Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Ein Lied

Er gehört zu den Starken und hat sogar als Kind nie geweint. »Weil er nicht will – aus Trotz«, sagte der Vater. »Weil er nicht kann«, sagte die Mutter. Und sie glitt ihm sanft und leise mit der Hand über den Kopf: »Wenn du's nur nicht noch einmal lernen mußt.«

Es ist ein ausgezeichneter Mann aus ihm geworden, er nimmt, an Erfolgen und Ehren reich, eine wichtige Stellung ein, ist nie besonders geliebt, aber immer außerordentlich geachtet worden. In seiner Ehe ist er weder glücklich noch unglücklich. Seine gute Frau lebt mehr mit und in ihren Kindern als mit und in ihm. Es sind schöne, gesunde, begabte Kinder, und er freut sich darüber, aber doch nur wie über etwas Selbstverständliches; anders als wohlgeraten können doch seine Kinder und die der Frau, die er erwählt hat, nicht sein.

Er hatte einst einen Liebling in dieser Schar; das wurde ihm aber nicht verargt, denn sein Liebling war auch der aller übrigen, ein fünfjähriges Büblein, das geboren schien, um durch sein bloßes Dasein alle Herzen zu erquicken. Wie Gestalt gewordene Lebensfreude wirkte sein Anblick, er heimste allenthalben Liebe ein und verschwendete sie übervollen Herzens an Menschen, an Tiere, an Blumen. Von seinem ersten Tage an hatte er in Fülle der Gesundheit geblüht, als ihn plötzlich ein schweres, schmerzvolles Leiden mit unheimlicher Heftigkeit tückisch überfiel. Er bäumte sich zornig auf und wehrte sich gegen den fremden Feind mit allen seinen Kräften, er ballte die Fäustchen, stöhnte, jammerte und weinte.

Der Vater trat zu ihm, faßte seine Hand und redete ihm zu: »Nicht weinen! Ein wackerer Bub weint nicht, wenn ihm etwas weh tut. Ein wackerer Bub, der singt, davon wird's besser.«

»Ja?« Das Kind sah zu ihm empor, lag eine Weile ganz still, seufzte tief auf und begann zu singen. Leise, mühsam hervorgepreßt, dann immer heller und heller kam aus der kleinen keuchenden Brust der Anfang eines fröhlichen Kinderliedes, ertönte glockenrein – und erlosch in einem Schluchzen.

Das Kind ist wenige Tage darauf gestorben, und der Vater hat den schwersten Verlust, der ihn treffen konnte, mit einem beinahe verletzenden Heroismus ertragen. Nun sind Jahre darüber hingegangen. Der starke Mann führt in strenger Pflichterfüllung sein gewohntes arbeitsvolles Leben fort. Segen ruht auf allem, was er unternimmt. Seine Kinder gedeihen und machen ihm Ehre. Viele beneiden ihn; er fühlt, daß er zu danken hat und nennt sich einen Glücklichen.

Aber manchmal erwacht er des Nachts. Der Anfang eines fröhlichen Kinderliedes klingt an sein Ohr. Ein vielgeliebtes Stimmchen hat sich erhoben, singt willensstark hell und glockenrein – schlägt plötzlich um und verhaucht in einem qualerpreßten Klagelaut.

Und dann schmilzt in dem eisernen Menschen etwas, das sein ganzes Leben hindurch starr geblieben ist, und er bricht in einen Strom heißer Tränen aus.

 


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