab, bevor er mir endlich würdig schien, seine Reise anzutreten. Wenn er aber so weit gebracht war, dann kannte meine Ungeduld, ihn abzuschicken, keine Grenzen. Da gab's nur noch einen Wunsch: den günstigsten Augenblick erspähen, in dem ich ihn seinen Flug unbemerkt antreten lassen konnte. Eine Stelle war dazu auserwählt; sie befand sich in der südöstlich gelegenen Ecke, die der Garten gegen die Fahrstraße und die Felder bildet. Ein Erdhügel ist dort aufgeschichtet, der einem Gartenhause zum Postament diente, einem hölzernen, weiß angestrichenen Rundbau mit rotem Kuppeldache. Die kleine Anhöhe bietet an sonnigen Sommertagen eine freundliche Aussicht auf die wellige, fruchtbare Landschaft, auf das in weichen, warmen Tönen schimmernde Marsgebirge, auf den abgestumpften Kegel des Klum, der jetzt bewaldet ist, auf dem aber damals nur ein paar einzelne Bäume standen.

Für uns knüpft sich an ihn eine Erinnerung, die mir etwas Ergreifendes hat.

Im Jahre 1829 kehrte unser Großvater Vockel aus Pyrmont, wo er vergeblich Heilung von einem Brustleiden gesucht hatte, zurück. Auf dem Gipfel des Klum ließ er den Reisewagen halten, stieg aus und überblickte zum letztenmal die Stätte seiner langjährigen und erfolgreichen Tätigkeit. Ein verwahrlostes Gut hatte er übernommen, ein sorglich und weise gepflegtes, das seine Freude geworden war, schickte er sich an für immer zu verlassen. Klein mußte von dort oben das Bereich seines Strebens und Wirkens ihm erscheinen und nur wie ein weißer Strich im Grün sein geliebtes Haus. Aber sagen durfte er sich, daß er in diesem kleinen Bereich zum Segen gewaltet hatte und daß sein Wohnort für die Hütten in seiner Nähe Schutz und Schirm gewesen war.

Und nun, nicht ganz zwei Jahrzehnte später, stand die törichte Enkelin dieses Edlen und Weisen dem Klum gegenüber und hielt einige mit großer Kinderschrift beschriebene Papierstreifen in der Hand: ihre offenen Briefe an unbekannte Empfänger.

Sogar an – bei uns seltenen – windstillen Tagen war das Gartenhaus auf seinem Hügel von unermüdlich spielenden Lüften umweht. Immer war ich sicher, dort den Boten bereit zu finden, der mein Sendschreiben übernehmen und befördern sollte. Am schönsten war's bei heftigem Sturme, wenn die Wetterfahne, die in Gestalt eines Blätterkranzes das Dach bekrönte, sich knarrend drehte und das Ährenmeer auf den Feldern große Wellen schlug.

Dem Sturm vertraute ich mit Entzücken meine papiernen Brieftauben an, hielt sie hoch empor, war glücklich, wenn er sie mir entriß und sie bald nur noch wie weiße Pünktchen vor meinen Augen aufblitzten im Sonnenlicht . . . flogen, flogen – und meine Gedanken ihnen nach. Wer wird sie finden? Ein Mann, eine Frau, ein Kind? und sich wundern, sich freuen und fragen: Wer schickt mir diesen Gruß! Wer schreibt mir so schöne, liebe Sachen?

Nie trat die Versuchung mich an, von meinem Verkehr mit den Freunden jenseits der Berge und Meere gegen irgendwen auch nur die geringste Erwähnung zu tun. Vielleicht leitete mich dabei eine unbestimmte Angst vor einem Zweifel, einem Spott, der den Filigranbau meiner Träume erschüttert oder mir seinen Schimmer, wenn auch nur mit einem Hauch, getrübt hätte.

 

Zdißlawitz hat keine eigene Kirche; die Gemeinde ist in dem benachbarten Dorfe Hostitz eingepfarrt. Die Fahrstraße, die beide Orte verbindet, läuft bergab und bergan im Bogen zwischen Obstbäumen, Feldern und Hainen. Die Sehne dieses Bogens bildet ein Fußsteig, auf dem unsere Dorfleute in zwanzig Minuten aus ihren Behausungen zur Kirche gelangen. Bei gutem Wetter nämlich; denn bei schlechtem, wenn der Regen unsern lehmigen Boden durchweicht und kniehoch in einen zähen Brei verwandelt, dann gibt es keine Berechnung der Distanzen mehr, und das Anlangen auch des besten Schreiters an seinem Bestimmungsorte wird zur problematischen Sache.

In Hostitz, in der kleinen Lokalei, die heute den Titel einer Pfarrei führt, ohne deshalb stattlicher geworden zu sein, lebte unser allerbester Freund, der hochwürdige Herr Pater Borek. Er hatte meine Eltern getraut, mich getauft, unsere Mutter zu Grabe geleitet. Er hat meiner Schwester und mir die Lehren eines milden Christentums vermittelt. Zweimal wöchentlich kam er zur Unterrichtsstunde am Vormittage, blieb zu Tische bei uns, und wenn er den Heimweg antrat, gaben wir Kinder ihm das Geleite.

Meine Schwester und ich hatten es nie besonders eilig und wichtig, die Vorbereitungen zu einer Lektion zu treffen. Wenn aber die Religionsstunde in Sicht kam, da entwickelten wir eine ameisenhafte Tätigkeit im Herbeischleppen der unnötigsten Dinge. Ein Tintenzeug, das nie gebraucht wurde, Schreibhefte, deren blütenhafte Unschuld immer unberührt blieb, ein Polster für den Stuhl des geistlichen Herrn, das er immer hinwegtat, bevor er sich setzte. Auf dem Kanapee Platz zu nehmen, konnten wir ihn nicht bewegen. »Was Ihnen einfällt! Das schöne Kanapee . . . Das ist doch nicht zum Draufsetzen da?« – Schön? Nun, wenn er's sagte! Es stand am Pfeiler zwischen den zwei Fenstern, hatte plumpe, mit Holz eingefaßte Lehnen und trug ein Wollkleid von unerklärlicher Farbe. Eine Art Gelbgrün, über das ein grauer Hauch hinwehte. Ihm gegenüber, an der Langseite des Tisches, ließ Pater Borek sich nieder; wir zwei, die eine rechts, die andere links von ihm, nahmen die Schmalseiten ein. Wenn beim »Aufsagen« des Katechismus oder der biblischen Geschichte eine Stockung eintrat, wartete unser gütiger Religionslehrer und schwieg und sah ins Gelbgrau hinein mit seinen kleinen geduldigen Augen, die immer trauriger wurden, je länger die Stockung dauerte. An der Wand, gerade vor mir, machte ein niedriger Schrank sich breit, auf dem unsere Menagerie in stattlicher Reihe paradierte. Zu jedem Geburts- und Namenstage bekamen meine Schwester und ich ein Tier aus Carton-pierre, ein wildes oder ein zahmes, zum Geschenk. Famose Geschöpfe! nur – etwas heimtückisch. Wie sie es anstellten, wer weiß es? Gewiß aber ist: sie verstanden nie, sich so interessant zu machen als während der Religionsstunde. Förmlich in einem neuen Lichte erschienen sie, es war ein Genuß, sie anzusehen. Der Elefant entwickelte eine ungewohnte Anmut, die Tigerin lächelte hold. Wir müssen ihnen einmal gar zuviel Aufmerksamkeit zugewendet haben, denn der Herr Lokalist, dieses Urbild der Langmut, sah sich zu der Warnung genötigt, er werde ein Tuch breiten lassen über unsere Tiere, wenn ihr Anblick uns zerstreue.

Wir blieben starr. Ein Ereignis ohne Beispiel: der geistliche Herr drohte mit einer Strafe! Ich weiß nicht, was in diesem Augenblick größer gewesen sein mochte, unsere Beschämung oder der Wunsch, uns in seiner Meinung zu rehabilitieren.

Am Abend, nachdem man uns zu Bette gebracht – wir zwei Großen hatten jetzt unser eigenes Schlafzimmer –, wurde Rat gehalten und das Mittel bald gefunden, dem guten Pater zu beweisen, wie zweckmäßig die Maßregel gewesen wäre, die er uns in Aussicht gestellt hatte.

Als er wiederkam, empfingen wir ihn mit siegreichen Mienen und nahmen hastig unsere Plätze am Tische ein. Dabei gab's ein unterdrücktes Gekicher, ein Hin- und Herschießen von Blicken an Pater Borek vorbei, ein verstohlenes Gucken nach der Menagerie. Wird er es endlich merken? – Vivat! Endlich merkte er etwas. Er wandte sich, seine Augen folgten der Richtung der unseren, und nun sah er, daß wir seine Worte in Ehren gehalten und unsere Tiere eigenhändig verhüllt hatten mit unseren Umhängtüchern. Sie waren leider nur etwas zu klein, und von einer Seite guckte ein halber Dachshund, von der anderen ein halber Löwe aus dem Versteck hervor.

Meine Schwester sprach, mit wichtiger Miene auf die mangelhafte Umkleidung deutend: »Wissen Sie, Hochwürden, damit unsere Tiere uns nicht zerstreuen.«

Er seufzte: »Aber! Aber!« und blickte ratloser denn je ins Gelbgraue. Unsere ausgebreiteten Umhängetücher, der halbe Dachshund, der halbe Löwe zerstreuten uns viel mehr, als der vollständige Aufzug der Vierfüßler jemals getan hatte.

Vom achten Geburtstage Fritzis an wurden wir mitgenommen, wenn man sonntags nach Hostitz zur Kirche fuhr. Gut vorbereitet durch den geistlichen Herrn, wohnten wir der Messe mit inbrünstiger Andacht bei.

Der Anblick der vielen Betenden, der Ausdruck ihrer Gesichter, ihr Gesang rührte und ergriff mich in der Seele. Ich liebte sie, ich fühlte mich mit ihnen verwandt, weil ich auf derselben Erdscholle wie sie geboren war. Erhebend wirkte auf mich der Klang der Orgel, und mit einem Entzücken, das kein Wort zu schildern vermag, flatterte und bebte mein ganzes Herz der Erscheinung unseres Herrn entgegen, und jubelvolle Demut erfüllte mich, wenn der Glockenklang feierlich seine Ankunft verkündete. Der Herr des Himmels und der Erde ließ sich nieder zu uns, kam zu uns in unsere kleine, schmuckarme Kirche, erfüllte uns mit den süßen und heiligen Schauern seiner göttlichen Gegenwart . . .

Aufmerksam verfolgte ich jede Bewegung und jeden Schritt des Priesters am Altare, merkte mir genau seine laut gesprochenen und den Tonfall seiner nur gemurmelten Worte.

Beim Nachhausekommen holte ich dann eine Schachtel herbei, die ein vollständiges Meßgerät aus Zinn enthielt, und versuchte nun selbst die Messe zu lesen. Meine Schwester ministrierte, wenn auch ungern, und mußte sehr gebeten werden, bevor sie sich dazu herbeiließ. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte sie, »es scheint mir nicht ganz recht.« Aber ich wußte sie zu überreden: ich machte ihr klar, daß wir dem Pater Borek eine neue, viel schönere Überraschung als die letzte bereiten würden, wenn wir einmal unser kleines Meßopfer vor ihm darbrächten. Da sieht er doch, wie wir achtgeben in der Kirche und wie gut wir uns alles, was dort vorgeht, merken.

Sie blieb zwar bei ihrem: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, beugte sich aber, wie gewöhnlich, meinem Willen.

Eines Nachmittags wurde denn der geistliche Herr eingeladen, in das Zimmer Großmamas zu treten, die ins Geheimnis gezogen war. Er und sie nahmen Platz vor einer Doppeltür in der Tapete. Ihr äußerer Flügel stand offen, von innen war sie weiß ausgelegt, und in ihrer Vertiefung hatten wir unseren Altar errichtet. In feierlicher Stimmung erschienen wir, meine Schwester das Glöcklein schwingend, ich hinter ihr, den verdeckten Kelch in den Händen, ganz Andacht und Versunkenheit. An unsere kleine Gemeinde dachten wir nicht während der unbefugten Darbringung unseres Opfers. Aber als wir, die Konsekrierende und die Ministrierende, ernst, wie wir gekommen waren, von dannen schritten, sah ich den geistlichen Herrn erwartungsvoll an und rechnete auf einen freundlichen, beifallspendenden Blick. Statt dessen begegnete ich einem sehr befremdeten. Pater Borek sah traurig und fast wie verlegen aus. Wir hatten ihm mit der unbefugten Ausübung einer heiligen Handlung kein Vergnügen gemacht.

»Siehst du, es war nicht recht«, sagte meine Schwester, als wir in unser Zimmer zurückkehrten.

Sie legte das Kamisölchen ab, das sie angetan hatte, um aufs Haar einem Sakristan zu gleichen; ich entledigte mich der zwei Schürzen, die, eine nach vorn, die andere nach rückwärts gebunden, ein Meßgewand vorstellen sollten. Langsam räumten wir das Meßgerät wieder in seine Schachtel ein, recht mit dem Gefühl: zum letztenmal und für immer.

Bald darauf sollte mein treuer Seelsorger noch weit Schlimmeres durch mich erfahren.

Er bereitete uns in seiner mild eindringlichen Weise zur ersten Beichte vor, und ich malte mir gar deutlich die Wonne aus, die mich ergreifen würde nach der Lossprechung von allen meinen Sünden. Sie sind ausgelöscht, sind wie nie begangen: ich werde keine Gewissensbisse mehr haben, weil ich unhöflich war gegen das Stubenmädchen, voll Streitlust gegen meine Brüder, weil ich so heiß gewünscht habe, ein tüchtiger Prügel möge aus den Wolken niederfahren und der Mademoiselle blaue Flecke schlagen. In engelhafter Reinheit werde ich aus dem Beichtstuhl treten, und engelhafte Freude wird mein Herz erfüllen.

Diese Aussicht war entzückend, aber furchtbar die Angst, früher oder später doch wieder in meine alten Fehler zu verfallen und den Glanz meiner Seelenschönheit zu trüben. Ach – wer sterben könnte, gleich nachdem er sündenfrei geworden ist! Er wäre gerettet, er würde pfeilgerade auffliegen in den Himmel und von dessen Bewohnern empfangen werden wie ein Heimgekehrter von den Seinen.

Aus dem brennenden Wunsche nach einem so herrlich erlösenden Tod keimte und reifte auch sehr bald der Entschluß, ihn herbeizuführen. Das konnte ich ja, das war ja kinderleicht; es kostete nur einen Schritt oder vielmehr einen Sprung – einen Sprung aus dem Fenster. Wer sterben will, springt aus dem Fenster, und diese Art, ins Jenseits zu entfliehen, sollte die meine sein. Daß unser Haus nur ein Stockwerk hatte und daß mein Sturz durchaus nicht todbringend sein mußte, erwog ich nicht; ich war dem Nächstliegenden entrückt, schwebte schon in himmlischen Sphären, der Nähe Gottes entgegen, in die geöffneten Arme meiner Mutter. Ahnungen der Glückseligkeit erfüllten mich, kein Zweifel an der Vortrefflichkeit meiner Tat störte mich, kein Gedanke an den Abschied von den Meinen fiel mir aufs Herz . . .

In der Kapelle war mittels eines Fauteuils und eines Betschemels ein Beichtstuhl improvisiert worden. Sehr gut erinnere ich mich, daß ich beim Eintreten dem geistlichen Herrn zulächelte und daß er mich ernst ansah und ein weißes Tüchlein, das er in der Hand trug, emporhob und vor sein Gesicht hielt.

Meine Schwester legte zuerst ihre Beichte ab; ich folgte, ich tat mein Schuldbekenntnis mit heißer Reue und vernahm in tiefster Zerknirschung die Ermahnungen meines priesterlichen Freundes und in unsagbarer Spannung der leise gemurmelten Lossprechung. –

Von dem unmittelbar darauf Folgenden gibt mein Gedächtnis mir keine Rechenschaft. Ich finde mich erst im Zimmer meiner Großmutter wieder, auf ihrem Arbeitsstuhle stehend am offenen Fenster, sehe mich hastig und in Angst, überrascht zu werden, das Fensterbrett ersteigen. Nun ein rascher, heftiger Satz, ein Schlag vor die Stirn, ein Funkenstieben vor den Augen . . . Ich stürzte – aber nicht hinab in den Garten – zurück ins Zimmer. Mein Sprung hatte mich zu hoch getragen; ich war an das Fensterkreuz angeprallt und lag halb betäubt auf dem Boden, als die Tür sich öffnete und Pater Borek eintrat.

Im Saal hatten sich alle zum Frühstück versammelt; nur eines seiner Beichtkinder fehlte. Er, von einer unbestimmten Angst erfaßt, ging, es zu suchen, und fand es und sah, wie es sich bei seinem Anblick entsetzt aufraffte und nun vor ihm stand, verstört, verwundet. . . Wohin waren plötzlich meine Träume von Engelsunschuld und Himmelsherrlichkeit gekommen? Nach den ersten Fragen schon, die der geistliche Herr an mich stellte, bei der Mühe und dem Schmerz, die es mich kostete, sie zu beantworten, wußte ich: Ein schweres Unrecht war, was ich im Sinne gehabt, und ich hatte eine Sünde begehen wollen, viel größer als die Sünden, deren ich mich in der Beichte angeklagt.

Mein Freund, mein Vertrauter, mein Lehrer sah traurig zu mir herab, seine gütigen Augen wurden immer trüber, die Kummerfalten längs der Wangen vertieften sich immer mehr . . . Er streckte die Hand aus, drückte die Schwurfinger an die Beule auf meiner Stirn und sagte: »Da hat Ihr Schutzengel ›Merk's, Tölpel!‹ drauf geschrieben.«

Er hat mir auch später keine Vorwürfe über meine mißlungene Himmelfahrt gemacht. Vorwürfe zu machen war so wenig die Sache unseres lieben geistlichen Herrn! Strenge lag ihm fern; er wandte sie sogar da nicht an, wo sie sehr am Platze gewesen wäre. Das schadete aber seinem Ansehen in der Gemeinde nicht. »Er ist eben ein Heiliger«, sagten die Leute, »und meint, alles in Güte schlichten zu können.«

Zwei Jahre früher, anno 1836, als in unserer Gegend die Cholera wütete, da hatte der stille und einfache Mann sich in seiner Glorie gezeigt. Die Seuche raffte Tag für Tag neue Opfer mit grauenhafter Plötzlichkeit hinweg. Sie überfiel die Menschen und ließ nicht mehr ab von ihrer Beute. Unaufhörlich klang der traurige Schall des Zügenglöckleins vom Dorfe herüber. Tag und Nacht stand Pater Borek im schweren Dienste seines Priesteramtes. Von Sterbebett zu Sterbebett rief es ihn. So manches Mal konnte er zu dem Kranken, dem er die letzten Tröstungen brachte, nur gelangen, indem er über Leichen wegschritt, die auf dem Boden hingestreckt lagen. An den Fenstern des Schlosses rasselte sein Wägelchen immer und immer wieder vorbei. Wir hörten es von weitem kommen, knieten nieder und beteten für eine scheidende Seele.

Im ersten Schrecken hatten sich die armen Menschen widerstandslos der unbekannten Feindin überantwortet. Man mußte sie erst lehren, daß es möglich sei, gegen sie anzukämpfen.

Auch bei uns war die Seuche eingekehrt. Einige der Diener wurden von ihr ergriffen. Maman Eugénie und unser kleiner Viktor erlitten schwere Anfälle des furchtbaren Übels. Mama erholte sich langsam, das schwächliche Kind schien verloren. Sogar die freudige und trostvolle Zuversicht des Arztes, Doktor Engel, geriet endlich ins Wanken. Er war ein noch junger Mann, ein großer, dunkelbärtiger Jude, und kam täglich aus der kleinen Stadt Kremsier von einem Dorf, von einem Schloß zum andern gefahren und bemühte sich um den ärmsten seiner Kranken mit der gleichen Sorgfalt wie um den wohlhabendsten. Von Pater Borek unterstützt, leitete er die Anstalten, die getroffen wurden, um das Elend, von dem wir umgeben waren, zu lindern und neuem Unglück womöglich vorzubeugen. Morgens und abends standen im Schloßhofe große Pfannen voll dampfender Rumforder Suppe. Die Leute kamen mit Töpfen und Kannen und holten eine gute, gesunde Nahrung für sich und ihre Kinder, Massen von Unterkleidern wurden verteilt. Am eifrigsten von unserer Großmutter, die sich nie genug tat, wenn es zu geben und zu helfen galt. Wo sie war, da war Hochherzigkeit und Güte, da – wenigstens uns Kindern gegenüber – war aber auch große Nachsicht und etwas Schwäche. Sie brachte es nicht übers Herz, uns sogleich davonzujagen, wenn wir uns heranschlichen, um zuzusehen bei der Suppen- und Kleiderverteilung. Sie drückte ein Auge zu, wenn wir der Köchin oder einer Küchenmagd den Schöpflöffel abschwatzten, um ihre Tätigkeit am Suppenkessel nur ein bißchen, nur ein klein wenig ausüben zu dürfen. Allerdings kannte man damals die feige Angst vor Ansteckung noch nicht, die heute herrscht. Noch waren die unsichtbaren Feinde nicht entdeckt, die in scheinbar reiner Luft hausen und jeden Atemzug zur Lebensgefahr machen können. Unsere Unwissenheit war unsere Stärke. Es fiel weder unserem Vater noch einem andern Gutsbesitzer in der Umgebung ein, die Flucht zu ergreifen, wenn im angrenzenden Dorfe eine ansteckende Krankheit ausgebrochen war. Man blieb daheim, teilte das Mißgeschick der kleinen Nachbarn, fand das selbstverständlich und setzte es nicht auf Rechnung seiner Humanität.

Einmal, an einem schönen Sommervormittag, gerade nach der Ausspeisung der Dörfler, bei der wir uns wieder überflüssig machten, kam das Kindermädchen in den Hof gelaufen und rief uns zu: »Die Mama läßt Ihnen sagen, Sie sollen hinauf schauen zu dem Fenster!« und dabei deutete sie auf das letzte des Seitenflügels, in dem die jetzt zum Krankenzimmer verwandelte Kinderstube sich befand. »Sie werden etwas sehen, was Sie schon lange nicht mehr gesehen haben.«

Nun brach ein unaussprechlicher Jubel aus. Etwas sehen, das wir lange nicht mehr gesehen hatten, und dort am Fenster? Es war leicht zu erraten, was das sein konnte. Der Kleine! der Kleine – und vielleicht auch die Mama! Wir standen und guckten und guckten empor in brennender Erwartung. Und jetzt wurde der innere Flügel des Fensters, das wir anstarrten, geöffnet, und dicht an den äußeren trat Mama und mit ihr unsre alte Pepi mit einem Wesen auf dem Arme, bei dessen Anblick wir weinten und lachten. Er war's, es war unser armes Brüderlein. Aber sein Gesicht war gelb wie eine Zitrone und förmlich zusammengeschrumpft. Der kläglich verzogene Mund versuchte uns zuzulächeln, und ein müdes Händchen hob sich und winkte grüßend zu uns herab. Adolf fing an zu tanzen und drehte sich wie ein Derwisch; unsere Kleinste jauchzte. Und alle sandten unzählige Küsse zu unseren Genesenden empor. Ein Wunder, daß die Sehnsucht uns nicht wie an Stricken zu ihnen hinaufzog.

In vollster Festfreude fand uns Papa, der mit Doktor Engel aus dem Hause trat. Er warf einen raschen Blick auf uns, wandte sich dem Arzte zu und umarmte ihn. »Kinder«, sprach er, »dankt dem. Der heißt nicht nur Engel, der ist ein Engel.«

Er wiederholte diese Worte regelmäßig, wenn er später jener schweren Zeiten gedachte, und versäumte dann auch nie, unseren getreuen Seelsorger zu preisen: »Ja, der jüdische Arzt und der katholische Geistliche, allen Respekt! Beide waren Helden.«

 

Meine Zweifel an dem wirklichen Bestehen all dessen, was mich umgab, meldeten sich allmählich immer seltener. Der Glaube an die Schöpferkraft meines Auges erlosch. Zugleich wurden die Bilder meiner erträumten Welt in der unerreichbaren Ferne immer undeutlicher. Die lange und eigensinnig genährte, immer getäuschte Hoffnung auf ein wenn auch noch so schwaches Zeichen »von drüben« entschwand am Ende doch. Auch eine mütterliche Liebe für meine Verse und meine Prosa begann sich in mir zu regen, und statt sie den Lüften auszuliefern, schrieb ich sie sauber und nett in ganz kleine Hefte, die ich selbst verfertigte und von denen ich immer mehrere Exemplare in meiner Tasche trug. Wenn mir eine besonders tönende Strophe zum Preise Gottes, der Heiligen Jungfrau oder eines Helden, den ich heiß verehrte, gelungen war, dann ging mein Mund über von dem, was mein Herz erfüllte. Ich deklamierte und sang meine Hymnen; da säuselte und brauste es nur von »voile« und »étoile«, »gloire« und »espoir« und so weiter!

Manchmal wurde meine Schwester aufmerksam und sagte: »Das ist schön; wo hast du das gelesen?« – Aber wenn ich voll Stolz erwiderte: »Das hab ich selbst gemacht!« war es vorbei mit der Bewunderung, und sie bat in ihrer sanften Art: »Ach geh, mach doch keine Gedichte!« – Und nun konnte ich noch so dringend fragen, was sie gegen mein Versemachen einzuwenden habe, immer lautete ihre Antwort ausweichend und unbestimmt.

Es kam ihr »halt so kurios« vor. Ich glaube, daß eine dunkle Empfindung ihr verriet, Versemachen sei eine gefährliche Sache, mit der man sich lieber nicht befassen sollte. Sie forderte mich nie auf, eines meiner Gedichte zum zweiten Male herzusagen, und wich jedem Gespräch darüber ängstlich aus. Von dem Schmerz und dem Groll, den diese stumme Ablehnung mir verursachten, habe ich nie etwas verraten, und wie oft sollte ich sie erleiden! Alles wiederholt sich im Leben. Der Grundton, auf den das Schicksal des Größten wie des Kleinsten gestimmt ist, kommt immer wieder hervor. Die stumme Ablehnung, die mein erstes poetisches Gestammel durch eine Getreueste und Geliebteste erfuhr, wurde meiner Schriftstellerei bis ins reifste Alter durch andere Vielgetreue und Vielgeliebte zuteil.

Allverehrte, auch von den Meinen anerkannte Autoritäten hatten mir längst ein Talentchen und die Berechtigung, es auszuüben, zugesprochen, und immer noch bewahrten die mir teuersten Menschen über meine per nefas geborenen Geisteskinder ein rücksichtsvolles Schweigen.

Als meine Schwester ihr zehntes und ich mein neuntes Jahr erreicht hatte, wurden wir von Zeit zu Zeit ins Theater mitgenommen. Im jetzigen Karl-Theater, damals noch das Kasperl-Theater genannt, ergötzten wir uns an der Aufführung einiger urwienerischer Possen, die genial gespielt wurden. Einen hinreißenden Eindruck aber machte mir Raimunds Mädchen aus der Feenwelt (wenn ich nicht irre, im Theater an der Wien dargestellt). Völlig berauscht kam ich nach Hause; die Richtung, in der meine Phantasie fortan ihre Flüge nehmen sollte, war bestimmt. Ich wurde unerschöpflich in der Erfindung von Theaterstücken, die ich nicht aufschrieb, sondern nur meiner Schwester und unsern Freundinnen und Altersgenossinnen erzählte. Gegen diese Art der Produktion wendete Friederike nichts ein; sie übernahm sogar eine Rolle, wenn die Aufführung meiner Komödie beschlossen wurde. Und das war keine so leichte Sache, denn die Schauspielerinnen mußten die Reden improvisieren. Es geschah mit Feuereifer und gänzlich unbefangen. Auf ein Publikum brauchten wir nicht Rücksicht zu nehmen; das fehlte, ging uns aber nicht ab. Die Gouvernanten, die es hätten bilden können, saßen im Nebenzimmer und schwatzten. Uns selbst zu erfreuen und zu gefallen war der Zweck unserer künstlerischen Leistungen, und sie erfüllten ihn glänzend.

Da – in der Zeit ihrer hohen Entfaltung, schien eine noch höhere ihnen bevorzustehen. Eines Sonntags erfuhren wir die merkwürdigste Überraschung. Unsere feinste Darstellerin, sie, die mit meiner Schwester in den Rollen der unschuldig Verfolgten abwechselte, erschien, Triumph im rosigen Gesichtchen, in den zarten Händen ein Manuskript, und verkündete uns, daß sie ein Theaterstück gedichtet und aufgeschrieben habe.

Nein, war's möglich? Aufgeschrieben, ein ganzes Theaterstück? – Nein, diese Fanni, wer hätte ihr das zugetraut! Sie lächelte stillvergnügt, setzte sich an den Tisch und begann mit leiser, bewegter Stimme ihr Werk vorzulesen. Wir hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu; es gefiel uns außerordentlich; es war etwas Neues. Bisher hatten wir uns im Heroischen oder im Lustigen bewegt. Fanni brachte etwas Sentimentales. Die Rollenverteilung machte keine Schwierigkeiten; wir einigten uns rasch. Am zufriedensten war wohl ich. Mir war die Darstellung eines alten Onkels anvertraut, der zankt und poltert, sich aber zuletzt als der weichste Gemütsmensch entpuppt und eine rührende Rede hält.

Der Abend wurde damit zugebracht, die Rollen auszuschreiben. Um sie auswendig zu lernen, benutzten wir die Woche hindurch jeden freien Augenblick. Am nächsten Sonntag fand die Probe, am übernächsten die Aufführung statt; nicht bei uns, sondern im Hause der Mutter unserer Dichterin. Ein kleines Theater war aufgestellt, ein kleines Publikum war eingeladen, die Vorstellung ging wie am Schnürchen. Alle Personen, die auftraten, wurden ernst genommen und erhielten Applaus; bloß der alte Onkel erregte immer nur Heiterkeit. Seine Zornesausbrüche wirkten komisch, und als er am Schlusse rührend werden wollte, brach das Publikum in Gelächter und der Mißverstandene in Tränen aus. Und nun kam der bitterste Tropfen im Leidenskelche dieses Abends. Für sein mühsam unterdrücktes Schluchzen, für die heißen Tränen, die ihm in den grauen Bart liefen, erntete der alte Onkel lauten, grausamen Beifall.

Am nächsten Sonntag stellte unsere Freundin sich an der Spitze eines zweiten Theaterstückes ein, das sie uns auch vorlas. Es war – wieder eine Neuerung – in deutscher Sprache geschrieben. Ihm aber geschah Unrecht von Anfang an. Man wollte sich nicht mehr mit dem Ausschreiben der Rollen und mit dem Memorieren plagen. Überdies sagte der Stoff des neuen Dramas uns nicht zu. Es war ein biblischer: Abrahams Opfer. Willkürlicherweise hatte die Dichterin die Erzmutter Sarah in den Vordergrund gestellt. Sie spionierte, entdeckte und erlauschte alles, was ihr Gatte sann, war, sichtbar oder unsichtbar, immer auf der Bühne. Sie hatte sich durch ihr zudringliches Wesen schon recht mißliebig gemacht, schon manches: »O je, die Sarah! ist sie wieder da?« war laut geworden, als die Vorleserin zu der Stelle kam: »Sarah tritt auf. Sie wirft ihre Augen in eine Allee . . .« Weiter ging es nicht. Ein Schrei der Entrüstung erhob sich. Das hätte man wissen mögen, wie das zu machen war. Man bat um Erklärungen; man verhöhnte jede, die versucht wurde; man brach den Stab über das Opfer Abrahams.

Dieser unselige Mißerfolg riß auch mich ins Verderben. Unsere besten Kräfte entdeckten plötzlich, daß die Komödienspielerei sie eigentlich langweile. Meine in hellem Enthusiasmus erdachten Theaterstücke teilten das Schicksal meiner Gedichte – niemand wollte sie mehr anhören. So wurden denn meine kleinen Hefte abermals meine einzigen Vertrauten. Längere Zeit hindurch half mir eine trotzige Resignation, über ihren Inhalt Schweigen zu bewahren. Ebensogut hätte ich aber eine Brut Singvögel mit mir herumtragen und sie bewegen können, stumm zu sein. »Hat er es einmal aufgeschrieben, will er, die ganze Welt soll's lieben.« Mir vertrat meine Schwester diese ganze Welt, die »es« lieben sollte. Sie jedoch war erschrocken und betrübt, als ich ihr wieder mit meinen Gedichten kam. So hatte ich denn meine unglückliche Kuriosität noch nicht abgetan? Wie unzufrieden wären der Papa und die Großmutter und die Tante, wenn sie etwas von ihr erführen! – Ich gestand mir, daß sie recht haben könne, wollte es aber nicht zugeben und berief mich auf das Beispiel der Mutter Fannis, die sich freute, daß ihre Tochter Theaterstücke machte. – Ja, es war eben anders bei uns, und ich hatte mich zu fügen. Wenn man weiß, daß man etwas nicht tun soll, läßt man's bleiben. Das ist ganz einfach. Sie hielt mir eine ihrer hübschen, wehmütigen Predigten, die dem Tiefsten ihres warmen, frommen, liebevollen Herzens entquollen. Dabei wurde sie so traurig und brach endlich in so heiße Tränen aus, daß ich, gerührt und ergriffen, einen heroischen Vorsatz faßte und ihr versprach, nicht mehr davon zu reden, wenn »es« in meinem Kopf wieder anfangen würde zu dichten, auch nie mehr etwas aufzuschreiben und, wenn die Versuchung dazu mich anträte, innig zu beten um die Kraft, ihr zu widerstehen.

So tat ich mit heißer Inbrunst, und die Gebete, die ich im frommen Selbstbetrug zum allgütigen, allmächtigen Vater und Schöpfer emporsandte, waren nichts anderes als ein armes, kindisches Versgestammel.

 

In der Stadt begleiteten wir zwei Ältesten unsere Großmutter am Sonntag in die Ruprechtskirche, und nach der Messe durfte dann immer eine von uns noch eine Weile bei Großmama bleiben. Da war denn einmal wieder mein Sonntag, und ich stand am Fenster und genoß die wohlbekannte Aussicht. Unser Haus hatte die Form eines langgeschwänzten Klaviers; sein schmales Ende zog sich vom Haarmarkt herüber durch zwei kleine Gassen bis zum sogenannten »Rabenplatzl«. Dort überragte es turmartig seine beiden Nachbarn zur Rechten und zur Linken, uralte, umfangreiche Häuser. Das Gegenüber bildete ein gelbes, plumpes Gebäude, das uns nur seine Ecke zuwandte und immer im Begriff schien, auf dem abschüssigen Terrain des Platzl zur Donau hinabzugleiten, der auch die beiden Gassen, die neben ihm hinliefen, entgegenstrebten.

Sehr heiter und belebt war es hier herum nicht, am wenigsten des Sonntags, wenn die Kaufleute die Läden geschlossen hatten. An diesem einen Sonntags-, einem Frühlingsmorgen, aber erschimmerte alles, worauf meine Augen sich richteten, im Reflex des Glanzes, der mir die Seele erfüllte. Ich freute mich am Sonnenlicht, das auf fremden Fensterscheiben blinkte – zu den unseren drang es nicht. Ehrwürdig und lieb sogar erschienen mir auf den Dächern die plumpen Rauchfänge mit ihren schiefen Hüten, denen der blaue Himmel einen leuchtenden Hintergrund abgab.

In der Kirche war ich heute besonders andächtig gewesen, hatte die heilige Messe eifrig nachgebetet aus dem Büchlein Nouvelles heures à l'usage des enfants, das ich seit meinem siebenten Jahre besaß. Den krönenden Schluß meiner Sonntagsfeier bildete immer das Genießen des poetischen Anhangs, der dem kleinen Buche beigegeben war und unter anderem die Méditation sur la mort von Pierre Corneille enthielt. Sie erschien mir als das Höchste, zu dem ein Dichtergeist sich aufschwingen kann, sie machte mein Entzücken aus und mein Leid; denn meine eigenen Poesien erschienen mir so fahl und nichtig wie Staub im Vergleich zu diesen prunkvollen Versen. Sie klangen damals, als ich am Fenster stand und den Himmel und die Rauchfänge bewunderte, in mir nach. Ich sagte sie leise vor mich hin, so lang, bis ich, hingerissen von meiner Begeisterung, dem Wunsche, sie geteilt zu sehen, nicht mehr widerstehen konnte. So trat ich denn zu Großmama, die auf dem Kanapee saß und strickte, und begann, jetzt aber laut:

»Pense, mortel, à t'y résoudre,
Ce sera bientôt fait de toi.
Tel aujourd'hui donne la loi,
Qui demain est réduit en poudre.«

Sie sah etwas befremdet von ihrer Arbeit auf, sie lächelte; der gütige Ausdruck, mit dem ihre Augen auf mir ruhten, ermunterte mich fortzufahren. Und öfters, während ich sprach, nickte sie mir Beifall zu, und als ich zum Schlusse gekommen war, lobte sie das Gedicht und mich – weil ich es auswendig gelernt hatte. Ihr Lob, mit dem sie so sparsam war wie mit Tadel, berauschte mich, und noch mehr davon zu erlangen begehrte meine geschmeichelte Eitelkeit.

Auswendig gelernt? Ach was! Ich hatte es nicht auswendig gelernt . . . Es hatte sich von selbst meinem Gedächtnis angeklebt. Alle Verse, die ich las, klebten sich ihm an, fielen mir wieder ein beim Spazierengehen oder beim Spielen. Die Verse kamen zu mir, weil ich selbst Verse machen konnte. Ja, ich mußte es der Großmama anvertrauen . . . Auf einmal waren meine guten Vorsätze, war alles vergessen, was ich meiner Schwester versprochen und mir selbst zugeschworen hatte. Ich wußte nur noch, daß alles gesagt und gesungen werden müsse, was mir im Herzen klang und tönte, andern zur Freude, mir selbst zum Heile. Hastig und konfus werde ich es vorgebracht haben, aber meinen wirren Reden entnahm Großmama doch die Neuigkeit, daß ich »Poesien« machte. So schöne noch nicht wie Pierre Corneille, aber das wird kommen, später, ganz gewiß, wenn ich eine erwachsene Dichterin sein werde . . . Du lieber Gott! In der Schilderung dieses ruhmvollen Zukunftsbildes kam ich nicht weit. Großmama unterbrach sie mit einer Strenge, die ich noch nie von ihr erfahren hatte und die mir bis zum heutigen Tage unerklärlich geblieben ist. Warum hat die sonst Gütigste und Nachsichtigste mein Geschwätz nicht wie eine kindische Torheit, sondern wie ein Unrecht behandelt und hart zurückgewiesen? Bevor ich mich besonnen und den Mut zu einem Wort der Entschuldigung gefunden hatte, war ich fortgeschickt worden und befand mich unter der Obhut Josefs, Großmamas altem Diener, auf dem Heimweg in den zweiten Stock. Das war eine Reise! Das war ein Emporsteigen mit einer Last auf dem Gewissen, die schwerer wurde mit jeder Stufe, die ich sonst lustig hinaufhüpfte und jetzt so mühsam erklomm. Wie oft blieb ich stehen; wie brannte mir die Lüge auf den Lippen: Josef, ich bitte Sie, kehren wir um; ich hab etwas vergessen.

Aber ich brachte es nicht heraus. Wir gingen weiter; wir langten an. – Nun war keine Hoffnung mehr. Ich würde keine Gelegenheit mehr finden, mich zu rechtfertigen – es wenigstens zu versuchen. Großmama kam, ich wußte das wohl, auf eine einmal erteilte Rüge nie wieder zurück. Die Sache war für sie abgetan, und meine Absicht, eine Dichterin zu werden, blieb in ihren Augen etwas Unrechtes und Sündhaftes. Ihre Entrüstung hatte es mir gezeigt. Ach, wenn der Himmel sich meiner erbarmen und mich erlösen wollte von dieser Sündhaftigkeit, oder was es denn sein mochte. Erlöse mich! erlöse mich! rief ich den Allmächtigen an, und bei ihm und bei meiner Getreuesten, meiner Schwester, suchte ich Hilfe in meiner mit Verzweiflung recht nahe verwandten Ratlosigkeit. Aber Hilfe wußte meine Schwester nicht zu bringen. Sie meinte immer nur: »Sprich nicht davon; dann vergeht's vielleicht.«

Vielleicht! Ihre Zuversicht war dahin; sie begann mein Übel als ein unheilbares anzusehen. Wir beteten ein wenig und weinten viel, und ich wünschte mir ehrlich und heiß, bald zu sterben, um nicht noch mehr unwillkürliche Schuld auf mein Haupt zu laden. Gut bei diesem Verfahren der Meinen war bloß die Absicht. Gewollt haben sie mein Bestes und, ohne zu wissen, was sie taten, mir das peinvoll demütigende Gefühl eines angebornen geheimen Makels aufgebürdet.

Mit der Zeit wandte sich das Blatt, jedoch nicht zum Besseren. Woraus mir ein Vorwurf gemacht wurde, das war etwas Unentrinnbares und ohne mein Wissen und Wollen durch eine höchste, göttliche Macht über mich verhängt. Die Leiden, die ich dadurch erduldete, und leiden wollte ich ja! erschienen mir nicht wie gewöhnliche, sondern wie besonders schöne und erhabene, wie die eines Märtyrertums, und aus diesem Bewußtsein schöpfte ich eine große Widerstandskraft; es erweckte aber auch in mir ein tüchtiges Maß Hoffart.

 

Gegen die Schreckensherrschaft unseres Drachen in Gouvernantengestalt hatte sich allmählich eine kleine Partei gebildet. Wenn er gar zu arg wetterte, erschien unversehens Pepinka oder unser feines, braves Stubenmädchen Apollonia und machte dem Tanz ein Ende. Ja, wenn es hier »einen solchen Spektakel« gibt, muß der Papa gerufen werden, hieß es mit vielsagenden Blicken nach der Mademoiselle. Sogleich legte sich der Sturm, und wir merkten wohl, auf wen die Drohung gemünzt war. Auch Tante Helene fand sich oft ein, holte uns ab und nahm uns mit in ihr Zimmer.

Sie bewohnte dasselbe, in dem Maman Eugénie gestorben, und wir sprachen von jüngstvergangenen glücklichen Zeiten, in denen sie noch bei uns gewesen war. Aber auch längst vergangene und sehr traurige Zeiten ließ Tante Helene vor uns aufleben, ihre freudlose, sorgenvolle Jugend. Sie war in Armut aufgewachsen; sie hatte ihren Bräutigam und zwei Brüder in den Kriegen gegen Frankreich verloren. Über den dritten – unseren Vater – war sie lange in quälendem Zweifel geblieben, ob er tot oder gefangen sei. Viel Leiden hatte die Tante erfahren müssen, bis ihr endlich ein Glück erblühte. Ihrer Ehe mit einem ausgezeichneten, allverehrten, aber weit älteren Manne entsproß ein Söhnchen. Nun lernte sie das Beste und Höchste kennen, was das Leben dem Weibe zu bieten hat. Ihr Kind wurde ihre Freude, ihr Licht. Zu einem Loblied gestaltete sich ihre Rede, wenn sie von ihm sprach, und mit Spannung hörten wir zu; denn alles war interessant, und am interessantesten die Kindheit des Onkel Moritz.

So titulierten wir unseren Vetter, nicht wegen des Unterschiedes im Alter, sondern wegen des großen Ansehens, das er bei uns genoß. Seine Mutter verwahrte in ihrem Schreibtisch einen Schatz: alle Zeugnisse, die der »Onkel« sich verdient hatte, als kleiner Junge in der Privatschule Kudlig, später im Theresianum, wo er den Gymnasialunterricht erhielt, und endlich in der Ingenieurakademie, die er als Armeeleutnant verließ.

Eine lange Kette der Ehren.

Für uns war die Zeit, in der Onkel Moritz als kleiner Junge das Institut Kudlig besucht hatte, die interessanteste seines ganzen Lebens. Dieses unglaublich merkwürdige Institut befand sich nämlich auf dem Hohen Markt und dort auch – man denke! – das Polizeihaus. Meisterlich verstanden wir das Gespräch in seine unheimliche Nähe zu lenken, von wo immer es auch ausgegangen sein mochte. Und dann hob ein Fragen an, so dringend und so neugierig, als hätten wir von der Antwort, die kommen würde, keine Ahnung gehabt: »Was hat manchmal dort gestanden, dort, beim Polizeihaus? Vor dem Balkon und vor der großen Figur mit der Waage in der Hand?«

»Was dort gestanden hat? Nun, ihr wißt ja, der Pranger ist manchmal dort aufgerichtet worden.«

»Ja, ja, der Pranger. Wie der nur aussehen muß, so ein Pranger? Und wie das sein muß, wenn man oben ist, und alle Menschen schauen hinauf . . . Und einmal, nicht wahr, hat der Onkel Moritz auch hinaufgeschaut?«

»Ja, einmal, weil die Magd, die ihn im Institut abholte, ihn nicht rasch vorbeigeführt hat, wie sie sollte, sondern ihm erlaubt hat stehenzubleiben.«

»Und da waren just zwei Frauen oben auf dem Pranger, eine alte und eine junge, und was haben die getan? Erzähl! erzähl!«

»Ihr wißt es ja ohnehin. Die alte hat geweint, und die junge hat geschimpft und die Leute angegrinst.«

»Auch den Onkel Moritz?«

»Auch ihn.«

»Ach, die muß grauslich gewesen sein! Und was hat er gesagt?«

»Was soll er gesagt haben? Nichts. Abends aber hat er nicht einschlafen können aus Angst, sie kommt und grinst ihn an.«

Der kleine Onkel Moritz von damals stand jetzt – 1840 – im siebenundzwanzigsten Jahre, war Oberleutnant im Geniekorps und kürzlich auf seine Bitte von Olmütz nach Wien transferiert worden, um an der Ingenieurakademie die Professur der Naturwissenschaften zu übernehmen.

Tante Helene lebte auf nach seiner Ankunft. Man kann sich ein innigeres, schöneres Verhältnis nicht denken als das zwischen dieser Mutter und diesem Sohne. Dafür mußte bei unserem Vater und seinem Neffen die gegenseitige Zuneigung und Wertschätzung ihre Kraft bewähren, um die Kontroversen, in die beide Männer oft gerieten, friedlich ausklingen zu lassen. Der ältere verteidigte seine Ansichten mit sprudelnder Lebhaftigkeit, der junge die seinen gelassen und nachdrücklich. Am Ende eines solchen Streites war es immer Papa, der die Hand zur Versöhnung bot. Er hatte ein starkes Emotionsbedürfnis und liebte Versöhnungen ebensosehr, wie er den Kampf liebte. Ihm, der als sechzehnjähriger Jüngling der Theresianischen Akademie und ihren Schulen Valet gesagt hatte, um sich dem Kriegsdienst zu widmen, war es nicht recht begreiflich, wie ein Soldat sich auf die Wege der »Gelahrten« begeben konnte. Der Gelahrten! Durch das Vertauschen des zweiten e in diesem Worte mit einem a glaubte er seine geringe Meinung von dem Stand, den es bezeichnet, an den Tag zu legen. Sie tragen einen Fluch an sich, diese Menschen; sie sind unpraktisch und finden jedes Stühlchen, auf dem sie beim Mahle des Lebens Platz nehmen möchten, immer schon besetzt. Papa hatte vor Jahren zu gleicher Zeit mit Hegel die Kur in Karlsbad gebraucht und von der äußeren Erscheinung des berühmten Philosophen einen befremdlichen Eindruck erhalten. Sie blieb für ihn das Urbild der Gestalt, in der die Leuchten der Wissenschaft auf Erden wandeln. Er versäumte nie, wenn er von seiner Begegnung mit Hegel sprach, dessen vermeintes Wort zu zitieren: »Ich habe nur einen Schüler gehabt, der mich verstanden hat, und auch der hat mich mißverstanden.« Ebenso brachte er gern ein Kommando in Erinnerung, das während Bonapartes ägyptischen Feldzuges vor jedem Zusammenstoß mit dem Feinde gegeben wurde. Da hieß es zur Sicherung der notwendigen wie der überflüssigen Begleiter des Hauptquartiers: »Les ânes et les savants au milieu!«

Diese Spötteleien ließen Onkel Moritz sehr kühl. »Ich fühle mich nicht betroffen«, sagte er; »ich bin kein ›savant‹. Ich komme mir vor wie ein Schwamm, sauge mich an in den Vorlesungen Ettinghausens und Schrötters und presse mich am nächsten Tage in meiner eigenen Vorlesung aus.«

An seinem freien Tage, am Sonntag, speiste er regelmäßig bei uns und erwies uns vor dem Diner manchmal die Ehre eines Besuches im schoolroom. Es befriedigte unsere Eitelkeit gar sehr, daß er Mademoiselle Henriette nicht mehr Beachtung schenkte, als die Höflichkeit gebot, und deutlich merken ließ, er sei nicht ihret-, sondern unsertwegen gekommen. Gewiß aber nicht, um uns Komplimente zu machen. Er belächelte unser seit Frau Krähmers Scheiden gänzlich in Verfall geratenes Klavierspiel und unser fortwährendes Französischparlieren. Eines Tages machte er sich darüber lustig in Gegenwart Mademoiselles. Sie nahm es übel – was ihr freilich nicht zu verargen war –, schleuderte ihm einige zornige »Mais Monsieur!« zu und stolzierte aus dem Zimmer. Uns schwebten die Folgen vor Augen, die aus der bedrohlich gewordenen Stimmung unserer Gouvernante erwachsen würden. Onkel Moritz fuhr fort, uns zu hänseln. Er bedauerte die arme deutsche Wissenschaft, weil wir so gar keine Notiz von ihr nahmen. Wohin man auch blickte, weit und breit war kein deutsches Lehr- oder Lesebuch zu erschauen. Und unsere Hefte, die auf dem Tische lagen, die er zur Hand nahm und durchblätterte! Sie trugen die Aufschriften: Grammaire; Calligraphie; Dictée; Dictée; Calligraphie; Grammaire. Die Abwechslung war gering. Nun aber, zu meinem Entsetzen, kam ihm ein Heftchen in die Hand, das ich, von Mademoiselle am Lehrtisch beim Dichten überrascht, in eines meiner großen Hefte geschoben und dort vergessen hatte. Er schlug es auf und las: Ode à Napoléon – mein letztes Gedicht. Etwas grandios Heroisches, das der Nachwelt, wenn es ihr erhalten geblieben wäre, erst den rechten Begriff vom Genie des Imperators gegeben hätte. Den Schluß bildete ein cri de haine an die Adresse des perfiden Albion, dem ich schmachvollen Untergang auf Erden, im Jenseits die ärgste Höllenpein verhieß.

»Von wem ist denn das?« fragte Onkel Moritz in einem Tone, bei dem mir heiß und kalt wurde und der so wegwerfend war, daß meine Schwester sich in meiner Ehre gekränkt fühlte. Die Getreue, der meine Dichterei doch so herzlich zuwider war, nahm sie einem andern gegenüber in Schutz und sagte mit allerliebster Würde, als ob von etwas Respektablem die Rede sei: »Es sind Gedichte von der Marie.«

Er lachte, las weiter und verzog während des Lesens keine Miene, und ich hatte die Empfindung, daß mich jemand würgte und daß mir dabei hunderttausend Ameisen über die Wangen liefen und über den ganzen Körper, mit kalten, hastigen Füßchen.

Nach einer Zeit, in der ich mir einbilden konnte, daß ein Begriff der Ewigkeit mir aufgegangen war, legte Onkel Moritz das Heftchen auf den Tisch zurück. Gleichgültig, wie wenn es ein Knäuel Zwirn oder irgendeine andere Geringfügigkeit gewesen wäre. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, und noch weniger, ihn zu fragen: Hat es dir denn gar nicht gefallen? Was wir gestern gelitten haben, ist nichts; was wir heute leiden, ist alles. Die Abfertigung, mit der Großmama mich vor einigen Jahren so unglücklich gemacht hatte, erschien mir bei weitem weniger grausam als das Schweigen des ersten Lesers meiner von Flammen der Begeisterung durchloderten Ode.

Im Laufe der Woche erhielt ich eine hübsche, mit einem Seidenband umwundene Rolle zugeschickt. Sie enthielt sehr gutes Zuckerwerk und einen Briefbogen. Auf den hatte der Onkel in seiner beneidenswert klaren, gleichmäßigen Schrift das Loblied auf den Rhein aus dem Waldfräulein von Zedlitz hingesetzt. Vom Anfang:

O Rhein, wie klingt dein Name hold,
Gleich einer Glocke, hell von Gold,
O fließe fort in stolzer Ruh,
Taufwasser deutschen Volkes du!

bis zum Schlusse:

Es singen die Sänger zur Harfe laut,
Was sie im Nebel der Lüfte geschaut!
Sie singen fort bis diese Stund,
Noch ist geschlossen nicht ihr Mund;
Sie werden singen vom stolzen Rhein,
Solang er fließt in das Meer hinein!

Nun aber folgte ein Epilog:

Oh, sing auch du, du deutsche Maid,
Nicht fremden Ruhm in fremdem Kleid!
Du bist ein Sproß aus gut germanschem Blut,
Was deutsch du denkst, hab deutsch zu sagen auch den Mut.

Diese Verse galten mir! An mich waren sie gerichtet, und ich fühlte mich dadurch hochgeehrt und ausgezeichnet. Und wie leuchtete ihr Inhalt mir ein und erhellte mir das Herz! Ich durfte sagen, was ich dachte, wenn ich es nur in deutscher Sprache sagte. Ein sehr Gestrenger sanktionierte mein Dichten unter dieser Bedingung. Aber – »was deutsch du denkst . . .« Es kam mir nicht vor, daß meine Gedanken gebürtige Deutsche wären. Als kleine Kinder hatten wir fast nur Böhmisch und später dann fast nur Französisch gesprochen – und die Sprache, die wir reden, ist doch die, in der wir denken. Eine strenge Selbstüberwachung begann. Meine Einfälle wurden auf ihre Nationalität geprüft. Innerlich fand meine Umgestaltung aus einer französischen in eine deutsche Dichterin geschwinder statt, als je die Verwandlung einer Raupe in einen – sagen wir – Kohlweißling stattgefunden hat. Von der Notwendigkeit, mir die deutsche Sprache als meine Denksprache anzugewöhnen, war ich sofort überzeugt, und keinesfalls hat meine Sangesfreudigkeit eine lange Störung erlitten. Der Hymnus an den Rhein bekam eine zahlreiche Nachkommenschaft. Mit ganz besonderer Wonne schwelgte ich im Wohlklange des Verses: »Es singen die Sänger zur Harfe laut . . .« Die Harfe bildete denn auch die köstlichste Bereicherung meines neuen poetischen Hausrats, und bald begann es in meinen Liedern von Harfenklängen zu tönen. Doch vertauschte ich oft das musikalische Rüstzeug der Barden mit der Laute der Minnesänger, weil sich auf »Laute« soviel mehr und lieblichere Reime finden lassen als auf das stolze, herbe »Harfe«.

 

Der Winter des Jahres 1841 war verflossen, ein stiller, fast trübseliger Winter. Wir hatten alle ein dumpfes Bewußtsein davon, daß sich im Hause ein außerordentliches Ereignis vorbereite. Etwas Erwartungsvolles, Spannendes lag in der Luft, die Stimmungen unseres Vaters wechselten noch rascher als sonst; er schien in einem schweren Kampfe mit sich selbst befangen. Wir fanden ihn oft, wenn wir zu Tante Helene kamen, in ein Gespräch mit ihr vertieft, das bei unserem Eintreten abgebrochen wurde. Auch Großmama nahm an diesen Beratungen teil, die – wir sahen es wohl – einen quälenden Eindruck auf sie machten. Die glostende Aufregung, in der die Spitzen der Familien sich befanden, warf Reflexe nach allen Richtungen. Die Dienstleute zischelten untereinander und schwiegen plötzlich, wenn eines von uns in ihre Nähe kam. Sie machten geheimnisvolle Gesichter; sie nahmen uns gegenüber ein liebevoll-bedauerndes, beschützendes Wesen an. Das Seltsamste aber war die Veränderung, die mit Mademoiselle Henriette vorging. Sie bemeisterte sich, mäßigte ihre Zornesausbrüche und ganz besonders ihre Großmut im Erteilen von Strafen. Alle Hausgenossen schienen einen Grund zu haben, uns ungewöhnliche Rücksichten zu erweisen; nur Monsieur Just blieb immer gleich unbefangen, immer derselbe gute, heitere Kamerad.

An einem regnerischen Sonntagnachmittage dieses Frühjahrs waren wir alle fünf bei Tante Helene versammelt und spielten eifrigst »Schwarzer Peter«, als Papa eintrat. Er blieb eine Weile am Tische stehen, wechselte einige Worte mit der Tante, wandte sich dann an uns und fragte: »Kinder, was würdet ihr sagen, wenn ich euch eine neue Mama brächte?«

Die drei Kleinen sahen verständnislos zu ihm empor, Fritzi wurde über und über rot, senkte den Kopf und schwieg. Mir kam eine Erleuchtung. Das also war's – darüber beriet sich unser Vater mit Großmama und mit der Tante, darüber zischelten die Leute – wir sollten eine Stiefmutter bekommen. Alle bösen Stiefmütter, die in den Märchen ihr Wesen treiben, standen mir vor Augen, und es fiel mir nicht ein, daß Maman Eugénie auch eine Stiefmutter gewesen war und daß es demnach unaussprechlich gute Stiefmütter geben könne. Ohne mich lang zu besinnen, rief ich aus: »Bring uns keine neue Mama; wir brauchen keine!«

Wenn ich mich recht erinnere, überhörte Papa diesen kühnen Protest; am nächsten Tag aber machte seine Verlobte ihren ersten Besuch in unserem Hause. Sie kam in Begleitung ihrer Mutter, die eine imponierende Dame mit noch außerordentlich schönen Gesichtszügen war.

Von der ersten Begegnung mit ihr und ihrer Tochter hielt unsere Großmama Vockel sich fern, nur Tante Helene nahm teil daran. Das Benehmen der drei Damen gegeneinander hielt sich in den Grenzen einer kühlen Höflichkeit, und auch uns bezeigte die zukünftige Stiefmutter keine besondere Freundlichkeit, was recht und ehrlich war. – Ich übernehme euch, wie man Pflichten übernimmt, sagten ihre lichten, blauen Augen, und wie gut verstanden wir sie! Meine Schwester teilte mein Gefühl einer gewissen peinlichen Beschämung dieser hohen Erscheinung gegenüber, die uns bald so nahe stehen sollte. Als wir verabschiedet und in unser Zimmer zurückgeschickt wurden, sagte Fritzi schwerbetrübt: »Wenn wir nur nicht fünf wären!«

Die neue Mama war ebenso imponierend wie ihre Mutter, hatte das dreißigste Jahr schon zurückgelegt und neigte zur Fülle. Ihre Haare waren blond, ihr Teint war rosig, ihr Mund, nicht klein, aber fein geschnitten, hatte schön geschwungene Lippen und war geschmückt mit den herrlichsten Zähnen. Im ganzen bot sie ein Bild blühender Gesundheit und selbstbewußter Kraft. Der ersten Begegnung mit ihr folgte bald eine zweite, die den herben Eindruck der früheren bedeutend milderte. Und nun machten wir zusammen auch gleich aus, daß sie am Ende noch sehr gut mit uns sein werde.

Wirklich erfuhren wir bald darauf durch sie eine große Wohltat. Fremde Leute hatten ihr die Augen geöffnet über Mademoiselle Henriette, und sie verlangte deren Entfernung aus dem Hause und sorgte zugleich für einen Ersatz. Es war der beste, der sich hätte finden lassen. Das Fräulein, dem jetzt unsere Erziehung anvertraut wurde, hieß Marie Kittl und war eine Deutschböhmin, die Tochter eines Fürstlich-Schwarzenbergischen Hofrates und Schwester des damaligen Direktors des Prager Konservatoriums. Wir kamen bei diesem Regierungswechsel aus der Hölle in den Himmel. Ich wüßte keine gute und vortreffliche Charaktereigenschaft zu nennen, die unser Fräulein Marie nicht besessen hätte. Geboren für ihren Beruf, war sie eine Kinderfreundin ohnegleichen und begabt mit dem innigsten Verständnis für alle Vorgänge in der Kinderseele. Sie kannte keine Rücksicht auf ihr eigenes Interesse, ihr Behagen, ihre Gesundheit, wenn es sich um unser Wohl handelte. Wie viele Nächte hat sie an unseren Krankenbetten durchwacht, wie sorgsam uns betreut in der Rekonvaleszenz, wie klug und geschickt uns lernen gelehrt, mit welcher Hingebung an unseren Spielen teilgenommen!

Daß wir sie nicht von der ersten Stunde an vergötterten, daran trug ihr Äußeres schuld, das nichts besonders Einnehmendes hatte. Im Gegensatz zu unseren früheren, groß und schlank gewachsenen Gouvernanten war ihre Gestalt und waren auch ihre Hände und Füße etwas ins Breite geraten. Sie stand in den Zwanzigen, schien aber viel älter. Ihrer Hautfarbe fehlte die Frische, ihre Bewegungen waren ohne Anmut, ihre Nase . . . doch nein, ich will nicht detaillieren. An jedem einzelnen ihrer Züge hätte sich etwas aussetzen lassen, während der Gesamteindruck, den die Physiognomie und das Wesen unseres Fräuleins Marie machten, höchst sympathisch war. Ein feiner, nobler, etwas schwärmerischer Geist sprach aus ihren kurzsichtigen Augen, und bald wurde es uns zur Ehrensache, sie beifallspendend auf uns ruhen zu sehen. Sie war eine tüchtige Musikerin und sang besonders Lieder sehr hübsch, mit angenehmer, gut geschulter Stimme. Wirklich ergreifend trug sie eine der Kompositionen ihres Bruders, das liebenswürdige Lied Der Vogelsteller, vor. Wer kennt es heute noch? Wer kennt noch Kittls Oper Die Franzosen vor Nizza, die in den vierziger Jahren vom Prager Publikum mit großem Beifall aufgenommen wurde?

Wer auch schwärmt heute noch für den Dichter Egon Ebert? Marie Kittl tat es aus vollem Herzen, und wir, getreu unserer Manie, angenehme Überraschungen zu bereiten, fanden uns eines Tages feierlich als Deklamatricen bei ihr ein. Wir wollten etwas im geheimen Auswendiggelerntes vortragen: ein Gedicht von Ebert, das die Sage von dem Mönche behandelt, den ein Wunder zum Glauben an die Ewigkeit bekehrt. Er war gegen Abend in den Wald gegangen, hatte sich ins Moos gelegt unter einen Baum, in dessen Zweigen ein Vöglein lieblich sang, war eingeschlafen und mochte wohl eine Stunde geschlafen haben; denn als er erwachte, glitten schon dunkle Schatten über den Waldesgrund, und die Kirchenglocke rief zur Hora. Der Mönch erhob sich und schritt dem Kloster zu. Er ging den wohlbekannten Weg, und seltsam verändert kam ihm der vor, seltsam verändert alles um ihn her, die Sprache, die Tracht der Menschen, denen er begegnete; fremdartig sogar mutete die Gegend ihn an und völlig fremd das Kloster, das er nun betrat. Das ist sein altes, kleines Kloster nicht mehr, das ist ein Prachtbau, in Marmorglanz schimmernd, mit riesiger Pforte, mit breiten Gängen. Er steht im Treppenhaus und

Sieht hinan die hohen Stufen,
Sieht hinan die hohen Hallen,
Schlägt die Hände bang zusammen:
Gott, o Gott! Was ist geschehn?

Mönche kommen, ihm alle unbekannt, scharen sich um ihn, fragen ihn, was er wünscht, wen er sucht. Seine Freunde möchte er sehen, seine Genossen:

Ruft mir doch den Vater Bernhard
Und den weisen Cyprianus,
Daß sie mir das Dunkel klären
Und das Rätsel lösen mögen.

Seine Worte erregten Staunen und Grauen:

Liegt ja doch der Vater Bernhard
Und der weise Cyprianus
Schon dreihundert Jahr im Grabe.

So erfährt der Mönch, daß er im Walde nicht ein Stündlein, sondern drei Jahrhunderte verschlafen hat, und die Ahnung einer unendlichen Zeitdauer steigt in ihm auf.

Nun aber drohte unserer Unternehmung eine Gefahr. Fritzi sollte das Gedicht sprechen bis zu der Stelle: »Und das Rätsel lösen mögen«, dann war's an mir fortzufahren. Ja – wenn die Namen der zwei Patres nur nicht für uns die Quintessenz alles Komischen enthalten hätten! Wenn es nicht schon in Fritzis Gesicht gezuckt und geblitzt hätte, sobald der Moment, sie über die Lippen zu bringen, nahte, wenn ich mich nur vor verhaltenem Lachen nicht gekrümmt und gewunden hätte, während sie losbrach und die guten Mönche silbenweise und kreischend herbeirief. Als dann ich sie übernahm, um sie für dreihundert Jahre ins Grab zu legen – da war es Fritzi, die sich krümmte und wand und ich, die laut auflachte.

So ging es bei den Proben, so bei der Vorstellung, die kläglich mißraten wäre ohne die Langmut unserer Zuhörerin. Marie wartete ruhig, bis unser Lachanfall überstanden war, und blickte uns dabei nachsichtsvoll an mit ihren kleinen Augen, aus denen eine Güte leuchtete, so groß wie die Welt (mathematisch würde ich das beweisen, wäre ich Sophie Germain). Sie kannte das junge Kindervolk; sie fragte nicht nach dem Warum seines Lachens oder Weinens, sie wußte: Sensationen, das sind seine Gründe. Wir empfanden dankbar die Wohltat ihres Verstehens und fühlten uns glücklich in ihrer sicher geleitenden Hand.

Einmal, ganz besonders gerührt durch neue Beweise ihrer geduldigen Liebe, baten wir sie, uns gegenüber nicht das steife »Sie« zu gebrauchen, sondern uns wie die kleinen Geschwister, die wir darum beneideten, »du« zu nennen. Sie forderte dasselbe von uns, und nun war das freundschaftliche Verhältnis auf den Ton gestimmt, in dem es sich erhalten sollte durchs ganze Leben.

Wie eine kleine Insel der Seligen ragt die Erinnerung an die Zeit, die wir damals verlebten, vor mir empor. Sie war die schönste, friedlichste meiner ganzen Kindheit.

 

Seit Anfang Mai befanden wir uns auf dem Lande unter der Obhut unserer Großmutter und Tante Helenes. Papa war in Wien zurückgeblieben, wo am 21. Juni seine Vermählung stattfand. Zwei Tage später sollte er mit seiner jungen Frau in Zdißlawitz eintreffen. Nach seiner Berechnung, wenn auf der Reise alles klappte, wenn nicht Regen eintrat und die Wege völlig ruinierte, in den Nachmittagsstunden. Empfangsfeierlichkeiten waren streng verboten; im Hause fand keine Veränderung statt. Tante Helene zog aus den Zimmern Maman Eugénies, die sie benutzt hatte, in eine Gastwohnung zu ebener Erde – das war alles.

Wir hatten uns bis jetzt wenig mit dem Gedanken an die neue Stiefmutter beschäftigt; als es aber hieß: Morgen ist sie da! gerieten wir in die gespannteste Erwartung. Daß Großmama stiller und ernster war denn je und Tante Helene besonders traurig, bemerkten wir kaum. Vom Wetter hing die rechtzeitige Ankunft der Reisenden ab – es gab also nichts Interessanteres als das Wetter. Und das war schlecht. Am Abend schon begann es zu regnen, und es regnete fort die ganze Nacht und auch den ganzen Morgen! Im Hause herrschte Ratlosigkeit. Die Beamten kamen und halfen sie vergrößern. Der Regen hielt an – was tun? Gestern waren Relaispferde entgegengeschickt worden; sollte man noch andere nachschicken? Wenn sie überflüssig waren, gab's Verdruß; wenn sie gebraucht wurden und fehlten, gab's auch Verdruß. Der Verwalter konstatierte das unter frenetischem Tabakschnupfen; der Burggraf, dem daran lag, nicht alle seine Pferde auf die Landstraße zu schicken, prophezeite gutes Wetter. Und richtig, es machte sich! Zu Mittag lag ein silberner Schimmer über dem Himmel, am Nachmittag schien die Sonne. Da zog man unserer Kleinsten ihr weißes Kleidchen an und auch uns weiße Kleider und unseren Brüdern ihre neuen blauen Blusen, und für jedes von uns brachte der Gärtner ein Bukett. Die Kleine sollte das ihre mit einigen begrüßenden Worten zuerst übergeben, und der Anblick dieses engelhaft schönen Kindes, das für sich und für seine Geschwister um ein bißchen mütterliche Liebe bat, mußte die neue Mama gewinnen und rühren. Nun waren wir zu ihrem Empfang bereit, und so würde sie denn gleich kommen. Wir standen im Hofe, und alle Augenblicke wollte das eine oder das andere das Rollen eines Wagens gehört haben, der den Berg heraufgefahren kam und nur der ihre sein konnte.

»Oh, mir klopft das Herz!« rief eines der fünf und ein anderes: »Und erst mir, fühl nur!« – »Meins klopft noch stärker.« Jedes wollte im Besitze des stärksten Herzklopfens sein.

So verging der Nachmittag. Das Wetter trübte sich wieder; wir wurden ins Haus zurückgerufen, lungerten herum, schlichen von einem Fenster zum anderen und spähten hinaus. Die Kleinste hatte vor Schläfrigkeit schon ganz verglaste Augen, wollte aber durchaus nicht zu Bett gehen und weinte bitterlich, als Pepinka sie in die Arme nahm und unter den zärtlichsten Liebkosungen ins Kinderzimmer trug. Dann gelang es Monsieur Just mit vieler Mühe, die beiden Büblein, die vor Schläfrigkeit nur noch lallten, aber doch wie die großen Schwestern aufbleiben wollten, in ihre Stuben zu locken. Endlich, ganz spät, ließ die Tante das Souper auftragen. Niemand aß; erschöpft von der Aufregung, in der der Tag zugebracht worden war, verlangten wir nach nichts anderem mehr als nach Ruhe. Still saßen wir bei Tische und hörten mit stumpfer Gleichgültigkeit den Regen unablässig niederströmen und prasselnd an die Fenster schlagen.

Es wurde elf Uhr. Nun legte Großmama ihr Strickzeug, das sie mechanisch vorgenommen hatte, fort, und: »Schlafen gehen!« hieß es für uns. Aber die Leute sollten doch noch eine Weile auf den Beinen bleiben und der Nachtwächter in der Nähe des Hoftores seines Amtes walten.

Wir lagen in unseren Betten im ersten tiefen Schlafe, als Großmama uns weckte. Sie war in Nachttoilette, ganz eingehüllt in ein umfangreiches braunes Seidentuch, und trug einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand. »Kinder, sie sind da!« rief sie. Ihre Stimme zitterte, und auch die Hand zitterte, in der sie den Leuchter hielt.

Das Haustor knarrte, Pferdehufe trappelten auf dem Holzpflaster der Einfahrt, ein schwerer Wagen rollte langsam herein . . . Einige Augenblicke, und aus der Tür des Nebenzimmers traten die neue Mama und unser Vater. Sie begrüßten die Großmama, kamen zu uns heran und küßten eine nach der anderen. Papa erzählte von den Widerwärtigkeiten der Reise. Besonders arg war es auf der letzten Strecke gewesen. Nur Schritt für Schritt kamen die Pferde auf den elenden Wegen vorwärts; die Finsternis wurde fast undurchdringlich. Gar oft mußte der Jäger absteigen, mit einer Wagenlaterne vorausgehen und leuchten . . . Und die Xaverine! Eine solche Ängstlichkeit wie die ihre war dem Papa noch nie vorgekommen – geschrien, alle Heiligen angerufen . . . sie hatte keine Courage, seine Frau.

Es war bald wieder dunkel und still um uns her, aber einschlafen konnten wir lange nicht.

Wie feucht das Kleid Mamas an ihr niederhing, und auch ihr Gesicht war ganz feucht; wir hatten es bemerkt, als sie uns küßte. Sie hatte geweint. – »Natürlich, weil sie sich gefürchtet hat«, meinte Fritzi, die das innigste Verständnis besaß für jede wie immer geartete Ängstlichkeit. Nach einer Weile – ich hatte gedacht, sie schliefe schon – begann sie wieder: »Eine Hochzeitsreise . . . Es ist traurig, eine solche Hochzeitsreise!«

Ich wunderte mich sehr. War das eine Hochzeitsreise? Das Wort schon hatte einen so heiteren Klang; man stellte sich darunter etwas ganz Helles, Angenehmes vor . . . Konnte man denn weinend ankommen von einer Hochzeitsreise?

 

Die erste Empfindung, die Mama Xaverine uns einflößte, war ein großes Bedauern. Wir fanden sie oft in Tränen. Sie litt an Heimweh, sie litt unter den Schwierigkeiten ihrer Stellung. Auf einen Schlag mit fünf Kindern gesegnet, die vierte Frau eines ältlichen, ihr fast fremden Mannes sein, durch ihre Umgebung, durch alles, was sie vor Augen hatte, an ihre Vorgängerinnen gemahnt werden, Vergleiche hervorrufen, die nicht immer das Wohlwollen anstellt, und nie seinen guten Mut verlieren – dazu hätte viel gehört. Überdies wirkte gar befremdlich auf sie der Einblick in einen musterhaft geführten Haushalt. Alles festgefügt und ineinandergreifend, strenge Ordnung und durchsichtige Klarheit, nirgends ein Winkel, in dem unlauteres Getriebe und betrügerisches Wesen sich verbergen konnten. Eine atmende, fühlende Maschine, die ihre Tagesarbeit munter und gelassen verrichtete, an der aber auch das kleinste Rad und die kleinste Schraube glänzte vor Vergnügen an ihrer treuen Pflichterfüllung und der Anerkennung, die ihr dafür zuteil wurde.

Im Geiste dieses genialen Pedantismus weiterzuwirken lag nicht in der Absicht und nicht in der Fähigkeit der neuen Gebieterin. Sie suchte vor allem unserem Hause den etwas bürgerlichen Anstrich abzustreifen, der ihm eigen war, trotz des soliden Wohlstandes, der in ihm herrschte, der vielen Diener, der hübschen Livreen, der eleganten Equipagen. Der Verwandten- und Bekanntenkreis Mamas stand auf der sozialen Leiter um eine Sprosse höher als der unsere und sollte allmählich der tonangebende werden.

Ohne Frage zog mit der neuen Stiefmutter ein frischerer Geist bei uns ein. Sie besaß, was man »des talents d'agrément« nannte, sang mit angenehmer Stimme und nettem Ausdruck französische Romanzen, und wir waren glücklich, sie auf dem Klavier begleiten zu dürfen. Ebensosehr freute es uns, ihr zuzuhören, wenn sie, was sie regelmäßig tat, im Herbste, als die Abende länger wurden, vorlas. Grüns edles Gedicht Der letzte Ritter, Kenilworth, Godwie-Castle, auch manches gute Buch von Friederike Bremmer und Emilie Flygare-Carlén lernten wir durch sie kennen mit einem Genuß, für den ich nie aufhören werde ihr dankbar zu sein. Wir gewannen sie bald sehr lieb und bewunderten, außer ihrem Gesang und ihrer Vorlesekunst, auch ihre Malereien. Kleine Ölbilder, die sie unter der Leitung ihres Lehrers gemalt hatte, würden vor einer strengeren Kritik als die unsere bestanden haben. Besonders reizvoll aber fanden wir Aquarelle, die in einem Album versammelt und von Mama ganz allein gemalt waren: Darstellungen aus dem Leben, das sie daheim geführt hatte, ihre Lieblingsplätze im Garten und im Schlosse – alles höchst interessant, und heute müßte man mir mit einem Rudolf oder Franz Alt kommen, um mich so zu erfreuen, wie die Bilder der guten Mama mich erfreut haben. Sie zeichnete kühn und naiv und lebte mit der Perspektive auf demselben Fuße wie Giotto. Da gab es zum Beispiel in ihrem Album ein Bild, das den Titel führte Mein Zimmer und das Aussehen eines aufgerichteten Schachbretts hatte. An dem hingen mehrere Möbel und ein kleiner Hund. Nach oben verjüngte sich das Brett, und auf seiner schmalen Kante stand an einem offenen Fenster eine Dame vor einem Blumentopf. – Wenn die nur nicht herunterrutscht! dachte man. Weil sie aber am nächsten Tage noch dastand, verging die Sorge, und die Heiterkeit des Anblicks blieb.

Im Laufe des Sommers verließ uns unsere liebe Tante Helene, und schwer wurde ihr und uns der Abschied, obwohl die Trennung nur kurze Zeit dauern sollte. Sie fuhr nach Wien, um im dritten Stock des Rabenhauses eine Wohnung für sich und Onkel Moritz einzurichten, dieselbe, die sie schon innegehabt hatten, als er noch ein Kind war, und die später er und ich durch viele Jahre bis zu seinem Tode bewohnt haben. Sie war nicht groß, und durch keines ihrer Fenster drang je ein Sonnenstrahl. Ihm aber durchleuchtete die Erinnerung an seine glückliche Kindheit und an Mannesjahre voll reicher geistiger Tätigkeit ihre bescheidenen Räume. Er hat den Abbruch des alten Gebäudes nicht mehr erlebt.

Nun ist es hinweggefegt. An einer Ecke des Platzes, den es wuchtig und breit eingenommen hat, erhebt sich ein schmuckes Haus mit schmalem Eingangstor, schmaler Treppe, niedrigen, schmalen Gängen und niedrigen Zimmern. Nach englischer Mode heißt es, die aus der Not eine Tugend macht. Der Rest des Baugrundes ist Straßengrund geworden. Wagen und Automobile rasseln, Ströme von Menschen schreiten über den Boden, in den einst die »Drei Raben« ihre mächtigen Fundamente senkten.

Eine zweite Vielgetreue schied im Laufe des Winters. Die alte Pepinka trat in Pension. Mama Xaverine sah ihrer Niederkunft entgegen und hatte für das Kindchen, das zur Welt kommen sollte, eine andere, jüngere Wärterin gewählt. Pepinka schlich sich nicht leise davon wie Anischa, stürmisch und tränenreich war ihr Abschied von dem Hause, in dem sie fünf Kinder mit grenzenloser Pflichttreue und Hingebung aufgezogen hatte. Besonders schwer fiel ihr die Trennung von ihrem Liebling, von unserer Ältesten. Und diese hörte ich am Abend desselben und manchen folgenden Tages noch lange schluchzen, nachdem man uns zu Bette gebracht hatte. Ich kannte die Ursache ihres Grams. Ihn erweckte der Gedanke: Jetzt geht auch Pepinka schlafen und hat niemand, der ihr gute Nacht sagt. In ihrer Unermüdlichkeit nahm Fräulein Marie die Obsorge über unsere Kleine auf sich, die damals noch mehr ins Kinder- als ins Gouvernantenzimmer gehört hätte. Aber sie befand sich in bester Hut, und für meine Schwester und mich war es ja doch ein auserlesenes Vergnügen, das »Sophiederl« jetzt immer in der Nähe zu haben und mit beaufsichtigen zu dürfen.

Unter dem Einfluß Mamas erfuhr nach und nach unser ganzes Unterrichtswesen eine Umgestaltung. Vom Gediegenen hüpften wir zum Gleißenden hin. Ein neuer Klavierlehrer setzte uns bald instand, unserem Vater Potpourris aus verschiedenen Opern vorzuspielen. Zu seinem Geburtstage konnten wir ihm »reizende« Aquarelle darbringen, in denen sich stellenweise eine erstaunliche Routine verriet, die wir mit dem besten Willen nicht für selbsterworben halten konnten.

An die Stelle des altmodischen Herrn Minetti trat eine elegante Französin, die den Tanzunterricht damit begann, daß sie uns gehen, stehen, sitzen lehrte und in den Salon eintreten und den Salon verlassen und grüßen – je nach Gebühr. Der Praxis ließ sie die Theorie vorangehen. Man hätte ihre Definitionen der verschiedenen Arten zu grüßen bei einem Haare geistvoll nennen können. Zum Schluß kamen dann, oft wiederholt, die Worte: »Oh, meine jungen Damen, genau muß das wissen, wer gute Manieren haben will! Gute Manieren, meine jungen Damen, sind sehr viel, sind beinahe alles. Wenn Napoleon gute Manieren gehabt hätte, wäre er ein ganz großer Mann gewesen.«

Mit einem lieben Hausgenossen, mit Monsieur Just, war eine Zeit nach der Ankunft unserer Stiefmutter eine traurige Veränderung vorgegangen. Seine kindliche, immer gleichmäßige Fröhlichkeit, sein inniges Interesse für jedes einzelne von uns, seine eifrige Teilnahme an unseren Spielen – alles vermindert, alles wie verwelkt und erloschen.

Im Sommer schon war es uns oft aufgefallen, daß er dasitzen konnte ohne Bewußtsein dessen, was um ihn vorging. Wenn wir ihn in einem solchen Augenblick anriefen, fuhr er auf und starrte uns an, verwirrt und fragend, wie plötzlich geweckt aus tiefem Traume. Manchmal rannte und rannte er im Garten herum, bis ihm der Atem versagte und er halb bewußtlos auf eine Bank niedersank. Unserem Vater gegenüber war er immer völlig unbefangen gewesen, hatte nie die geringste Furcht vor ihm gezeigt, hatte auch keinen Grund dazu gehabt, denn Papa hielt ihn wert und ergriff jede Gelegenheit, ihn zu loben und ihn unseren Brüdern als Muster aufzustellen. Jetzt aber ging Monsieur Just ihm aus dem Wege, sooft es ihm nur möglich war. Wir bemerkten, daß er eine ganz andere Stimme hatte als sonst, wenn er mit unserem Vater sprechen mußte, der doch immer gleich gut gegen ihn war und dem sein seltsames Wesen Besorgnis zu erregen schien. Auch die Gegenwart Mamas setzte den armen Monsieur Just in große Verwirrung; er wurde rot und blaß und geriet völlig außer Fassung. Warum nur? Sie behandelte ihn ja nicht um ein Haar anders als uns, ebenso freundlich und mütterlich.

Einmal geschah's, daß sie bei Tische eine Frage an ihn stellte und er zusammenfuhr, die Augen auf sie richtete, erbleichte, wankte und – ohnmächtig zu Boden stürzte.

Wir weinten und jammerten und hielten ihn für tot. Er aber, eine Stunde später, lachte über uns und über seinen Unfall und versicherte, daß ihm nichts fehle, gar nichts, und daß es sehr gesund sei, manchmal ein bißchen ohnmächtig zu werden.

Der kleine Victor ließ sich über das Unheimliche der Sache nicht so leicht beruhigen und fragte unaufhörlich: »Mais pourquoi avez-vous été mort, Monsieur Just? Pourquoi avez-vous été mort?«

Mit Fräulein Marie hatte Just lange Unterredungen. Sie schien ihm tröstend, beschwichtigend zuzusprechen. Einmal glaubten wir zu hören, daß sie ihn beschwor, auf die Bitten unserer Eltern Rücksicht zu nehmen, und daß er darauf erwiderte: »Ich kann nicht, es ist unmöglich, ich muß fort!«

Im Spätherbste dann, bald nach unserer Rückkehr in die Stadt, begab es sich, daß er vom Abendessen wegblieb, das immer gemeinsam für uns in unserem Lehrzimmer aufgetragen wurde. Erst als es für die Brüder Zeit war schlafenzugehen, holte er sie ab. Er brachte ihre Mäntel, legte sie ihnen um, sagte meiner Schwester und mir gute Nacht, ging auf Fräulein Marie zu und drückte ihr die Hände herzlich und lange, konnte aber nicht sprechen. Wir sahen voll Bestürzung, daß er schwer mit seinen Tränen rang, und erhielten keine Antwort auf unsere besorgten Fragen, was ihm sei und warum er weine. Er schob die Knaben bei den Schultern vor sich her der Tür zu, die sich bald darauf zum letztenmal hinter diesem lieben Menschen schloß.

Am nächsten Morgen kamen die Brüder weinend zu uns herüber. Monsieur Just war fort. Er hatte ihnen Lebewohl gesagt und uns alle noch, alle, vielmals grüßen lassen.

Mama war den Knaben auf dem Fuße gefolgt, bemühte sich, uns zu trösten, und versicherte, Monsieur Just werde wiederkommen, er habe jetzt nur für kurze Zeit zu seiner Mutter nach Frankreich reisen müssen. Und dann bat sie die gute Marie, heute auch die Buben zu beaufsichtigen und mit der ganzen Kindergesellschaft im großen Familienkobel – das war ein weitläufiger, viersitziger Wagen – in den Prater zu fahren. Für abends hatte Papa eine Loge im Kasperltheater genommen, wo Döbler seine Taschenspielerkünste vorführte.

Vierzehn Tage hindurch hatten wir Ferien. Man ließ uns nicht Zeit, dem Schmerz um unseren Freund nachzuhängen. Wir undankbaren, leichtsinnigen und eitlen Kinder genossen jedes dargebotene Vergnügen aus dem Grunde und bildeten uns viel ein auf die Mühe, die unsere Eltern sich gaben, uns zu zerstreuen.

Einmal fuhren wir nach einer Vorstadt, in der sich eine vielgerühmte Erziehungsanstalt für Knaben befand. Unser Besuch mußte angekündigt gewesen sein, denn der Vorsteher und seine Frau erwarteten uns auf der Schwelle ihres Hauses. Wir wurden durch all seine Räume geführt, auf die Ordnung und Reinlichkeit, die in ihnen herrschten, auf die Zweckmäßigkeit jeder Einrichtung, auf jeden Vorzug des mustergültigen Instituts aufmerksam gemacht. Unsere Eltern waren voll der Anerkennung und des Lobes.

Aus dem Hause ging's in den Garten, dessen Größe gerühmt wurde und der uns sehr klein erschien. Einige Dutzend Knaben und Jünglinge spazierten herum, spielten oder turnten. Alle, die vom Vorsteher-Ehepaare angesprochen wurden, antworteten je nachdem mit einem kindlichen: »Ja« oder »Nein«, »Mutter« oder »Vater«.

Am nächsten Tage bei Tisch ergingen sich unsere Eltern im Preise der Anstalt, ihrer Leiter, des blühenden und zufriedenen Aussehens der Zöglinge. Fräulein Marie und auch wir Kinder wurden aufgefordert, unsere Meinung zu sagen. Wie das Urteil der anderen ausgefallen ist, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, daß ein Gelächter sich erhob, als ich erklärte, Mutter zu sagen zu einer fremden Frau würde ich meinen Kindern nie erlauben!

Bald darauf standen die Brüder im Speisezimmer, eingeknöpft in ihre kleinen Paletots, die Hüte in der Hand, zum Fortgehen bereit. Aus den hellblauen Augen des jüngeren sprach eine schmerzliche Betroffenheit. Sollte mit ihm nicht etwas geschehen, das eigentlich unmöglich war, sollte er nicht fort von zu Hause? Der ältere hatte den Kopf von ihm abgewandt, er wollte ihn nicht ansehen, sein Anblick hätte ihm zu weh getan. Wir kannten ihn, Fritzi und ich, wir wußten, was in ihm vorging. Er hatte jetzt nur eine Sorge. Wie wird es dem Kind ergehen im Institute? Unter allen Buben, die dort sind, wird er der jüngste und schwächste sein, und sein starker Bruder wird vielleicht nicht immer zurechtkommen können, um ihm beizustehen, wenn er sich in Händel einläßt, der leicht gereizte, streitbare Kleine. Keiner der beiden sprach, und auch wir brachten kein Wort heraus, und es war, als ob die Scheidenden uns fast schon entfremdet wären. Wir betrachteten sie von einer Fenstervertiefung aus, und der Druck einer beängstigenden Befangenheit, eines peinlichen Zwiespalts lag auf uns.

Warum schickt man sie fort, diese zwei Kinder, die ein gutes Daheim, die Eltern und Geschwister haben? Ist es nicht grausam, sie fortzuschicken unter fremde Menschen? Aber die Eltern tun es, und was sie tun, hatten wir von klein auf gehört, ist immer das Rechte.

Der Wagen wurde angemeldet, Papa kam aus seinem Zimmer, und aus dem ihren, von der entgegengesetzten Seite, kam Mama. Sie umarmte die beiden kleinen Buben und ermahnte sie, recht brav zu sein, sie würden dann schon am nächsten Sonntag wiederkommen dürfen.

»Und dableiben?« Ich glaube, wir riefen das alle zugleich wie aus einem Munde, und die Enttäuschung war bitter, als es dann hieß: »Ja, ja, den ganzen Tag.«

Papa schritt der Ausgangstür zu. »Sagt adieu und kommt!« sprach er, und es war leicht, aus seinem strengen Tone eine unterdrückte Rührung herauszuhören.

Von einigen der Notizbüchlein, die ich damals immer nebst Bleistift und Federmesser in meiner Tasche herumtrug, sind noch Rudera erhalten. Ein ganz schief mit Bleistift liniiertes Blättchen kam mir neulich in die Hand, auf dem, kaum noch zu entziffern, geschrieben steht: »Die Brüder sind heute fort. Ich habe einen Schmerz in meinem Herzen. Der ist viereckig und hat Ränder, die sind scharf. Er hat auch Spitzen.«

Am nächsten Sonntag hatten die Knäblein wirklich »Ausgang«. Papa holte sie selbst im Institute ab. Sie waren traurig und gedrückt, und der Kleine vertraute mir geheimnisvoll an: »Was dort für Buben sind! . . . Wie die sind! Das kannst du nicht denken, wie die sind!«

Ihre Ferienzeit brachten die Brüder in Zdißlawitz zu, und wir verlebten gute Tage mit ihnen. Einer der Vorsteher der Anstalt, Herr Hönig, hatte sie begleitet. Er war mit Monsieur Just an Liebenswürdigkeit, Lustigkeit, an Erfindungsgabe bei den Spielen nicht zu vergleichen, aber ein vortrefflicher Mensch, ein wahrer Freund seiner Zöglinge. Sie hatten leider bald das Mißgeschick, auch ihn zu verlieren; er trat, wenn ich nicht irre, eine Professorstelle an einem Gymnasium an. Sein besonderer Schützling, der kleine Victor, war ganz untröstlich und schrieb an Papa: »Ich hab drei Tage um Herrn Hönig geweint.«

Im September, an meinem Geburtstage, erlebte ich das für mich vielleicht denkwürdigste Ereignis meiner Kinderjahre: Mama schenkte mir Schillers sämtliche Werke in einem Bande. Ein großes, dickes, prächtiges Buch, eng gedruckt, ein Reichtum, nicht zu erschöpfen, und wenn ich hundert Jahre alt würde. In den ersten Tagen, im ersten Rausche des Besitzes, war von systematischem Lesen nicht die Rede. Ich glaube, daß es eine der Balladen gewesen ist, die mich umfing wie eine feurige Umarmung und mich erhob in ein Bereich nie geträumter Herrlichkeit. Das gibt's? – Das gibt's – das ist eingefangen da auf diesen Blättern, und wenn man seine Augen auf ihnen ruhen läßt, steigt es herauf, durchtränkt die Seele, prägt sich dem Gedächtnis ein, und man hat es, man kann es vor sich hersagen und sehen, was er gesehen hat, dieser Dichter, und uns darstellt mit prunkvollen Worten, wie nur der eine, einzige sie sprechen konnte! Das Titelbild, ein Stahlstich nach der Schillerstatue von Thorwaldsen, stellte mir den Dichter in edelster Erscheinung dar. So mächtig, so voll Größe und Kraft und das schöne Haupt doch gebeugt unter der Last des schweren Kranzes. Selbst errungen, der überreiche, der ihn nun bedrückte. Klar wurde es mir freilich nicht, daß der Bildhauer vielleicht diesen Gedanken hatte ausdrücken wollen; nur als etwas Unbestimmtes, unsagbar Anziehendes kam es mir zum Bewußtsein. Marie und meine Schwester fanden mich einmal in die Betrachtung des Bildes meines vergötterten Dichters versunken, und ich machte sie auf sein unter dem Kranze gesenktes Haupt aufmerksam. Da legte Fritzi ihre Hand auf meinen Scheitel und sagte: »Sie glaubt gewiß, daß auch sie einmal einen solchen Kranz auf ihrem Kopf haben und so dastehen wird.«

Sie hatte das liebreich, mit ganz harmlosem Spotte gesprochen und mich trotzdem schwer beleidigt. Gerade jetzt meldete »es« sich nicht mehr. Seitdem ich im Besitze meines Schiller war, lebte ich nur in ihm, und seine Gedichte unermüdlich herzusagen machte jetzt mein Glück und meine Freude aus. Wie oft mußten die alten, vertrauten Lindenbäume unserer Allee den Eichwald brausen hören! Wie oft rief ich ihnen, die gewiß darüber staunten, zu: »Ich habe gelebt und geliebet!«

Alles wiederholt sich im Leben, weil wir selbst uns immer wiederholen, und wie ich einst mit allen meinen Gedanken und Gefühlen in der Haut eines kühnen Drachentöters oder eines armen, verfolgten Stieftöchterleins gesteckt hatte, so war ich jetzt abwechselnd eine oder die andere Heldengestalt Schillers und nahm zum Erstaunen meiner Umgebung plötzlich laut Abschied von meinen geliebten Triften oder forderte mit ungestümem Pathos Gedankenfreiheit.

Böse Stunden der Reaktion stellten sich allerdings auch ein, ich konnte auch Entrüstung empfinden über meinen Abgott. Er hatte mir mit der matten Limonade und mit verschiedenen Grobheiten, die der alte Miller seiner Frau sagt, Kabale und Liebe verunstaltet, und sehr lächerlich kamen die Gedichte an Laura mir vor. Ich erlaubte mir sogar, eines von ihnen zu travestieren, und wurde dafür von Marie tüchtig gezankt. Sie bedauerte, daß Mama mir ein Kleinod in die Hand gegeben habe, dessen Wert zu schätzen ich noch ganz und gar nicht vermöge. Ich würde mir sonst eine Kritik nicht erlauben – aus Pietät. Zur Pietät aber fehle mir die Reife.

Sie fehlte mir freilich auch zur Würdigung dieser Strafpredigt. Viel später erst ging ein Verständnis des innigen Zusammenhanges zwischen Unreife und Mangel an Pietät mir auf. Aus Tausenden von Lehren, die das Leben uns erteilt, aus täglichen Erfahrungen können wir es schöpfen. Pietät ist immer nur die Frucht der edlen Ausgeglichenheit, die man Reife nennt. Die Jugend weiß nichts von ihr, und ewig unerreicht bleibt sie den Halbgebildeten, den Vorurteilsvollen, den Parteilichen.

Daß meine Stiefmutter unrecht gehabt hat, mir, dem elfjährigen Kinde, die Werke Schillers zu schenken, kann ich heute noch nicht einsehen. Ich werde es meinen Eltern auch immer danken, daß sie im Laufe des folgenden Winters meine Schwester und mich an jedem ihrer Logentage ins Burgtheater mitnahmen. Wir sahen alle klassischen Stücke, die auf der damals Ersten deutschen Bühne zur Aufführung kamen. Wir sahen Das Leben ein Traum und fühlten uns in den Himmel getragen von dem Schwung seiner Verse, wir sahen Wallenstein mit Anschütz in der Titelrolle, Maria Stuart, Hamlet, wir sahen den Prinzen in Emilia Galotti von Fichtner so hinreißend und liebenswürdig dargestellt, daß wir herzlich wünschten, der alte Edoardo möge doch ihm seinen Segen geben zur Vermählung mit Emilia. Von einem weniger soliden Bunde wußten wir nichts und fanden überdies den Grafen Appiani einen recht steifleinenen Herrn. Minna von Barnhelm mit Fräulein Enghaus als Minna, Lucas als Tellheim, Wilhelm als Werner, La Roche als Just gespielt zu sehen war ein feinster, unauslöschlicher Kunstgenuß. Und nun erst Egmont mit Löwe in der Titelrolle und Julie Rettich als Margarete. Da, und als Mutter der Makkabäer und später dann als Marfa im Demetriusfragment, hat diese Frau, die eine Herrschernatur war und ihre Kunst wie eine Priesterschaft ausübte, dank ihrer geistigen Überlegenheit und echten Seelengröße eine Höhe erreicht, zu der stärkere, aber auf minder edlem Boden stehende Talente nie gelangen.

Wie die Märchen Perraults, wie die Geschichte und die Sagen des Altertums, so wurden uns auch die Kunstgenüsse im Burgtheater in ärmlicher Ausstattung geboten. Meine verehrte Freundin, Gräfin Schönfeld, ehemals Luise Neumann, und ich erinnern uns oft lächelnd des Rüstzeugs, mit dem die großen Schauspieler jener Tage versehen wurden, um ihre glänzenden Siege zu erringen. Der ganze Dekorationsapparat der Ersten deutschen Bühne entfaltete sich innerhalb der Grenzen äußerster Sparsamkeit. Besonders hart übte sie ihre Gesetze dem feinen Lustspiel gegenüber aus. In den vornehmen Häusern saßen die Damen auf einem mit Rohrgeflecht überspannten Kanapee, im bürgerlichen Haushalt gab es nur Holzsessel. Eine Zimmerdekoration, eine besonders gute alte Bekannte, war in jungen Tagen rosenfarbig gewesen, zwei Landschaften, Grau in Grau gemalt, zierten ihre Mittelwand. Bevor sie selbst erschien, schwebte ihr der ganzen Breite nach ein Streifen sehr schmutziger Fransen voran, in die sich allmählich ihre untere Partie aufgelöst hatte. Während sie niederrollte, kamen rechts und links je zwei Diener, die je einen glatten, viereckigen Tisch auf die Bühne stellten. Sie trugen auch einige Sessel herbei, und wenn ein Paar von diesen vor das Souffleurhüttchen gestellt wurde, ahnten wir, daß ein wichtiges Gespräch zu erwarten war, und spitzten die Ohren. Es kam; die Zuhörer genossen es und verstanden jede feine Wendung und freuten sich jeder Pointe, und unsere Herzensangelegenheit war's, die man dort verhandelte. Wenn ein Liebling des Publikums auftrat, ging's wie ein leises, freudiges Atmen durch das Haus; ein beifälliges Gemurmel, ein kurzes, herzliches Klatschen dankte für besonders vortreffliches Spiel. Unsere Mimen verstanden die Innigkeit unseres Dankes und die Treue zu schätzen, die ihrer nie vergessen und die Nachwelt zwingen werde, ihnen Kränze zu flechten.

Unser altes Burgtheater! Es war für mich, und wird es gewiß für viele gewesen sein, ein Quell edler Freude, ein Bildungsmittel ohnegleichen. Ihm verdanke ich die Grundlage zu meiner ästhetischen Erziehung, die damals begann und heute – noch lange nicht beendet ist.

Die Glückseligkeit, in die mich die Vorstellung versetzte, wurde immer etwas getrübt durch das Fallen des Vorhangs nach den Aktschlüssen. Es riß mich aus der Bezauberung und mahnte, daß ein Teil der mir so köstlichen Stunden vorüber sei.

Der Nachgenuß aber war etwas Vollkommenes. Ich wandelte einher wie auf dem Kothurn, ja, es kam mir in die Füße! Ich schritt gleich den hochgestellten Persönlichkeiten bei feierlichen Aufzügen auf der Bühne, heroische Gefühle erfüllten mein Herz, der Wille zum Leiden erwachte in seiner ganzen Stärke und mit ihm die brennende Sehnsucht nach einem großartigen Martyrium.

Neben den klassischen Stücken waren aber die Schau- und Lustspiele, die bei den Meinen besonders in Gnaden standen, auch mir sehr willkommen. Zwei Damen, zwei dramatische Schriftstellerinnen, gelangten um jene Zeit sehr oft zu Worte. Die Prinzessin Amalie von Sachsen mit dem Oheim, dem Landwirt, der Stieftochter, Frau von Weißenthurn mit zahlreichen Dramen. Die Erinnerung an sie ist erloschen; ich entsinne mich nur dunkel des einen, das Pauline hieß und in dem Luise Neumann die Hauptrolle spielte.

»Ach, die liebe, gute Frau von Weißenthurn, wenn wir sie nicht hätten!« sagte Börne, und sie hätte erwidern dürfen: Ach, der liebe, gute Börne, der destruktive Kritik so meisterhaft übt – wenn ich den nicht hätte! Er nimmt mich mit in seine – Vielleicht-Unsterblichkeit; wer würde ohne ihn nach einem halben Jahrhundert noch etwas wissen von meinem Schauspiel Agnes van der Lilie und von meinem Lustspiel Beschämte Eifersucht?

Der Winter 1842 brachte dem Burgtheater drei Ereignisse: die erste Aufführung von Friedrich Halms Der Sohn der Wildnis, den Abschied Johannas von Weißenthurn vom Burgtheater, dem sie durch zweiundfünfzig Jahre angehört hatte, die Feier von Korns vierzigjährigem »Dienstjubiläum«.

Dem Sohn der Wildnis stand ich ratlos gegenüber. Das »romantische Drama« feierte Triumphe, ich hörte nur Aussprüche des Lobes und der Bewunderung, während mir einige Szenen geradezu Pein verursachten. Einen großen Teil der Schuld daran schob ich Julie Rettich, der Darstellerin der Parthenia, zu. Der edlen Frau und Künstlerin fehlte der Zauber der Anmut. Wenn sie, im zweiten Akte von den wilden Tektosagen gefangengenommen, sich hinsetzte und Kränze wand, entwickelte sie diese unwahrscheinliche Tätigkeit mit verletzend eckigen Bewegungen. Man mußte wirklich ein Barbarenhäuptling sein, um nicht Anstoß an ihnen zu nehmen. – Aber dann . . . Als Ingomar, angewidert durch die Niedertracht des Kulturvolkes, dessen Genosse er geworden, sich losreißt, um in seine Wildnis zurückzukehren, holt Parthenia sein ihr anvertrautes Eigentum, sein Schwert, herbei. – Er will es ihr abnehmen. – Nein. Sie wird es tragen – ihm nach.

»Wohlan denn«, sagt er, »bis zum Markte –«

Und sie:

»Bis zum Markt –
Nein, noch ein Stückchen weiter – bis ans Tor –
Noch weiter, bis zum Meer und übers Meer
Hinaus, und über Berg und Tal und Ströme,
Nach Ost und West, wohin dein Lauf sich kehrt.
Wohin dich irrend deine Schritte tragen,
Solang mein Herz pocht, meine Pulse schlagen,
Solang ich atme, trag ich dir dein Schwert!«

Da meinte man Glockenklang zu vernehmen, siegreich und unwiderstehlich flutete der Wohlklang dieser Verse durch das Haus, getragen von einer Stimme, die gleich einer Naturgewalt mächtig blieb, ob sie dräute oder schmeichelte, brauste oder lispelte.

Gar oft haben wir den Sohn der Wildnis aufführen gesehen, und jedesmal brach an dieser Stelle des Gedichtes jubelvoller Beifall los, in den mein Vater einstimmte und auch ich aus allen meinen Kräften. Leid tat mir nur, daß der Sieg des Barbaren über die unerträglich nörgelnde Griechin kein vollständiger war. Sein Bärenfell hätte er wieder umhängen, in seine Wälder hätte er die merkwürdigerweise Geliebte mitnehmen und wieder Häuptling seiner Tektosagen werden sollen, ein Feind und Schrecken der verruchten Stadt Massalia, nicht ihr friedlicher Bürger. So meinte ich als Kind, und bei der Meinung bin ich geblieben und habe sie viele Jahre später dem Dichter mitgeteilt, der mein treuer Freund und Lehrer geworden ist.

Er hat mir nicht ganz unrecht gegeben.

Der Abschied Frau von Weißenthurns von der Stätte ihrer langjährigen Tätigkeit gestaltete sich zu einem Burgtheater-Familienfeste. Unter fast ununterbrochenem zustimmendem Gemurmel des Publikums und so vielem Applaus, als sich halbwegs passend anbringen ließ, wurden zwei von der dichtenden Schauspielerin verfaßte Stücke aufgeführt. Dann, stürmisch gerufen, trat sie an die Rampe und erzählte umständlich ihren ganzen Lebenslauf. Sehr andächtig hörte man ihr zu, und als sie mit Worten innigen Dankes schloß, erntete sie Dank, sehr warmen, aber völlig platonischen. Kein Lorbeerregen, keine Auffahrt von Blumenarrangements; nichts von fanatischen Huldigungen, die jetzt unseren Bühnengrößen dargebracht werden und – wer weiß – vielleicht einen Mangel verbergen. Gibt man heute soviel, weil man morgen nichts mehr zu geben hätte?

»Dableiben! Dableiben!« riefen wir alle, ehe der Vorhang sich senkte, der guten Frau von Weißenthurn zu, der es nicht einfiel fortzugehen. Wir sahen sie gar oft noch im dritten Stock des Burgtheaters in der Schauspielerloge sitzen. Wenn eines ihrer Werke aufgeführt wurde, fehlte sie nie und belohnte bei den rührenden Stellen ihre ehemaligen Kollegen durch strömende Tränen für ihr vorzügliches Spiel.

Wie das Jubiläum Korns gefeiert wurde, davon vermag ich nicht mehr Rechenschaft zu geben; ich weiß nur, daß wir erschraken, als wir erfuhren, er gehöre dem Burgtheater seit vierzig Jahren an. Da hatten unsere Großmütter schon für ihn geschwärmt, und er wäre ein alter Mann? . . . Und neulich erst hatte er uns so gut gefallen als Admiral in den Fesseln, und Fritzi war tief gekränkt gewesen, als Papa sagte: »Der arme Korn hat keine Stimme mehr.« Und nun mußte man's ganz natürlich finden, daß er keine Stimme mehr hatte, dieser bejahrte Liebling. Übrigens – Liebling blieb er, trotz seiner Heiserkeit, die sich nicht mehr geben wollte. Löwe war ja herrlich und kam uns in manchen Rollen, zum Beispiel als Siegfried in Raupachs Nibelungen, wie ein Halbgott vor und Fichtner stets wie das Urbild der Liebenswürdigkeit. Auch Lucas konnte äußerst gewinnend sein in seiner gehaltenen, noblen, etwas feierlichen Weise; aber Korn blieb der Feinste, der unumschränkte Beherrscher schöner Form, die nur das Sichtbargewordene des schönsten geistigen Inhalts sein konnte. Korn blieb der siegreichste Herzensbezwinger. Einmal erhielt er einen Beweis davon, der ihm gewiß mehr Freude machte als der lauteste Applaus und die schmeichelhafteste Rezension. Er hatte seinen unvergeßlichen Hauptmann Klinger gespielt, stand als gütige Vorsehung der ganzen Gesellschaft mitten unter glücklichen Brautpaaren, sah sich um und fragte: »Und mich will niemand heiraten?« – »Ich!« antwortete ihm laut eine Mädchenstimme. Aus einer Loge des ersten Ranges kam der Ruf spontan, mit unwillkürlicher Hingerissenheit. Korn lächelte, wollte aber nichts gehört haben; das Publikum lachte wohlwollend; einige »Bravo!« ließen sich hören, einige Parterrebesucher grüßten hinauf zu der Loge, in der eine anmutige junge Gräfin sich bestürzt hinter ihre bestürzten Eltern zurückzog.

Kaum zwei Jahre hatten wir unter der Obhut unserer guten Marie gestanden, als sie nach Prag berufen wurde, wo ihr Vater und ihr Bruder an Typhus erkrankt waren. Sie fand die Ihren in einem fast trostlosen Zustand. Er besserte sich zwar allmählich, unter allen Umständen aber, schrieb unsere Freundin, müßten wir uns auf eine lange Trennung gefaßt machen; vorläufig wäre der Tag ihrer Rückkehr noch nicht abzusehen.

So blieb denn nichts übrig, als sich dem bedenklichen Auskunftsmittel einer provisorischen Regierung zu bequemen, und unser Haus wurde der Schauplatz eines seltsamen Gouvernantenfestzuges. Eine schöne, hochgewachsene Deutschböhmin, die in Paris erzogen worden war, eröffnete ihn. Ihr Benehmen konnte man nur vortrefflich nennen; sie war weder verlegen noch anmaßend, grüßte schön, aß schön. Aber bei der Wahl ihres Berufes hatte sie danebengegriffen und zog deshalb vor, ihn nur nominell auszuüben. Sie hatte reiche dunkelblonde Haare, die sie nach der damals herrschenden Mode vorne abgeteilt und in Locken trug. Den Morgen brachte sie damit zu, den goldigen Kopfschmuck auf dem Lockenholz zu glätten und zu blänken, und den Abend damit, ihn in Papilloten zu wickeln. In der Zwischenzeit lag sie auf dem Kanapee und las Romane aus der Leihbibliothek. Der Müßiggang, dem die Interimsgouvernante uns überließ, wurde sehr bald langweilig. Es verdroß uns auch, daß sie sich um unsere Jüngste gar nicht bekümmerte. Die kleine Sophie aber lernte ihr etwas ab. Sie hatte feine, von Natur gelockte Haare und fing an, dem Beispiel des Fräuleins folgend, eine der seidenweichen Strähnen nach der andern um ein Kipfel zu winden, das sie eigens zu dem Zwecke vom Frühstück aufbewahrt hatte. Sie saß auf einem Schemel, schaute vor sich hin, sprach nicht und wand ihre Locken auf und ab und hätte stundenlang so dasitzen mögen, wenn wir es geduldet hätten.

Mama täuschte sich nicht über die Unzulänglichkeit der wohlerzogenen Dame. Eines Tages verschwand sie samt ihren Romanen und ihrem Lockenholz, und ihre Stelle wurde durch eine kleine, dicke, rotbäckige Französin eingenommen. Das war nun die Gutmütigkeit in Person, dieses abermalige Fräulein. Schon nach den ersten Unterrichtsstunden, die sie uns gab, bemerkte ich, daß sie mich an Ignoranz weit übertraf. Ihre Bekanntschaft mit Geographie und Geschichte war von komischer Dürftigkeit. Die Sprachlehre kannte sie nur dem Namen nach. Sie mußte, um unser Diktando auszubessern, das Buch, aus dem sie vorgesagt hatte, zu Hilfe nehmen. Ich fragte sie, ob sie nicht auswendig korrigieren könne, und sie antwortete unbefangen: »Ma foi, non!«

Mon Dieu! Es war ihr nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie Gouvernante werden sollte. In Wohlhabenheit aufgewachsen, hatte sie selbst eine Gouvernante gehabt, eine vernünftige, von der sie nicht geplagt wurde mit dem Studium gelehrter Bêtisen. Auch gute Eltern hatte sie gehabt; nur ein bißchen verschwenderisch waren sie und hinterließen, als sie starben, ihren schon erwachsenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter, sehr beträchtliche Schulden.

Les pauvres vieux! Sie werden sich Sorgen genug gemacht haben! Ihre Kinder grollten ihnen nicht. Der Sohn diente in der österreichischen Armee, hatte es bis zum Hauptmann gebracht und seine Schwester kürzlich nach Wien berufen. In Frankreich durfte sie sich als garde d'enfants placieren, in Wien nur als Gouvernante. Pensez donc – die Schwester eines Hauptmanns! Wir lernten auch ihn kennen, Papa lud ihn oft zu Tische. Er hatte große Ähnlichkeit mit seiner Schwester, liebte sie sehr, nahm sie oft mit auf »Elitebälle« und ließ ihr dort zwei Portionen Gefrorenes geben. Oh, ihr Bruder, der Hauptmann, der kargte nicht! Der war die Krone der Brüder, der Hauptleute, der Menschen überhaupt! Sie geriet in Begeisterung, wenn sie von ihm sprach, schob die Bücher und Hefte fort, sprang auf und schlug uns eine Partie »au loup« vor.

Im Augenblick waren Fritzi und ich von Angstfrösteln durchrieselt. Mademoiselle hob die kleine Sophie auf ihre Schulter und zog sich in die Ecke hinter dem Ofen zurück. Ein bedrohliches Brummen, Knurren, Knirschen begann daraus hervorzudringen . . . Der Loup war da . . . Vorsichtig schlichen wir heran, und wenn es uns gelang, an der Höhle des Raubtieres dreimal nacheinander vorbeizuhuschen, ohne gefangen zu werden, dann hatten wir gewonnen. Aber das kam fast nie vor. Es erhaschte uns; unter einem Indianergeschrei der kleinen Schwester fletschte es seine Zähne, wir fühlten uns schon zerfleischt und zerrissen – und das war ein großer Genuß.

Daß der gegenwärtige Zustand nicht von Dauer sein konnte, verstand sich von selbst und war uns auch ganz recht; denn wir sehnten uns nach unseren Beschäftigungen, nach einem Unterricht, wie Marie ihn erteilt hatte, zurück. Wir waren so gut im Zuge gewesen, hatten uns der Fortschritte, die wir machten, gefreut. Und nun waren sie jählings unterbrochen worden, und unser kaum erwachter Wissensdurst blieb ungestillt. Allerdings erhielten wir »Stunden«; doch wurden besonders die im Klavierspielen und Zeichnen recht oberflächlich gegeben und genommen. Die einzige Ausnahme in all dem dilettantenhaften Wesen machte der Unterricht, den eine Engländerin uns in ihrer Muttersprache erteilte, eine hübsche, etwas nervöse Frau, an den Associé eines englischen Geschäftshauses in Wien verheiratet. Daheim war sie Lehrerin an einem angesehenen »College« gewesen und suchte nun wieder ihre freie Zeit auszufüllen. Sie brauchte Beschäftigung und Zerstreuung, denn ach, der Himmel versagte ihr, die sich so schmerzlich danach sehnte, das Mutterglück. Sie hatte kein Kind, dem sie ihre Sorgfalt widmen konnte. Wenn sie unsere Sophie erblickte, war die zurückhaltende und gern absprechende Frau wie verwandelt, war ganz Hingebung und Entzücken. Sie küßte und herzte die Kleine, gab ihr die zärtlichsten Namen und brach zuletzt in heiße Tränen aus.

Die »englische Lehrerin« war uns schon deswegen wert, weil Fräulein Marie Kittl sie empfohlen hatte; von einem förmlichen Strahlenglanz schien sie uns aber umgeben, als wir hörten, daß sie auch einer unserer gefeiertsten Burgtheatergrößen, Luise Neumann, Unterricht erteilte. Wir staunten ein Wesen, das mit ihr in persönlichem Verkehr stand, wie ein Weltwunder an. Wir wollten wissen, ob sie ihr Glück denn auch ganz ermaß und Luise Neumanns Hefte mit gehörigem Respekt durchsah. Und wie waren diese Hefte beschaffen, und befand sich nie ein Fehler darin? Und warum lernte Luise Neumann Englisch? Wozu braucht sie, die alle Welt bezaubert, auch noch Englisch zu lernen? »Ja«, bekamen wir zur Antwort, »sie ist eben sehr gescheit; sie weiß, wer die englische Sprache beherrscht, überragt in jeder Hinsicht alle, die sie nicht beherrschen. Und wie sie lernt! und wie sie die schwersten Worte ausspricht! Da könnten Sie sich ein Beispiel nehmen, meine kleinen Misses.« – Natürlich wurde es sofort ein Ziel unseres Ehrgeizes, Luise Neumann an Eifer und Fleiß zu erreichen, und wenn wir einmal Außerordentliches geleistet hatten, nahm die Lehrerin zur Belohnung einen Brief mit, den wir an unsere Vielbewunderte gerichtet und den sie ihr zu übergeben versprach. Er wurde mit vereinten Geisteskräften aufgesetzt, bevor ich ihn ins reine schrieb; unter welcher Gemütsbewegung, das weiß Gott. Zu dieser Korrespondenz konnten doch nur hochfeine Bögelchen verwendet werden. Weh mir, wenn ich eines verdarb; sie waren so teuer, und wir hatten so wenig Geld! Von den schmalen Einkünften, die wir am Ersten jedes Monats bezogen, mußte unsere Armenpflege bestritten, mußten an den Namenstagen der Hausleute kleine Geschenke für sie, mußten überdies unsere Handschuhe gekauft werden. Je nun – Schwärmerei und Liebe verrichten Wunder; das Briefchen war geboren, schmuck und zierlich, meistens rosenfarbig, und versank ins Ledertäschchen der Mistreß, dessen Bügel sich mit einem triumphierenden Schnapper über ihm schloß. Wir konnten das Wiedererscheinen der Lehrerin kaum erwarten und bestürmten sie mit Fragen nach dem Gelingen ihrer Mission. Ließ denn Luise Neumann uns gar nichts sagen? Schickte sie uns nicht einmal einen kleinen Gruß? »Nein, heute nicht, sie hatte keine Zeit – vielleicht ein nächstes Mal.«

– Keine Zeit, einen Gruß zu schicken? Das wollte mir doch nicht recht einleuchten.

Eines Tages war die Engländerin mit Schnupfen behaftet und hatte mehr Sacktücher in ihr Täschchen gestopft, als dem behagte. Doch fügte es sich in sein Schicksal, tat seine Pflicht und hielt alles ihm Anvertraute hartnäckig fest. Der Not gehorchend, wollte seine Besitzerin ihm plötzlich von seinem Inhalt etwas entreißen; es widerstand – sie brauchte Gewalt – da, voll Grimm und Tücke, spie es die sämtlichen verschluckten Güter auf den Tisch und auf den Boden aus. Gebrauchte und nichtgebrauchte Taschentücher kamen zum Vorschein und zugleich – unsere Briefe an Luise Neumann. Alle! Die Briefe alle, »all die lieben, kleinen . . .« Ja, ich hatte etwas davon gewittert, daß unser Vertrauen getäuscht wurde; daß es aber in solchem Grade geschehen könne, hätte ich nicht für möglich gehalten, und ohne den geringsten Rückhalt sprach ich der falschen Mistreß meine Meinung aus. Die Unglaubliche, auf einer langen Reihe von Wortbrüchen ertappt, kam nicht einen Augenblick außer Fassung. Sie kehrte sogleich den Spieß um und behauptete, sie schäme sich unserer Albernheit. Wie hatten wir nur glauben können, daß sie einer berühmten Künstlerin zumuten werde, ihre Zeit mit dem Lesen von Briefen zu verlieren, die Kinder an sie richteten!

So endete in einem Gefühl nagender Pein eine ganze Menge großer Gemütsbewegungen. Und dieser Reichtum und soviel Liebe und Begeisterung hatten sich entfaltet – um nichts.

Es fiel mir schwer aufs Herz und beschäftigte meine Gedanken: Wie kann etwas in der Welt gewesen sein – um nichts? Und doch war's hier der Fall, und etwas war geschehen, was eigentlich nicht geschehen kann. Es erschien mir als ein Widersinn und als eine Grausamkeit.

In späteren Jahren habe ich das kleine Erlebnis in anderem Maßstab und in anderer Form sich an mir und um mich zahllose Male wiederholen gesehen. Die Bewegung, mit der du ein Steinchen ins Rollen bringst, pflanzt sich fort, Gott weiß wie weit. Was aber dein Innerstes erbeben machte in Zorn und Qual, in Wonne und Entzücken – kann erlöschen und sterben, ohne die geringste Wirkung nach außen geübt zu haben. –

Wie kleine Tote, die ihr Geheimnis ins Grab mitnehmen, lagen unsere zerknitterten Briefchen vor mir, und ich besang den Eindruck, den ihr Anblick mir machte, in einem Gedicht, das ihr Los geteilt hat.

 

Jetzt hätte meine Freundin Marie dasein müssen! Jetzt wäre ihre Anwesenheit mir segensreich gewesen. Ihr durfte ich alles sagen; mit allen meinen Zweifeln und Bekümmernissen durfte ich ihr kommen. Das Unbedeutendste, das in meiner kleinen Gedankenwelt vorging, war ihr wichtig. Sie nahm alles ernst, was ich selber ernst nahm, wenn es auch noch so töricht war. Die Waffe des Spottes, die Erwachsene nur zu gern gegen Kinder gebrauchen, hat sie nie angewendet. Um meine Reue über die Parodie auf »Laura am Klavier« kundzutun, hatte ich sie noch kurz vor ihrem Scheiden mit einem Siegeshymnus auf das Liebespaar Friedrich und Laura überrascht, in den ich die Chöre der Seraphim und Cherubim einstimmen ließ. Marie lächelte nicht einmal; sie fand einzelnes sogar recht hübsch und entfesselte mit ihrem Lobe eine Flut von Herzensergießungen. Immer schmerzlicher vermißte ich jetzt die Vertraute meiner Dichterleiden, bestürmte sie mit immer heißeren Bitten: »Komm! komm! wir verwildern. Komm! komm, oder ich lasse mich verhungern!«

Ich begriff nicht, warum ihre Antworten auf meine Beschwörungen und Drohungen kühl beschwichtigend lauteten und warum die Pausen zwischen ihnen immer länger wurden. Meine Klagen langweilten Mama endlich so sehr, daß sie sich entschloß, mir mitzuteilen, Fräulein Kittl werde nicht mehr zu uns zurückkehren. Sie habe die Ihren in ansteckender Krankheit gepflegt, und ihre Nähe könne gefahrbringend sein. Nach Jahren hat meine Stiefmutter mir gestanden, daß sie ihre übertriebene Ängstlichkeit oft und sehr bitter bereut habe, nachdem vielfache Erfahrungen sie belehrten, daß eine Erzieherin wie Marie Kittl gefunden zu haben ein Glücksfall sei, der sich nicht leicht wiederhole.

Als wir hörten, wie die Dinge standen, war die Trauer meiner Schwester groß, und ich hatte Anfälle von Verzweiflung. Wußten denn die Menschen nichts Besseres, als uns zu belügen und zu betrügen? Wie durfte man uns so hinhalten, uns ein ganzes Jahr hindurch von der Hoffnung auf die Rückkehr unserer Freundin leben lassen, während sie uns längst entrissen war? Vollkommen, unwiederbringlich, denn sie hatte die Stelle als Gouvernante bei einer jungen Prinzessin Arenberg in Paris angenommen und befand sich schon seit einiger Zeit dort, indessen wir, da alle unsere letzten Briefe unbeantwortet blieben, uns eingeredet hatten, sie wolle uns überraschen. Plötzlich, wenn wir am wenigsten daran dächten, werde die Tür aufgehen, und sie werde dastehen in ihrer Mantilla, der wir nachsagten, daß sie etwas Spanisches habe, obwohl sie aus Prag stammte. Und auf ihrem Kopfe würde ihr Hut mit frischgekräuselten Federn thronen, und in den Rüschen, die sein Inneres schmückten, würden unserer Freundin dünne Locken, eigensinnig wie Schwächlinge einmal sind, sich verfangen . . . Oh, die Liebe! Dastehen werde sie, die Arme ausbreiten und nicht sprechen können vor Rührung. Meine Schwester mochte ihr dann nur entgegenstürzen, jauchzend, in Freudentränen gebadet. Was mich betraf, ich war entschlossen, mich zu beherrschen, der schroffsten Spartanerin zum Trotz, und nichts von meiner Glückseligkeit zu verraten. Bei der ersten Lektion aber wollte ich unserer Ersehnten in großartiger Weise erklären, daß ich jede Stunde, die sie nicht bei uns zugebracht hatte, als eine verlorene ansah. Und sie sollte wissen: Die ist's, die scheinbar Gleichgültige, die mich am liebsten hat.

Und nun waren mir nicht nur die vielen vergangenen Stunden, sondern auch alle, die noch kommen sollten, verloren. Was ich in dieser langen Zeit aufgespeichert hatte an unausgesprochenen Einfällen und Empfindungen, um es ihr mitzuteilen, der ganze knospende Reichtum mußte nun zurückgedrängt werden und lag, gleichsam zusammengeballt, mir schwer wie ein Stein auf dem Herzen. Ich war sehr unglücklich und viel zu kindisch, um nicht grausam zu sein, und trotz des Heroismus, den ich mir zuschrieb, viel zu schwach, um mein Unglück still zu tragen. So ließ ich es eine an ihm völlig Unschuldige entgelten: die bedauernswürdige Nachfolgerin der Mademoiselle »au loup«.

Ein junges, schüchternes Mädchen, selbst noch gewöhnt, geleitet zu werden, kam sie direkt aus dem Erziehungsinstitut zu uns. Mit meiner Schwester hatte sie leichtes Spiel, ich war ihr gegenüber ein kleiner Teufel. Dabei bewunderte ich mich noch, weil mein nichtsnutziges Benehmen gegen sie die Treue bekunden sollte, die ich unserer Freundin Marie bewahrte.

Fräulein Karoline war edel und gut, sie hat mir alles verziehen. Sie hat der Erwachsenen nicht nachgetragen, was das Kind ihr angetan. Ich aber fühle mich durch ihre Großmut nicht entsühnt. Heute noch treibt mir die Erinnerung an die bösen Streiche, die ich einem harm- und hilflosen Wesen gespielt habe, die Schamröte ins Gesicht, und fast bin ich dann geneigt, dem Franzosen beizustimmen, der sagte: »Les enfants sont des petites bêtes malfaisantes.«

Fräulein Karoline besaß tüchtige Kenntnisse in Sprachlehre, Geographie und Geschichte, und ich hätte alle Ursache gehabt, mich ihrer Leitung zu unterwerfen. Statt dessen gab ich dem bösartigen Wunsche nach, ihr beständig etwas am Zeuge zu flicken oder sie auf einem Irrtum zu ertappen. Mit müßigen Kontroversen ging viel Zeit verloren. Aus Widerspruchsgeist trat ich jeder Behauptung unserer unglücklichen Lehrerin entgegen. Wenn sie das Mittelalter mit dem Untergang des Weströmischen Reiches beginnen ließ, schwor ich darauf, daß es durch den Anfang der Völkerwanderung bezeichnet werde und daß es in der ganzen Welt nichts Wichtigeres gebe, als das zu wissen. Für Alarich offenbarte ich eine fanatische Bewunderung, die durch Platens Gedicht entzündet worden war und durch die Vorliebe Fräulein Karolinens für Stilicho genährt wurde. Sie bevorzugte die Hermunduren und Friesen; natürlich hatte ich deshalb schon für diese friedlichen Viehzüchter und Ackerbauer nur Geringschätzung übrig und fand kein Ende in Lobpreisungen der kriegerischen Langobarden, Goten und Vandalen.

Zu heißen Kämpfen führte unter anderem die Verschiedenheit unserer Ansichten über Karl den Großen. Je mehr das Fräulein diesen Heros pries, desto entschiedener erklärte ich, ihm meine Hochachtung durchaus versagen zu müssen. Für mich war es eine ausgemachte Sache, daß er seinen Bruder hatte töten lassen. Und seine Frau, warum verstieß er sie? Weil er sich des Thrones ihres Vaters bemächtigen wollte. Endlich seine entsetzliche, schauderhafte Tat, die Ermordung von 4500 Sachsen, Überwundenen, die um ihre Freiheit und ihren Glauben gekämpft hatten und die jetzt um Gnade flehten . . . Nein, einen Mann, der das getan hat, nenne ich nicht den »Großen«.

Bei einem besonders lebhaften Wortgefechte ließ ich mich dazu hinreißen, Kaiser Karl auch als Bekehrer anzugreifen, und nannte Widukind und Albion, die aus seiner blutgetränkten Hand das Christentum angenommen hatten, Feiglinge und Heuchler. Was konnten sie von einer Religion halten, die ihren Bekennern Untaten verzieh, wie Kaiser Karl sie an den Sachsen begangen hatte?

Dieser frevelhafte Ausbruch entsetzte Fräulein Karoline. Sie war ganz verstört, sie faltete die Hände unter dem Tische. Meine Schwester sank in sich zusammen und flüsterte: »Um Gottes willen, jetzt versündigt sie sich gar gegen die Religion!«

Ihre Worte erschreckten mich. Wir befanden uns in Zdißlawitz; unsere Religionsstunden waren wieder aufgenommen worden, ich dachte an die Betrübnis Pater Boreks, wenn meine »Versündigung« ihm hinterbracht würde. So leitete ich denn Friedenspräliminarien ein, indem ich das Fräulein versicherte, daß es mir ferngelegen habe, einen Angriff auf die Religion zu unternehmen. Karoline hatte sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt. Fassungslos starrte sie mich an, übersprang in ihrer Gemütsbewegung Zeiten, Könige, Kaiser und große historische Umwälzungen und sprach mit bebender Stimme: »Aber Karl V. werden Sie doch gelten lassen?« – Nun, ich sah wohl, auch ihn hatte sie in Protektion genommen, und Pflicht gegen mich selbst wäre es gewesen, ihn zu verunglimpfen. Aber in Rücksicht auf meine bedrängte Lage, und doch auch weil – abermals Platen! – der Pilgrim von St. Just mir mitten im Herzen saß und weil endlich Karl V. und ich uns in der Liebhaberei für Uhren, die mich seit meiner frühen Kindheit beseelt, teilten, ließ ich ihn in Gottes Namen gelten. Fräulein Karoline atmete auf. Meine Nachgiebigkeit, an die ich sie so wenig gewöhnt hatte, war Balsam für sie. Die Gute lobte mich, sie dankte mir beinahe, was mich doch sehr beschämte; ich war mir ja bewußt, daß die Furcht vor einer Denunziation den Hauptgrund meines Rückzugs bildete. Eine vorübergehende Rührseligkeit ergriff mich, meine Kampflust löste sich in Reue und Wehmut auf, und unter ihrem Einfluß trug ich dem überraschten Fräulein das freundschaftliche »Du« an.

Wir haben nur einen Tag Gebrauch davon gemacht. Mama verbot mir mit Recht die vertrauliche Ansprache. Es sollte nicht eine Schranke mehr des Respektes vor meiner Erzieherin niedergerissen werden. Auch herrschte bald wieder Unfrieden zwischen uns.

Wir zankten uns durch das ganze Mittelalter hindurch. Wenn ich mich in dieser großen, Kulturen zerstörenden und Kulturen verbreitenden Epoche heute noch leidlich auskenne, verdanke ich's dem Kampf, den ich mit meiner jungen Lehrerin um eine selbständige Meinung über Menschen und Begebenheiten jener Zeit führte. Gut bestellt mußte es mit meinen Kenntnissen sein, wenn ich eine Ansicht erfolgreich verteidigen wollte. Fräulein Karoline wünschte mir ebenso wehrhaft entgegenzustehen. Der Abriß aus der Weltgeschichte, der uns zur Verfügung stand, genügte uns nicht. Sie nahm ihre Zuflucht zu Tillier, mein Gewährsmann war der Abt Millot. Onkel Moritz hatte mir einige Bände von dessen Universalhistorie alter, mittlerer und neuer Zeiten in der Übersetzung Christianis geliehen, und: »Hie Tillier! Hie Millot!« lautete unser Kampfruf.

Wie Fräulein Karoline es mit ihrem Orakel, in dessen Heiligtum sie mir keinen Einblick gönnte, gehalten hat, weiß ich nicht. Was mich betrifft, ich war im Auslegen der Urteile des meinen gewissenlos, drehte und wandte jedes so lang, bis ich es in Gegensatz zu einer Äußerung meiner armen Erzieherin gebracht hatte. Dann feierte ich erbärmliche Triumphe.

Zwei Jahre hat Fräulein Karoline es bei uns ausgehalten, dann aber, als ihr eine Lehrerinnenstelle an einer staatlichen Mädchenschule angeboten wurde, rasch zugegriffen. – Dort waltete sie, geliebt und verehrt, durch viele Jahre ihres Amtes. Von ihrer vorgesetzten Behörde wurden ihr immer nur Zeichen der Hochachtung und der Anerkennung gespendet. Mit aller Hochachtung und Anerkennung versetzte man sie dann, zwölf Monate vor Ablauf der Zeit, die ihr das volle Gehalt als Pension gesichert hätte, in den Ruhestand. Wie am Anfang, erfuhr sie am Ende ihrer Laufbahn Grausamkeit. Doch klagte sie nicht und klagte nicht an. Ihre tiefe Frömmigkeit lehrte sie verzeihen, und Seelenfrieden ward ihr statt des Glückes. Sie verlebte ihre letzten Tage in Wien mit ihrer Schwester. Diese hatte es in einem anspruchslosen Berufe besser getroffen. Dank der Großmut der Kaiserin Karolina Augusta, deren treue Kammerfrau sie gewesen, gestaltete sich ihr Alter sorgenfrei und behaglich.

 

Nun aber ein papierenes Denkmälchen für einen lieben Freund. Ja, wir haben ihn immer sehr liebgehabt und immer ein bißchen über ihn gelacht, den Herrn Direktionsadjunkten bei dem k. k. hofkriegsrätlichen Einreichungsprotokoll zu Wien Josef Fladung.

Ich stand im dreizehnten Jahre, als er durch Mama in unser Haus eingeführt wurde, und damals schien mir, daß er dem Alter nach ein Methusalem sein könnte. Doch sollte dieser vortreffliche Mensch sich noch durch mehr als zwei Jahrzehnte seines Daseins erfreuen. Er hatte sich stets, besonders seitdem er in Pension getreten war, mit dem Studium der Naturwissenschaften und der Altertumskunde beschäftigt, in diesen Fächern es aber nur zu einem immerhin anerkennenswerten Dilettantismus gebracht. Hingegen hatte er als Mineraloge Tüchtiges geleistet. Sein Buch Versuch über die Kenntnis der Edelsteine wurde sehr geschätzt. Seine kleine, aber vortrefflich zusammengestellte und fortwährend vervollständigte lithologische Sammlung würdigten Kenner und Gelehrte ihrer Aufmerksamkeit. Wenn er seiner Neigung hätte folgen dürfen, wäre er Lehrer geworden. Im Erteilen von Unterricht fand er sein höchstes Glück. Anderen Dank, als daß ihm Aufmerksamkeit geschenkt werde, forderte er nicht. Und es war so bequem für die Mamas, nicht erst lang nach einem Professor der »höheren Gegenstände« suchen, sich nicht erst erkundigen zu müssen: Wie steht's mit seinen politischen Ansichten, seiner Moralität, seiner Religiosität? Alles perfekt! succus expressus des Perfekten! Ein ehrenwerter, alter Herr, immer liebenswürdig und wohlwollend und immer bereit, einem Wunsch oder einer Bitte womöglich zuvorzukommen. Dabei sehr würdig und gewöhnt, mit den Spitzen der oberen Zehntausend umzugehen, ohne Demut und ohne Selbstüberhebung. Er war ein stets freudig begrüßter Gast, ob er sich im Winter in der Stadt beim Mittagstische einfand, ob im Sommer zu längerem Aufenthalt auf dem Lande. Auf sein Äußeres verwandte er große Sorgfalt und war immer sehr nett gekleidet. Zum Diner kam er nie anders als im Frack, gewöhnlich im schwarzen, bei besonderen Gelegenheiten im blauen mit gelben Knöpfen. Mit diesen Fräcken mußte er einen Pakt auf Unsterblichkeit geschlossen haben. Solange wir sie kannten, ist uns keine besondere Spur des Alterns an ihnen aufgefallen. Seine Erscheinung war höchst vertraueneinflößend, ein ehrwürdiges Bild der Rechtschaffenheit, Solidität und Feinheit; die Gestalt untersetzt, der Gang das Gegenteil von leicht. Auf den breiten Schultern saß ein kurzer Hals, der einen schönen Kopf trug, edel gewölbt, mit hoher, völlig faltenloser Stirn und immer rosig angehauchten Wangen. Deshalb, und weil sein kahler Scheitel halbmondförmig von einem Kranze schimmernd weißer Haare umgeben war, nannten wir ihn den beschneiten Rosenhügel. Sehr viel Platz nahm in seinem Gesichte die kühn gebogene Adlernase ein. Er scherzte oft über ihre Größe und behauptete, sie habe nur eine Rivalin in Wien, die des berühmten Orientalisten Freiherrn Hammer von Purgstall. Eine der beiden Anekdoten, die wir oft von ihm hörten, handelte von diesen beiden Nasen. Ihre Träger sollten einst, auf allgemeines Verlangen, aus der Blumenausstellung entfernt worden sein. Der köstliche Duft, der in ihr herrschte, wurde von den gewaltigen Gesichtsvorsprüngen der beiden Herren gänzlich aufgesogen, und die anderen Besucher hatten sich beschwert, daß nichts davon für sie übrigbliebe.

Die zweite Anekdote handelte von Perlen und war nicht erfunden.

Der Fürstin Melanie Metternich, der Gattin des Staatskanzlers, waren aus Paris einige so vorzüglich nachgemachte Perlen zugeschickt worden, daß kein Juwelier sie von echten zu unterscheiden vermochte, natürlich ohne sie zu berühren und auf ihr Gewicht zu prüfen. Diese Gelegenheit, Fladungs Kennerschaft, die für unfehlbar galt, auf die Probe zu stellen, wurde von der Fürstin ergriffen. Sie legte drei Perlen vor ihn hin und sagte: »Zwei davon sind falsch. Wenn Sie die echte herausfinden, gehört sie Ihnen.«

Welch eine Verheißung! Die Perle wäre jedenfalls ein beneidenswerter Besitz gewesen, aber hier handelte es sich um mehr, um etwas, das, einmal verloren, nicht wiederzugewinnen ist: den Ruf der Unfehlbarkeit. Er kämpfte, er wollte um Entschuldigung bitten. »Perlen schlagen ja doch nur auf einem weiten Umweg in mein Fach«, erklärte er uns, »gewissermaßen nur als wertvolle Schmuckgegenstände. Aber trotzdem fuhr ich fort, die drei liebevoll zu betrachten, denn sie waren entzückend schön. Und heiß ist mir geworden, und immer habe ich gedacht: Mein Ruf! mein Ruf! . . . Nun, ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Eine von den dreien war etwas weniger makellos in der Form, hatte etwas weniger Orient . . . und doch – ja, von ihr ging eine eigene Anziehung aus . . . Und plötzlich war mir's klar: Die ist's . . . Sie war's, und mein Ruf war gerettet, und sie wurde mein!«

Freund Fladung war der erste überzeugte Beschützer meines schriftstellerischen Gestammels, von dem ich ihm einige Proben vorgelegt hatte. Aus eigenem Antrieb, ohne mein Wissen, sprach er mit meinen Eltern, machte sie aufmerksam, daß er Talent zur Poesie in mir entdeckt habe, und riet, es zu pflegen.

Hätten sie doch gefragt, wie sie das anfangen sollten, und mir dann seine Antwort mitgeteilt! Da wüßte ich, wie die meine in ähnlichen Fällen zu lauten hätte. Das Kind, das Talent zu einer darstellenden Kunst besitzt, schickt man in eine Schule, in der sie gelehrt wird. Für das schriftstellerisch veranlagte Kind gibt es, Gott sei Lob und Dank! noch keine in Mauern eingeschlossene, mit Lehrsälen und Professoren ausgestattete Schule. Nur das Handwerk seiner Kunst könnte ihm beigebracht werden, und dieses lernt jeder am besten allein. Bücher, die vom Erlernbaren handeln, stehen ihm in Hülle und Fülle zur Verfügung; er mag aus jedem nehmen, was ihm entspricht und was er verwenden kann. Es wird nicht viel sein. Jede Dichterindividualität, wenn sie auch nicht zu den großen gehört, hat von Natur aus ihr eigenes Gepräge und gibt es der Form, in der sie sich in oft schwerem Ringen auszugestalten sucht. Der Geist baut sich selbst sein Haus; was er von fremden Baumeistern lernen kann und soll, ist nur das Alphabet der Kunst.

So meine ich, und so habe ich allmählich ein großes Mißtrauen gegen die »Pflege eines schriftstellerischen Talentes« durch andere gefaßt, besonders durch Familienmitglieder, die selbst nicht ein paar gereimte Zeilen zusammenbrächten und das Kind, das Verse aus dem Ärmel schüttelt, für ein gottbegnadetes Wesen halten, dessen Genie aufgepäppelt werden muß.

In den hinterlassenen Memoiren meines Mannes findet sich eine völlig ungerechte Selbstanklage. »Der Vetter, der gelehrte Studien trieb«, sagt er, »wollte das geringe Wissen seiner kleinen Base, deren Phantasie goldene Brücken über den Abgrund schlug, der das Wollen vom Können trennt, bereichern und benahm sich dabei höchst albern und ungeschickt.«

Gegen diesen Ausspruch protestiere ich aus allen meinen Kräften. Der geliebte und verehrte Vetter hat das einzig Rechte getan, er hat mich den Wert der Bildung ermessen gelehrt und den heißen Wunsch in mir erweckt, die klaffenden Lücken der meinen auszugleichen. Es war die größte Förderung, die er mir angedeihen lassen konnte, und nur zu danken habe ich. Nicht nur ihm, auch allen, die meinen Bestrebungen Hindernisse in den Weg legten. Sie ahnen nicht, wie oft mein Gedanke sie segnet. Selbst daß ich mich im Kampfe um ein höchstes Gut zu manchem Irrtum und mancher Übertreibung verleiten ließ, hat schlechte Früchte nicht getragen. Die Zeit heilte und half und wandte zum Guten, was sich anfangs als verfehlt dargestellt hatte. Je härter und widerwilliger der Boden war, in dem das Bäumchen meiner Kunst Wurzel schlagen mußte, desto fester stand es, und je grausamer die Mißerfolge gewesen sind, die jeden Schritt am Beginn meiner Laufbahn bezeichnet haben, desto enger schloß sich das Bündnis zwischen mir und meinem vielbestrittenen Talent.

 

Der Sommer des Jahres 1843 war der letzte, den unsere Großmutter Vockel noch mit uns in Zdißlawitz verlebte. Meine Schwester und ich hatten uns an sie viel inniger angeschlossen seit dem Austritt Marie Kittls aus unserem Hause. Sie war – das bemerkten wir, obwohl sie nie auch nur eine Silbe darüber verlor – mit der neuen Gouvernantenwahl, die Mama getroffen hatte, nicht zufrieden. Ich fühlte deutlich, wie genau unsere Ansichten in diesem Punkte zusammentrafen, und bewahrte dabei dasselbe Schweigen wie sie. Aber die Stille des Einverständnisses zwischen der Großmutter und der Enkelin befestigte nur ihr Bündnis. Weniger Worte sind zwischen zweien, die einander lieben, wohl nie gemacht worden, und nie haben zwei sich besser verstanden. Immer mit der einen einzigen Ausnahme: weder von meinen Gedichten noch von meinen Theaterstücken durfte ich vor meiner Großmutter etwas verlauten lassen. Wohl faßte ich mir einmal ein Herz und sagte ihr: »Weißt du, Großmama, ich schreibe noch immer«, und wartete gespannt auf den Eindruck, den mein Bekenntnis machen würde. Er schien gering zu sein und äußerte sich bloß durch ein Achselzucken und durch die mit leiser Ungeduld ausgesprochenen Worte: »Nur gescheit!«

Sie sagte das oft und in der verschiedensten Weise. Liebreich, indem sie mir mit ihren feinen Fingern über die Wangen glitt, streng, wenn sie unzufrieden mit mir war. Lob und Tadel, Aufmunterung und Warnung vermochte sie in die zwei Worte zu legen: »Nur gescheit!«

So hatte ich nun doch den abscheulichen Druck vom Herzen, den das Bewußtsein mir verursacht hatte, im stillen etwas zu tun, das sie mißbilligte.

In jenen Tagen verschlang meine Korrespondenz mit Marie Kittl den größten Teil der Zeit, die ich der Ausübung meines »schriftstellerischen Berufes« widmen konnte. Meine Briefe sind – so hoffe ich wenigstens – nicht erhalten. Die ihren befinden sich, vom ersten bis zum letzten, in meinem Besitze. Ich durchblättere sie nicht ohne Grauen. Wieviel verwegenen Unsinn muß ich vorgebracht haben, um meine geduldige Freundin in solche Angst und Bangigkeit zu versetzen! Sie legte meinem Vertrauen übergroßen Wert bei; sie wollte es durch Zurechtweisungen nicht preisgeben. Je besorgter um mein Wohl sie sich aber zeigte, desto ärger werde ich es mit meinem Geflunker getrieben und die lächerlichsten Gedanken und Gefühle an den Tag gelegt haben. Wie die Melodie auch anhob, das Ende vom Lied dürfte doch immer gewesen sein: Staune in mir ein Kind von außerordentlichen Gaben und Fähigkeiten an, das zu großen Dingen bestimmt ist. Wie aus einem Spiegel blickt dieses Wunderkind mir aus den Briefen meiner oft ratlosen Führerin entgegen. Ich sehe einen kleinen Affen, der sich vor Vergnügen darüber nicht kennt, daß seine Grimassen ernst genommen werden. Womit habe ich nicht renommiert! Mit welcher Belesenheit habe ich geprunkt, um Fräulein Marie zu dem Geständnis zu veranlassen, daß meine »Literatur« ihr Sorge mache. Welcher tollkühnen Reiterstücke habe ich mich gerühmt, um den gelinden Tadel zu erfahren: »Je vous admire dans vos exploits, mais je suis loin de les approuver.« Sie fürchtet nicht nur, daß ich mir den Hals breche beim Reiten und Kutschieren, sondern auch, daß ich durch das Führen der Zügel die Ruhe und Leichtigkeit der Hand verliere. Und wie sehr brauchte ich sie, um die Gemälde, an denen ich arbeitete, auszuführen!

Die leiseste Mißbilligung, zu der meine Freundin sich aufgerafft hat, begräbt sie sogleich wieder unter einem Blumenregen von Zärtlichkeiten und Schmeicheleien. Einem: »Ma petite Maritscherl a aussi ses défauts«, folgt sogleich ein entschuldigendes: »Les défauts de son âge.« In den Augen der Obernachsichtsvollen bin ich »une petite styliste, une jeune personne délicieuse, intelligente«, und man darf es ihr sagen, weil sie viel zu gescheit ist, um sich dadurch verwöhnen zu lassen.

Ja, dieser Ton gefiel mir, der tat wohl! Von mir aus dürfte denn auch das Mögliche geschehen sein, um mir die Bewunderung und die Teilnahme meiner gläubigen Getreuen zu sichern.

Auf Kosten der Wahrheit? – Ohne Frage. Und doch würde ich mich sehr gewundert haben, wenn mich jemand eine Lügnerin genannt hätte. Zu allem anderen bildete ich mir auch noch ein, daß mein Vater, der sich den »Ritter der Wahrheit« nannte, seine heiße Wahrheitsliebe im vollen Maße auf mich übertragen habe. Auch log ich im Grunde nicht, ich erlebte ja, während ich schrieb, alles, was meine Briefe von meiner interessanten Persönlichkeit aussagten.

In einer wundervollen Novelle erzählt Isolde Kurz die Geschichte eines Knaben, mit dem umzugehen seinen Altersgenossen verboten wird, weil er für einen Lügner gilt. Alle Kinder halten sich von ihm fern; nur ein junges Mädchen schließt sich ihm an und schenkt ihm Glauben, als er ihr verspricht, sie in ein schönes, geheimnisvolles Reich zu führen, zu dem er den Zugang entdeckt hat. Die beiden begeben sich oft auf den Weg dahin, ohne je ans Ziel zu kommen. Nach einiger Zeit trennt sie das Leben, der Knabe stirbt, und viele Jahre später steht seine ehemalige Spielgenossin an seinem Grabe. Längst entschwundene Erinnerungen leben auf, und sie sagt sich: Auf diesem Denkmal sollte stehen: Hier ruht ein Dichter.

Eine Analogie ist da zwischen diesem Knaben und dem großsprecherischen Kinde, das ich gewesen bin. Wir spiegelten den anderen vor, was unsere Phantasie uns vorgespiegelt hatte.

Von langer Dauer sollte meine erträumte Herrlichkeit aber nicht sein. Ich stand am Morgen der bittersten Tage in meiner Kinderzeit.

Ehe wir Wien verließen, hatte Freund Fladung meiner Schwester und mir seine beiden letzten Werke geschenkt. Fritzi erhielt eine kleine römische und griechische Götterlehre, ich einen Leitfaden der Astronomie. Das Büchlein war hübsch eingebunden; ich stellte es neben meinen Schiller auf den höchst einfachen Tisch, den ich mit dem Namen »mein Sekretär« dekoriert hatte, und beeilte mich, Fräulein Marie mitzuteilen, daß ich jetzt auch Astronomie studiere. Um mich vor mir selbst nicht zu sehr schämen zu müssen, schlug ich den zierlichen Band auch wirklich auf.

Was las ich da gleich auf der ersten Seite? Nicht so, wie der Katechismus es lehrte, war die Welt erschaffen worden. In Perioden von unermeßlicher Dauer erst hatte unsere Erde sich aus einem feuerflüssigen Ball, der die Sonne umflog, zu dem schönen Planeten gestaltet, den wir bewohnen. Der Katechismus irrte und auch die kleine Bibel, die wir auswendig gelernt hatten und in der es hieß: »Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, daß sie schienen auf die Erde . . .«

Nein, nein, dazu nicht! Die waren nicht geschaffen, damit wir uns an ihrem Anblick erquicken und erbauen. Die waren für sich selbst erschaffen und die meisten von ihnen soviel größer als die Erde, wie sie größer ist als ein Stäubchen, das im Sonnenstrahle tanzt.

Und auf diesem Stäubchen, was bin dann ich? Ein tödlicher Schmerz ergriff mich bei der Frage, auf die ein Gefühl trostloser Verlassenheit, völligen Vernichtetseins antwortete.

Der alte liebe Freund, der mir sein Büchlein so arglos in die Hand gelegt, hatte nicht geahnt, welchen Sturm es erregen würde. Auch war es nicht das erstemal, daß ein Begriff der Unermeßlichkeit des Weltalls mir hätte aufsteigen können. Wenn Onkel Moritz uns in Zdißlawitz besuchte, stellte er an hellen Abenden ein Fernrohr auf, das sonst wohlverwahrt in Papas Zimmer ein nutzloses Dasein führte, und ließ uns den Mond betrachten, den Saturn mit seinem Ringe, den Jupiter mit seinen Satelliten. Er hatte uns auch gesagt, daß unsere Erde an der Sonne und am Monde Bilder ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft vor sich habe. War ich damals noch zu kindisch, um mir über diesen Ausspruch Gedanken zu machen? Habe ich nicht gefragt, hat mein Vetter mir nicht Rede gestanden? Ich wußte es nicht mehr, klar wurde mir nur: Wenn ich mich seiner Worte auch entsann, ihre Bedeutung begriff ich erst jetzt. Die Erde wird sterben, wie der Mond gestorben ist. War sie denn nicht dein Lieblingskind, mein Gott, weil du deinen eingeborenen Sohn geschickt hast, um die Menschen zu erlösen . . . Die Menschen? was sind die? Dasselbe jeder, was ich bin: ein Hauch, über ein Stäubchen geweht, ein Nichts in der Unendlichkeit. Wie hatte ich mich gefühlt, als ich noch zum gestirnten Himmel emporsah und dachte: Auch mir zur Erquickung und Freude hat euch Gott der Herr ans Firmament gesetzt, ihr blinkenden Lichter, Edelsteine aus seiner Krone, himmlische Smaragde, Rubine und Diamanten! Und jetzt kreisten sie dort oben, in Zahlen nicht auszudenken, in unermeßlichen Fernen und furchtbarer Größe – kalt, hoffärtig und fremd. Ihn aber, der dies Unermeßliche geschaffen hatte, wie durfte ich wagen, ihn Vater zu nennen? Er war mir entrückt, und mitten im Gebet bedrängte mich die Frage: Gelangt meine Stimme bis zu ihm? Weiß er von mir? Habe ich einen allmächtigen, gütigen Vater, der die Haare auf meinem Haupte gezählt hat, der meine Leiden kennt, dem ich danken darf für jede Freude? . . . Danken, das ist das Schönste . . . Wie oft, wie oft hatte ich innegehalten, mitten im Spiele, mitten im Jagen und Tollen, um, erfüllt von einem unaussprechlichen Glücksgefühl, wortlos Gott zu danken für dieses Glücksgefühl, für die Bäume, die Blumen, den Sonnenschein, für alle Schönheit, alles Licht, das er über seine Welt, meine Welt ergossen hatte . . . Und nun sollte es aus sein? – Kein Dank mehr! Mein Dank drang ja nicht zu ihm – er wußte nicht von mir . . . Bei Tage wurde ich Herr über meine schweren Gedanken, zu schwer für einen Kinderkopf. Wenn ich aber des Nachts erwachte und sie kamen, da war ich ihre Beute. Oft konnte ich mir nicht helfen und schrie laut im Schmerze meiner Zweifel. Meine Schwester, aus dem Schlafe gerissen, fuhr erschrocken auf und wollte wissen, was mir sei. Und ich beruhigte sie: »Nichts, gar nichts – ich habe nur von etwas Schrecklichem geträumt.« Da wußte ich im voraus: gleich wird meine geliebte Furchtsame den Kopf unter die Decke stecken und rufen: Erzähl mir's nicht! Erzähl mir's nicht!

Am Morgen sah ich dann blaß und elend aus, und Fritzi sagte: »Sie hat wieder einen so bösen Traum gehabt.«

Nicht bei ihr und bei keinem konnte ich Hilfe holen in meiner Seelenqual. Ich glaubte jedes Wort zu hören, das sie, das jeder der Meinen mir entgegnen würde, wenn ich versuchen wollte auszusprechen, was mich beängstigte und verwirrte. Und den Brief, den ich von meiner Marie bekäme, nachdem ich sie eingeweiht hätte in meine Bekümmernisse, den meinte ich auch ungeschrieben lesen zu können.

So blieb denn nur mein geistlicher Führer – Pater Borek.

Zu ihm kam das Kind, das ihm schon von der ersten Beichte an Sorge bereitet hatte. Nicht losgestürmt kam es. Leise und zagend kam es heran. Hohe Röte stieg ihm in die Wangen, und die Zunge klebte ihm am Gaumen, als es fragte, ob Hochwürden auch wisse, daß Gott die Erde nicht in sechs Tagen geschaffen, sondern dazu ungeheuer lange Perioden gebraucht habe.

Nein, wirklich, davon wußte Hochwürden nichts; aber woher mir diese Kenntnis kam, hätte er gern erfahren.

Ich holte den Quell herbei, aus dem ich meine Gelehrsamkeit geschöpft hatte, Fladungs Leitfaden der Astronomie. Pater Borek las nur den Titel und sagte lächelnd, dieses Buch hätte ein Mensch geschrieben; es sei besser, sich statt an menschliche an die göttliche Weisheit zu halten. Was wir zu wissen und zu glauben haben, hat uns Gott durch seine Propheten in den heiligen Schriften geoffenbart. Daß er sich einem Gelehrten geoffenbart hätte, war dem geistlichen Herrn nicht bekannt, und ihm auf diesem Wege beizukommen unmöglich. Er glaubte an die Heilige Schrift, nicht an die Astronomie, und er tat sie ab mit dem einen Worte: »Menschenwerk.« Nun hatten sich zu meinen Zweifeln an der biblischen Schöpfungsgeschichte noch andere gesellt. Ach sie kamen in Scharen! Außer den Nouvelles heures à l'usage des enfants besaß ich jetzt auch einen kleinen, bilinguenen Paroissien Romain, der mich instand setzte, unserem Pater Borek, wenn er uns die Bedeutung der einzelnen Vorgänge bei der heiligen Messe rekapitulieren ließ, die betreffenden Stellen in der majestätischen und melodischen Sprache der Kirche herzusagen.

Da waren viele, die mir zu denken gaben, vor allem die Worte bei der Konsekration: »Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti . . .« Ich konnte es nicht verstehen. Wenn die ersten Menschen wirklich vorzüglich gewesen wären, wie hätten sie sündigen können, wie hätten sie den unbegreiflichen, unentschuldbaren Ungehorsam gegen Gott begehen können? Er hatte ihnen das Paradies geschenkt, war zu ihnen gekommen, die Glückseligen hatten sein Angesicht gesehen und seine Stimme gehört . . . Und mehr als dem, was diese göttliche und liebevolle Stimme ihnen sagte, hatten sie dem Gezisch einer elenden Schlange geglaubt und über ihrem scheußlichen Anblick den des Allgütigen vergessen? Die das vermochten, die waren nicht in einem Zustande der Vollkommenheit geschaffen worden; das war ein Widerspruch, über den ich nicht hinwegkam, so dringend Pater Borek mich auch beschwor, das unselige Grübeln aufzugeben. Ich aber hatte gar nicht das Bewußtsein, daß ich grübelte. Ich dachte ja nur nach, und dann kamen die Zweifel von selbst; sie fielen mich an, ich empfand einen physischen Schmerz dabei, wie neulich während der Wandlung . . . Da war es entsetzlich gewesen, da hatte es mich ergriffen: Bist du bei uns, mein Heiland? Es sind auf der Erde Millionen Kirchen, und in hunderttausend wird vielleicht in diesem Augenblick zur Wandlung geläutet, und überall sollst du in Brotgestalt erscheinen. Bist du auch bei uns? bist du da, mein Heiland? Und warum fühl ich's nicht? warum fühle ich nicht deine Nähe?

Pater Borek hörte diese Bekenntnisse in stiller Ergebung an; er zürnte mir nicht, aber traurig hatte ich ihn wieder gemacht. Meistens nahm er dann seine Zuflucht zu dem Wunder und wiederholte eindringlich: »Mein Kind, wir sollen das Wunder verehren, an das Wunder glauben, aber nicht fragen: Wie kann das sein? Wäre es denn ein Wunder, wenn es sich erklären ließe?«

Nie ein hartes Wort, kaum je ein tadelndes. Nie eine Andeutung, daß es außer der guten Macht auch eine böse gebe, einen unheimlichen Versucher, der frevelhafte Gedanken in uns erwecke, unsere Andacht störe und irrezumachen suche in unserem Glauben – nie eine Warnung vor dem Teufel.

»Mein Kind, ich werde morgen in der heiligen Messe recht andächtig für Sie beten.«

So sah seine Strenge aus.

Wenn ich dann am Sonntag in die Kirche kam und ihn, der für mich beten wollte, an den Altar treten sah, war's vorbei mit Grübeln und Zweifeln. Da war ich nichts anderes als ein demütiges kleines Geschöpf, das auf den Knien lag in Anbetung des Herrn der Welten. Ich freute mich der Kämpfe und Leiden, die der schönen Stunde vorangegangen waren, mit denen ich sie vielleicht hatte erkaufen müssen: Schick mir nur Leiden, ich will ja leiden, klang mein Gebet immer aus.

Daß meine angeborene und unverwüstliche Fröhlichkeit sich auch während jener Werdetage bei mir eingefunden hat, muß ich der getreuen nachsagen. Sie kam höchst überraschend, manchmal in ganz unpassenden Augenblicken, und sie ließ sich nicht verleugnen wie die Verzweiflungsanfälle. Und wenn meine Schwester mich erstaunt fragte, warum ich heute gar so lustig sei, konnte ich ihr keine Ursache dafür angeben. Ich hatte ein herrliches Gefühl von Glück – ich hatte es – »halt so«; es war das beste, das es gibt, das grundlose.

Ein Glück, das Grund hat,
Geht mit ihm zugrunde stündlich,
Und nur ein grundlos Glück
Ist tief und unergründlich.

sagt Hieronymus Lorm so weise wie schön.

Die Zeit der Schulferien war da und brachte uns unsere Brüder heim. Der ältere entwickelte sich zu dem, was man bei uns einen »Prachtbuben« nennt; der jüngere, immer gleich schmächtig und gleich kampffreudig, hatte an dem Erstgebornen einen Schutzengel, der ihn nie aus den Augen ließ, für ihn einstand, den kleinen hitzigen Angreifer auch im ungerechtesten Streite verteidigte. In diesem Jahre wurden die Knaben von einem alten Herrn begleitet, einem emeritierten Erzieher und großen Kinderfreund. Er war von hoher, hagerer Gestalt und zu gebrechlich, um an unseren Spielen teilzunehmen, bildete aber einen wohlwollenden Zuschauer und Kampfrichter. Sehr gern wohnte er auch dem Reitunterrichte bei, den Papa, der selbst ein vorzüglicher Reiter war, uns erteilte.

»Sie machen das gut, Sie machen das gut«, bekamen wir dann oft von ihm zu hören, und dabei bewegte er die langen Zeige- und Mittelfinger der längsten Hand, die ich je gesehen habe, vor unseren Gesichtern auf und ab. »Ja, wenn Sie alle Lektionen mit solchem Eifer nehmen würden, da hätten Ihre Lehrer bessere Zeiten.«

Unseres Fräuleins Karoline nahm er sich väterlich an, verwies mir meinen Übermut und ihr ihre Gereiztheit; während seiner Anwesenheit herrschte immer Frieden zwischen uns.

Traurig, daß die Tage, die unsere Brüder in Zdißlawitz zubrachten, nur – das war genau ausgerechnet! – nur zwölf Stunden hatten. Sie verflogen doppelt so schnell wie alle anderen Tage. Gar so bald war der Morgen wieder da, an dem die angehenden Gymnasiasten ins Institut zurückkehren mußten. Sie haben dort keine besonders guten Zeiten verlebt, aber nicht geklagt, denn sie waren tapfere kleine Buben. Trotzdem wußten Fritzi und ich genau, wie ihnen ums Herz war, wenn sie in den Wagen stiegen, der sie zur Bahnstation bringen sollte. Noch ein Händedruck, noch eine Umarmung, noch ein tröstendes Wort Papas: »Wir sehen uns bald wieder!« und fort waren sie . . . Wir standen noch eine Weile im Hofe und winkten mit den Taschentüchern, wenn der Wagen aus dem Tore fuhr, im Bogen am Gartengitter vorbei, und nun rasch auf der abwärts führenden Straße hinunterrollte. Dann liefen wir, und die kleine Sophie mit uns, in das Zimmer Großmamas, an das Fenster, an dem ihr Arbeitstischchen vor dem Bild der hingegangenen Levrette stand, und begleiteten die Reisenden in Gedanken. Jetzt sind sie am Ende des Schloßberges angelangt, jetzt geht es links eine Strecke auf ebenem Wege zwischen Feldern und Obstbäumen am Wassergraben vorbei, an dem die jungen Pappeln stehen, an der Wiese, auf der die vielen Gänse weiden. Und jetzt kann man den Wagen noch im Flug erblicken, und die Brüder sehen vielleicht gar uns am offenen Fenster. Die kleine Sophie meint, wenn sie uns sehen, können sie uns auch hören, und ruft: »Adieu, meine Brüder!« und schwenkt wieder ihr Tüchlein. Noch ein zweitesmal wird der Wagen sichtbar, ganz klein, ganz fern, wenn er den Berg hinauffährt, den letzten, auf dem wir eine Fahrstraße noch auszunehmen vermögen. Und die uns dort entschwinden in der Ferne, die beiden, die wenden sich jetzt gewiß noch einmal zurück und sagen zueinander: Da sieht man's noch, das Schloß . . . Grüße fliegen hin und her durch die Luft, Grüße einer Liebe, die felsenfest gestanden hat in der verrinnenden Zeit, unwandelbar im wechselvollen Leben.

Es war eine epochemachende Neuerung, daß jeder, der in Zdißlawitz einen Brief erwartete, ihn täglich erhalten konnte. Erst seit wenigen Jahren befand sich ein Postamt in unserer Nähe. Früher mußte der Bote vier Stunden weit nach dem Städtchen Wischau pilgern, um die für das Dorf und das Schloß bestimmten Postsendungen abzuholen. Er setzte sich nur zweimal wöchentlich in Bewegung, und was er dann regelmäßig außer einem Räuschchen mitbrachte, das waren einige Nummern der Wiener und der Brünner Zeitung. Wenn auch Briefe eintrafen, galt das schon als ein kleines Ereignis. Papa öffnete sie nie vor Tische. Er muß das Lesen von Briefen als etwas Appetitverderbendes angesehen haben. Beim schwarzen Kaffee erst nahm er die Schriftstücke zur Kenntnis, nachdem er ihr Äußeres sorgfältig geprüft hatte. Einmal kam ein schmaler schwarzgesiegelter Brief auf dünnem Papier aus Paris. Die Adresse war mit einer feinen Perlschrift geschrieben, die dem Papa nicht ganz fremd schien; es konnte wohl die Madame Dufoulons sein. »Lies«, sagte er, reichte Mama den Brief, und sie las eine Weile schweigend. – »Nun, was schreibt sie?« – »Es wird euch traurig machen«, war die Antwort, »und tut auch mir sehr leid. Der arme Just, das arme Kind – und seine noch viel ärmere Mutter!«

Madame Dufoulon teilte die Nachricht vom Tode ihres lieben Sohnes mit. Ein Nervenfieber hatte ihn dahingerafft, wenige Monate, nachdem er so glücklich gewesen war, eine Stellung zu finden, die ihn instand gesetzt hätte, seiner Mutter und seiner Schwester eine kräftige Stütze zu sein . . . Das war eine grausame Verschärfung der Bitternis dieses Verlustes. – Ich kam von der Frage nicht fort: Was wird geschehen, was wird man tun?

Es wird geschehen, man wird tun, was in solchen Fällen das Gewöhnliche ist. Man wird, von Mitleid erfüllt, einen ungemein warmen und herzlichen Brief schreiben, man wird noch einige Male sagen: Der arme Just, seine arme Mutter, was wird sie jetzt wohl anfangen? und dann – vergessen. Man wird . . . ich werde! Mit peinlichem Selbstvorwurf ergriff mich der Gedanke an Frau Krähmer. Wie lange hatte ich mich ihrer nicht mehr erinnert, die dasselbe Schicksal gehabt wie Madame Dufoulon. Auch sie hatte alle ihre Hoffnung auf den Sohn gesetzt, der ihr weggestorben war, bevor sein verheißungsreiches Leben sich zur Blüte entfalten konnte.

Es war Spätherbst geworden, und vor unserer Abreise wollten wir noch etwas ausführen, was meiner Schwester als eine Pflicht gegen unseren Freund und Spielgefährten erschien.

Eine Viertelstunde weit vom Schlosse, aber schon zum angrenzenden Dorf gehörend, befand sich eine Schlucht. Sie war von einem dünnen Wasserfaden durchzogen und mit Buschwerk dicht überwachsen, aus dem einzelne schlanke Bäume hoch emporschossen. In ihrer Eile, der niedrigen Umgebung zu entragen, hatten sie sich nicht Zeit genommen, unterwegs Zweige auszusetzen; all ihren Blätterschmuck entfalteten sie erst in der Krone, und die wurde ihnen manchmal zu schwer. Wenn ich sie ansah, mußte ich an meinen Schiller denken mit seinem Kranz. Ganz gerade stand keiner von ihnen; nach verschiedenen Richtungen hin hatte der Wind sie gebogen. Mitten in der Schlucht ist ein kleiner freier Platz, und da befindet sich ein kapellenartig übermauertes Brünnlein. Zwei steinere Stufen führen durch den schmalen Eingang zu seinem Wasserspiegel. Im Dunkel sieht das Wasser so schwarz wie Tinte aus; ins Glas geschöpft, ist es kristallklar, und ihm wird die Kraft zugeschrieben, Augenleiden zu heilen.

Einige Schritte von dem Fußsteig entfernt, auf dem man vom Felde aus steilab zum Brünnlein gelangt, steht eine Buche . . .

Du alte Königin, weißt du von dem munteren Zeug, das grünt und lebt und sich vermehrt und nichts verlangt, als seines Daseins froh zu werden zu deinen Füßen und unter deinem Schutze? Weißt du von den Emporstrebenden, die der Ehrgeiz treibt, dir in deinen erhabenen Wipfel zu schauen und seine Geheimnisse auszuspähen? – Du alte Königin, du Herrscherin, wie du dastehst vor meinem geistigen Auge in deiner Schönheit, deinem Stolze, deiner Kraft, so könnte dich mir zu Dank kein Maler malen, kein Dichter beschreiben. Vor dir, zwischen zweien deiner mächtigen Wurzeln, haben kleine Menschen ein kleines hölzernes Standbild aufgerichtet: die heilige Anna, die ihr Töchterchen lesen lehrt. Kein Kunstwerk und – mehr als ein Kunstwerk für die Armen, die Betrübten, die hierher beten, die Glücklichen, die Genesenden, die danken kommen.

Die Schlucht, in der der wundertätige Quell sich befindet und die herrliche alte Buche sich einst befand, hatte ihren Namen von dem kleinen Standbilde erhalten. Zur »Svatá Anna« wanderten wir als Kinder oft, brachten dort manchen Sommernachmittag zu, und einmal schnitt Monsieur Just seinen Namen in den Stamm der Buche ein. Mit großen Buchstaben, tief durch die dicke Rinde bis aufs Lebendige. Von weitem konnte man lesen, gelbweis herausleuchtend aus dunkler Umrahmung: Just.

Das dürfe man nicht so lassen, meinte Fritzi; jetzt, weil er tot sei, müsse ein Kreuz über den lieben Namen gesetzt werden. Wir bewaffneten uns mit unseren schärfsten Taschenmessern und begaben uns eines trüben Novembermorgens zu der Buche bei der »Svatá Anna«. Eifrig mühten und streckten wir uns, soviel wir konnten, um zu der Höhe hinaufzureichen, in der unser Kreuz angebracht werden sollte. Es war vergeblich, wir mußten uns bequemen, das Zeichen des ewigen Friedens unter den Namen unseres entschlafenen Freundes einzuschneiden.

Heute steht die kleine »Svatá Anna« nicht mehr unter dem Schutze der Buche. Sie haben die Herrliche gefällt und auch die schlanken Bäume in ihrer Nähe und alles Gebüsch fortgeputzt, um mehr Platz zu schaffen für Rüben und Getreide. Gewiß wird bei dem Standbild der Heiligen noch immer fromm gebetet, gewiß noch an die Heilkraft des Wassers im Brünnlein geglaubt. Ich aber meide diese Stelle und habe sie nicht mehr betreten, seitdem die alte Riesin ihren noch grünen Wipfel, der wonneschauernd das erste Morgengrauen begrüßte, der feierlich den letzten Sonnenkuß empfing, zu Boden senken mußte.

Nachdem Fräulein Karoline uns verlassen hatte, fand man Fritzi und mich alt genug, um fortan in Freiheit dressiert zu werden; nur für die kleine Sophie wurde eine Gouvernante aufgenommen: Madame Vaxelaire, die weibliche Hälfte eines Ehepaares, das sich dem Erzieherfache gewidmet hatte. Zu der Zeit, als die Gattin unserem Schwesterchen ihre Sorgfalt widmete, was sie treu und redlich tat, war der Gatte Hofmeister eines Knaben, von dem er stets erzählte, dessen ungewöhnliche Begabung und edle Eigenschaften er rühmte und dem er eine glänzende Zukunft vorhersagte. Er hat recht behalten, denn dieser Knabe hieß: Graf Hans Wilczeck.

An Madame Vaxelaire hatten wir eine äußerst angenehme Hausgenossin. Sie war eine kräftige, wohlwollende Frau, im Besitze des unschätzbaren Vorzuges einer immer gleichmäßig guten Laune. Sehr gesund, nicht mehr jung, machte sie mit ihren roten Wangen und dem gelbbraunen Teint den erfrischenden Eindruck eines schönen Oktobertages. Sie hatte unsere kleine Sophie sehr lieb und nahm sich auch unser freundlich an, obwohl sie gegen Fritzi und mich keine andere Verpflichtung hatte als die, uns täglich auf dem Spaziergang zu begleiten.

Das Stadtleben ging den gewohnten Gang, unsere Lehrer und Lehrerinnen fanden sich wieder ein; nur trat ein neuer Zeichenmeister an den Platz des früheren. Dieser hatte sich leider zu einer kleinen Taktlosigkeit hinreißen lassen. Er wartete eines Vormittags wie gewöhnlich auf uns im Speisezimmer, das während der Zeichenstunde unser Atelier vorstellte. Wir erschienen – ebenfalls wie gewöhnlich – in Begleitung von Mamas Musterkammerjungfer, Fräulein Josefine. Sie hatte die Aufgabe, den Herrn Lehrer zu beaufsichtigen, und nahm die Sache sehr ernst. Als wir an jenem verhängnisvollen Vormittage eintraten und ihn grüßten, kam er uns entgegen, blieb vor meiner Schwester stehen, stemmte den Arm in die Seite und sprach: »Sakerlot, Komteß Fritzi, was haben Sie für Augen! Nein wirklich, mirakulös schöne Augen!«

Wir hätten dem biederen Oberösterreicher diesen Ausdruck einer gerechten Bewunderung verziehen. Die Kammerjungfer hielt es für ihre Pflicht, ihn höheren Ortes anzuzeigen, und wir erhielten einen Zeichenlehrer, noch um ein Jahrzehnt älter als der frühere, der auch kein Jüngling war. Der Nachfolger hatte einen Beethovenkopf. Ich lernte in ihm eines der größten Originale kennen, die mir im Leben begegnet sind. Ein ganz ungelehrter Mensch, der sich in den Wunsch verrannt hatte, Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiete zu machen, und nicht die geringste Freude an der Ausübung des braven Malertalents fand, mit dem er begnadet war. Er überließ seine kleinen Ölgemälde – treffliche Genrebildchen – zu guten Preisen einem Kunsthändler, der sie zu noch viel besseren nach England verkaufte. Der Mann quälte ihn mit seinen Bestellungen, er aber ließ die Arbeit stehen und beschäftigte sich mit abenteuerlichen Entdeckungen. Von ernsten Studien war er ein Feind, er las wenig. »Die Bücher«, war eine seiner Lieblingsbehauptungen, »bringen uns um die Originalität. Auch verdirbt es mir ja die Freude an einem eigenen Einfall, wenn ich erfahre, daß ein anderer ihn vor mir gehabt. Oder vielleicht nicht? was?«

Es war komisch, unseren Zeichenlehrer, während er eine Aufgabe korrigierte, sagen zu hören, daß wir nichts anderes seien als lebendige Leydener Flaschen. Wir meinten, das müsse in irgendeiner Beziehung zur Zeichenkunst stehen; es stand aber in Beziehung zur Physik. »Ja, der Cunäus«, pflegte er seinen Vortrag zu eröffnen, »ein großer Mann – aber er ist bei der Flaschenelektrizität stehengeblieben, bis zur menschlichen nicht vorgedrungen. Und wir sind mit Elektrizität doch ebenso angefüllt wie seine stanniolbeklebten Glasgefäße, und was die Entladung betrifft, für die ist gesorgt. Wenn der Mensch zum Beispiel erschrickt oder wenn er sich zum Beispiel plötzlich verliebt.« Bei dem Worte spitzte Fräulein Josefine die Ohren und ließ ein deutliches Räuspern vernehmen. Er bemerkte es nicht und fuhr fort: »Das wären jähe Entladungen. Allmähliche finden ununterbrochen statt. Sie können sich davon selbst überzeugen. Gehen Sie spazieren durch mehrere Tage nacheinander immer auf demselben Weg. An jedem Tage wird er Ihnen kürzer vorkommen als am vorhergehenden. Warum? Sie haben am ersten am meisten Elektrizität abgegeben an die Erde, die ein mittelmäßiger Leiter ist; am zweiten finden Sie den größten Teil abgegebener Elektrizität auf dem Wege wieder, verbrauchen also weniger von der Ihren, werden also weniger müde, der Weg kommt Ihnen also kürzer vor. Ist das richtig? Oder vielleicht nicht – was?«

Er sah uns dabei so streng an, daß wir es immer richtig fanden.

Ein zweites Steckenpferd bestieg er auch fürs Leben gern. Er schrieb sich – gewiß ohne je eine Zeile von oder über E. T. A. Hoffmann gelesen zu haben – die Fähigkeit zu, Farben zu riechen und zu hören. Blau klingt wie ein Mollton, Rot ist Dur. Farbenempfindung, Tonempfindung werden durch den gleichen Reiz erregt, einfache Farben, einfache Töne. Mit halben Farben, mit allerlei Schattierungen lassen sich Terzen, Quarten, Quinten darstellen. Eines Tages brachte er uns ein gemaltes Farbenklavier mit mehreren Oktaven. Ich war geblendet und freute mich, demnächst vor meinem Vetter Moritz mit den physikalischen Kenntnissen zu prunken, die ich bei der Zeichenlektion erworben hatte. Sie machten aber keinen besonderen Eindruck, und ich erfuhr den Schmerz zu hören, daß die vermeinte Entdeckung des Künstlers, der sich führerlos auf wissenschaftlichen Pfaden umhertrieb, keine sei. »Ein Farbenklavier ist schon zusammengestellt worden«, sagte mein Vetter.

»Schon zusammengestellt – und durch wen?«

»Durch Castel.«

»Und wann?«

»Vor mehr als hundert Jahren.«

Vor so langer Zeit! eine so alte Geschichte hat das Farbenklavier? O Gott! der arme Herr Lehrer wird arg enttäuscht sein, wenn er hört, daß er nicht der alleinige Entdecker dieses mysteriösen Instrumentes ist . . . Ich versetzte mich in seine Lage und machte im voraus alle Qualen der Beschämung mit ihm durch – zum Glück unnötigerweise; denn er war viel zusehr beschäftigt mit seinen eigenen wissenschaftlichen Leistungen, um von denen anderer Notiz zu nehmen.

Einige Tage später fragte mich mein Vetter, ob es mich interessieren würde, etwas zu hören von den Versuchen, die gemacht worden sind, um die Harmonie zwischen Farben und Tönen nachzuweisen. In seiner klaren und anschaulichen Art beschrieb er den Apparat, den Ruete zusammengestellt hat, um den Eindruck von Farbenakkorden hervorzubringen. Er sprach von Kontrastharmonien, von den Farben, die nur stimmen, wenn sie durch Grau oder Weiß eine Unterbrechung erlitten haben. Solange er sprach, war ich überzeugt, alles gut zu verstehen, was er mir erklärte. Als ich aber darüber nachdachte und es mir zurechtlegen wollte in meinem Kopfe, da merkte ich, daß die neuen Erkenntnisse nicht hineingedrungen waren. Draußen schwebten sie umher als klang- und farbenreiche undeutliche Gebilde.

Mein Zeichenmeister hatte es besser; ihm tönte, wenn er den großen, mit bunten Streifen bedeckten Bogen betrachtete, den er sein Farbenklavier nannte, das Gott erhalte entgegen.

 

In den Briefen meiner treuen Mentorin finde ich einen recht trüben Reflex des Glanzes, in dem ich mich ihr als angehender Shakespeare des 19. Jahrhunderts vorstellte. Sie begann ernstlich besorgt um mich zu werden und schlug einen strengen Ton an. In Bücher gebunden liegen alle ihre Briefe vor mir; wohlverwahrt und ungelesen sind sie jahrelang im Schranke geblieben. Ich habe sie erst wieder hervorgesucht, um sie dem Freunde zur Verfügung zu stellen, der die Geschichte meines Werdegangs mit feiner und liebevoller Hand aufgezeichnet hat.

Jetzt blättere ich oft in den inhaltreichen Bänden, und was mich dabei mit schmerzvoller Wehmut erfüllt, ist das Schicksal ihrer Verfasserin, von dem sie Zeugnis geben.

Marie Kittl ist die erste der vielen gewesen, die mir, je weiter ich fortschritt auf meinem Lebenswege, desto öfter begegnen sollten – der Opfer eines eingebildeten Schriftstellerberufes. Es wurde allmählich meine ständige Qual, mit ansehen zu müssen, wie diese Bedauernswerten, von ihren Aspirationen getrieben und genarrt, taub werden für die dringendste Bitte, den ehrlichsten Rat und wie sie dem widerwilligen Verzichten, mit einem anderen Wort: – der Verzweiflung entgegengehen.

Ich kenne ihre Sehnsucht und weiß, daß sie ebenso unüberwindlich ist wie die der echten Begabung, mit der die ihre noch manche andere Ähnlichkeit und wahrscheinlich denselben Ursprung hat; aber sie leidet an Unzulänglichkeit. Denn nur von Unzulänglichkeit kann die Rede sein. Etwas Talent ist immer vorhanden, ohne Talent macht man gar nichts, nicht einmal etwas Miserables. Aber das vorhandene Fünkchen, ja sogar der Funke wird noch lange nicht genügen, ein Licht daran zu entzünden, das über den Tag hinausleuchten kann. Und nun steht vor mir der ganze Jammer, der sich da vorbereitet, der wachsen und wuchern und traurige Früchte reifen wird. Das peinvoll hastige Streben der Ohnmacht, die mit jeder neuen Arbeit neu aufflackernde Hoffnung, die blutige Enttäuschung nach langem Warten und Harren, endlich die Trostlosigkeit und Erbitterung. Die Menschenliebe erlischt; wie soll man die lieben, die uns nicht gelten lassen? Das Interesse und das Wohlwollen für Mitstrebende verwandeln sich in Gleichgültigkeit und, wenn ihnen ein Glückssternchen aufblinkt, in Mißgunst. Da ist der, und da ist jener, die haben Minderwertiges geleistet und Anerkennung gefunden. Man wägt und vergleicht und legt einen seltsamen Maßstab an; nicht am Großen mißt man sich, nein – am Kleinen. Hat man einmal einen anderen Kleinen oder – wenn ein besonders glücklicher Zufall es fügt – einen Großen scheitern gesehen, dann erwacht die Bettlerin unter den Freuden – die Schadenfreude. Kein wirklicher Balsam und Trost, denn sie entspringt dem Giftquell des Neides, dieses moralischen Gebrechens, dessen fressender Qual sogar der »fanfaron du vice« sich nicht rühmen mag. Lächelnd verbeißt ihn jeder, den er foltert, wie der Spartanerknabe seine Schmerzen verbiß, als ihm der gestohlene Fuchs, den er unter dem Mantel verbarg, die Brust zerfleischte.

Marie Kittl hat allerdings weder Erbitterung noch Neid gekannt, aber unglücklich machten sie ihre immer gescheiterten Versuche, sich schriftstellerisch zu betätigen. Sie stand in reifen Jahren, hatte die Erziehung der jungen, mütterlicherseits verwaisten Fürstin Arenberg vollendet und ihren geliebten Zögling noch zum Altar geleitet. Bald darauf war sie einer Einladung nach Brüssel gefolgt und hatte dort die Stellung einer Gouvernante bei der hochbegabten Tochter König Leopolds, der Prinzessin Charlotte, eingenommen und später die der Vorleserin der Herzogin von Brabant. Es waren sonnige und schöne Jahre, die sie am belgischen Hofe verlebte. Der Wirkungskreis, der sich ihr eröffnet hatte, sagte ihr in jeder Weise zu; er brachte äußere Ehren, für die sie nicht ganz unempfänglich war, und bot ihr Befriedigung ihres innigen Herzensbedürfnisses, die Anhänglichkeit und Liebe ihrer Umgebung zu gewinnen. Auch ihr lang genährter Wunsch, weite Reisen zu unternehmen, erfüllte sich unter den denkbar angenehmsten Verhältnissen. All das Gute erfuhr sie bei der Ausübung ihres wirklichen Berufes, und sie fand ihr Glück in ihm, bis der falsche sein Lügenhaupt erhob und sie umstrickte mit allen Zaubern und Lockungen, über die das Blendwerk verfügt.

Sie begann nach Freiheit zu lechzen, um schreiben zu können, soviel sie wollte. »Meine Flügel«, teilte sie mir mit, »haben sich geregt.« Und sie kamen nicht wieder zur Ruhe, die verhängnisvollen Flügel, deren kümmerlicher Schlag gerade genügte, um ihre Besitzerin hinzuschleifen über Dornen und Gestein. Ihre Geschwister und ich bewunderten, was sie schrieb, weil sie es geschrieben hatte – alle übrigen schwiegen. In ihrem Kreise entstand, wie wir hörten, Verlegenheit, wenn sie kam, der oder jener Hoheit ein neues Werk zu überreichen. Auf eigene Kosten war es gedruckt und prächtig eingebunden und wurde mit höflichem Lächeln hingenommen, denn man achtete Madame Kittl zu hoch, um ihr Lobsprüche über Arbeiten zu erteilen, die ihrer so wenig würdig waren. Sie hat es mir nie gesagt, doch vermute ich, daß der Mangel an Anerkennung für ihre Reisebeschreibungen und Novellen sie bestimmte, den Hof zu verlassen. Diesen Entschluß führte sie unerwartet rasch aus, um den Einwendungen zu entgehen, die sich gegen ihr Scheiden erhoben hätten. In London, wo sie ihren Wohnsitz nahm, erhielt sie den Beweis der treuen Gesinnung, die man ihr am belgischen Hofe bewahrte. König Leopold setzte der Erzieherin seiner Tochter aus eigener Initiative ein ansehnliches Jahresgehalt aus. Marie Kittl befand sich in behaglichen Verhältnissen und konnte leicht einen Teil ihrer Ersparnisse daran wenden, von Zeit zu Zeit einen neuen, hübsch ausgestatteten Band in kleiner Auflage erscheinen zu lassen und einige Exemplare an Freunde zu verschenken. Der Rest stapelte sich auf in den Magazinen ihres Verlegers, und oft klagte sie: »Er tut zu wenig für meine Bücher. Ich finde sie nirgends angezeigt.« So ging es fort, bis die Ersparnisse aufgezehrt waren. In schonendster Weise bemühten sich die ehrlichen unter den Freunden und Verehrern der unermüdlich Strebenden, sie zu bewegen, die Schriftstellerei nur noch als Hausindustrie zu betreiben. Davon jedoch wollte sie nichts hören. Manuskripte gehen mit der Zeit verloren, Bücher, die lange unbeachtet blieben, kommen manches Mal doch ans Licht, und dann wundern sich die Menschen, daß dieser Schatz erst so spät gehoben wurde.

So dachte sie vielleicht im stillen, ich aber hatte die Erkenntnis gewonnen: Für diese Werke gibt es so wenig ein Morgen wie ein Heute. Es ist mir ein Rätsel geblieben, wie meine Freundin, die soviel Lebensweisheit besaß, die ein so richtiges Urteil für fremde literarische Leistungen hatte, über ihre eigenen mit völliger Blindheit geschlagen sein konnte. Sie erzählte vortrefflich, sobald sie aber ans Niederschreiben des Erzählten ging, zerflossen die Begebenheiten, Gestalten, Landschaften wie feuchte Flecke auf Löschpapier. Von ihrer Sprache sagte sie selbst: »Ich weiß, sie ist international.« Daß sich eine kleine Kur vornehmen ließe, davon wollte sie nichts hören. Man hat seinen Stil, wie man seinen Buckel hat, schien sie anzunehmen und wollte Ruhe haben vor der Orthopädie. Das Ende war Entmutigung und doch auch – und darüber kann ich nicht hinwegkommen – ein Zweifel an meiner Hilfstätigkeit. Er hat ihre Freundschaft und Liebe zu mir nicht verringert; aber er war da, ich fühlte ihn. Sie brachte die letzten Jahre ihres Lebens in Wien zu und nahm oft meine Vermittlung bei Redakteuren und Verlegern in Anspruch. Alle Briefe, mit denen ich ihre Manuskripte zurückerhielt, konnte ich ihr nicht zeigen, und doch wollte sie jeden sehen. – Ich wußte oft nicht, welche Notlüge ersinnen, um zu erklären, warum es mir unmöglich sei, ihr die Zuschrift mitzuteilen, die ich in Begleitung einer wieder abgelehnten Einsendung erhalten hatte. Immer schwerer entschloß ich mich, die Botin des abermaligen Scheiterns einer frohen Erwartung zu sein.

»Nicht angenommen? Auch das nicht? Und ich hielt es doch für mein Bestes.«

Mehr sagte sie nicht – aber ich ermaß den Schmerz, den diese heroisch kühlen Worte verbargen.

Und ich sah mich im Zimmer um – und ich war anwesend bei ihrem Mittagessen, und ich wußte, sie empfindet bitter die Dürftigkeit, die aus jedem Winkel dieses Raumes schreit, aus jedem Schüsselchen, das ihr die Hausmagd auf den Tisch stellt. Durch Jahrzehnte hat sie in königlichen Schlössern gewohnt und an königlicher Tafel gespeist. Sie mußte ja leiden, sie mußte! unter dem Kontrast zwischen einst und jetzt . . .

Nun, sie verriet es nie. – Die Übergütige, die sich zu einem strengen Wort gegen mich nie hatte aufraffen können, wies jede Andeutung an das Glück, das es mir gewähren würde, ihr Dasein behaglicher gestalten zu dürfen, energisch zurück.

»Ich bin ganz zufrieden, ich brauche nichts, schicke mein Manuskript jetzt nur an einen anderen Verleger.«

Und sobald es eine neue Reise angetreten hatte, stiegen die Hoffnungen wieder empor. Eines ihrer Bücher würde ja doch einmal »einschlagen« und dann alle übrigen zu Ehren bringen. »Denke nur, wie lange du gerungen hast um deinen ersten Sieg!«

Sieg! Mir war leicht, ihr zu beweisen, daß es nicht weit her sei mit diesem »Sieg«. Sie hatte hundert Einwendungen, aber ein bißchen wohl tat es ihrem wunden Herzen doch zu hören, daß ihre Schülerin sich nicht in ungetrübtem Ruhmesglanze sonnte.

Sie hat das Bitterste erlitten, das ich weiß: sie hat einen brennenden und unerfüllbaren Wunsch in der Seele getragen. Und noch einen zweiten, einen weniger heißen, aber sehnlichen, hatte sie und betete täglich um dessen Gewährung, die ihr auch zuteil wurde. Ihr Tod war sanft und schmerzlos. Ohne vorhergegangene Krankheit ist sie eines Nachts, nachdem sie sich am Abend zuvor wohlauf und gesund zur Ruhe begeben hatte, aus dem zeitlichen in den ewigen Schlaf gesunken. – Im Traume, im schönen, lichtverklärten Traume, so hoffe ich, du gute Träumerin!

 

Es war wieder Frühling geworden. Die Kastanienbäume im Prater standen im hellsten Flor, auf den Wiesen, die grünten und dufteten, fanden reiche und arme Kinder sich beim Blumenpflücken ein, die einen zum Vergnügen, die anderen zum Erwerb. Es war hauptsächlich auf Veilchen abgesehen. Von denen banden die Mütter der armen Kinder einige Dutzend an einen kleinen Stab, legten ihnen ein Efeublatt als Stehkragen um und boten die Sträußchen zum Preise von drei Kreuzern Konventionsmünze in den Straßen der Stadt aus. Der aufmerksame Gatte brachte der Frau ein »Büscherl« heim, der Bräutigam legte es der Braut zu Füßen, das Kind den Eltern, und welche Freude bereitete das bescheidene Geschenk! – Ihren beliebtesten Standort hatten die Verkäuferinnen am Graben vor dem Trattnerhof, und dieser Alte, mein Gegenüber, mit dem ich von meinem Fenster aus gern Zwiesprache pflege, versichert mir, die kleinen »Praterveigerln« hätten bis zu seinem zweiten Stock hinauf geduftet. Die großen »wällischen Veilchen« hingegen könnten haufenweise an ihm vorbeigetragen werden, er röche nichts davon.

Ich möchte das Körbchen einer Blumenfrau von einst gar zu gern neben dem tragbaren Blumenmagazin einer ihrer Kolleginnen von heute stehen sehen! In dem einen kleine dunkle Urbilder der Lieblichkeit, des Segens, den sie ausströmen, unbewußt, in dem andern alle Farbenglut und Formenpracht südlicher Flora in Glanz und Reichtum prangend. Was hätten die einander zu sagen, die beiden! Kulturgeschichte würden sie reden.

Die Zeit verfloß, die Tage wuchsen und mit ihnen unsere Sehnsucht nach der Rückkehr auf das Land. Sie war für Mitte Mai festgesetzt und allmählich in so nahe Aussicht gekommen, daß man begann, die Koffer vom Boden herunterzuschaffen. Auch die unseren erschienen, und wir machten uns an die köstliche Arbeit des Einpackens und sangen dazu aus vollem Halse nach der Melodie des Volksliedes Da droben auf dem Bergerl mein selbstverfaßtes Reiselied:

Adieu nun, du Wien,
Wir fahren hinaus,
Nicht weit in die Fremde,
O nein, nach Zuhaus.

Dort steht's auf dem Bergel
So traurig und denkt:
Wann werden die Kinder
Mir wiedergeschenkt?

Sei froh jetzt, mein altes,
Sie sind schon ganz nah,
Gott grüß dich, sie kommen,
Die Kinder sind da!

Wohl hatte Fritzi gefunden, das Liedchen passe nicht mehr für uns, und so hatte ich eins für erwachsene Mädchen gedichtet. Das war aber ohne Schwung und sang sich nicht von selbst wie das erste. So blieben wir bei dem.

Unser Festjubel erfuhr eine jähe Störung, die Abreise mußte verschoben werden, denn Großmama war plötzlich erkrankt.

»Nichts von Bedeutung«, versicherte der Arzt, ein Homöopath, der damals in Wien großes Ansehen genoß. »Eine leichte Lungenentzündung; in vierzehn Tagen ist die alte Frau wieder gesund, und dann fahren Sie mit ihr, je eher, je besser, aufs Land!«

In vierzehn Tagen! in vierzehn Tagen erst? – das ist ja so lang, nicht auszudenken, wie lang, das ist ja nicht zu erleben, das Ende dieser vierzehn Tage. Wir waren über diese Verzögerung unserer Abreise so unglücklich, daß wir ihre Veranlassung im ersten Augenblick kaum erwogen. Als aber zwei Tage vergingen, an denen wir die Großmama nicht sehen durften, als es noch am dritten hieß: »Sie hat Fieber, sie hustet und muß Ruhe haben«, begann uns angst zu werden. Auch Papa war besorgt und äußerte Zweifel an der Unfehlbarkeit des berühmten Arztes. Am vierten Tage hatten wir beim Nachhausekommen vom Spaziergang angeläutet an Großmamas Wohnungstür, waren, als sie geöffnet wurde, ins Vorzimmer gedrungen und bestürmten die Kammerjungfer mit Bitten, uns zu melden. Sie brauche nur zu sagen, daß wir da seien, sonst gar nichts. Vielleicht, man könne ja nicht wissen, vielleicht würden wir doch vorgelassen.

Die Kammerjungfer mahnte zur Geduld. Unsere Eltern und der Arzt, die sich schon eine Weile bei Großmama befänden, würden gleich kommen und dann bestimmen, was zu geschehen habe. Als sie eintraten und wir unser Anliegen vorbrachten, wies der Doktor uns barsch ab. Er war in schlechter Laune und fuhr ungeduldig heraus, als Papa Besorgnisse um die Kranke äußerte: »Sehen Sie denn nicht? Es geht ja besser. Ganz gesund wird man in dem Alter doch nicht von einem Tag zum andern!«

Beide Eltern fragten noch: »Also wirklich keine Gefahr?«

»Wenn ich Ihnen sage: nicht die geringste.«

Das war denn schön und beruhigend. Von den vierzehn Tagen, die überstanden werden sollten, bevor Großmama reisen durfte, waren vier vorbei. Zehn noch dazu, und wir sind wieder in unserem lieben alten Neste . . . Die Lindenbäume wiegen ihre blühenden, duftenden Zweige und die Fichten ihre in die Wolken strebenden Wipfel; wie von einer unsichtbaren Riesenhand gestreichelt, wallen und schmiegen sich wohlig die Millionen Ähren auf den Feldern, die mütterliche Heimaterde qualmt, die Sonne leuchtet, freundliche Augen lachen, und alle, alle sagen: »Grüß euch Gott!«

Nun war der fünfte Tag gekommen – ein Maitag mit Sommertemperatur, auf dem Lande wonnig, in der Stadt für mich ein Kopfschmerzenausbrüter. Sie hatten sich heftig eingestellt, und als die Eltern am Vormittage mit uns ausfahren wollten, bat ich, zu Hause bleiben zu dürfen.

Die Meinen waren kaum fort, als Madame Vaxelaire herbeigeeilt kam, um mir zu sagen, daß Großmama heraufgeschickt habe . . . Sie wollte Fritzi und mich sehen . . . und schrecklich – schrecklich – jetzt sei Fritzi nicht da! –

Die Erregung, mit der die gute Frau sprach, entsetzte mich. Was hat das zu bedeuten? Was gab es denn? Ich war aufgesprungen, ich rannte auf den Gang. Dort stand der alte Josef, der gekommen war, uns abzuholen, uns beide, und jetzt mich allein über die Stiege geleitete.

»Něstěsti, Něstěsti!« war alles, was er auf meine hastigen und angstvollen Fragen erwiderte.

Die Kammerjungfer erwartete mich – tief bekümmert, von Zweifeln und Sorgen zerquält. Sie wußte nicht, ob es recht von ihr sei, mich zur Großmama zu führen. In der Früh, als der Arzt dagewesen war, hatte er unsere Bitten um Einlaß grimmig abgewiesen. Aber die Frau Baronin wolle uns sehen, habe den Befehl, uns zu holen, so bestimmt gegeben – da müsse man ihr doch gehorchen.

Wir gingen in das Speisezimmer und leise auf den Fußspitzen zur Tür des Schlafzimmers. Sie war nur angelehnt und gab meinem zaghaften Drucke nach.

Ich blieb auf der Schwelle stehen.

Die zwei Fenster rechts, die in das Rotgäßchen sahen und zwischen denen am breiten Pfeiler das Bild meiner Mutter hing, waren ganz, das Fenster der Tür gegenüber bis zur halben Höhe verhängt. So konnte die Kranke ein Stückchen Himmel sehen von ihrem Bette aus, das die Mitte der Längswand zur Linken des Eingangs einnahm. Nie anders als eilig und freudig war ich in dieses stille Gemach getreten, und nun bannte eine schwere, beklemmende Bangigkeit mich auf meinen Platz. Von ihm aus sah ich die hochgetürmten Polster, deren Stickereien das Kopfende des Bettes überragten, sich ein wenig bewegen, und nun hörte ich die Stimme Großmamas. Sie fragte: »Die Kinder – kommen sie?«

Da faßte ich mir ein Herz, da lief ich zu ihr, und plötzlich und wonnig ergriff mich die Freude des Wiedersehens. Ganz ungetrübt. Großmama machte mir nicht den Eindruck einer Kranken. Sie saß fast aufrecht in ihrem Bette, an ihre Schultern schmiegte sich ihr weicher, feiner Schal mit den bunten Blümchen, den sie so gern hatte. Sie war auch frisiert wie gewöhnlich, trug eine reich garnierte weiße Haube und an jeder Seite der Stirn drei braune Seidenlocken.

Was liegt einem Kinde an der Schönheit alter Leute? Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob meine greise Großmutter schön sei oder nicht. Jetzt aber sagte ich mir und war sehr glücklich und stolz darüber: Sie ist ebenso schön, wie sie lieb ist und gut!

Sie hatte mir zugenickt. »Fritzi?« fragte sie, und ihre Stimme war arm und heiser.

Ich versicherte, daß Fritzi gleich kommen werde, und begann, ohne selbst zu wissen warum, eine lebhafte Beredsamkeit zu entfalten. Genau entsinne ich mich, wie jeder Einzelheit dieser letzten mit meiner Großmutter verlebten Stunde, daß ich von Zdißlawitz erzählte, und wie mich's freue, daß sie wieder fast gesund sei, weil wir jetzt bald abreisen könnten.

Sie lächelte – sehr traurig, kam mir vor – und machte mir ein Zeichen, mich auf einen Sessel zu setzen, der an ihrem Bette stand, mit der Lehne gegen das Fenster. Ich gehorchte, war aber durch Großmamas Schweigen und durch ihr trauriges Lächeln aus meiner zuversichtlichen Stimmung und in Verlegenheit geraten. So verhielt ich mich denn ganz ruhig und wagte nicht mehr, mich zu rühren. Großmama hatte die Augen geschlossen, und ihrem schweren und hörbaren Atem glaubte ich zu entnehmen, daß sie schliefe.

Alles still rings um uns. Manchmal nur rollte ein Wagen durch das Gäßchen und über den Rabenplatz. Die Sonne mußte nun im Zenit stehen, der Himmel leuchtete in purpurner Bläue. Durch den unverhangen gebliebenen Teil der Fenster fiel goldiges Licht in das Zimmer und bildete einen breiten hellen Streifen an den Wänden. Sie waren glatt, mit grüner Farbe bemalt. Von meinem Platze aus sah ich gerade auf die Stelle hin, an der, vor nun auch schon acht Jahren, mein Kinderbett durch längere Zeit gestanden hatte. Meine Schwester war an den Masern erkrankt, wir wurden getrennt, und Großmama nahm mich in ihre Obhut. Mein kleines Lager war in ihrem Schlafzimmer aufgeschlagen, und wenn ich früher als sie erwachte, stellte ich mich sachte auf und begann die Farbe von der Wand loszulösen. Eine angenehme Morgenbeschäftigung. Die Farbe, die sehr dick aufgetragen war, bildete hie und da Blasen, und wenn man sie eindrückte, sprangen sie ab wie Glas, und wie Glas ließ sich auch ihre nächste Umgebung vom lichten Grund abheben. Ein wenig weiter kam dann wieder ein Bläschen, und wieder wurde es eingedrückt, und nach ein paar Wochen war mitten im Grün ein weißer, vielfach ausgebuchteter Fleck zu sehen, der sich wie ein Ozean auf einer Landkarte ausnahm. Die Kammerjungfer hatte zu dem Unfug länger geschwiegen, als ihr leicht wurde, und machte ihren Bedenklichkeiten endlich Luft. Sie stellte sich mit gerungenen Händen vor den Ozean und gab die bestimmtesten Versicherungen ab, daß sie nicht ahne, was jetzt mit der so übel zugerichteten Wand anzufangen sei. Großmama, die mir eben Unterricht im Häkeln gab, antwortete gleichmütig: »Man wird sie frisch anstreichen lassen.«

Ich hatte nie wieder daran gedacht – jetzt fiel es mir ein, und dem leisen Anstoß folgend, stieg nach und nach ein Zeichen ihrer still waltenden Liebe ums andere vor mir auf, eine unendliche Reihe, die sich im Unbewußtsein der Kindheit verlor . . . Und diese Liebe, die immer gab, sich nie erschöpfte, hatte ich besessen und hingenommen wie etwas ganz Selbstverständliches, das mir gebührte, mich nie besonnen, daß ich ein göttliches Geschenk genoß, und noch weniger, daß es mir je genommen werden könnte . . . Immer würde ich sie haben, die mir jede Freude bereitet hatte, die sie mir bereiten konnte, immer eine Entschuldigung für mich gewußt, mir alles verziehen hatte, zuletzt sogar die Dichterei. Und wie wird es erst sein, wenn ich Großes geleistet haben werde und sie stolz auf mich sein wird? . . . Als ich, diese stumme Frage auf dem Herzen, zu ihr emporsah, begegnete mein Blick ihren weit geöffneten Augen, die mit unsagbarer Zärtlichkeit auf mir ruhten. Es glitt wie ein lichter Schein über ihr Gesicht, und sie wies nach einem Tisch, den man in die Nähe ihres Bettes gerückt hatte. Dort standen allerlei Schächtelchen mit Hustenbonbons, die ich sonst sehr zu würdigen wußte.

»Nimm dir«, sagte sie.

Mir aber war auf einmal jäh und schrecklich die Ahnung einer grausamen Möglichkeit aufgegangen: Wenn sie stürbe! Wenn wir unsere Großmutter nicht mehr hätten! . . . Ich sprang auf, ich stürzte mich über ihre Hand und küßte sie viel-, vielmals . . .

Sie zog diese liebe Hand zurück, legte sie auf meinen Kopf, als ich aufschluchzend mein Gesicht in die Decke preßte, und sprach: »Nur gescheit! Nur gescheit!«

 

Am nächsten Tage knieten meine Schwester und ich am Bett der toten Großmutter mit tief gesenkten Häuptern. Wir wagten nicht, emporzusehen. Eine Leiche – das muß etwas furchtbar Trauriges sein. Man hätte uns sonst, als unser kleines Schwesterchen starb, nicht so ängstlich von ihm ferngehalten und es nicht so rasch fortgetragen. Nach langem Gebete stand Fritzi auf und ließ einen scheuen Blick über das Angesicht der Toten gleiten . . . »Oh!« sagte sie plötzlich und faltete die Hände in frommer, freudiger Überraschung: »Oh – schau!« Nun stand auch ich auf, und meine Augen folgten der Richtung der ihren, und auch meine Hände falteten sich . . . Wie heilig war unsere Großmutter, wie herrlich und heilig! Der schwermütige Zug um den Mund, den wir an ihr gekannt hatten, war verschwunden, die stummen Lippen, deren Sprache ich immer verstanden hatte, sagten: Jetzt ist alles gut. Ein unaussprechlicher, unendlicher Frieden lag auf ihren stillen Zügen und wehte uns entgegen, eine himmlische Tröstung und Erhebung, ein letzter Gruß ihrer Liebe. Wir konnten uns von ihr nicht losreißen und – weinten nicht. Man soll nicht weinen in der Nähe von Toten, es tut ihnen weh. Ich weiß nicht, wieso wir zu dieser Überzeugung gelangt waren. Erst als Tante Helene und Vetter Moritz kamen, sie laut klagend, er von tiefstem Leid erfüllt, brach meine Schwester in Schluchzen aus und vermochte ihren Schmerz nicht mehr zu bemeistern. Am Abend fieberte sie, und nachdem man sie zu Bette gebracht hatte, schluchzte sie noch im Schlafe.

 

Es wurde uns nicht erlaubt, das Sterbezimmer ein zweitesmal zu betreten. Wir sollten die Tote nicht mehr sehen, es griff uns zu sehr an. Bei der Einsegnung nur waren wir zugegen, als unsere Großmutter im geschlossenen Sarge lag, bereit zur letzten Reise nach unserem »Zuhause«.

Wie irrten alle, die glaubten, daß ich sie jetzt nicht sähe, daß die Wände ihrer metallenen Behausung für mich nicht durchsichtig wären!

Die Verstorbene hatte unseren Vater zum Vollstrecker ihrer letztwilligen Anordnungen bestellt, und dadurch wurde unser Aufenthalt in Wien neuerdings verlängert. Ich erhielt den Auftrag, diese Zeit zu benützen, um einen Katalog der Bücher meiner Großmutter anzufertigen. Sie waren mein und meiner Schwester Eigentum geworden und sollten im Sommer verpackt und nach Zdißlawitz geschickt werden. Ich ging mit Eifer an meine Arbeit, hatte keine Ahnung davon, was das heißt: »einen Katalog anzufertigen«, meinte aber diese Aufgabe zu lösen, indem ich ein Buch nach dem andern aus dem Schranke holte, den Titel desselben in ein Heft eintrug und es dann wieder an seinen früheren Platz stellte.

Das Zimmer, in dem die kleine Bibliothek Großmamas sich befand, war ihr Toilettezimmer gewesen, stieß an das Schlafgemach und hatte wie dieses die Aussicht auf das sogenannte »Rabenplatzl«. Die Wand zunächst am Fenster nahm der Bücherschrank ein, und wenn ich seine Flügel öffnete, breitete sich das helle Licht sonniger Junivormittage über eine auserlesene Gesellschaft.

Sie bewohnte fünf Geschosse und bildete in jedem eine stattliche Reihe von vornehm in braunen, roten und grünen Saffian gekleideten Buchpersönlichkeiten. Ihre Anführerin war die Bibel. Ich kannte den Band; er hatte meinem Großvater gehört, und es waren viele Zeichen von seiner Hand darin eingelegt. An einer Stelle befand sich außer dem Zeichen ein Bleistiftstrich. Die Stelle lautete: »Und ich hörete eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach.«

Oh, das verstand ich! Der Anblick meiner entschlafenen Großmutter hatte es mich gelehrt: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.« Und wo hatte ich diese Stelle gefunden, die mir so hell einleuchtete? In der Offenbarung Johannis, der heiligen, rätselhaft verschleierten Schrift, deren Geheimnisse noch niemand durchdrungen hat. Nicht einmal der große Newton, der, wie mein Vetter mir unlängst erzählt, die letzten Jahre seines Lebens dem Studium und der Erklärung der Apokalypse gewidmet hatte . . . Und ich – es mutete mich an wie ein Wunder –, ich verstand sie! Mir war's gegeben, mir, einem Kinde! . . . In unaussprechlichem Jubel schwoll mein Herz, ich glaubte, daß eine himmlische Erleuchtung mir zuteil geworden sei.

Mit zitternden Fingern blätterte ich zurück vom vierzehnten zum ersten Kapitel, und was ich las, Vers um Vers, war ein schönes, seltsames Gedicht. Aber je weiter ich kam, je dunkler wurde mir der Sinn des Gelesenen. Da half kein Kopfzerbrechen. Einzelne Bilder nur schwebten vor mir, sehr klar und in großer Pracht, so wie der Heilige sie geschaut hatte, als er »war im Geiste«. Blendend die Vision von dem Einen, den er nicht nennt und der anzusehen war wie Jaspis und Sardis und vor dessen von einem Regenbogen wie Smaragd umgebenen Thron die Ältesten ihre goldenen Kronen niederlegten. Ich sah die vier Lebendigen und sah das Buch mit den Sieben Siegeln in der Rechten des Einen und glaubte, eine Ahnung davon zu haben, was für ein Buch das war, und die Namen der vier Lebendigen nennen zu können. Damit ging meine Weisheit zu Ende. Von nun an gab es keinen Lichtschein mehr, der mir einen Pfad zu neuem Begreifen und Erkennen gewiesen hätte . . . Nein, ich war das gottbegnadete Kind nicht, das in Einfalt findet, »was kein Verstand des Verständigen sieht«.

Enttäuscht und beschämt brachte ich das Buch der Bücher wieder an seinen Platz und bemerkte jetzt: außer an der einen Stelle, die ich zuerst aufgeschlagen hatte, war in der ganzen Apokalypse kein Zeichen eingelegt.

Zunächst an die Heilige Schrift schmiegte sich das Werk ihres frommen und milden Apostels, Thomas a Kempis, und er hatte Herder zum Nachbarn, und dann kam Lessing. Neben seinen Werken stand seine Biographie in drei Bänden, von K. G. Lessing. Ich las die ersten Kapitel und wurde dabei in meinen eigenen Augen so klein, wie ich nicht einmal als Auslegerin der Offenbarung Johannis geworden war. Meine hohe Meinung von meiner Begabung, meinem Lerneifer, meinem Wissensdrang erfuhr eine jämmerliche Einschränkung durch den Vergleich zwischen mir und dem Kinde Gotthold Ephraim. Wie kam ich mir vor, ich Dreizehnjährige, von Zweifeln Gequälte, wenn ich las: »Im vierten und fünften Jahre wußte er schon, warum und wie er glauben sollte.« Und weiter: »Als ein Maler ihn im fünften Jahre mit einem Bauer, in dem ein Vogel saß, malen wollte, erfuhr dieser Vorschlag seine ganze kindische Mißbilligung. ›Mit einem großen, großen Haufen Bücher‹, sagte er, ›müssen Sie mich malen, oder ich mag lieber gar nicht gemalt sein.‹« Und da er auf die Fürstenschule nach Meißen gebracht wurde, »mußte man ihn um ein Jahr älter machen, weil keiner unter dem dreizehnten Jahre angenommen werden soll.« Auf der Schule studierte er sogar in den freien Stunden, und Klassiker, deren Namen ich nicht einmal hatte aussprechen hören, »waren seine Welt«.

So sind die Kinder beschaffen, aus denen große Menschen werden – so war ich nicht. Ich konnte mir nicht einmal recht vorstellen, wie dem beneidenswerten Gotthold Ephraim zumute gewesen sein mußte im Besitze seines großen Reichtums. Alles gäbe ich darum, nur einen Tag, nur eine Stunde lang so zu sein wie er, umgehen zu dürfen mit unsterblichen Menschen wie mit Freunden und einzudringen in ihre leuchtende Gedankenwelt.

Es war eine bittere Zeit der Selbsterkenntnis, voll Sehnsucht und Kümmernis, diese erste, die ich Aug in Auge mit den Bewohnern des Bücherschrankes meiner Großmutter zubrachte.

Zur Unterstützung meines Gedächtnisses habe ich Lessings Biographie, die seitdem in meinem Besitze ist, zur Hand genommen und finde auf dem Schutzblatte des ersten Bandes die Zeilen eingeschrieben:

Ich bin ein Nichts für meinen Gott,
Für meinen Nächsten bin ich klein,
Mir selber dien ich nur zum Spott,
Wie könnt ein Mensch noch ärmer sein?

Allmählich trat Erholung von dieser Depression ein. Wenn auch nicht ein Lessing, konnte doch etwas anderes Gutes aus mir werden. Nur lernen mußte ich zuerst, alles kennenlernen, was es Schönes gab in diesen Büchern, die nun ich zu meiner Welt machen wollte. So feierte ich wahre Leseorgien und fand die Vormittage, die vermeintlich mit Katalogisieren ausgefüllt wurden, immer zu kurz. Voll Heißhunger verschlang ich, was ich vorfand an Dramen von Shakespeare, Racine, Corneille, Goethe, Kleist, und bedauerte nur, daß meine arme Großmutter nicht ein einziges Werk der Klassiker besessen hatte, in die Lessing sich versenkte, als er in meinem Alter stand. Er freilich, er lernte sie in ihrer Sprache kennen, der Glückliche. Weil er ein Bub war, durfte er das, er mußte sogar Griechisch lernen und Latein. Von seinen Lippen tönte die Sprache, in der Themistokles, Demosthenes, Cäsar, Titus geredet haben. Zum Ruhme gereichte ihm sein Glück . . . Wofür würde ich angesehen werden, wenn ich anfangen wollte, Griechisch und Latein zu lernen? Ganz einfach für verrückt. Ich war ja nur ein Mädchen. Was gehört sich alles nicht, schickt sich alles nicht für ein Mädchen! Himmelhoch türmten sich die Mauern vor mir empor, zwischen denen mein Dichten und Trachten sich zu bewegen hatte, die Mauern, die mich – umfriedeten.

Kein gutes Wort in dieser Anwendung! »Umfrieden« paßt nur für den Kirchhof, in dem die Toten liegen; die Lebendigen kommen um den Frieden, wenn man ihnen enge Grenzen setzt . . . Sie werden fortwährend suchen, sie zu durchbrechen, immer gegen sie anrennen und glauben: Dieses Mal weichen sie mir!

Das dürften ungefähr die Gedanken gewesen sein, die damals meinen jungen Kopf durchschwirrten und denen ich in zahllosen Gedichten Worte gab; es ist von den stürmischen und hoffärtigen, deren ich mich später schämte, nichts übriggeblieben. Nur einige friedliche Verslein ließ ich bestehen. Als den letzten aus den Kinderjahren möge ihnen hier Unterkunft gewährt sein.

Was hör ich in der Dämmerung?
Wie Glöcklein hell es klinget.
's ist wohl der Tag, der licht und jung
Ein goldnes Liedchen singet.

                      *

Wenn ich als Kind zum Himmel geschaut,
Hat droben mein Land geblinkt und geblaut.
Jetzt ist der Himmel geworden so leer,
Ich sehe mein Land, mein liebes, nicht mehr.

Der sogenannte Katalog war fertig; ich hatte nun angefangen ihn abzuschreiben, weil ich einen Grund haben mußte, um meine Vormittage noch immer in der Wohnung Großmamas zubringen zu dürfen. Da herrschte jetzt Grabesstille; die Küche sowie das »Frauenzimmer« waren leer. Die Köchin und die Kammerjungfer hatten sich in ihre Heimat begeben, um dort ihren Ruhestand und ihr Ruhegehalt zu genießen. Nur der alte Josef war noch anwesend und sollte, bevor er uns auf das Land nachfolgte, die Verpackung der Möbel überwachen. Mit treuer Liebe zu seiner langjährigen Tätigkeit hielt er die Zimmer der verstorbenen Herrin so nett und blank wie je. Doch standen jetzt alle Türen weit offen, und ich konnte, ohne eine Klinke zu berühren, von der Küche aus bis in den großen Salon gehen. Daß auch seine Tür offenstand, mutete mich besonders fremdartig an. Wir Kinder hatten ihn nie betreten; er wurde auch nur benutzt, wenn unsere Großmutter eine Gesellschaft gab, was selten geschah. Immer nur verstohlen hatten wir hineingeguckt, wenn Josef darin gravitätisch seines Amtes waltete mit Staubbesen und Flederwisch. Der Salon machte uns einen feierlichen Eindruck. Seine weiß lackierten, durch vergoldete Stäbe in Felder eingeteilten Wände verbreiteten einen majestätischen Glanz, und die Mahagonimöbel mit Intarsien und Beschlägen aus Bronze hatten jedes eine eigene noble Physiognomie. Der hellgelbe Seidenstoff, mit dem die Polsterung des Kanapees, der Stühle und Sessel überzogen war, schimmerte so prächtig, wie ich nie wieder einen hellgelben Seidenstoff habe schimmern gesehen.

Und dieses imposante, mit dem Reiz des Geheimnisvollen umkleidete Gelaß, da stand es nun erschlossen, jedem zugänglich, und war eben nur ein Zimmer wie ein anderes.

Wie merkwürdig kamen meine Wanderungen mir vor durch die Räume, denen die zurückgeschlagenen Türflügel das Gepräge grenzenloser Ödigkeit verliehen. Ich wollte sie mir beleben, wollte mir einbilden, daß der Schatten der Entschlafenen vor mir herschwebe und Gestalt annehme und daß ich sie sehen werde, an ihrer Toilette sitzend oder am Fenster im Schlafzimmer; und wenn da nicht, im nächsten, vielleicht im Speisezimmer, an dem Tische, an dem wir so oft ihre Gäste gewesen waren. Ich ging von Tür zu Tür, ganz sachte, voll Sehnsucht und doch ein wenig bange, schloß die Augen und öffnete sie plötzlich und hoffte: Jetzt – jetzt muß sie dir erscheinen . . . Aber da war nichts. Ihr Platz blieb unbesetzt; die Stuben blieben leer . . .

Der Tag vor der Abreise von Wien und vor dem Scheiden von den lieben Räumen, die mir mit jeder in ihnen verlebten Stunde teurer und heiliger geworden, war gekommen, und ich veranstaltete eine kleine Abschiedsfeier. Ich holte zwei Bücher aus dem Schranke, nahm Platz am Arbeitstische meiner Großmutter und überdachte innig und ließ durch meinen Kopf und durch mein Herz ziehen, was diese beiden Bücher mir geschenkt hatten. Es war soviel!

Das eine, der erste Band der Mémoires pour servir à l'histoire d'Anne d'Autriche, épouse de Louis XIII, roi de France, par Madame de Motteville, hatte mir einen herrlichen Dramenstoff geschenkt, den ich im Laufe der Zeit immer reicher ausgestaltete. Alles, was in mir lebte an Vergötterung des Schönen, an Verachtung und Haß des Schlechten und Gemeinen und nicht zum mindesten an übermütigem Humor, mit dem ich oft verletzte und Anstoß erregte, alles ließ sich da hineinschütten wie in eine eigens mir zu Lieb und Ehr geformte goldene Schale.

Cinq-Mars war mein Held, der junge, leichtsinnige, leichtgläubige Günstling Ludwigs XIII., der seinen Herrn von der erdrückenden Tyrannei des allmächtigen Ministers Richelieu befreien will, im tollkühn unternommenen Kampfe mit dem Riesen unterliegt und nach einem Augenblick des Verzagens prachtvoll stirbt.

Und was für Gestalten gruppieren sich um ihn! Ludwig XIII., den mit kühnen Strichen hinzuzeichnen die reine Wonne sein wird, der sich fühlbar unter die Hand des Bildners schmiegt. Eine königliche Erscheinung, von einer kleinen Seele belebt; treulos wie die Schwäche, hart wie die Engherzigkeit. In einem Gefühl nur bleibt er unwandelbar, im Hasse gegen den Gewaltigen, der sich rühmen darf: »Ich habe meinen König zu meinem Diener gemacht und diesen Diener zum größten Monarchen der Welt.«

Sein Herr verabscheut ihn und kann ihn nicht entbehren, sein Herr ist im geheimen das Haupt jeder Verschwörung gegen ihn, und sobald eine neue mißlingt, kriecht der »Herr« grollend und knirschend zu Kreuze und liefert, ein Kronzeuge, seine Mitschuldigen dem Sieger aus. Und endlich einmal bietet, ja bietet! er seine beiden Söhnchen dem triumphierenden Kardinal zum Pfande völliger Unterwerfung an. Aber da bäumt die Königin sich auf und bewahrt »die Kinder Frankreichs« vor der Schmach, die ihnen droht. Ich liebte Königin Anna von Österreich und wollte schon dafür sorgen, daß jeder, der sie durch mich kennenlernte, sie ebenfalls lieben müßte. Als die Heldin sollte sie geschildert werden, die kühn und stolz den verliebten Löwen abgewiesen hatte, da er sich vermaß, um ihre Frauengunst zu werben. In allen Stunden ihres Lebens litt sie unter seiner unersättlichen Rachgier, erlitt Demütigungen und Grausamkeiten ohne Zahl und unterwarf sich nicht . . . Und wie viele tauchten neben ihr auf und waren voll Kraft und voll Leben und mir in ihren geheimsten Regungen und verborgensten Motiven durchsichtig wie die Luft.

Aber die Krone des Ganzen sollte doch die Figur Richelieus werden. Der Reichtum, den sie der Phantasie bot, war unerschöpflich. Wo man antippte, gab's Funken. Diese rätselhaften Kontraste! Der Mann, der sein Frankreich an die Spitze aller Staaten der Erde gestellt, die Hugenotten besiegt, den mächtigen, rebellischen Adel unterworfen hatte, der die Vertreter der Parlamente mit den Fingern seiner Rechten wie Marionetten an Drähtchen hüpfen ließ – buhlte um literarischen Ruhm. Es fraß ihm am Herzen, daß die Pariser den Tragödien des jungen Corneille zujauchzten und die ihres alten Ministers mit so wenig Geräusch als möglich zu Grabe – gähnten. Der Kirchenfürst und Heerführer, der den Purpurmantel des Kardinals über der Stahlrüstung trug, wollte auch als Tänzer glänzen. Die Bewunderung, die seine Größe der Königin nicht abgewann, versuchte er ihr durch seine Grazie abzugewinnen. Oh, die Sarabande, mit der er sich zweihundert Jahre früher vor der Majestät und ihrem Hofstaat lächerlich gemacht, wie oft hat er sie mir aufgeführt im Schlafzimmer meiner Großmutter! Und wie viele andere herrliche Szenen! Die letzte zum Beispiel des ersten Aufzuges: der König ist im Lager vor Perpignan, umringt von Feinden des Kardinals, und der liegt krank und gebrochen in Tarascon, weiß sich verraten und verkauft, weiß von dem Vertrag mit Spanien, der ihn stürzen soll, und vermag nicht, ihn in seine Hand zu bekommen.

Da plötzlich verwandelt sich seine Trostlosigkeit in wilden Triumph. Einer seiner Späher ist zurückgekehrt und legt einen ausgehöhlten Wanderstab vor ihn hin. Er enthält eine Rolle – den Vertrag. Nun hat er sie – da stehen sie, die ihn unterzeichnet haben: Gaston von Orleans, des schwachen Königs elender Bruder, der Herzog von Bouillon, der Großstallmeister Cinq-Mars. – Sie sind zu hoch emporgeschossen, Monsieur le Grand! Man wird Sie um einen Kopf kürzer machen. – Von neuer Lebenskraft beseelt, erhebt der kranke Kardinal sich vom Pfühl. Zu Pferde seine Garden! Das Gefolge rüste, ein Zug voll Glanz und Pracht ordne sich! Es geht zu Hof; es geht mit fürstlichem Gepränge ins königliche Lager nach Perpignan!

Dort sollte der zweite Aufzug spielen, und ich dachte ihn mir sehr bewegt. Wir lernen Cinq-Mars kennen in seinem liebenswürdigen und blinden Glauben an sein Glück und seinen Freund de Thou und Fontrailles, der die Verhandlungen mit Spanien geleitet hat. Gerüchte, der Kardinal sei sterbend, sind aufgetaucht; Gaston von Orleans meint, Katzen hätten ein zähes Leben, man solle nachhelfen.

»Seht den König an«, sagt er zu Cinq-Mars, »er macht mir Sorge, er war gestern wieder sehr krank. Wenn er vor seinem Minister stürbe, würde es euch schlecht ergehen.« Cinq-Mars weist den Gedanken an den nahen Tod seines Herrn mit Schaudern zurück. Wie kann man einen solchen Gedanken nur haben, nur fassen? – »Versucht's!« erwidert Gaston, »und erinnert euch dann meines Mittels. Ich bleibe der Herzog von Orleans auch nach dem Tode meines Bruders. Ihr seid dann nur noch – der Feind des Kardinals.« Cinq-Mars schlägt den abscheulichen Rat des Herzogs und die Warnungen de Thous in den Wind. Er und seine Anhänger blicken mit seliger Zuversicht dem unausbleiblichen Sturze Richelieus und kommenden schönen, ruhmvollen Tagen entgegen. – Im Lager wird gespielt, getanzt, musiziert; es herrscht tolle Lustigkeit . . . Nun, auf einmal, tritt, als sei plötzlich etwas Unheimliches aufgetaucht, da und dort Stille ein; sie verbreitet sich weiter und weiter, auch die Kühnsten halten den Atem an; die sangen und schrien – sie lauschen. Zwei Worte erschüttern die Luft und erfüllen die fröhlichsten Herzen mit Grauen: »Seine Eminenz!« –

Richelieu betritt das Lager wie der Tod den Ballsaal.

Wundergut gefiel mir dieses Ende des zweiten Aufzugs, und im dritten sollte es noch viel schöner kommen. Da sollte im Zelte des Königs die Begegnung zwischen ihm und dem Kardinal stattfinden. Ganz unhistorisch, aber daran lag mir nichts. Ich sah es, deutlich zum Greifen – so war es denn!

Sie saßen einander gegenüber, und mit kaum bezähmtem Wohlgefallen spürte einer in den Zügen des andern jedem Zeichen schweren Siechtums nach. Den Blick in die Augen des Königs gesenkt, unverwandt, unerbittlich, berichtet sein treuer Diener dem Ahnungslosen, daß er schändlich hintergangen wird . . . Er legt ihm den Vertrag mit Spanien vor und ist voll Entsetzen über die Gefahr, in der das Land und der Monarch gestanden haben. Sein Herz blutet, eine Rührung ergreift ihn, wenn er sich fragt: »Wer sind diese Verräter?« und antworten muß: »Die Nächsten seinem Thron, seinem Vertrauen, seiner Liebe, es sind die, denen mein König im Begriffe war, seinen einzigen Getreuen zu opfern.« Kaum noch bewahrt Ludwig einen Schein der Fassung, kaum noch verbirgt der Kardinal seinen knirschenden Zorn hinter der Maske süßlicher Heuchelei und erlangt alles, was er will, wie er es will – demütig angeboten . . . Eine vortreffliche Szene, und genial würden Laroche und Löwe sie spielen.

Reiche Handlung stand mir auch für den vierten und fünften Akt zur Verfügung:

Die Auslieferung de Thous, den keine andere Schuld traf, als daß er der Freund eines Feindes Richelieus gewesen, an den Kardinal.

Cinq-Mars' leichtsinniges Spielen mit dem Verhängnis, das über ihm schwebt.

Die Fahrt Richelieus auf der Rhône. In purpurumhangener Barke liegt der Sterbende, und von seinem stolzen Fahrzeug wird ein ärmlicher Kahn geschleppt. Seine Opfer befinden sich darin, zwei Menschen, kraftvoll und jung, in blühender Gesundheit. Und er, der vielleicht seinen alternden Schattenkönig nicht mehr überlebt, die beiden wird er überleben. Der Gedanke zaubert ein Lächeln auf sein düsteres Gesicht und legt ihm grauenvolle Worte auf die Lippen.

Den Tod meines jungen Helden. Seinen Abschied von der großen Prinzessin, die ihm ihr Herz geschenkt hatte, und von seiner berückenden Geliebten Marion Delorme . . . Wie mit dem Fuße stößt er dann ein Leben von sich, in dem seine ehrgeizigen Träume sich nicht erfüllen sollten.

Entsühnt durch den Priester, erbaut durch die Frömmigkeit des Freundes betritt er den Weg zur Richtstätte. Zu dem letzten Gang hat dieser Mann, dieses Kind sich schmücken lassen wie zu einem Gang nach Hofe. Diese heroische Eitelkeit war mir unaussprechlich rührend und kostete mich viele Tränen.

Lange Jahre hindurch sollte ich mich mit diesem Stoffe, von dem ich gemeint hatte, daß er sich von selbst zum Drama gestalten werde, herumschlagen. Zuletzt stand ich an der Spitze einer kleinen Armee von Manuskripten, von denen nur die ersten den Titel Cinq-Mars, die letzten aber den Titel Richelieu führten. Seine Gestalt wuchs und wuchs riesenhaft vor mir empor, bis sie mir – entwuchs und ich begriff, daß ich aus meiner Blindheit über ihre Größe den Mut geschöpft hatte, sie darzustellen. Allmählich waren die Augen mir aufgegangen, ich wußte: Mit all meiner Begeisterung, all meinem Fleiß habe ich nur ein Pfuschwerk zustande gebracht.

Durchaus nicht in einem Verzweiflungsanfall, ganz ruhig schichtete ich dann meine Cinq-Mars und Richelieus im Ofen sorgfältig und nett zu einem Scheiterhaufen zusammen und zündete ihn an.

Er rauchte erst sehr stark, dann lohten schöne Flammen auf. Die Blätter – viele von ihnen waren kalligraphiert und illustriert – wanden und krümmten sich wie in Schmerzen, Fünkchen – Klosterfrauen, die in ihre Zellen eilen, nennen sie die Kinder – huschten über den Zunder. Nun lag ein unförmiger Pack schwarzer, schmutziger Fetzen da – als Frucht so vieler Mühen. Hätte eine Vision mich dieses Ende sehen lassen, als ich in den ersten zärtlichen Verkehr mit dem vortrefflichen »Stoffe« trat, für den ich Madame de Motteville so dankbar segnete, würde ich die Arbeit, die zu diesem Resultate führte, unternommen haben?

Fast glaube ich: ja.

 

An jenem Junimorgen aber vor nun einundsechzig Jahren trübte nicht die leiseste Furcht vor der Möglichkeit eines Mißlingens meine freudige Zuversicht. »Mein Stück« leuchtete vor mir im reinen Glanze eines Phantasiegebildes, an das die gestaltende Hand noch nicht gelegt wurde. Noch war es geistiger Natur, noch haftete keine Werdequal und keine der Widrigkeiten ihm an, mit denen jede Geburt eines Lebendigen sich vollzieht.

Das zweite Buch, das ich mir zu meinem Abschiedsfeste eingeladen hatte, enthielt die Oden Klopstocks. Ich kannte von ihnen allen nur eine, diese aber kannte ich gut. Sie hieß Die Frühlingsfeier und war mir entgegengekommen, als ich ihre alte braune Behausung ein wenig durchmustern wollte. Immer öffnete sie sich da, wo die Frühlingsfeier stand. Wie oft mußten andere vor mir sie dort aufgesucht haben, und wer mochte es gewesen sein – meine Großmutter, mein Großvater oder vielleicht meine Mutter?

Vielleicht sind sie alle es gewesen, und diese noch sichtbare leise Spur führte ein Kind, dessen Dasein dem ihren entsprossen war, aus seinem bangen Tasten und Suchen auf den Weg, den sie gegangen waren.

 

Nicht in den Ozean der Welten alle
Will ich mich stürzen – . . .

 

Nur um den Tropfen am Eimer,
Um die Erde nur will ich schweben und anbeten – . . .

 

Wer sind die Tausendmaltausend, wer die Myriaden alle,
Welche den Tropfen bewohnen und bewohnten? Und wer bin ich?
. . . mehr wie die Erden, die quollen,
Mehr wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten!

 

Mehr – weil ich weiß, wie wenig ich bin: – ein verwehender Hauch auf einem Stäubchen im All . . . Aber der Atem Gottes lebt in diesem Hauche. Um das zu begreifen, bedurfte ich einer Gnadengabe des Unendlichen, eines Lichtstrahls von seinem Geiste. Er hat ihn mir gespendet, seinem Geschöpf, und ich darf »mein Vater« zu ihm sagen.

 

Als ich auf der Schwelle stehenblieb und noch einmal zurückblickte in den stillen Raum, aus dem ein teures und köstliches Leben entschwunden und in dem ich so oft allein mit meinen Gedanken gewesen war, überkam es mich: Eine andere, als ich ihn betreten, verlasse ich ihn. Meine Sehnsucht, zu denken und zu leiden, sollte sich fortan nicht nur von dämmernden Träumen nähren, sie begann sich zu erfüllen. Eine kleine Vergangenheit lag schon hinter mir. Ich hatte gedacht und gelitten – ich war kein Kind mehr.

 


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