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Doktor Nathanael Rosenzweig hatte eine entbehrungsreiche Jugend durchlebt. Was genießen heißt, erfuhr er in der schönsten Zeit des Daseins nicht. Heute hungern und dabei gerade genug erwerben, um morgen weiterhungern zu können; nachts um zwei Uhr sich zusammenrollen wie ein Igel und in der Ecke der Kellerstube den harten, traumlosen Schlaf der Erschöpfung schlafen; erwachen bei dem Gewimmer der alten Großmutter, die sich entschuldigte, daß sie noch nicht gestorben sei, daß sie ihm noch zur Last fallen müsse; forteilen, um lehrend die Möglichkeit zu erringen, selbst zu lernen – so ging es jahrein, jahraus. Erwerben, der Inbegriff all seines Dichtens und Trachtens, Geld erwerben, Kenntnisse, Gunst, hauptsächlich die seiner Professoren – Nathanael studierte Medizin an der Universität in Krakau –, erwerben um jeden Preis, den der Ehrlichkeit einzig ausgenommen, erwerben und nur ja nichts umsonst hergeben, nicht den kleinsten Teil der eigenen Kraft; keine mitleidige Regung kennen, keine hemmende Rücksicht.
Seine Großmutter und er, er und seine Großmutter machten für ihn die Welt aus, und wie denn seine Welt klein war, so waren seine Ziele nahe. Das erste und am schwersten Errungene bestand in dem Ersparnisse so vieler Gulden, daß er und die alte Frau nicht sofort verhungern mußten, wenn ein unvorhergesehenes Unglück seine Tätigkeit für einige Zeit lähmen sollte. Als er es erreicht hatte, da fühlte er sich als Kapitalist und tröstete die Großmutter bei ihrer allmorgendlichen Klage mit den Worten: »Lebe du nur ruhig fort, jetzt kann uns nicht so leicht mehr etwas geschehen.«
Sein rastloser Fleiß verminderte sich nach dem ersten Erfolge nicht, er wuchs vielmehr mit der Kraft dessen, der ihn anwandte.
Nathanael wurde ein starker Mann; seine kreuzspinnenartigen Extremitäten kräftigten sich zu muskulösen Armen und Beinen, die Brust wurde breit, die Gestalt bekam etwas Reckenhaftes trotz ihrer Magerkeit. Sein Auftreten war so sicher, sein Blick so ruhig und klar, seine Rede so bestimmt, daß schon seine ersten Patienten – gar kleine Leute! – meinten: »Das ist ein gescheiter Herr Doktor!«
Seine große Jugend sah ihm niemand an; er hatte sich zu lange in Gesellschaft der Sorge befunden, und wenn er sie auch bändigte und unterwarf – daß sie heimlich an ihm zu nagen fortfuhr, konnte er nicht verhindern.
Allmählich kam er in Besitz eines Rufes, eines bescheidenen, aber eines guten, und dem verdankte er es auch, daß er zu dreißig Jahren schon von Amts wegen als Physikus nach einem der westlichen Kreise versetzt wurde. Ein sicheres Brot von nun an! ein reichliches sogar nach Nathanaels Begriffen. Er hätte bei der Einrichtung seiner Wohnung auf dem Ring der Kreishauptstadt nicht so ängstlich zu knickern gebraucht, aber er fürchtete übermütig zu werden wie die meisten Armen, wenn sie plötzlich zu Geld kommen, und gab den Handwerkern wenig zu verdienen. Immer des Wortes eingedenk: »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann«, schaffte er allerlei Werkzeug an und ließ sich's nicht verdrießen, den Tischler und den Schlosser gleichfalls zu ersparen. Und wenn es auch wirklich ein Graus war, wie die Sachen aussahen, den Doktor beirrte das nicht; der Schönheitssinn war bei ihm entweder nicht vorhanden oder nicht ausgebildet.
Als die Großmutter, steinalt und unbeweglich, ihre Stube nicht mehr zu verlassen vermochte, sich aber doch noch herzlich sehnte nach dem Anblick einer grünen Staude, einer blühenden Blume, da wurde der Herr Doktor ein Gärtner, und bald sahen die Fenster seiner Wohnung aus wie die eines Treibhauses.
Die Greisin litt manchmal an Rückfällen in ihre ehemalige Schwachherzigkeit; doch äußerte sich diese jetzt verschieden.
»Wenn ich nur nicht zu früh sterbe«, sagte die Neunzigjährige. »Ein Begräbnis ist gar so kostspielig!«
Nathanael tröstete sie liebreich: »Stirb ja nicht, Großmutter, du würdest mich um den Lohn aller Mühen betrügen, die ich um deinetwillen gehabt habe.«
Der Besitz Nathanaels mehrte sich im Schranke, die Lust am Besitze stieg und stieg. Pläne, deren Verwirklichung dem klugen Manne in seiner Jugend als bare Unmöglichkeit erschienen wäre, erwog er nun mit der Zuversicht bevorstehender Erfüllung. Seine ärztliche Praxis war ausgedehnt und einträglich. Nach allen Schlössern der Umgebung berief man ihn. Der trockene, wortkarge Doktor Rosenzweig, der keinen Widerspruch duldete, der nie eine Schmeichelei über die Lippen brachte, wurde der Vertrauensmann der Edelleute und, was viel merkwürdiger war, das Orakel ihrer liebenswürdigen und feinen Damen und der Freund ihrer Kinder.
»Der Kleine ist schwer krank, aber – Rosenzweig behandelt ihn.« – »Den ganzen Tag habe ich in Todesangst um mein Töchterlein zugebracht – aber jetzt ist Rosenzweig gekommen.«
Wenn nur Rosenzweig da war, so war Hilfe da, und blieb sie einmal aus, dann hatte Gott eben nicht gewollt, daß ein Mensch sie bringe.
Unter keinen Umständen erwies man sich karg gegen ihn, das hätte niemand gewagt. – Doktor Rosenzweig baut sich ein Haus, ein Haus aus gebrannten Ziegeln; dazu braucht er Geld. Er hat außerhalb der Stadt einen Baugrund gepachtet, und unter seiner eigenen Leitung ist auf demselben ein viereckiger, einstöckiger Wohnkasten errichtet worden. Stolz ruht er auf tüchtigen Kellergewölben, hat eine steinerne Treppe und ein wetterfestes Ziegeldach. Die Fensterrahmen sind schneeweiß angestrichen, die Mauern schneeweiß getüncht. Als einzige Zierde der Fassade prangt neben der Glocke an der Tür das Schildchen der Feuerversicherungsgesellschaft.
Aus den Fenstern der vorderen Front – sie liegt gegen Osten, und ihr erstes Geschoß wird von dem Doktor und seiner Großmutter bewohnt – hat man eine weite, weite Aussicht: Himmel und Felder. Frei schweift der Blick ins Grenzenlose. Kein Hügel hemmt ihn, kein Wald bringt einen dunklen Fleck hervor auf der glatten, im Sommer goldig, im Winter silbern schimmernden Flur. Jede Handbreit Erde kann von der lieben Sonne durch und durch getränkt werden mit lebenweckenden Strahlen. Gibt es Schatten, so ist es ein solcher, der nicht kühlt, nicht ruht, der nicht einem Hälmchen die Wärme entzieht, deren es zu seinem wunderbar geheimnisvollen Reifen bedarf – der Schatten der fliehenden Wolken. Wie oft verfolgt ihn Nathanael aufmerksamen Auges, sieht ihn hingleiten über den wachsenden, schwellenden Reichtum, den sie zum Herbste einheimsen und zu Schiff auf der Weichsel nach Deutschland und nach Rußland bringen und teuer verkaufen werden. Wer sich doch beteiligen könnte an diesem großartigen Erwerb! ein Hundertstel, ach ein Tausendstel nur von dem Gewinn, den er abwirft, in die eigene Tasche fließen sähe! Der Doktor fängt an, auf der unermeßlichen Ebene Luftschlösser zu erbauen, so bunt und märchenhaft schön, daß er nicht umhin kann, während er sie baut, lächelnd zu denken: Mahnst du auch mich einmal, nie angetretenes Vätererbe – morgenländische Phantasie?
Er wendet sich ab von dem Anblick fremden Reichtums und will einen Strich gezogen haben zwischen dem und seinem bescheidenen Eigentum. Das Doktorhaus wird in fünf Klafter breiter Entfernung von jedem Punkte seiner Mauern mit einem Zaun aus ordentlich zugehobelten Latten umgeben; nach je ihrer zwanzig kommt ein starker, spitz zulaufender Pfahl. Aus dem Raume zwischen Haus und Zaun wird nach und nach ein kleiner Garten werden; die Einteilung in Blumen- und Gemüsebeete ist bald getroffen. Kein Schachbrett kann genauer quadriert sein.
»Im nächsten Jahre, liebe Großmutter, wirst du Rosen und Reseden unter deinen Fenstern blühen sehen«, versprach Nathanael der Greisin, und sie erwiderte: »Wenn ich es nur noch erlebe, mein Kind. Aufs Jahr werde ich fünfundneunzig.«
»Weit über hundert mußt du werden!« rief er eifrig. »Das bist du mir schuldig, denke doch! Wie würde es das Vertrauen der Leute zu mir erhöhen, wenn es hieße: Seine Großmutter hat er auf mehr als auf hundert Jahre gebracht. Denn die Leute sind dumm, liebes Godele, sie schreiben meiner Kunst zu, was deine gute Natur getan hat. Bleibe du nur frohen Mutes, nimm dir nur recht fest vor, noch nicht zu sterben. Solange du es dir fest vornehmen kannst, wirst du munter weiterleben.«
Die Greisin nahm es sich vor, aber von einer rechten Munterkeit war nicht mehr die Rede.
»Mir ist jetzt so oft«, sagte sie, »als ob dein Großvater vor mich träte und zu mir spräche wie in seiner Todesstunde: ›Komm bald! Wir wohnen so friedlich beisammen im Garten Eden, wie wir gehaust haben auf Erden. Komm bald nach, Rebekka! . . .‹ Damals konnte ich nicht folgen dem Rufe meines Geliebten, weil du mich hast zurückgehalten, du armes Würmchen, du ganz verlassenes. Von Vater und Mutter zuerst, und vom Großvater bald darauf. Ja, es war eine schreckliche Seuche, die Gott geschickt hat über sein Volk im Kazimirz, und nicht gewußt hätte ich, wem sagen: Sei barmherzig meinem Enkelkind, wenn ich mich nun auch hinlege zum Sterben. So habe ich damals nicht erfüllen dürfen den Wunsch meines Geliebten. Jetzt aber, Nathanael, mein Kind, jetzt aber ist mir, als sollte ich ihn nicht länger warten lassen.«
Solche Reden schnitten dem Doktor ins Herz. Nie hatte die zurückhaltende, schweigsame Großmutter ähnliche geführt. Ein bedenkliches Zeichen, wenn alte Leute etwas tun, das außerhalb ihrer Gewohnheiten liegt! Der kleinen Veränderung folgt oft nur gar zu bald die unwiderrufliche – die letzte nach. Und noch ein Symptom, das den Doktor beunruhigte: die Greisin, die sonst nie genug Einsamkeit haben konnte, war jetzt nicht mehr gern allein. Sooft Nathanael sich bei ihr verabschiedete, sprach sie: »Geh denn in Gottes Namen, aber schicke mir den Goi, daß er mir Gesellschaft leiste und ich doch blicken könne in ein menschliches Angesicht und nicht immer und immer nur auf die Felder und den Himmel.«
Der »Goi« war ein Jüngling von nun achtzehn Jahren, des Doktors Famulus, sein Diener, sein Hund. Des Tages wußte er sich nicht zu erinnern, an dem der »Wohltäter« ihm ein gutes Wort gegönnt oder ein gutes Kleidungsstück geschenkt hätte. Wenn die Röcke und Stiefel Rosenzweigs unbrauchbar wurden, erhielt der große Junge sie zur Benützung und die Vermahnung dazu, ihnen diejenige Rücksicht zu erweisen, die man fremdem Eigentum schuldig ist. Der Doktor ging immer mehr in die Breite, und fast schien es, als ob er kleiner würde. Sein Famulus »verdünnte« sich, wie Rosenzweig sagte, von Tag zu Tag und schoß spargelmäßig in die Höhe. Wie ihm die Gewänder des Wohltäters saßen, das kam diesem selbst entweder erbärmlich oder lächerlich vor – beides mit einem Zusatze von Verachtung.
Den Jungen konnte er einmal nicht leiden, sein Widerwillen gegen ihn war unüberwindlich und entsprang aus dem Gedanken, daß der Findling seines Herrn Brot umsonst oder doch fast umsonst esse.
Vor vier Jahren hatte ihn Rosenzweig von der Straße aufgelesen, in einer eiskalten herrlichen Winternacht. Mit dem Stolze eines Triumphators war er im Schlitten des Grafen W. pfeilgeschwind dahingesaust. Der Graf selbst hatte ihn bei der Abfahrt sorgsam in die Pelzdecke gehüllt, in der er sich so behaglich fühlte, und ihm immer wieder gedankt und immer von neuem Worte gesucht für das Unsagbare – die Glückseligkeit des Liebenden, dem sein Teuerstes, das er schon verloren gab, wiedergeschenkt ist. Gerettet die junge Gräfin, gerettet vom beinahe sicheren Tode durch das Genie, durch die erfinderische Sorgfalt des unvergleichlichen Arztes, der an ihrem Krankenlager gestanden hatte wie ein Held auf dem Schlachtfelde, fast besiegt noch den Sieg im Auge, kampfbereit noch im Erliegen, der nicht gewichen war, bevor er sagen konnte: »Wir haben gewonnen, sie wird leben!«
Er hatte so viele Nächte durchwacht und sich auf den guten Schlaf gefreut während der Heimfahrt im bequemen Schlitten. Aber seine Müdigkeit mußte zu groß sein, sie verscheuchte die ersehnte Erquickung, statt sie herbeizurufen. Sooft Nathanael die Augen schloß, unwillkürlich öffneten sie sich wieder und schwelgten im Anblick des sternenbesäten, mondhellen Himmels und der schneebedeckten Ebene, die in wunderbarer Blankheit erglänzte gleich einer ungeheuren, neugeprägten Silbermünze . . . Wieviel Gold ließe sich erwerben um solche Münze? Die Keller des viereckigen Doktorhauses hätten nicht Raum, sie zu fassen, die köstlichen Barren, die verehrungswürdigen! Berger und Träger allbezwingender Kräfte, gebundene Zauber, aufgespeicherte Macht. Was läßt sich nicht tauschen um Gold? Unschätzbares erkauft man damit, das weiß der Mann, der denen, die ihn bezahlen, die Gesundheit wiedergibt.
Der Doktor wurde in seinem Gedankengange plötzlich unterbrochen. Das Gefährt stand dicht am Straßengraben still, und der Kutscher rief: »Herr Doktor! Herr Doktor! . . .«
»Was gibt es, mein Sohn?«
»Herr Doktor, da liegen zwei Betrunkene.«
»Steig ab und prügle sie ein wenig durch, damit sie nicht erfrieren.«
Indes der Kutscher vom Bocke stieg und die Zügel an demselben verknotete, hatte Nathanael sich aufgerichtet und vorgebeugt und sah einer der auf dem Boden liegenden Gestalten mit gespannter Aufmerksamkeit in das vom Mondlicht hell erleuchtete Gesicht. Kein Säufergesicht, wahrlich! sondern eines, das Zeugnis gab von ehrlichem Darben und Dulden bis an die Grenze der menschlichen Kraft.
Der arme Teufel hatte, in dem Augenblick wenigstens, kein Bewußtsein seines Elends, er schien fest zu schlafen. Als aber der Kutscher ihn packte und emporzerrte, fiel er sofort, steif wie ein Eisblock, in den Schnee zurück. Jener sprach: »Der eine ist schon erfroren, Herr Doktor!«
Rosenzweig sprang mit beiden Füßen aus dem Wagen und überzeugte sich bald, daß die Behauptung seines Dieners richtig sei. Grimm erfüllte ihn. Da war ihm einmal wieder der Tod zuvorgekommen, den er am meisten haßte, der nicht durchaus durch Krankheit bedingte, durch das Alter herbeigeführte – der Tod, dem der Zufall in die Hand gearbeitet hat, der Tod, der seine Beute umsonst gewinnt, dem sie dumm und töricht zuteil wird, ohne triftigen Grund.
»Sehen wir nach dem andern«, sagte der Doktor zwischen den Zähnen.
Der andere schlief auch, aber weniger tief.
Es war ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, dem Toten offenbar nahe verwandt, sein viel jüngerer Bruder oder sein Sohn.
Mit dem Feuereifer des Berufs begann der Doktor Wiederbelebungsversuche anzustellen, und nach langen Mühen krönte sie ein schwacher Erfolg. Ein kaum spürbares Rieseln war durch des Knaben starre Pulse geglitten, und wenn es auch sofort wieder staute, dennoch erklärte der Doktor voll Siegesgewißheit: »Jetzt hab ich ihn!«
Und er hüllte ihn in seinen Pelz, hob ihn in den Schlitten, brachte ihn heim und legte ihn in sein eigenes Bett, an dem er das Kind des Elends mit derselben Hingebung bewachte, die er der Herrin im Grafenschloß gewidmet hatte. Am Morgen war der Patient außer Lebensgefahr, und Rosenzweig konnte nicht umhin, zu sich selbst zu sagen: Auch der gerettet, zwischen zweimaligem Sonnenaufgang zwei!
Schmunzelnd streichelte er seinen langen Mosesbart und freute sich seines mächtigen Vermögens.
Sein Patient aber erhielt noch am selben Tage die Weisung: »Steh auf und geh.«
»Wohin? Gnädiger Herr Doktor, wohin? Wer nimmt mich ohne meinen Bruder?« antwortete der Knabe verzweifelnd, und nun trat die Frage heran: Was mit ihm beginnen?
Die Papiere, die der Verstorbene bei sich gehabt hatte, wiesen ihn aus als den Maschinenschlosser Julian Mierski, der viele Jahre hindurch als Werkführer in einer Fabrik in Lemberg gedient hatte. In seinem Zeugnis hieß es, der vorzügliche Arbeiter habe, zum Bedauern seines Dienstherrn, infolge schwerer Erkrankung entlassen werden müssen. Seitdem konnte er nichts mehr verdienen, sein Bruder aber, den er nach dem Tode der Eltern – arme Häusler in einem Dorfe bei Lemberg – zu sich genommen, nur gar wenig. So gingen, erzählte der Knabe, in Monaten die Ersparnisse von Jahren hin und wurden aufgezehrt bis auf einige Gulden, deren Anzahl er genau angab und die sich auch richtig im Ranzen des Verunglückten vorgefunden hatten.
Die Großmutter hörte dem unter Tränen erstatteten Berichte aufmerksam zu.
»Horch, Nathanael, mein Kind«, sagte sie. »Es ist nicht recht gewesen von dem Bürger Goi in Lemberg, zu verlassen den Mann in seiner Krankheit, der ihm in Gesundheit gedient hat viele Jahre.«
»Eine Fabrik ist keine Versorgungsanstalt«, erwiderte Rosenzweig und befahl seinem Geretteten: »Sprich weiter.«
Dieser fuhr fort: »Vor acht Tagen ist ein Bekannter von meinem Bruder gekommen und hat erzählt, daß es in Krakau eine Fabrik gibt wie die unsere und daß sie uns dort gewiß nehmen werden. Mein Bruder war sehr froh: ›Komm, Joseph, wir wandern‹, hat er gesagt und hat auf der Reise immer gemeint, der lange Müßiggang ist es gewesen, der ihn nicht hat gesund werden lassen, beim Marschieren wird ihm besser. Auf einmal hat er aber nicht weitergekonnt und hat sich in den Schnee gelegt, um ein wenig zu schlafen.«
»Und du hast das zugegeben?« schrie der Doktor ihn an. »Weißt du nicht, was einem geschieht, wenn man sich bei solchem Frost in den Schnee legt?«
Der Knabe senkte seine großen Augen, aus denen unaufhörlich Tränen flossen, und schwieg.
»Was soll man anfangen mit einem solchen Chamer?« fragte Rosenzweig die Großmutter.
Die Greisin entgegnete: »Laß ihn heute noch ruhen unter deinem Dache. Sei ihm barmherzig. Er ist eine Waise wie du.«
Am nächsten Tage lautete ihr Rat: »Behalte ihn. Unsere Magd wird ohnehin alt und wackelig und kann eine Hilfe brauchen. Behalte ihn und richte ihn ab zu deinem Dienst. Wer wird es verargen einem großen Mann wie du, wenn er tut sich halten einen Famulus?«
So wurde der Findling ein Genosse des Doktorhauses, und zwar ein ungemein nützlicher, obwohl Rosenzweig das letztere nicht gelten ließ. In seinen Augen blieb Joseph ein »Chamer«, der aus Büchern nichts lernte, nicht zu lernen vermochte. Mit achtzehn Jahren noch las er nicht ohne Schwierigkeit die einfachsten Kindergeschichten. Ihn zur Schule zu zwingen, hatte der Doktor schon nach den ersten Monaten aufgegeben, weil er nur mit Schlägen dahin zu bringen war und sein Wohltäter nicht immer Muße hatte, ihm dieselben zu spenden. Seine mechanischen Fertigkeiten hingegen waren groß, und groß der Fleiß, mit dem er sie ausübte. Auch er pfuschte in jedes Handwerk, aber mit besserem Erfolg als dereinst der Doktor.
In allem, was er unternahm, offenbarte sich ein Schick, eine Leichtigkeit, ja sogar ein Geschmack, der den Pillenschächtelchen des Doktors ebensosehr zugute kam wie den Blumenbeeten im Gärtlein vor dem Hause. Immer nur mit Verdruß hörte der Doktor ihn loben, »den Tagdieb, der nichts kann und nie etwas anderes können wird als spielen«.
Er hatte einmal wieder diesen Vorwurf ausgesprochen, da entgegnete Joseph: »Wenn du dich entschließen könntest, deine Felder in deine eigene Verwaltung zu nehmen, würde ich dir beweisen, daß ich kein Tagdieb bin.«
Der Doktor fuhr auf: »Was sprichst du von meinen Feldern? Weißt du nicht, daß ich ein Jude bin und als solcher Grundeigentum nicht besitzen darf? Weißt du nicht, daß sogar mein Haus auf fremdem Boden steht?«
Joseph wurde rot vor Verlegenheit, sah jedoch dem Doktor vertrauensvoll und offen ins Gesicht und erwiderte: »Du hast die Felder auf den Namen des Theophil von Kamatzki gekauft, aber sie sind doch dein.«
»Sag einmal, mein Junge, woher hast du diese Nachricht?« fragte Rosenzweig, und höchst verdächtig war die Gebärde, mit welcher er dabei sein spanisches Rohr zu schwenken begann.
Gelassen antwortete Joseph: »Das ist kein Geheimnis. Alle Leute wissen es und gönnen dir die Felder.«
Während dieses Gespräches standen die beiden mitten auf dem Wege, der schnurgerade von der Haustür zum Gartenpförtlein führte, zwischen zwei säuberlich mit Reseden eingefaßten Rosenbeeten. An den Stachelbeerhecken, die Joseph längs des Lattenzaunes gezogen hatte, reiften die ersten Früchte. Was man überblicken konnte an zart entfalteten Salatstauden, an Rüben mit kühnen Federbüschen, an gelblich zwischen gekräuselten Blättern hervorleuchtendem Blumenkohl, an schier kriegerisch behelmtem Zwiebelnachwuchs, an zierlichem Majoran und – dulce cum utile –, als Begrenzung jeglichen Gemüsekarrees, an duftendem Lavendel, dessen kleine Knospen zu schwellen anfingen, das war alles so kraftstrotzend und kerngesund, daß bei dem Anblick jedem Menschen, besonders aber einem Arzte, das Herz im Leibe lachen mußte. Mit geheimem Wohlgefallen betrachtete Rosenzweig die freundlichen Himmelsgaben und sagte: »Weil du ein leidlicher Gärtner bist, bildest du dir ein, auch ein Landwirt sein zu können.« Damit wollte er abbrechen, besann sich aber und fügte hinzu, indem er die Spitze seines Stockes mit großer Hartnäckigkeit in die Erde bohrte und diese Operation scheinbar höchst aufmerksam verfolgte: »Ich hätte die Felder nicht – eigentlich mit einem gewissen Unrecht – in meinen Besitz gebracht, wenn ich nicht hoffen dürfte, sie bald zu Recht besitzen zu dürfen. Du wirst wohl wissen, daß eine Veränderung der Landesgesetze bevorsteht und daß an den größeren Freiheiten, die sie dem Volke Galiziens gewähren werden, auch die Juden teilnehmen sollen.«
Joseph wußte das und hoffte, der Doktor werde die Felder, wenn sie einmal vor Gott und der Welt sein Eigentum sein würden, nicht mehr in Pacht geben, sondern selbst bewirtschaften.
»Dann wirst du Ställe und Scheuern bauen müssen«, schloß der Jüngling. »Ich habe dem Architekten in der Stadt etwas abgesehen und die Pläne schon fertig.«
»Bist ein Narr«, sprach der Doktor, verlangte aber nach einigen Tagen doch, die Pläne zu sehen.
Nun, brauchbar waren sie gewiß nicht, doch als merkwürdig mußte man es gelten lassen, daß der Findling, dessen Schrift die eines siebenjährigen Kindes war, doch so nett und ordentlich und vielleicht auch in den Maßen richtig einen Plan zu zeichnen vermochte. Das ist eben einer von denen, die tanzen können, bevor sie das Gehen erlernt haben. Es gibt solche Käuze. Sie setzen einen allerdings manchmal in Erstaunen. Gewöhnlich wird aber nichts aus ihnen.
Nathanael, der einen Gedanken, der sein eigenes Wohl und Weh betraf, nie lange verfolgte, ohne die Großmutter zu dessen Vertrauten zu machen, fragte bald darauf bei ihr an, was sie zu einer Selbstverwaltung seiner Gründe sagen würde. Da zeigte es sich, daß dieser Gegenstand zwischen der Greisin und dem Findling schon gründlich erörtert worden war.
»Du wirst reich werden wie Laban«, prophezeite die alte Frau. »Über dir ist des Herrn sichtbarlicher Segen.«
In diesem Frühjahr hatte es sich ihr erwiesen; in diesem für Tausende unseligen Frühjahre 1845, als die Weichsel aus ihren Ufern trat und in einen schlammigen See verwandelte, was üppig und verheißungsvoll grünende Saat gewesen war. Unaufhaltsam wie ein Gottesgericht waren die Fluten hereingebrochen und hatten die ernährende Scholle hinweggespült und mit ihr Hab und Gut und Hoffnung derer, die sie bebauten.
Bis dicht an die Grenze der Felder Nathanaels erstreckte sich die Verheerung – vor ihnen zerrannen die Wellen. Vor ihnen waren die Wasser hinweggefahren und hatten sich auseinandergeteilt wie einstens die Wasser des Roten Meeres, als Moses gegen sie den Stab erhob und die Hand reckte auf Gottes Gebot.
Und als der Herbst kam, herrschte ringsum Hungersnot. Hunderte verließen mit ihren Weibern und Kindern die Heimat und wanderten als Bettler, als Taglöhner, Brot und Arbeit suchend, aus.
Die Großmutter aber fragte täglich: »Wann beginnt die Ernte? In diesem Jahre hat der Weizen hundertfachen Wert. Wann kommen die Schnitter?«
Nathanael erwiderte lächelnd: »Bald, sehr bald. Sie wetzen schon die Sensen!«
Indessen erlebte die Greisin die Zeit der Ernte nicht mehr. Sie fiel selbst als überreifes Körnlein in den Mutterschoß der Erde zurück, bevor ihr Enkel zu ihr hatte sprechen können: »Die Schnitter kommen!«
Unerhört spät und doch zu früh war plötzlich ihr Leben erloschen.
Da lag sie nun in ihrem schmalen Sarge, die alte Rebekka, ein wundersam ergreifender Anblick. Der Tod hatte ihre gekrümmte Gestalt gestreckt, und weinend und staunend fragte Joseph: »So groß war sie?«
Er fragte aber auch: »So schön war sie?«
Erlöst von allen Gebrechen, befreit von der Hilflosigkeit des Alters, wie majestätisch erschien sie nun, in ihrer unendlichen Ruhe, in ihrem untrübbaren Frieden! Das Lächeln auf dem Angesicht so vieler, die überwunden haben, umschwebte diese Lippen nicht. Steinerne Kälte sprach aus den Zügen, die ein Schimmer der begeisterten Liebe und Bewunderung, welche die Gegenwart des Enkels stets auf ihnen hervorgezaubert, noch in der Sterbestunde erhellt hatte.
Du bist es nicht mehr! dachte Nathanael, und mit grausamer Gewalt ergriff ihn das Bewußtsein des erlittenen Verlustes.
Er winkte Joseph hinweg, er wollte ungestört bei seiner Toten bleiben. Am Fußende des Sarges stehend, suchte er in dem fremden, veränderten Anlitz der Großmutter das lang bekannte, teure und – fand es nicht. Das einzige ideale Gut, das er besessen hatte, die Zuneigung dieser alten Frau, war für immer dahin und er, als ein bejahrter Mann – allein. Mit jähem Schreck fiel es ihn an: Zwischen dieser Greisin und dir liegt eine Generation. Du solltest jetzt hingehen können und an der Brust deines Weibes um sie weinen und dir Trost schöpfen aus dem Anblick deiner Kinder.
Der rastlos Strebende, der nie zurück, der nur vorwärts geschaut, nach Zielen, die mit seinen Erfolgen wuchsen, hielt einmal still in seinem Laufe, wandte sich und durchmaß im Geiste seinen ganzen Lebensweg. Viel erreicht! durfte er sich gestehen, doch niemals das geringste ohne einen Gedanken an dich – Großmutter. Wie ihr Dasein ihn erfüllt und beglückt hatte, jetzt klaffte um so schmerzlicher der Riß, den ihr Scheiden verursachte.
Sie hätte ihn nicht verlassen sollen, sie, deren Nähe ihn über das Schwinden der Zeit – eines Begriffes, der dem hohen Alter verlorengeht – getäuscht hatte.
»Weiche ab von dem Brauche unseres Volkes«, hatte die Greisin so oft gesprochen. »Heirate nicht zu früh, setze nicht Bettler in die Welt. Du kannst warten, mein Kind, du bist jung.«
Immer hatte er zu dieser Ermahnung geschwiegen; heute antwortete er ihr, die ihn nicht mehr hören konnte: »Ich war dir so lange zu jung zum Freien, bis ich mir zu alt geworden bin.«
Alsbald jedoch empfand er den Widerspruch, den er ihr ins Grab nachgerufen, als einen Frevel; und er trat zu ihr, beugte sich über sie, und was nie geschehen war, solange sie gelebt hatte, er küßte ihre Hand, küßte ihre Stirn und den für ewig verstummten Mund, den einzigen auf Erden, von dem er sich »mein Kind« hatte nennen hören.
Joseph beteiligte sich als Freiwilliger an den Erntearbeiten, und eines Nachmittags sah ihn Rosenzweig, der gleichgültig, als ob die Sache ihn nichts anginge, vorbeischritt, hoch oben stehen auf einem beinahe völlig beladenen Leiterwagen. Behend und kräftig schichtete er die Garben, und dem Doktor fiel es auf, daß der Bursche in der drollig weiten Jacke, die seinem Wohltäter als Rock gedient hatte, und in den viel zu kurzen Hosen doch ein bildschönes Menschenkind sei. Groß, schlank und stark, weiß und rot im Gesicht, den wohlgeformten Kopf umwallt von leicht gelocktem blondem Haar, sein ganzes Wesen Freudigkeit atmend an der Arbeit, an der Mühe, nahm er sich auf seiner stolzen Höhe ganz merkwürdig gut aus.
Unter den auf dem Felde beschäftigten Weibern und Mädchen befand sich auch die Tochter des Pächters, dem Rosenzweig die Gründe des Pan Theophil von Kamatzki anvertraut hatte. Ein hübsches, lebhaftes Ding, die echte Mazurentochter. Rosenzweig bemerkte, daß die braunen, funkelnden Augen des Mädchens und die blauen des Burschen einander gar oft begegneten, und wenn sich dann die braunen halb verlegen senkten, wurden sie von den blauen hartnäckig verfolgt, so hartnäckig, so kühn, daß sie sich endlich wieder erheben mußten, mit oder ohne ihren Willen.
Die Geringschätzung, die Rosenzweig für Joseph hegte, erhielt durch diesen kleinen Vorgang neue Nahrung. Ein Mensch, zu ewiger Dienstbarkeit verurteilt durch die elende Beschaffenheit seines Kopfes, befaßt sich damit, den eines Mädchens zu verdrehen? Und in welchem Alter? In dem eines Knaben, in demjenigen, in welchem der Sohn des Doktors stände, wenn der Doktor zur rechten Zeit geheiratet hätte. Was er in heroischer Selbstverleugnung so lange zu erringen säumte, bis er die Hoffnung, es zu erringen, versäumte, das Glück der Liebe, danach haschte in gedankenlosem Leichtsinn ein von fremden Gnaden lebender, unreifer Habenichts!
Am Abend berief ihn Rosenzweig auf sein Zimmer. Das war ein so kahles und ungemütliches Gelaß, daß jeden, der es betrat, fröstelte – sogar in den Hundstagen. Die Einrichtung bestand aus einigen an die Wände gereihten Sesseln, aus einem riesigen, mit weißer Ölfarbe angestrichenen Schreibtisch und aus einer gleichfalls weiß angestrichenen, langen und niederen Bücherstelle, die, einer Gewölbbudel ähnlich, das Gemach in zwei Hälften teilte. In der kleineren, zunächst den Fenstern, hielt sich der Doktor auf, in der größeren, nächst der Türe, hatten die Patienten, die ihn besuchten, zu warten, bis er zu ihnen trat durch einen schmalen Raum, der zwischen der Wand und dem Büchergestell frei geblieben war. Auf dem obersten Brett desselben lagen oder standen allerlei Dinge, mit deren gruselnder Betrachtung die Leute sich die Zeit des Wartens vertrieben. Sonderbare Instrumente, Messer und Zangen und fest verschlossene Gläser, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, in welcher der galizische Instinkt sofort Weingeist witterte. Nur war leider das gute Getränk verdorben durch höchst unappetitliche Gebilde, die darin schwammen.
Über all diesen Sachen hinweg rief Rosenzweig jetzt dem eintretenden Joseph zu: »Sag einmal, was hast du mit der kleinen Lubienka des Pächters?«
Wie gewöhnlich, wenn sein Wohltäter ihn scharf anredete, wurde der Bursche feuerrot, fand auch nicht gleich eine Antwort. Erst nachdem Rosenzweig seine Frage wiederholte, nahm Joseph sich zusammen und entgegnete halblaut, aber bestimmt: »Ich hab sie lieb.«
»Und – sie?«
»Sie hat mich auch lieb.«
Der Doktor lachte bitter und höhnisch: »Das bildest du dir ein?«
»Das weiß ich, gnädiger Herr –«
»Wohin soll dieses Liebhaben führen?«
Nun meinte Joseph, der Doktor habe ihn zum besten, wolle ihn nur ein wenig aufziehen, und erwiderte ganz munter: »Zu einer Heirat, Herr.«
»Einer Heirat! Du denkst ans Heiraten?«
»Ja, Herr! und Lubienka denkt auch daran.«
»Sie auch! . . . Was sagt denn ihr Vater dazu?«
»Dem ist es recht, Panje Kochanku!« rief Joseph mit einem Ausbruch überwallender Empfindung und machte Miene, auf dem jedem andern als dem Doktor verbotenen Weg in den Bereich seines Wohltäters zu stürzen . . .
Der aber erhob sich gebieterisch von seinem Stuhle und bannte den Jüngling mit einem strengen: »Bleib, wo du bist!« an seinen Platz.
In grausamen Worten hielt er dem Burschen seine Armut und seine Aussichtslosigkeit vor. Ihn empörte der Gedanke, daß dieser Mensch vielleicht auf ihn gerechnet habe, respektive auf seinen Geldbeutel, und er faßte den Entschluß, dem interessierten Schlingel nach beendeter Erntearbeit die Tür zu weisen. Vorläufig wies er ihn aus dem Zimmer und legte sich mit dem Vorsatz zu Bette, den Pächter am folgenden Tage ernstlich zu ermahnen, der Löffelei zwischen seiner Tochter und Joseph ein Ende zu machen.
Gerade an diesem Tage jedoch ereignete sich etwas, das ihn von jedem unwesentlichen und nebensächlichen Gegenstand ein für allemal abzog.
Er wurde am frühen Morgen zu dem plötzlich erkrankten Sohn einer benachbarten Gutsfrau berufen, konnte die besorgte Mutter über den Zustand des Patienten beruhigen und wäre am liebsten sogleich wieder nach Hause gefahren. Das gestattete jedoch die landesübliche Gastfreundschaft nicht. Gern oder ungern hieß es an einem reichlichen Frühstück teilnehmen, das im Salon aufgetragen war, in welchem sich eine große Anzahl Schloßgäste versammelt hatte, eine Gesellschaft, dem Doktor wohlbekannt und so widerwärtig, als ob sie aus lauter Kurpfuschern bestanden hätte. Anhänger und Anhängerinnen »König« Adam Czartoryskis, Konspiranten gegen die bestehende gute Ordnung, Schwärmer für die Wiedereinführung der alten polnischen Wirtschaft. Die Frau des Hauses, noch jung, schön, enthusiastisch, seit dem Tode ihres Mannes unumschränkte Herrin der großen Güter, die sie ihm zugebracht hatte, war die Seele der ganzen Partei und ihre mächtige Stütze. Sie unterhielt eine lebhafte Korrespondenz mit der Nationalregierung in Paris, empfing und beherbergte deren Emissäre und verwendete jährlich große Summen für Revolutionszwecke.
Dieses fanatische Treiben mißfiel dem Doktor und entstellte ihm das Bild der in jeder anderen Hinsicht, als gute Mutter, als kluge Verwalterin ihres Vermögens und als humane Herrin ihrer Untertanen, verehrungswürdigen Frau.
Mit verdrießlicher Miene nahm er am Teetisch Platz, aß und trank und sprach kein Wort, indessen Herren und Damen eifrig politisierten. Ihm war, als sei er von Kindern umgeben, die, statt Soldaten zu spielen, zur Abwechselung einmal Verschwörer spielten.
Da legte eine weiße Hand sich plötzlich auf die Lehne seines Sessels.
»Warum so verstimmt angesichts des schönsten Wunders, mein lieber Doktor?« sprach Gräfin Aniela W. zu ihrem Lebensretter.
Rosenzweig erhob und verneigte sich: »Welches Wunder meinen Euer Hochgeboren?«
»Das der Wiedererweckung des polnischen Reiches!« versetzte die reizende Frau, und aus ihren Taubenaugen schoß ein Adlerblick, und ihre zierliche Gestalt richtete sich heroisch auf.
Der Doktor verbiß ein Lächeln, und sogleich riefen mehrere Patriotinnen in schmerzlicher Enttäuschung: »Sie zweifeln? O Doktor – ist das möglich? Ein so gescheiter Mann!«
»Ich zweifle nicht, meine Damen! Wer sagt, daß ich zweifle?«
»Ihr Lächeln sagt es, das ganz unmotiviert ist, da wir Ernst machen«, sprach die Gräfin und kreuzte die Arme wie Napoleon.
»Der Augenblick, das fremde Joch abzuschütteln, ist gekommen . . . Sie dürfen es erfahren, weil Sie ein guter Pole und unser Vertrauter sind! Das Zeichen zum Ausbruch der Revolution wird in Lemberg auf dem ersten Balle des Erzherzogs gegeben werden!«
Allgemeines Schweigen folgte dieser freimütigen Erklärung. Die Verschworenen waren betroffen über die Eigenmächtigkeit, mit welcher Aniela über das gemeinsame Eigentum – den Plan der Partei – verfügte.
Doch war sie viel zu liebenswürdig und sah auch viel zu reizend aus, als daß man ihr hätte zürnen können. Sie trug ein Pariser Häubchen mit einer Kaskade aus gesinnungstüchtigen rot und weißen Bändern. Den köstlichen Stoff des Morgenkleides hatte ihr Gemahl von seiner letzten Missionsreise nach Rußland aus Nischnij-Nowgorod mitgebracht – unter welchen Gefahren!
Ach, es war eine ganze Geschichte . . . Heute wurde sie aber nicht erzählt, am wenigsten in diesem Augenblick, in dem es vor allem galt, den üblen Eindruck zu verwischen, den die Politikerin auf ihre Umgebung hervorgebracht hatte.
»Ihr Kleingläubigen!« rief sie, »zweifelt ihr an der Treue und Zuverlässigkeit eines Mannes, der dem Vaterlande mein Leben erhalten hat?«
Einige junge Herren beeilten sich zu protestieren, und ein alter Schlachtschitz mit langem herabhängendem Schnurrbart erhob sein Madeiragläschen, leerte es auf einen Zug und sprach: »Vivat Doktor Rosenzweig!«
Die Frau vom Hause wiederholte: »Vivat Doktor Rosenzweig, dem so viele von uns ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kinder verdanken!«
Sie stürzte nach diesem Toaste den Rest ihrer sechsten Tasse Tee hinunter, und statt sich erkenntlich zu zeigen, brummte der Arzt: »Wie oft habe ich Euer Hochgeboren ersucht, nicht soviel Tee zu trinken. Sie ruinieren sich die Nerven.«
Die schöne Festgeberin lächelte überlegen: »Guter Gott, meine Nerven! An diese werden bald ganz andere Zumutungen gestellt werden!«
»Ich verstehe – auf jenem Revolutionsballe!«
»Ja, Doktor! Ja!« rief Gräfin Aniela dazwischen, »dem Balle, auf dem wir ein welthistorisches Ereignis inaugurieren!«
»Bei der Mazurka oder bei der Française?«
»Beim Kotillon. Die Damen wählen zugleich alle anwesenden Offiziere. Die Offiziere legen zum Tanze ihre Säbel ab. Die Säbel werden fortgeschafft. Kaum ist das geschehen, so werfen sich die Polen auf die waffenlosen Feinde und machen sie nieder!«
»Vivat!« rief der Schlachtschitz, »Pardon wird nicht gegeben!«
Einige Damen widersprachen und schlugen vor, denjenigen Offizieren Pardon zu gewähren, die ihn verlangen würden. Sie zogen jedoch ihren Antrag zurück, als sie bemerkten, daß er Zweifel an der Echtheit ihres Patriotismus erregte.
»Meine Herrschaften«, sagte Rosenzweig, »dieser Plan ist wundersam ausgedacht, aber ausführen werden Sie ihn nicht.«
»Warum?« rief's von allen Seiten, »was soll uns hindern?«
»Ihre eigene Hochherzigkeit, Ihr eigener loyaler Charakter. Edle Damen und edle Herren wie Sie können hassen, können befehden, aber sie verraten nicht, und sie morden nicht.«
»Monsieur!« entgegnete ein neunzehnjähriges Bürschlein, das eben aus einer Pariser Erziehungsanstalt heimgekehrt war, »Ihr Argument würde im Kriege gelten, aber es gilt nicht in einer Konspiration.«
»Ganz richtig – weil ja . . .« Dem alten Schlachtschitz war plötzlich eingefallen, daß er jetzt eine Rede halten sollte; er sprang auf, schlug die Fersen aneinander und rief nach langer Überlegung: »Vivat Polonia! Vivat König Adam!«
Nun erhob sich in der Ecke des Zimmers eine zitternde, klanglose Stimme. Wie aus der Tiefe eines Berges kam sie hervor, einem Berge von Seiden- und Schalstoffen, von Spitzen, Rüschen und Bändern. Die Stimme gehörte der Starostin Sulpicia, Großtante der Hausfrau, bei welcher die hochbejahrte Dame ein sehr reich mit Butter bestrichenes Gnadenbrot genoß.
»Olga, Duschenka moja«, sprach sie, »denke vor allem an dein ewiges Heil!«
Mit Schrecken hatte die Schloßdame das leise Sinken des Enthusiasmus ihrer Gäste wahrgenommen, indessen sie selbst nach der siebenten Tasse Tee auf dem Gipfel der Begeisterung angelangt war. Die Greisin goß mit ihrer Ermahnung Öl ins Feuer. Es schlug auch sogleich lichterloh empor in dem lauten, feierlichen Ausrufe: »Alles für Polen! Mein zeitliches und mein ewiges Heil!«
Gräfin Aniela warf sich, ganz entzückt von dieser Größe, ihrer Freundin in die Arme, die Herren küßten die Hände der Patriotinnen. Einer von ihnen erbat sich die Ehre, aus dem Schuh der Hausfrau trinken zu dürfen. Sie gestattete es aber nicht, aus Rücksicht für den erhabenen Ernst dieser Stunde, und der Abgewiesene setzte sich ans Klavier und intonierte ein melancholisches Nationallied.
Alle schwiegen, alle horchten gerührt, in manches Auge traten Tränen.
Die unwiderstehliche Macht dieses Gesanges ergriff sogar einen, der bisher unbeweglich in einer Fensterecke gestanden und am Gespräch nicht teilgenommen hatte.
Rosenzweig kannte ihn nicht und war in angestammtem Mißtrauen geneigt gewesen, ihn, seiner auffallenden Blässe wegen, für einen der verschämten Patienten zu halten, die sich berühmten Ärzten so gern auf neutralem Gebiet in den Weg stellen, um im Vorübergehen eine Konsultation abzuhalten, für welche sie später das Honorar schuldig bleiben.
Indessen hatte Rosenzweig sich geirrt. Der Fremde machte keinen Versuch, in seine Nähe zu gelangen, während er selbst nicht mehr vermochte, seine Aufmerksamkeit von ihm abzulenken.
Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit blondem, dünnem Bart, mit blauen, offenbar sehr kurzsichtigen Augen. Der Eindruck eines ungemein regen Geisteslebens, den seine Züge hervorbrachten, wurde durch die Blässe erhöht, die den Doktor anfangs verleitet hatte, ihn für einen Kranken zu halten. Doch auch von dieser Meinung war er bald abgekommen. Krankheit vergeistigt nicht, wie die Poeten oft behaupteten, sie zeichnet vielmehr die Kinder des Staubes mit deutlichen Merkmalen ihrer Abkunft.
In dem Wesen dieses Mannes aber gab sich kein Zeichen von körperlicher Mühsal kund. Die Leidensspuren auf seiner marmorgleichen Stirn waren durch rastlos arbeitende Gedanken ausgeprägt worden und der Schmerzenszug um den jungen Mund durch frühe, schwere Seelenkämpfe. Die Geringschätzung, mit welcher das Treiben der Gesellschaft ihn zu erfüllen schien, wurde allmählich besiegt. Die Klänge des schönen Volksliedes ergriffen und bewegten auch ihn. Eine Empfindung verband ihn mit seinen Brüdern: Sehnsucht, leidenschaftlich heiße Sehnsucht nach dem verlorenen Vaterland.
An diesem Leidensborn hat kein Volk sich so übersatt getrunken wie dasjenige, aus dessen Herzen solch ein Lied geströmt. Es singt von dem verirrten Sohne, der heimkehrt zum Elternhaus, voll Reue und glühender Liebe. Zagend steht er an der verschlossenen Tür und hört die Stimme seines Vaters, die nach ihm ruft, und hört das Weinen seiner Mutter . . . Vater! Mutter! stöhnt er. Sie antworten: Komm! Erlöse uns, wir liegen in Banden . . . Er rüttelt an der eisernen Pforte, zerpocht sich die Hände, zerschlägt sich die Stirn, schon fließt sein Blut. Vergeblich. Nie wird diese Pforte weichen, nie vermag er sie aus den Angeln zu heben. – Er wird auf der Schwelle verschmachten.
Der Gesang war verstummt, und die Stille, die ihm folgte, wurde erst nach einer Weile durch die Wirtin unterbrochen, die sich erhob, auf den Fremden zuschritt und leise mit ihm zu parlamentieren begann.
Die stattliche Dame machte sich förmlich klein vor ihrem Gaste, jede ihrer Mienen bezeugte Ehrfurcht, jede ihrer Gebärden war Huldigung.
Sie faltete die Hände und flehte: »Sprechen Sie, o sprechen Sie zu der Versammlung!«
Die Aufforderung der Hausfrau fand lebhafte Unterstützung.
»Ach ja, sprechen Sie!« riefen viele Stimmen durcheinander. – »Es würde uns beseligen.« – »Wir wagten nur noch nicht, Sie darum zu bitten.« – »Aus Bescheidenheit.«
Alle kamen heran, sehr freundlich, mit auserlesener Höflichkeit – keiner ohne eine gewisse Scheu. Sogar die siegessichere Gräfin Aniela war befangen, und ihre anmutigen Lippen zitterten ein wenig, als sie sprach: »Geben Sie uns eine Probe Ihrer wunderbaren Beredsamkeit, von der wir schon soviel gehört haben. Man sagt, daß Sie steinerne Herzen zu rühren und moralisch Tote zu den größten Taten zu wecken vermögen!«
Der Fremde lachte, und dieses Lachen war hell und frisch wie das eines Kindes. Unwillkürlich mußte Rosenzweig denken: Du hast eine unschuldige Seele.
»Wie heißt der Mann?« fragte er die Hausfrau.
Sie errötete und gab mit nicht sehr glücklich gespielter Unbefangenheit zur Antwort: »Es ist mein Kusin Roswadowski aus dem Königreich.«
Niemals hatte der Doktor von einem berühmten Redner Roswadowski auch nur das geringste gehört; aber was lag daran? In Zeiten nationaler Erhebung pflegen ja von heut auf morgen nationale Größen aus dem Boden zu wachsen.
Roswadowski erwiderte den Blick, den der Arzt auf ihm ruhen ließ, mit einem ebenso forschend gespannten, und sich leicht gegen ihn verneigend, sagte er: »Bitten Sie doch Herrn Doktor Rosenzweig zu sprechen. Er möge Ihnen sagen, was er von der Revolution erwartet.«
»Das wissen wir im voraus«, entgegnete Aniela, »wie jeder gute Pole die Wiederherstellung des Reiches, das allgemeine Wohl!«
»Olga, Duschenka moja«, ließ wieder die Großtante sich vernehmen, »sage deiner Freundin, daß keiner ein guter Pole ist, der nicht ein guter Katholik ist.«
Ohne auf die Unterbrechung zu achten, fuhr Roswadowski fort: »Das allgemeine Wohl soll jedes besondere in sich begreifen, also auch dasjenige dieses Mannes und seiner Glaubensgenossen. Warum höre ich keinen von euch, die ihr seines Lobes voll seid, davon sprechen, daß ihr die Schuld abzutragen gedenkt, in der wir alle ihm gegenüber stehen und seinem Volke?«
»Ce cher Édouard!« rief Graf W. und fügte, sich in den Hüften wiegend, mit süßlichem Lächeln, nur vernehmbar für seine Frau und für den neben ihr stehenden Rosenzweig, hinzu: »Er wird immer verrückter.«
Auch die Schloßdame war unzufrieden mit dem unerwarteten Ausfall ihres Kusins und erklärte sehr scharf, in einer Schuld der Dankbarkeit und Verehrung fühle sie wenigstens sich dem vortrefflichen Doktor gegenüber nicht.
»Und was die Gleichberechtigung aller Konfessionen im Königreiche Polen betrifft«, sagte Aniela, »so ist sie bereits im Prinzip festgestellt. Mit den Modalitäten wird man sich beschäftigen. Bis jetzt hatte man aber noch nicht Zeit, auf Details einzugehen.«
»Ich falle Ihnen zu Füßen!« sprach Rosenzweig. »Um die Sache der Juden ist mir nicht mehr bang.«
»Ihre Verheißung macht ihn lachen, so groß ist sein Vertrauen«, nahm Roswadowski wieder das Wort. »Er, dessen ganzes Leben nur eine Übung im Dienste der Pflicht gegen uns ist, erwartet von uns – nichts.«
»Herr, wenn ich meine Pflicht nicht täte, käme ich um mein Amt«, fiel der Doktor ein, im Tone eines Menschen, der einer unangenehmen Erörterung ein Ende machen will.
Sein unberufener Parteigänger jedoch entgegnete: »Wenn ich von Pflicht sprach, so hatte ich eine höhere im Auge als diejenige, die Ihr Amt Ihnen auferlegt. Von Amts wegen sind Sie ein tüchtiger Kreisphysikus, zum Samariter macht Sie Ihr eigenes Herz.«
»Jawohl, Sie! Der des Evangeliums pflegte des Sterbenden an der Heerstraße und übergab ihn dann fremder Hut. Sie haben den Sterbenden, den Sie auf Ihrem Wege fanden, in Ihr Haus aufgenommen, das dem verwaisten Christenknaben ein Vaterhaus geworden ist.«
Der Doktor deprezierte: »Wie man's nimmt«, und dachte im stillen ganz grimmig: Du bist gut unterrichtet, Lobhudler! Mein Haus ein Vaterhaus für einen solchen Chamer!
Und in dem Augenblick beantwortete sich ihm eine Frage, die er oft erwogen hatte, die Frage: Ob man wohl zwei Gedanken auf einmal haben könne, denn wahrhaftig, er hatte zugleich auch den: Ich will dem Chamer, bevor ich ihn wegschicke, doch einen neuen Anzug machen lassen.
»So hat ein Jude getan«, wandte der Redner sich an die Gesellschaft, »aus freiem Willen für einen Andersgläubigen, und was haben wir Andersgläubigen jemals aus freiem Willen für einen seines Volkes getan? Lest eure Geschichte und fragt euch selbst, ob ein Jude die Tage herbeiwünschen kann, in denen in Polen wieder Polen herrschen!«
Olga und Aniela erhoben Einwendungen; was die Herren betraf, so waren die meisten von ihnen dem Grafen W. in das Nebenzimmer gefolgt und hatten dort an Spieltischen Platz genommen. Nur der ehrwürdige Schlachtschitz und der Ankömmling aus Paris hielten ritterlich bei den Damen aus, und der erste versicherte, er habe sich in seiner Jugend auch mit der Geschichte seines Landes beschäftigt, darin jedoch niemals andere als glorreiche Dinge gelesen.
Jetzt wurde die Tür aufgerissen, ein Diener stürzte herein und meldete: »Der Herr Kreishauptmann. Er wird gleich in den Hof fahren.«
Die mutigen Damen stießen einen Schrei des Entsetzens aus: »Um Gottes willen, der Kreishauptmann!«
Voll Todesangst ergriff die Hausfrau die Hand ihres Vetters: »Fort! fort! verbergen Sie sich!«
»Ich denke nicht daran«, erwiderte er ganz ruhig, »ich bleibe, ich freue mich sehr, die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Mannes zu machen.«
»Sie bleiben nicht! Sie gehen – weil Ihre Gegenwart uns kompromittiert«, rief Graf W., der mit bestürzter Miene in den Salon zurückgekehrt war.
Ein Wortwechsel entspann sich . . .
»Doktor! Ich beschwöre Sie, eilen Sie dem Kreishauptmann entgegen, suchen Sie ihn so lange als möglich auf der Treppe aufzuhalten«, flehte die Herrin des Schlosses und drängte Rosenzweig zur Tür.
»Ich werde tun, was ich kann, ich empfehle mich, meine Herrschaften!« antwortete er und verließ den Salon, im Grund der Seele höchlich ergötzt über das Ende, das die Versammlung der Verschwörer genommen hatte.
Vom Gange aus sah er den Kreishauptmann soeben in das Haus treten. Ein behäbiger, feiner, mit äußerster Sorgfalt gekleideter Herr. Der Deckel seines Zylinders glänzte in der Vogelperspektive, in welcher er sich zuerst dem Doktor zeigte, wie die Mondesscheibe. Nicht minder glänzte der Lackstiefel an dem kleinen Fuße, den der Beamte auf die erste Stufe der niederen Treppe setzte, als Rosenzweig bei ihm anlangte.
»Ich habe die Ehre, Euer Hochwohlgeboren zu begrüßen!« sprach der Doktor, seinen Hut feierlich schwenkend.
»Wie, mein lieber Doktor? Sind Sie es wirklich? Was?« sprach der Beamte mit dem gnädigsten Lächeln, »auch Sie im Neste der Verschwörer?«
»Herausgefallen, als ein noch nicht flügges Vögelein! – Wie befinden sich Euer Gnaden?«
»Gut. Dank Ihren Ordonnanzen.«
»Und der Pünktlichkeit, mit welcher Euer Gnaden sie erfüllen. Sie sind ein so vortrefflicher Patient, daß Sie verdienen würden, immer krank zu sein.«
»Sehr verbunden für den christlichen Wunsch . . . Entschuldigen Sie – da habe ich mich versprochen.« Und nun kam die Frage, die der Kreishauptmann dem Doktor auch bei der flüchtigsten Begegnung nicht erließ: »Aber, mein lieber Doktor, wann werden Sie sich denn endlich taufen lassen?«
Auf die stehende Frage erfolgte die stehende Antwort: »Ich weiß es noch nicht genau.«
»Entschließen Sie sich! Sie sind ja ohnehin nur ein halber Jude.«
»Ich würde vermutlich auch nur ein halber Christ sein.«
»Oho! das ist etwas anderes!« entgegnete der Beamte streng. »Wir sprechen noch davon; jetzt sagen Sie mir« – seine Miene blieb unverändert, aber seine kleinen, klugen Augen blickten den Doktor durchdringend an: »Ist er oben, der Sendbote? Haben Sie ihn gesehen?«
»Welchen Sendboten?«
»Hier im Hause wird er als Herr von Roswadowski vorgestellt.«
Auf dem Gesichte Rosenzweigs malte sich ein so aufrichtiges Erstaunen, daß der Beamte ausrief: »Sie sind nicht eingeweiht! – Nun, ich will Ihnen Ihre politische Unschuld nicht rauben . . . Ganz charmant, diese Konspiranten! besonders die Damen. Übrigens haben wir uns weniger in acht vor ihnen zu nehmen als sie sich selbst vor – anderen. Es ballt sich ein Gewitter über ihren Häuptern zusammen, von dessen Aufsteigen sie keine Ahnung haben. Diese harmlosen Unzufriedenen, die sich für bedrohlich halten, sind selbst von ganz anders Unzufriedenen in ganz anders gefährlicher Weise bedroht.«
Rosenzweig konnte eine Erklärung dieser Worte nicht mehr erbitten. Auf der Höhe der Treppe erschien soeben die Hausfrau, strahlend vor Freundlichkeit, und der Kreishauptmann schwebte ihr in zierlichen Schritten eiligst entgegen.
Rosenzweig ließ seinem Kutscher den Befehl erteilen, anzuspannen und ihm auf der Straße nachzufahren. Er selbst ging zu Fuße voraus und schlug bald einen schmalen Weg ein, der, die Felder quer durchschneidend, in der Nähe eines steinernen Kreuzes in die Landstraße ausmündete. Dort wollte er seinen Wagen erwarten.
Er sehnte sich danach, tüchtig auszuschreiten, frische, freie Luft zu atmen und den gesunden Erdgeruch einzuziehen, der aus den aufgerissenen Schollen emporstieg. Nur wundernahm es ihn, daß er die Wonne und Wohltat, der parfümierten Salonluft und Gesellschaft entronnen zu sein, nicht so recht zu empfinden vermochte.
Ein tiefinnerliches Unbehagen erfüllte ihn, ein unbestimmtes Etwas ging ihm nach, von dem er sich keine andere Rechenschaft zu geben wußte, als daß es sehr quälend sei.
Plötzlich rief er mehrmals nacheinander laut aus: »Narr! Narr!«
Die Apostrophe galt demjenigen, den der Kreishauptmann soeben einen Sendboten genannt hatte, und die Erinnerung an das unverdiente Lob, das dieser Mensch ihm gespendet, die war's, die dem Doktor die Laune verdarb. Jedes Wort, das der »Narr« gesprochen, jeder Zug seines durchgeistigten Apostelgesichts, der Ausdruck der schwärmerischen Ehrfurcht, mit welchem seine tiefblauen Augen auf ihm geruht – alles hörte, alles sah er wieder, und eine zornige Beschämung erfüllte ihn.
Er, der trockene, auf seinen Vorteil bedachte Nathanael Rosenzweig – ein Menschenfreund und Samariter? – So einsam er da wandelte auf dem Felde, ihm schoß das Blut in die Wangen, daß sie glühten. Er gedachte all der Hände, die sich im Verlaufe seines langen Lebens flehend zu ihm ausgestreckt, und sagte sich: Nie hast du geholfen außer im Beruf. Und was wir dem zuliebe tun, tun wir uns selbst zuliebe. Seine Schuldigkeit hatte er erfüllt in ihrem ganzen Umfang; aber Schuldigkeit – es liegt schon im Worte – ist nur ein Tausch. Mehr als getauscht hatte er nie. Seine Kraft, sein Talent, die Früchte seines rastlos vermehrten Wissens gegen den Wohlstand, den er durch sie erwarb, und gegen die Achtung der Menschen. So hatte er es bisher gehalten, und – Nathanael warf den Kopf zurück in seinen breiten Nacken – so wollte er es auch ferner halten. Möge erst jeder seinem Beispiel folgen! Möge diese, im Grunde niedere Stufe der Moral erst von der Mehrzahl erreicht sein, dann werden sie zu Worte kommen, die Idealisten, die Träumer von einem Goldenen Zeitalter allgemeiner Nächstenliebe. Früher – nicht!
Jetzt hatte er sich wieder zurechtgefunden und schritt rüstig und sorglos weiter in gewohnter Seelenruhe.
Lange vor seinem Wagen, von dem trotz allen Ausblickens keine Spur zu entdecken war, erreichte er das steinerne Kreuz. Am Fuße desselben kauerte eine klägliche Gestalt. Ein alter Mann, die Knie heraufgezogen bis ans Kinn, eine hohe Schafpelzmütze auf dem Kopfe, um die Schultern die Reste eines blauen Fracks, den vermutlich dereinst in Tagen schlummernden Nationalgefühls der verewigte Gutsherr getragen. Die mageren Beine des Greises wurden von einer ausgefransten Leinwandhose umschlottert und befanden sich, wie sein ganzer kleiner Körper, in einer unaufhörlich zitternden Bewegung.
Als der Doktor sich ihm näherte und ihn ansprach, erhob er langsam, mühsam das juchtenfarbige, faltige Gesicht und blickte aus halb erloschenen, rot umränderten Augen mit dem demütigen Leidensausdruck eines alten Jagdhundes zu ihm empor.
»Was tust du hier?« fragte Rosenzweig.
»Ich warte, mein gnädiger Herr, ich bete und warte«, antwortete der Angeredete und streckte seine knöcherne Rechte aus, an deren Fingern ein vielgebrauchter Rosenkranz hing, »ich warte immer auf einen Brief von unserem lieben Herrgott.«
»Was soll denn unser lieber Herrgott dir schreiben?«
»Daß ich zu ihm kommen darf, es ist ja hohe, hohe Zeit.«
»Wie alt bist du?«
»Siebenzig, nicht mehr. Aber wie ich aussehe, und wenn Euer Gnaden wüßten, wie mir ist. Da« – er klopfte auf seine eingefallene, pfeifende Brust –, »kein Atem. Jeden Tag meine ich, ich sterbe auf dem Wege, ich erreiche das Kreuz nicht mehr.«
»Warum bleibst du nicht zu Hause?«
Der Alte öffnete die Arme mit einer unbeschreiblich hilflosen Gebärde: »Sie jagen mich ja hinaus, die Tochter, der Schwiegersohn, die Kinder. Nun ja – sie haben selbst keinen Platz in der kleinen Schaluppe.«
»Wem gehört die Schaluppe?«
»Der Tochter. Ja, der Tochter. Ich habe sie ihr zur Aussteuer geschenkt.«
»Ein Schürzenvermögen also!« spöttelte der Doktor. »Und jetzt jagt sie dich aus dem Haus, das du ihr geschenkt hast?«
»Mein Gott, was soll sie tun? Der Schwiegersohn prügelt sie ohnehin, weil ich so lang lebe. Der Schwiegersohn sagt zu den Kindern: ›Kinder, betet, daß der Großvater bald stirbt.‹ – Ja!«
»Du hast da einen saubern Schwiegersohn.«
»Mein Gott, Herr, die Leute sind schon so. Solche Herren wie du wissen nicht, wie die Leute sind. Es gibt noch viel, viel Ärgere im Dorf. Besonders jetzt in dieser Zeit.« Er senkte die keuchende Stimme. »Weh allen Panowies und Panies, die das nächste Jahr erleben!«
»Warum denn? Was meinst du damit?«
»Oh, die armen Herrschaften! Die armen, armen!« wimmerte der Greis und begann bitterlich zu weinen. »Alles wird man ihnen wegnehmen, und erschlagen wird man sie auch.«
Der Doktor fuhr auf: »Du bist nicht bei Trost!«
Nun begann der andere die Hände zu ringen: »Auch du antwortest mir so? Das ist ein Unglück! Ach, das ist ein Unglück! . . . So hat der Herr Pfarrer mir geantwortet, wie ich in der Beichte ausgesagt habe, was ich weiß, so hat der Herr Mandatar mir geantwortet, und der Herr Verwalter hat gar gedroht, mich auf die Bank legen zu lassen, wenn ich solche Sachen rede . . .« Er richtete seinen unsicher suchenden Blick auf den Doktor: »Bist auch du mit ihnen einverstanden?«
»Einverstanden – ich? Mit wem? . . . Sag alles!« befahl Rosenzweig. »Was wird ums neue Jahr geschehen?«
»Männer von jenseits des Meeres werden kommen und werden alle adeligen Besitzungen unter die Bauern verteilen.«
Auch die des Pan Teophil Kamatzki? – Wartet, Kanaillen! dachte der Doktor und sprach: »Was wird denn die Regierung dazu sagen?«
»Die Regierung? Ach Jesus! Von der Regierung aus ist im vorigen Frühjahr schon alles Land vermessen worden, damit die fremden Männer wissen, wie geteilt werden soll.«
Rosenzweig brach in ein schallendes Gelächter aus: »O dieses Volk! . . . Seit fünfzig Jahren verkehre ich mit diesem Volk, aber die Wege seiner Dummheit habe ich noch nicht erforscht . . . Alter! die Vermessungen hat der Kaiser vornehmen lassen, weil er wissen will, wie groß sein Galizien ist und wieviel Steuern es ihm zahlen kann.«
Ungläubig wackelte der Greis mit dem Kopfe: »Das wissen wir besser, verzeih. Der Kaiser nimmt den Herren, die gegen ihn sind, das Land und schenkt es den Bauern, die für ihn sind. Dann wird es gut sein, glauben die meisten . . . Ich glaube, daß es schlecht sein wird. Jeder Tag wird Sonntag sein, und was tun die Bauern am Sonntag als raufen und sich betrinken? . . . Oh, mein gnädiger Herr, könnt man's doch verhüten!«
»Sei du ganz ruhig, das wird gewiß verhütet werden«, entgegnete Rosenzweig und lachte wieder.
Da wurde der Alte plötzlich aufgebracht: »Wenn du gestern abend im Wirtshaus gewesen wärest und den Kommissär hättest predigen gehört, du würdest nicht lachen.«
»Den Kommissär? Den Emissär, willst du wohl sagen! Ein Emissär, wie sie jetzt zu Dutzenden herumziehen.«
»Nein, nein, kein solcher. Einer, der einmal ein Herr war und jetzt sagt, daß es keine Herren mehr geben soll. Er weiß so gut, was für Zeiten kommen werden, daß er lieber gleich von selbst ein Bauer geworden ist, und hat alles verschenkt.«
Diese Worte erweckten Nathanaels ganze Aufmerksamkeit und erhoben es ihm zur Überzeugung, daß der Alte von demselben Manne sprach, den der Kreishauptmann den Sendboten genannt und vor dem er selbst eben erst Aug in Auge gestanden hatte.
Derselbe! Er war es – er gewiß, der Rätselhafte, dessen Lebensgeschichte die Vernünftigen einander mit Hohn und Spott erzählten, die Furchtsamen mit Haß, die Phantasten mit Begeisterung, es war – Eduard Dembowski.
Oft hatte er sagen gehört, daß von diesem Menschen ein Zauber ausgeht, dem sich niemand zu entziehen vermöge, und dieser geheimnisvollen Einwirkung den größten Unglauben entgegengebracht; nun gestand er sich, daß er doch etwas ihr Ähnliches erfahre.
Ja! der bleiche Schwärmer schritt wie ein Gespenst neben ihm her. Ja! sein Bild verfolgte ihn mit unleidlicher Hartnäckigkeit. Vergeblich suchte er seine Gedanken von ihm abzulenken, immer wieder tauchte es auf und trotzte dem Willen, es zu verscheuchen.
Das Gefährt des Doktors stand schon seit geraumer Weile auf der Straße. Eine bequeme Britschka, bespannt mit einem Paar kugelrunder Falbenstuten in zierlichen Krakauergeschirren mit glockenbehangenen Kummeten. Der Kutscher war ein schlanker Bursche im saubern, einfach verschnürten Leibrock, und das Ganze bildete eine hübsche Equipage, um die so mancher Edelmann den Doktor beneidete.
Dieser klopfte den Falben die starken Hälse und legte ihnen die Zöpflein der schwarzen, eingeflochtenen Mähnen zurecht. Schon war er im Begriffe, in den Wagen zu steigen, da wandte er sich zu dem Alten am Fuße des Kreuzes zurück: »Du! Wie heißest du?«
»Semen Plachta, Herr.«
»Hör an, Semen! Krieche heim und sage deinem Schwiegersohn, daß Doktor Rosenzweig morgen kommen wird, dich zu besuchen. Er soll dich zu Hause lassen. Verstehst du mich? Wenn ich komme und dich nicht zu Hause finde, werde ich dafür sorgen, daß dein Schwiegersohn noch vor der allgemeinen Verteilung als erste Abschlagzahlung auf das Künftige eine Tracht Prügel erhält.« Rosenzweig hatte seine Brieftasche gezogen und ihr eine Fünfguldenbanknote entnommen. Sein Gesicht wurde sehr ernst, während er sie betrachtete. Ein kurzes Zögern noch – dann reichte er sie dem Greise hin.
»Das aber gehört dir. Ich will morgen hören, ob das Geld für dich verwendet worden ist.«
Semen streckte die Hand nach dem fabelhaften Reichtum aus; zu sprechen, zu danken vermochte er nicht. Auch der Kutscher auf dem Bocke blieb starr, riß die Augen auf, ließ vor Erstaunen beinahe die Zügel fallen. Was sollte das heißen, um Gottes willen? Sein Herr verschenkte fünf Gulden an einen Straßenbettler?!
»Herr«, sagte er, als der Doktor in den Wagen stieg, »du hast ihm fünf Gulden gegeben. Hast du dich nicht geirrt?«
»Schweig und fahr zu!« befahl Rosenzweig, und die Peitsche knallte, und die Falben griffen aus.
Bald kam auf der weiten Ebene das Doktorhaus in Sicht. Es stand jetzt nicht mehr so allein da wie ein Grenzstein; sehr nette Stallungen und Schuppen erhoben sich hufeisenförmig im Hintergrunde, und eine wohlgepflegte Baumschule füllte den Raum zwischen den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden.
Die letzteren waren wirklich nach einem Plane des Chamers, dem der Architekt seine Sanktion gegeben hatte, ausgeführt worden und gut ausgefallen, das mußte man gelten lassen.
Ob Rosenzweig zu seinem Daheim zurückkehrte aus dem Gehöft eines Schlachtschitz, aus dem Hause eines Grundherrn oder aus dem Schlosse eines Magnaten – sein geliebtes Besitztum begrüßte er stets mit der gleichen Freude. Den anderen das Ihre, das Meine mir! – Aufrichtig gesagt, getauscht hätte er, wenn auch noch so gewinnreich, mit keinem. Er hatte ja nie ein lebendes Wesen – seine Großmutter ausgenommen – so geliebt, wie er sein kleines Gut liebte. Und wie es da so schmuck vor ihm lag, das langsam und mühsam Erworbene, die Verkörperung seiner Kraft und Tüchtigkeit, ein so wahrhaft zu Recht bestehendes Eigentum, wie es wenige gab, da ballten sich seine Fäuste, und er vollzog einen imaginären Totschlag an dem imaginären ersten, der es wagen würde, ihm seinen Besitz anzutasten.
Am Abend noch besuchte er den Kreishauptmann und berichtete ihm Wort für Wort sein Gespräch mit Semen Plachta.
Der Beamte ließ sich in eine ausführliche Erörterung der kommunistischen Umtriebe im Lande ein, die eigentlichen Absichten ihres Urhebers jedoch, das Wesen des seltsamen Mannes überhaupt wußte er nicht zu erklären, so genaue Kenntnis er auch von dessen ganzem Lebenslaufe besaß.
Der Sendbote, der das Land rastlos durchpilgerte und in den Palästen und den Hütten das Evangelium der Gleichberechtigung aller Menschen und der Gleichteilung allen Grund und Bodens verkündete, gehörte, als Sohn des Senatorkastellans von Polen und Herrn der Herrschaft Rudy im Warschauer Gouvernement, dem hohen Adel an. Auch er war wie seine Standesgenossen aufgewachsen und erzogen worden im Bewußtsein überkommener Rechte, ererbter Macht und der Pflicht, sie zu wahren und sie auszuüben.
Kaum jedoch in ihren Besitz gelangt, hatte er sich ihrer freiwillig entäußert. Die Erträgnisse seiner Güter flössen in die Bettelsäcke der Güterlosen oder wurden zu Revolutionszwecken verwendet. Er aber zog umher und warb Jünger für seine Lehre und fand ihrer in den Reihen seiner eigenen Standesgenossen. An die eindrucksfähigen Herzen der Jugend wandte er sich, und je reiner und unschuldiger diese Herzen waren, desto feuriger erglühten sie in Verehrung für ihn und in Sehnsucht, seinem opfermutigen Beispiele zu folgen. Boten des Sendboten tauchten auf im Königreiche Polen, im westlichen Rußland, in Posen, in Galizien. Die Worte ihres Abgotts auf den Lippen, riefen sie dem Adel zu: Wirf deine Reichtümer und deine zu lang genossenen Vorrechte von dir! Vorrecht ist Unrecht. – Und dem Volke: Kommt, ihr Armen! Nehmt euren Anteil an dem Boden, den seit Jahrhunderten euer Schweiß und, wie oft! auch euer Blut gedüngt hat. – Zu allen aber sprachen sie: Erhebt euch, schüttelt das Joch der Fremden ab! Wir wollen ein Reich gründen, darin es weder Überfluß noch Armut, nicht Herrschaft noch Knechtschaft gibt, das Reich – das Christus gepredigt hat.
Der geistige Leiter dieser Missionen hatte sich inzwischen an dem gegen Rußland geplanten und fast im Augenblick des Losbruchs gescheiterten Aufstande des Jahres 1843 beteiligt. Als Flüchtling entkam er nach Posen, wurde dort binnen kurzem wegen Verbreitung kommunistischer Grundsätze zur Rechenschaft gezogen, in Haft genommen, endlich verbannt. Er begab sich nach Brüssel, wo Lelewel die Verirrungen seiner allzu heißen Freiheits- und Vaterlandsliebe in den Qualen bittersten Heimwehs verbüßte. Der Umgang mit diesem »Großmeister der Revolutionäre« steigerte die Begeisterung Dembowskis zum Fanatismus. Was seine Seele fortan erfüllte, war nicht mehr Mitleid allein mit den Elenden und Armen, es war auch Haß gegen die Starken und Reichen, hießen sie nun die Beherrscher der Teilungsmächte oder die Inhaber der polnischen Zentralgewalt in Paris und Usurpatoren des Königreichs, das sie wiederherstellen wollten.
Der Apostel der Nächstenliebe kehrte als ein politischer Agitator nach der Heimat zurück. Er, den bisher nur seine eigenen Eingebungen geleitet hatten, übernahm die Ausführung fremder Pläne und die Aufgabe, Galizien zur Empörung reif zu machen. In dieser Aufgabe wirkte er nun. Wußten diejenigen, die ihn mit ihr betrauten, was sie taten? Sahen sie ihn und seine Lehre nur als das Ferment an, das die stumpfsinnige Menge in Gärung bringen, in eine Bewegung setzen sollte, der die Richtung vorzuschreiben sie sich anmaßten? –
Die Sympathie und Bewunderung, die jeder echte Pole für denjenigen empfindet, der im Kampfe gegen die Fremdherrschaft gelitten hat, bewährte sich von neuem. Der Adel nahm den Geächteten in Schutz, obwohl er einen Gegner seiner Interessen in ihm erkannte. Mochte er welcher Partei immer angehören, die Befreiung Polens war auch sein Ziel, auf dem Wege traf man zusammen und drückte einander die Hand.
»Und sehen Sie«, schloß der Kreishauptmann, »so sehr ist der Mensch in mir im Beamten doch nicht aufgegangen, daß ich diese Polen um solcher Züge ihres oft unbesonnenen, blinden, stets aber hochherzigen Patriotismus willen nicht lieben und zugleich – beneiden müßte.«
»Euer Gnaden!« rief Nathanael mißbilligend aus, und beide Männer schwiegen. Nach geraumer Zeit erst nahm der Doktor wieder das Wort: »Ich glaube, Euer Gnaden, es wäre Sache der Regierung, vor allem sich und den Adel vor dem verderblichen Einfluß des kommunistischen großen Herrn zu schützen.« Hier flocht er das ruthenische Sprichwort ein: Ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. – »Ich begreife nicht, warum man so lange untätig zusieht. Warum man ihn nicht hindert, gleichsam unter den Augen der gesetzlichen Macht sein tödliches Gift auszustreuen.«
Unangenehm berührt durch die Entschiedenheit, mit welcher Rosenzweig sprach, entgegnete der Kreishauptmann mit kühler Überlegenheit: »Es geschieht schwerlich ohne Grund. Übrigens – unter uns! –, wir haben Weisung, auf ihn zu fahnden – in unauffälliger Weise.«
»Oh – dann!« rief Nathanael übereifrig, »dann beschwöre ich Euer Gnaden, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. Unauffälliger wäre nichts, als einen Kranken dem Arzte anzuvertrauen. Und daß Ihr ›Sendbote‹ krank ist – hier«, er deutete auf die Stirn, »und in das Beobachtungszimmer des Kreisphysikus gehört, darauf schwöre ich!«
Der Ausdruck im Gesichte des Beamten wurde immer kälter, er richtete plötzlich eine gleichgültige Frage an den Doktor und entließ ihn, indem er beim Abschied warnend Talleyrands berühmtes Surtout pas trop de zèle! zitierte.
Die Warnung blieb fruchtlos. Des Doktors einmal entfesselter Eifer für die Sache der Ordnung und des Gesetzes war nicht mehr zu bändigen. Er hätte die Friedlosigkeit, die ihn umherjagte, auch den anderen mitteilen mögen, legte einen Abscheu ohnegleichen gegen die zuwartende Geduld an den Tag, deren man sich in maßgebenden Kreisen befliß, und nannte sie verbrecherischen Leichtsinn und unverzeihliche Lauheit.
Sein politisches Glaubensbekenntnis hatte sich bisher in dem Satze zusammenfassen lassen: »Unsere Regierung wird die denkbar beste sein, sobald sie sich nur noch herbeiläßt, den Juden das Recht zu geben, Grund und Boden zu besitzen.« Jetzt aber war ihm der Glaube an die Weisheit dieser Regierung erschüttert, und er begann sich als ihr Belehrer und Ratgeber zu gebärden. Auf dem Kreisamt hatte man wenig Ruhe vor ihm, er brachte täglich neue, immer bedenklicher lautende Nachrichten von dem Umsichgreifen der kommunistischen Propaganda und riet immer dringender, man möge sich doch entschließen, energische Sicherheitsmaßregeln zu ergreifen.
Die genaue Bekanntschaft des Schwiegersohnes Semen Plachtas, die er gemacht hatte, gab ihm viel zu denken. Er hatte sich bisher niemals mit dem Studium einer Bauernseele beschäftigt. Ein Bauer war in seinen Augen der uninteressanteste von allen mit einer Menschenhaut überzogenen Bipedes. Jetzt nahm er einen von der Sorte aufs Korn, beobachtete ihn genau, ging sogar mit ihm ins Wirtshaus, ließ sich mit ihm in Gespräche ein und wußte am dritten Tage, was er schon im ersten Augenblick gewußt hatte, daß der Mann faul, trunksüchtig und einfältig sei. Wie einfältig, das kam erst zum Vorschein, wenn ihm der Branntwein die schwere Zunge löste und es nur weniger geschickt gestellter Fragen brauchte, um sich zu überzeugen, daß ihm sogar die Kardinalerkenntnis der Unterscheidung zwischen Mein und Dein fehlte.
Der Doktor fuhr zur Gräfin Aniela und hielt ihr einen Vortrag über den Zustand der Landbevölkerung. »Ja«, schloß er denselben, »der Bauer ist dumm, aber wodurch soll er denn gescheit werden, wenn er es nicht zufällig von Natur ist? Ja, der Bauer ist faul, aber was würde die Arbeitsamkeit ihm nützen, sie brächte ihn doch nimmer auf einen grünen Zweig. Seine Arbeitsamkeit käme mehr dem Herrn zugute als ihm. Ja, der Bauer trägt den heute verdienten Groschen heute noch in die Schenke, aber diese Verschwendung kommt von seinem Elend. Das Elend ist nicht sparsam, das Elend vermag einen so gesunden und fruchtbringenden Gedanken wie den der Sparsamkeit gar nicht zu fassen.«
Gräfin Aniela streckte das zierliche Hälschen in die Höhe, ihre lieblichen Lippen verzogen sich spöttisch.
»Verehrter Lebensretter, Sie sprechen ja ganz wie der ›Sendbote‹«, sagte sie; »man glaubt, ihn zu hören.«
Der Doktor schwieg; der scherzhaft gemeinte Vorwurf traf ihn tief.
Eine Stunde später stand er in seiner Baumschule vor einem Stämmchen, nicht viel dicker als ein Finger, und doch trug es schon unter seiner kleinen Blätterkrone drei herrliche Äpfel, völlig reif beinah, mit gelblich glänzender Schale. Zu jeder anderen Zeit hätte der Doktor an dem Anblick seine Freude gehabt, heute vermehrte sich durch ihn nur sein Mißmut. Joseph kam aus dem Hause, sein Arbeitsgerät auf der Schulter, und wollte den Wohltäter noch zu anderen Bäumchen führen, die ein ebenso kräftiges Streben, brave Bäume zu werden, an den Tag legten wie dasjenige, das er staunend betrachtete.
Er erhielt keine Antwort. Mit finsterer Strenge funkelten die schwarzen Augen Rosenzweigs unter ihren buschigen Brauen den Jüngling an, und plötzlich sprach er: »Sag einmal, hast du nie etwas von einem Freiheitshelden, so einer Art Narren gehört, der sich hier in der Gegend aufhält und den Bauern in den Wirtshäusern Revolution predigen soll?«
Joseph sah offenbar betroffen aus und schwieg.
»Gesteh! Gesteh!« befahl Rosenzweig, und sein drohendes, zornrotes Gesicht näherte sich dem des Jünglings.
»Ich weiß nicht, Herr«, stammelte dieser, »ob du denjenigen meinst, den sie den Sendboten nennen.«
»Den eben meine ich!«
»Der predigt aber nicht Revolution, der predigt Fleiß und Nüchternheit.«
»Fleiß im Stehlen, Nüchternheit beim Totschlagen – was?« höhnte der Doktor.
Ungewohnterweise ließ sich Joseph nicht außer Fassung bringen. Noch mehr! Er erlaubte sich einen Widerspruch: »Du bist im Irrtum. Ich kenne ihn.«
Rosenzweig prallte mit einem unartikulierten Ausruf zurück, und Joseph fuhr fort: »Ich habe lange mit ihm gesprochen.«
»Wo? und wann? und was?«
»Auf dem Felde, in der vorigen Woche; und von dir ist die Rede gewesen.«
»Von mir?«
Aus dem Munde des Chamers hat er seine Nachrichten über mich? dachte der Doktor. – Nun, sie sind danach!
»Ich habe ihn nie predigen gehört«, nahm Joseph wieder das Wort.
»Möchtest aber wohl?«
»O ja! – Ich möchte wohl. Kein Pfarrer kann es ihm gleichtun, heißt es. Es heißt auch, daß er heute nacht zum letzten Male in unserer Gegend sprechen wird, in der Schenke des Abraham Dornenkron, eine Meile von hier, auf der Straße nach Dolego.«
Eine lange Pause entstand, welcher der Doktor ein Ende machte, indem er Joseph befahl, an die Arbeit zu gehen; er selbst begab sich zum Kreishauptmann, meldete, was er soeben in Bezug auf den Emissär in Erfahrung gebracht hatte, und fragte an, ob es nicht geraten wäre, ein Pikett Husaren nach der Schenke zu schicken und den Aufwiegler gefangennehmen zu lassen.
»Was nötig ist, wird geschehen, mein lieber Rosenzweig!« antwortete der Beamte. »Wir sind von allem, was vorgeht, auf das genaueste unterrichtet und finden darin keinen Grund zur Sorge. Wovor fürchten denn Sie sich? Sie gehören zu uns. Ich wollte, ich könnte etwas von Ihrer Vorsicht denen einflößen, die ihrer bedürftiger wären als Sie und wir.«
Rosenzweig machte noch einige Krankenbesuche und kam erst spät am Abend heim. Vor dem Gartentor fand er Joseph, der ihn erwartete.
»Was hast du dazustehen? Geh schlafen!« herrschte er ihm zu.
Auch er hätte gern Ruhe gefunden, aber sie floh ihn in dieser Nacht wie in den vorhergehenden Nächten.
Auf einmal fiel es ihm ein, ob es nicht möglich wäre, daß Joseph sich jetzt aus dem Hause schliche, um nach der Schenke zu rennen und die Abschiedsrede des Agitators zu hören. Der Weg ist freilich weit und die Nacht schon vorgeschritten, aber der Bursch hat junge Beine . . . Übrigens – wer weiß? Wenn er fürchtet, zu spät zu kommen, nimmt er am Ende gar ein Pferd aus dem Stall . . .
Nun, der Zweifel wenigstens sollte ihn nicht lange quälen. Rasch nahm er den Leuchter vom Tische und eilte über die Treppe, den Gang nach der von Joseph bewohnten Stube.
In Jahren hatte er sie nicht betreten; sie war die einzig schlechte im Hause und ärgerte ihn, sooft er sie sah. Ein länglicher, schmaler Raum, einfenstrig, mit Ziegeln gepflastert. Wäre Rosenzweig nicht der Wohltäter, sondern der Arzt Josephs gewesen, er hätte ihm verboten, da zu schlafen auf dem Strohsack, im Winkel zwischen der Drehbank und der Mauer, die förmlich troff von Feuchtigkeit.
Er sagte sich das, als er eintretend denjenigen, den er auf dem Wege nach Dolego vermutete, der Länge nach ausgestreckt fand auf seiner mehr als bescheidenen Lagerstätte, tief und selig schlafend.
Als Rosenzweig sich über ihn beugte und ihm ins Gesicht leuchtete, zuckten seine Augenlider, sein roter, frischer Mund zog sich trotzig zusammen, aber nur um gleich wieder mit leicht aufeinanderruhenden Lippen ungestört weiterzuatmen. Hätte er tausend Zungen gehabt, sie würden nicht vermocht haben, kräftigere Fürsprache für die Lauterkeit seines Herzens einzulegen, als es der Ausdruck des bewußtlosen, schweigenden Friedens auf seinem Antlitz tat.
Der Doktor stellte den Leuchter auf die Drehbank und begann sich in der Kammer umzusehen. Was es da gab an begonnenen, an halb und an fast beendeten Arbeiten, das alles war die Frucht des Fleißes emsig schaffender und geschickter Hände. Und es mußte doch kein so übler Verstand sein, der ihr Tun leitete, denn nirgends fand sich die Spur verwüsteten Materials oder kindischer Spielerei. Und worauf sich das ganze Sinnen und Denken dieses Verstandes richtete, das war das Wohl und Gedeihen des Doktorhauses, ihm kam all sein Streben zugute, das förderte er nach bester Kraft und Einsicht. Ein Beispiel für hundert fiel dem Doktor auf, und – fast rührte es ihn.
Er hatte unlängst das hölzerne Gartenpförtlein durch ein eisernes ersetzen lassen und war zufrieden gewesen mit der vom Stadtschlosser gelieferten Arbeit, aber Joseph meinte: »Sie ist nicht schön genug, ich will eine Verzierung anbringen.« Rosenzweig verhöhnte ihn damals, und nun war das Werk schon unternommen, war schon mit unsäglicher Mühe aus starkem Eisenblech herausgesägt und gefeilt, und inmitten schmucker Arabesken zeichnete sich bereits, gar künstlich verschlungen, der Namenszug Rosenzweigs.
Dieser lächelte, kreuzte die Hände und versank in eine zum ersten Male wohlwollende und mitleidige Betrachtung des bescheidenen Tausendkünstlers. Zu Häupten seines Lagers bemerkte er ein Bild des heiligen Joseph, mit vier Nägeln an der Wand befestigt, und darunter stand in ungefügiger Schrift: »Von meiner Lubienka.«
Die deine, du armer Junge, der auf der weiten Erde nichts besitzt? Hab erst festen Boden unter deinen eigenen Füßen, eh du es wagst, einem schwächeren Menschenkinde zuzurufen: Tritt zu mir! Du hast dir noch nichts erworben, noch nichts verdient trotz deiner Arbeitsfreudigkeit und Treue, nichts – keinen Lohn, keinen Dank, kein Recht. Was du mir leistest und nützest, gilt nur als Zahlung einer dereinst – unfreiwillig eingegangenen Schuld.
Wann wird diese Schuld endlich getilgt sein, armer Geselle? . . . Ist sie es denn im Grunde nicht längst? Besäßest du Klugheit genug, um abzurechnen und abzuwägen, vor Jahren schon hättest du gesagt: Wir sind quitt! Von nun an bezahle mich, Herr! Ich will auch für mich erwerben. – Ich sei ein harter Mann, heißt es, aber ungerecht darf mich niemand schelten. Wenn du gefordert hättest, ich hätte dir gegeben, ich hätte dich gelten lassen, wenn du dich geltend gemacht hättest . . . Du hast es aber nicht getan; du bist schweigend unter deinem Joche weitergeschritten und wirst so weiterschreiten, bis du zusammenbrichst und am Ausgang deines Lebens so hilflos dastehst, wie du an seinem Eingang gestanden hast . . . Wessen Schuld? – Warum denkst du nicht? . . . Warum sprichst du nicht? . . . Warum verschwendest du die kostbaren Kräfte deiner Jugend? . . . Aber es geschieht, und ich verbrauche sie – und so wie ich tun Tausende und so wie du Hunderttausende . . .
Noch einen Blick auf den sanft Schlafenden, und Nathanael schloß die Augen und preßte die Hände an seine Stirn. Grell und blendend drang es auf ihn ein, wie ein im Dunkel aufflammendes Licht. Mit Grauen und Entsetzen erfüllte ihn das Bewußtsein: Da schläft er noch still und harmlos, und die Hunderttausende seinesgleichen schlafen wie er . . . Doch werden sie erwachen – schon weckt man sie. Zu welchen Taten? Wie werden sie hausen, die plötzlich entfesselten Knechte?
Ein Schwindel ergriff ihn, ihm war, als wanke sein Haus.
»Noch nicht!« rief er und stieß den Fuß heftig gegen den Boden.
Joseph erwachte, sprang auf: »Was befiehlst du, Herr?« Das Bewußtsein kehrte ihm nicht schneller zurück, als diese Frage auf seine Lippen trat.
»Wissen will ich, was vorgeht, hören, was euch gepredigt wird. Ich will den Sendboten hören. Spann die Falben vor den Wagen, du wirst mich nach der Schenke des Dornenkron fahren. Spann ein!«
Die Nacht war dunkel, ein feiner, dichter Regen strömte unablässig, emsig auf die Erde nieder, und ein andrer, ein kompakter Regen spritzte von ihr auf beim energischen Gestampfe der wackeren Rößlein. »Polens fünftes Element« umwirbelte und übersprühte das von Joseph gelenkte Gefährt, das zwischen einer doppelten Reihe riesiger Pappeln auf der Kaiserstraße dahinrollte.
Der Doktor saß lange Zeit schweigend in seinen Mantel gehüllt. Ungeduld verzehrte ihn.
»Wir kommen zu spät«, sagte er endlich. »Treib die Falben an.«
»Sie laufen ja, was sie können«, antwortete Joseph. »Wir sind schon weit.« Er deutete nach einem großen weißlichen Fleck im Nordwesten des bleigrauen Horizonts: »Die Weichsel und der Dujanec stecken schon ihre Fahnen aus.«
Eine Viertelstunde später war das Ziel erreicht: ein niedriges, weitläufiges Gebäude. Vor demselben standen allerlei Fuhrwerke und hinderten Joseph, sich mit dem seinen zu nähern.
Rosenzweig hieß ihn halten, stieg ab und suchte sich einen Weg durch das Gewirre der Wagen und Pferde zu bahnen. Es war keine leichte Aufgabe für einen, der möglichst unbemerkt in das Haus gelangen wollte.
Die meisten Kutscher hatten ihr Gespann verlassen, die andern schliefen auf dem Bocke oder taten so und leisteten dem Befehl des Doktors, ein wenig Raum zu geben, keine Folge. Er hob eben den Stock, um sich ihnen deutlicher verständlich zu machen, als Abraham Dornenkron auf der Schwelle des Hauses erschien, einen brennenden Span in der Hand.
»Schaff mir Platz, Abraham«, sprach der Doktor, »ich bin's, ich, Doktor Rosenzweig.«
»Gott der Gerechte!« stieß der Wirt erschrocken hervor, faßte sich aber sogleich und patschte dienstwillig in den Sumpf, der die Zufahrt zu seinem Gasthofe bildete. Er schob die künstlich aufgestellte Wagenburg auseinander und rief dabei fortwährend mit überflüssigem Stimmaufwand: »Der Herr Doktor Rosenzweig! – Is wer krank? Wohin belieben zu reisen der Herr Doktor?«
Sobald die Möglichkeit vorhanden war, sich ihm zu nähern, sprang Nathanael auf ihn los und packte ihn beim Ohr: »Sei still, Spitzbube! Du brauchst mich bei deinen Gästen nicht anzumelden. Ich will das schon selbst besorgen.«
Und als das Männlein trotzdem nicht aufhörte, seine Verwunderung über die Ankunft des Doktors laut auszuschreien, drückte der ihn gegen den Türpfosten, daß ihm der Atem verging, und drang an ihm vorbei in den Flur.
»Ein Gibor! Schema Isroel, ein Gibor der gewaltige Doktor!« raunte Abraham einem mißgestalteten Wesen zu, das plötzlich im Dunkel, geräuschlos wie eine Eidechse, krummbeinig wie ein Kobold, neben ihm aufgetaucht war.
Es wiegte den unförmigen Kopf, seine nachtschwarzen Augen funkelten klug und feurig.
»Er ist eingezogen, zu spionieren, Tateleben. Wir wollen ihm kommen zuvor, daß uns nicht kann begegnen ein Unglück«, flüsterte der Kleine.
»Elend über Elend! Wie haißt ihm kommen zuvor?«
»Ich will nehmen ein Pferd, Tateleben, und reiten nach Tarnow wie ein Windstoß, zu melden bei der Polizei, daß bei uns Versammlung halten die rebellischen Gojim und daß die kaiserliche Regierung soll ausschicken gegen sie Soldaten, wenn es is gefällig der kaiserlichen Regierung.«
Abraham betrachtete seinen Sprößling mit Blicken bewundernder Liebe: »Reit wie ein Windstoß, mein Sohnleben, daß du mit Gott bald kommst ans Ziel. Reit«, wiederholte er, und er setzte in naiver Fürsorge hinzu: »Tu dich nur nehmen in acht, daß du nicht kommst um deine geraden Glieder.«
Rosenzweig war inzwischen in die Wirtsstube getreten oder hatte sich vielmehr hineingezwängt.
Es herrschte darin eine dicke, dumpfe Atmosphäre, das Produkt von mehr als hundert dicht aneinandergepferchten Menschen in nassen Pelzen, Kleidern und Stiefeln. Fuseldünste und der Qualm einer an der Decke hängenden Naphthalampe trugen dazu bei, das Atmen in diesem Räume zu erschweren. Die Anwesenden jedoch erfuhren unbewußt den beklemmenden Einfluß, der die Gesichter der einen glühen machte und die anderer bis zur Todesblässe entfärbte. Es waren Männer, den verschiedensten Altersstufen und Ständen angehörig, in ärmlicher Kleidung, im reichen Nationalkostüm, im Priestertalar, im Studentenrock, im schäbigen schwarzen Gewand des Winkelschreibers. Die keinen anderen Platz mehr gefunden hatten, waren auf die Bänke gestiegen, und zwischen die Mauern und die Menge geklemmt, bezahlten sie bei jeder Bewegung derselben den Vorteil ihrer erhöhten Stellung mit der Gefahr, erdrückt zu werden.
In der vordersten Reihe, seine Umgebung überragend, stand ein grauhaariger, graubärtiger, breitschultriger Herr in kostbarer Magnatentracht. Wenn er den Kopf wandte, zeigte sich dem beobachtenden Nathanael das ausdrucksvolle asiatische Profil eines der mächtigsten Fürsten des Landes.
Auch du, Starosta princeps nobilitatis? dachte Rosenzweig. Aber eine noch größere Überraschung erwartete ihn.
Der einzige in der Stube freigebliebene Raum war der vor dem Eingang in das Nebenzimmer, dessen offene Tür von einigen jungen Leuten mit wahrhaft wildem Eifer vor der Zudringlichkeit der Neugier oder des Fanatismus gehütet wurde. Dort schritt Dembowski im Gespräch mit einem Schlachtschitz auf und ab, in dem Rosenzweig zu seinem grenzenlosen Erstaunen den vertrauten Freund des Kreishauptmanns erkannte. Er lebte in glücklichen Familien- und geordneten Vermögensverhältnissen, war ein harmloser, aufrichtiger Mensch, dem der Frieden über alles ging. Nie hatte er es dahin gebracht, einer politischen Debatte seiner Gutsnachbarn bis ans Ende zu folgen, weil er regelmäßig vor demselben einschlief. Und dieser ruhigste und stillste aller Staatsbürger, da wandelte er nun flammend und glühend in einem Seelenkampfe, dessen Pein sich in seinem zuckenden Gesicht malte, neben dem Aufwiegler einher.
Der aber, leicht vorgebeugt, den Arm des Neophyten sanft berührend, sprach eindringlich und leise zu ihm, sprach Worte, auf welche dieser keine Erwiderung mehr zu finden schien. Ein letztes noch – und er wandte sich von dem Erschütterten und trat zu seiner Gemeinde, die ihn mit unendlichem Jubel empfing.
Der Sendbote war als Bauer gekleidet. Er trug einen langen weißen Kaftan, der am Halse durch zwei große Metallknöpfe geschlossen war, hohe Stiefel, ein Hemd aus grober Leinwand und Pluderhosen aus demselben Stoffe. Ein lederner Riemen, an welchem ein kleines Kruzifix aus schwarzem Holze hing, umgürtete seine Lenden. Sein dichtes, dunkelblondes Haar war kurz geschoren, es wuchs in scharfer Spitze in die Stirn und zog einen schönen gewölbten Bogen um die mattweißen, etwas eingedrückten Schläfen.
Ruhig ließ er den Freudensturm des Willkomms verbrausen, stand da mit herabhängenden Armen, die Finger nur leicht gekreuzt, und schaute ins Gewühl lässig und obenhin, wie sehr Kurzsichtige pflegen, die schauend schon im voraus auf das Sehen verzichten.
»Freunde, Brüder«, begann er, ohne die Stimme zu erheben, und sogleich wurde es still bis zur Lautlosigkeit, »ich grüße euch zum letzten Male vor dem Kampf, vielleicht zum letzten Male vor dem Tode.«
»Sei uns gegrüßt!« antwortete ein brauner Kumpan von martialischem Aussehen, »im Kampf, im Tod, im Sieg!«
»Im Sieg!« durchlief's die Menge als Seufzer der Sehnsucht, als Schrei der Hoffnung, als Ausruf der Zuversicht.
»Sieg?« wiederholte der Redner, »ihr habt ihn schon errungen. Ein Kampf wie der eure ist ein Sieg und ein Sieger jeder von euch, ob er den Fuß auf seine Feinde stellt, ob er, zertreten von ihren Rossen, auf dem verlorenen Schlachtfeld liegt. Meine Brüder! Was immer uns beschieden sein mag, der Gedanke, der uns beseelt, kann nicht mehr sterben. Er wird fortleben, sogar auf den Lippen derjenigen, die uns um seinetwillen verfolgen und töten. Sie selbst werden die heilige Lehre noch verbreiten, indem sie von dem Märtyrertum erzählen, das wir um ihretwillen erlitten haben.«
Allmählich war die lähmende Müdigkeit von ihm gewichen, seine geschmeidige Gestalt hatte sich emporgerichtet: »Vielleicht ist die Erinnerung an unseren Tod das einzige, was wir denen hinterlassen können, für welche wir so gern gelebt hätten. Wir müssen dafür sorgen, daß dieses Erbe ein glorreiches sei . . . Es wird kein glorreiches sein, wenn nicht jeder einzelne, der zu unserem Bunde geschworen hat, sich als ein Priester fühlt, dessen Ehrgeiz Entsagung und dessen Ruhm grenzenlose Hingebung an die Sache Gottes ist.«
Vereinzelte Laute der Zustimmung ließen sich vernehmen, aber so manches Antlitz drückte Enttäuschung aus.
»Die Sache Gottes, meine Brüder!« wiederholte der Redner. »Vermöchte ich den Feuereifer, ihr zu dienen, in euren Seelen zu erwecken, den er in der meinen erweckt hat, und euch den Abscheu und die Scham kennen zu lehren, mit der ich zurückblicke auf meine einst genossenen Erdenfreuden. Mitten in der Fülle ihrer Genüsse fand mich der Herr. Aus ihrem Taumel schrak ich auf bei seinem Rufe. Und die Stimme, mit der der Allerbarmer mich rief, war die des Mitleids, und das Mitleid gebar den Zweifel und der Zweifel die Erkenntnis.«
Verklärung breitete sich über seine Züge, das Licht der schönsten Liebesgedanken leuchtete auf seiner Stirn.
»Ich lebte, wie die Verwöhnten leben. Weil der Zufall mir zuviel beschert hatte, kannt ich kein Genügen, in meiner heißen Hand zerschmolz das Gold.
Da war einer unter meinen Dienern – Jelek hieß er, ein Bauerssohn, der, aufgeweckt und tüchtig, es bis zu dem Amte meines Güterverwalters gebracht hatte. Er allein wagte es einmal, eine Warnung gegen mich auszusprechen, und stand seitdem in Ungnade bei mir.
An einem Sommermorgen ritt ich nach fröhlich durchlebter Nacht mit meinem Anhang von einem Feste bei meiner Geliebten heim. Ihre Küsse brannten noch auf meinen Lippen, die Klänge der Musik summten mir noch im Ohr, liebliche Bilder gaukelten vor meinen Augen, eine glückliche Lebenslust erfüllte mich. In meiner Seele vermählte sich die Erinnerung an genossene Freuden mit der Erwartung künftiger, und übermütig rief ich meinen Gefährten zu: ›Wie heute, so morgen und immer!‹
Wir waren am Ausgang des Waldes angelangt; vor uns lagen im schimmernden Duft des jungen Tages die taufrischen Wiesen, das Ährenmeer der Felder, und aus der Ferne grüßte mein bewimpeltes Schloß mit seinen starken Türmen. Seine Fenster blinkten, auf seinem altersgrauen Gemäuer lag der Glanz der aufgehenden Sonne wie ein Lächeln auf dem Antlitz eines Greises. Einen schönen Anblick bot mein ehrwürdiges, gastliches Haus, und mit Jauchzen sprengten meine Gefährten ihm zu.
Ich aber verhielt mein ungeduldiges Roß.
Ich hatte längs des Waldessaumes einen Mann in hastender Eile herbeikommen gesehen und Jelek, meinen Verwalter, in ihm erkannt. – ›Woher und wohin?‹ rief ich ihn an. Er nannte einen weit entfernten Meierhof, nach dem ihn der Intendant mit einem Auftrag geschickt. – ›Fand sich dazu kein Geringerer? Seit wann machst du Botengänge?‹ Auf diese meine Frage gab er zur Antwort: ›Seit ich bei dir in Ungnade gefallen bin. Dein Intendant hat mich meines Amtes entsetzt und bedenkt mich dafür mit allerlei Ämtern.‹ Er keuchte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, und ich sah es ihm an, daß ihm der Boden unter den Füßen brannte. Ich sah auch, daß sich vom Dorfe aus ein langer Zug nach der Straße hin bewegte und daß der es war, dem er entgegenstrebte. Ich setzte mein Pferd in Schritt, und er folgte mir. So kamen wir zur Landstraße, auf der die Leute wanderten. Ein paar hundert Männer, Jünglinge, Greise, ihre Sensen auf den Schultern, Säcke auf den Rücken. Sie schritten stumm, mit gesenkten Köpfen, die meisten barfuß und zerlumpt – meine Bauern! . . . Und wie sie, sich bis zur Erde verneigend, an mir vorüberschlichen, unlustig wie eine Herde, die nach fremdem Pferch getrieben wird, da wußt ich: die Leute sind vermietet für die Erntezeit, weithin vielleicht, und werden den Boden, auf dem ihre eigene ärmliche Ernte reift, nicht wiedersehen, eh der Schnee ihn bedeckt.
Jelek hatte ein Tüchlein hervorgezogen, in dem einige Münzen eingebunden waren, und drückte es einem Alten in die Hand, der am Ende des Zuges mühsam nachhumpelte. ›Damit du nicht darbst unterweges, Vater. Gott tröste dich. Meinetwegen mußt du fort.‹
Der Alte barg das Tuch an seiner Brust, und der Heiduck, der die Schar geleitete, stieß ihn vorwärts.
In die Augen Jeleks traten Tränen des Schmerzes und der Wut.
›Warum sagtest du‹, fragte ich ihn, ›dein Vater müsse um deinetwillen fort?‹
›Weil es so ist. Der Intendant hätte sich nicht getraut, ihn zu vermieten, wenn du mir noch gnädig wärest wie sonst.‹
Ein paar Tage später traf ich meinen Jelek, wie er einen Arbeiter auf dem Felde, einen hochbejahrten Mann, der Faulheit anklagte und erbärmlich schlug.
›Siehst du nicht, daß der Mann erschöpft ist und nicht mehr arbeiten kann‹, sagte ich, und er erwiderte: ›So werden sie es in der Fremde auch meinem Vater tun. Warum soll es dem einen besser gehen als dem andern?‹
Was ich ihm antworten sollte, wußte ich nicht, aber zu dem Alten sagte ich: ›Tun dir die Schläge nicht weh, daß du dastehst und nicht einmal klagst?‹
›O mein gnädigster Herr!‹ entgegnete er, ›was würde das Klagen mir nützen?‹
Und auch darauf mußte ich schweigen . . .
Heimkehrend fand ich das Haus zum Empfang meiner Geliebten geschmückt, und alle, die um meine Gunst buhlten, waren versammelt, um meiner Herzenskönigin zu huldigen. Sie erschien in ihrer königlichen Schönheit, und ihr Anblick und der Anblick der Pracht, die mich umgab, und der kriechenden Dienstfertigkeit meines Anhangs – Grauen, meine Brüder! Grauen erweckten sie mir . . . Ein Dämon, meint ich, habe tückisch mein Auge zu furchtbarem Hellsehen geschärft . . . All der Glanz, alle die Pracht und Herrlichkeit und die Liebe des Weibes und die Treue der Freunde – sie hatten einen Preis, und bezahlt hatte ihn das Elend. Die hatten ihn bezahlt, die zum Frondienst vermietet hingezogen waren in die Fremde . . . Das Gewühl vor mir, die Wände des Saales wurden durchsichtig, wie durch schimmernde Schleier sah ich eine wandernde Schar, deutlich jede Linie der Gestalten, jeden Zug der Gesichter, die mein Auge an jenem Morgen nur flüchtig gestreift hatte . . . Ergebung auf allen! Nicht schöne, männliche – nein! die trost- und hoffnungslose Ergebung des Stumpfsinns . . . Was jenes Opfer der ungerechten Vergeltung, die mein Diener übte, gesprochen hatte, das sprachen auch sie in ihrem Schweigen: Was würden Klagen uns nützen?
Brüder! in dieser Stunde habe ich meiner Macht geflucht und mein Glück gerichtet . . . Meine Macht war zum Unheil anderer ausgeübt worden, mein Glück wuchs nicht wie eine Blume aus dem gesunden Mutterschoß der Erde, es war ein Wuchergebilde, ihrer Krankheit Frucht, und nährte sich parasitisch von kostbaren Lebenssäften.«
Der Redner bog den Kopf zurück; seine Lider schlossen sich, einem Gepeinigten gleich zog er den Atem ein: »Da ergoß sich in meine Brust ein Strom der Schmerzen . . . Die Schmerzen jedes einzelnen, der um meinetwillen gelitten hatte, ergossen sich in meine Brust! . . . Und jede Schuld und jedes Unrecht, das die begangen hatten, die mir dienten, als meine Schuld empfand ich sie und vernahm schaudernd, wie ihr Schrei gegen mich zum Himmel stieg . . .
Die Luft im Saale lastete wie Blei, aus den Augen meiner Geliebten blickte die Sünde, die Töne der Musik girrten sinnverwirrende Melodien, und – fort trieb es mich, hinweg von dem durchschauten Trug in die kühle, klare Nacht. Ich wanderte unter ihren schimmernden Sternen, soweit meine Füße mich trugen, und wie auch mein Herz blutete und rang, mir war, als lebt ich auf. In der herben Qual, die ich litt, fühlte ich die Hand meines Herrn, verstand die Mahnung, deren Er mich gewürdigt. Und während sie mich suchten im Schlosse und in den Gärten, lag ich im Waldesgrund auf dem Angesicht vor meinem Gott und flehte um Kraft zur Buße und Sühne und bot mich ihm dar zum Werkzeug Seines Willens, zum Verkünder Seiner Lehre, und flehte den Urquell des Lichtes um Erleuchtung auf meinem Wege an.
Sie wurde mir. Wie das Auge des Blindgeborenen, als der Finger des Heilands es berührte, sich der alten, vertrauten und ihm doch unbekannten Welt erschloß, so erschloß sich meine Erkenntnis der Offenbarung, in deren Licht ich gewandelt war, von Jugend an – ein Blinder. Und je tiefer ich in den Geist des göttlichen Wortes eindrang, desto klarer ward es mir: Inbegriff seiner Weisheit ist die Liebe. Für uns Menschen – die Nächstenliebe!«
Die hochgehenden Wogen der Begeisterung, mit welcher der Sendbote empfangen worden, waren allmählich verebbt. Ein Gemurmel der Mißbilligung, in das sich nur vereinzelt warme Zurufe mischten, erhob sich jetzt. Aus der Gruppe, die den Fürsten umdrängte, scholl rauh die Mahnung: »Laß den Pfarrer von Nächstenliebe sprechen, sprich du von der Befreiung des Vaterlandes!«
»Eines, die beiden!« antwortete der Redner. »Keine Befreiung ohne die Liebe des Nächsten. Sie ist der unermeßlich reiche Schatz, der uns an dem Tag erlöst, an dem wir uns entschließen, ihn zu heben. Nur verstehen müßt ihr ihr Gesetz. Für euch, ihr Mächtigen und Reichen, lauten seine ersten Worte: Entsagung, Entbehrung, Sühne!«
Die Lippen des Fürsten kräuselte ein Lächeln, aber mit immer mächtiger werdender Stimme fuhr der Redner fort: »Es gibt nur einen Herrn, den König der Himmel und der Welten, und nur ein Menschenvolk gleichgeborener Brüder. Der sich Herrschaft anmaßt über seine Brüder, säet und erntet Unheil, die Seele des Knechtenden wie die des Geknechteten verdirbt.«
Mit einem raschen Schritte trat er auf den Fürsten zu: »Rette deine Seele, demütige dich! Gedenk der Sünden deiner Väter, gedenk der Flüche, die auf deinem Haupte lasten. Wie? – Befreiung von fremder Tyrannei verlangt ihr? Was habt denn ihr jemals ausgeübt an dem bejammernswerten Volke als Tyrannei? Ihr, der Adel, ihr wart der Staat. Niemals ist in Polen ein anderer Stand zu Wort gekommen als der eure, und wohin habt ihr das Land gebracht? . . . Euer Eigennutz hat es ausgebeutet, eure Zwietracht es zerrissen, euer Verrat hat es den Feinden ausgeliefert!«
»Du lügst! Schweig! Wir wollen dich nicht mehr hören!« tönte es ihm zurück.
Ein rasender Tumult erhob sich.
»Platz da! Platz für den Fürsten!« riefen die Begleiter des Magnaten, der sich schweigend und verächtlich umgewandt hatte und dem die Seinen mit Stoßen und Drängen einen Weg zum Ausgange zu bahnen suchten.
Nathanael, in der Nähe stehend, erwies sich ihnen hilfreich. Die Menge war wie eingekeilt unter der Tür; aber sein eiserner Arm teilte sie, um den Fortstürmenden Raum zu schaffen, und ein allgemeines Aufatmen gab es, als der Fürst und seine Schar das Freie gewonnen hatten.
Von draußen vernahm man ihr Schreien, Fluchen und Lachen. Die Herren pfiffen ihren Kutschern und ihren Hunden, Peitschen knallten, Fuhrwerke setzten sich in Bewegung.
Der Blick des Sendboten glitt schwermütig über die gelichteten Reihen seiner Jünger.
»Auf die Großen dieser Erde habe ich nicht gezählt; wohl uns, wenn wir keine anderen Gegner hätten als sie«, sprach er ruhig. »Der Bedrücker sind wenige, der Bedrückten viele. Wenn die Bedrückten sich erheben und im Namen des Allgerechten ihren Anteil am Besitz der Erde fordern würden, dann wäre die Macht der Mächtigen wie Spreu. Aber der Koloß, der sich nur zu regen brauchte, um seine Bande zu sprengen – er regt sich nicht. Er duldet und front und wird ewig dulden und fronen. Durch das unwürdige Leben, das er seit Jahrhunderten führt, ist das Bewußtsein seines Menschentums, seines freien Willens in ihm erstickt worden . . . Diejenigen aber, die ihm dieses Bewußtsein raubten, haben nicht nur gegen das elende, von ihnen verachtete Volk, sie haben – und dessen gedenken sie nicht! –, sie haben gegen Gott gefrevelt, indem sie Tausende seiner Geschöpfe unfähig machten, sein Bild widerzuspiegeln.«
Er hielt inne, und die jungen Leute jubelten ihm Beifall zu. Die älteren Männer schwiegen. Einige Geistliche hatten sich in die Nähe der Tür begeben. Der treulose Freund des Kreishauptmanns war samt den Edelleuten verschwunden, nachdem er mit staunendem Schrecken den großen Kopf Rosenzweigs aus dem Gedränge hervorragen gesehen. Der Doktor jedoch, mit der Wucht eines Pfeilers auf seinem Vordermann lastend, brachte jeden allmählich zum Weichen und stand nun auf demselben Fleck, auf dem früher der Fürst gestanden hatte, dicht vor dem Sendboten.
Eine freudige Röte stieg diesem in die Wangen, als er Nathanaels ansichtig wurde.
»Gott wird die Schuldigen richten!« nahm er wieder das Wort. »Was uns zukommt, ist die Erlösung der Armen, deren Jammer zu ermessen wir besser vermögen als sie selbst. Was ich von euch fordere, ihr Herren, ihr wißt es, besprochen und wieder besprochen haben wir's in langen Stunden. Ihr aber, Studenten und Männer der Wissenschaft, die ihr dem Volke nahesteht wie eurem Vater, betreut es, als wäre es euer Kind. Lehrt es euch lieben und vertrauen, verwendet zu seinen Gunsten euer Wissen, euer Können, eure Erfahrung, Kraft und Zeit. Vergeßt euch selbst in seinem Dienst. Keiner von euch pflege mehr seinen Geist in kaltsinniger Abgeschlossenheit . . . Mit welchem Rechte vertieft ihr euch in die Erforschung der schwierigsten Welt- und Daseinsrätsel, während um euch her noch Menschen leben, mit dem gleichen Anspruch auf Erkenntnis ausgestattet wie ihr – und unfähig, die einfachste Gedankenreihe zu bilden? . . . Ihr sucht nach Zielen in euren Wissenschaften und werdet immer nur Grenzen finden. Ich nenne euch ein Ziel, das sich erreichen läßt: die Verminderung des Irrtums, des Wahns, des Aberglaubens unter euren Brüdern . . . Dem Zug einer ungeheuren Heersäule, die nachts aufbricht, um zum Kampfplatz zu eilen, gleicht das Wandeln des Menschengeschlechts über die Erde. Diejenigen, denen Kraft gegeben ward, die andern zu überholen, haben sich an die Spitze gestellt. Sie schreiten schon im rosigen Morgenlicht, die Schatten fliehen, ein Wunderland öffnet sich vor ihnen. Unaufhaltsam jagen sie ihm zu, auf sonnenbeglänzter Bahn, unbekümmert um die Nachhut, die hinter ihnen im Dunkel tappt und sich verirrt und keinen Steg mehr findet, der zu den Glücklichen hinüberführt, an deren Seite auch sie den Kampf des Lebens zu kämpfen berufen waren . . . Deshalb, ihr Führer, macht halt! Öffnet eure Reihen, laßt die Nachhut herankommen. Einen breiten Weg für die Nachhut! Zu ihrem Heil, meine Brüder! aber auch zu dem eurigen, denn aus jedem bisher blöden Auge, das sich dank eurer fürsorgenden Liebe einem Strahl der Wahrheit öffnet, wird euch der Himmel grüßen . . .«
Einige Schulmänner in der Nähe Rosenzweigs wechselten bedeutungsvolle Blicke: »Ich bin sehr enttäuscht«, flüsterte ein Advokatenschreiber den gelehrten Herrn zu. »Das ist ja gar nichts.«
Der Doktor stand nach und nach ganz bequem, von einem Gedränge war keine Rede mehr. Das Auditorium machte sich langsam und geräuschlos fort. Wagen um Wagen rollte, Reiter trabten davon.
Die Zurückbleibenden widersetzten sich endlich dieser Flucht. Die Verwünschungen, mit denen die Abtrünnigen begleitet wurden, begannen in Tätlichkeiten auszuarten.
Gebieterisch erhob der Redner seinen Arm.
»Laßt jeden unbehelligt ziehen«, befahl er. »Wer von euch kann sagen, ob das Samenkörnlein Wahrheit, das jetzt von der Brust dieser Männer abzuprallen schien, nicht, ohne daß sie selbst es ahnen, in ihr Wurzel geschlagen hat? Vielleicht tritt mancher von denen, die uns jetzt verlassen, noch dereinst in unsere Reihen ein . . . Mir aber, meine Brüder, mir ist es ein Segen zu fühlen: Was mich in dieser Abschiedsstunde umgibt, ist Treue, was mich vernimmt – Verständnis. Den tiefsten Inhalt meiner Lehre, in eure Herzen darf ich ihn gießen wie in köstliche Schalen, die ihn rein und lauter bewahren und ihn anderen Herzen also mitteilen werden.
Brüder, wir müssen immer hören, ohne Kampf der Menschen untereinander könne die Welt nicht bestehen; in einem allgemeinen Frieden würden unsere Kräfte einrosten und unsere Geister erschlaffen. Das ist falsch. Friede zwischen den Menschen bedeutet ja nicht das Ende aller Kämpfe, es bedeutet vielmehr den Beginn eines neuen, eines herrlichen Kampfes. Indessen der Haß der Urheber der bisherigen Kämpfe gewesen ist, wird die Liebe die Mutter der künftigen sein. Die Streiter, die sie aufruft, werden nicht etwa ein leichtes Spiel haben, denn die Feinde, denen sie gegenüberstehen, gönnen ihren Überwindern nicht Ruhe, nicht Rast, täglich besiegt, erheben sie sich täglich wieder. Das Leiden und die Leidenschaft sind ihre Namen. Sie nur einmal ins Auge gefaßt, und ihr werdet an eure Stirnen greifen und euch fragen: Ist es möglich, daß wir jemals einen anderen Streit unternommen haben als den gegen sie, als den gegen die Leiden der anderen und den gegen die Leidenschaft in unserer eigenen Brust? Wie? es gibt in der Welt diese fürchterlichen Gewalten, und wir haben mit ihnen einen faulen Frieden geschlossen? Wir haben sie hingenommen wie das Notwendige und Unentrinnbare, wir haben schläfrig und lau den Vampir an unserem Marke zehren lassen und unsere Streitlust nicht an ihm gebüßt, nein, an unseren Brüdern, unseren mitleidenden Brüdern! Wir haben Beladenen neue Lasten aufgelegt, wir haben Verwundete verletzt . . .
O des Wahnsinns! Oder des Verbrechens – oder vielmehr der beiden! Verbrechen ist Wahnsinn, die Torheit ist die Quelle jedes Unrechts.«
Ja, und tausendmal ja! dachte Rosenzweig, Tränen in den Augen, erschüttert in allen Fugen seines Wesens. Ein unermeßliches Glück durchdrang ihn, er empfand die höchste aller Wonnen – die Wonne, aus den beengenden Schranken der Selbstsucht aufzusteigen wie aus einem Grabe. Was er bisher am meisten geschätzt hatte, erschien ihm wertlos, die Arbeit vergeudet, die er auf die Erwerbung seines Reichtums verwandt, verächtlich seine engherzige Freude an ihm, der, ein toter Staub, in seinen Händen gelegen. Beschämung erfüllte seine Seele, aber mit Entzücken gab er sich ihr hin als dem Wahrzeichen seiner Wandlung, dem Beginn seines inneren Wachsens und Klärens. Nur ein Gedanke trübte die reine Seligkeit dieses Augenblicks – er galt dem Apostel des Mitleids und der Liebe und wurde schmerzlicher und sorgenvoller, als dieser die Zukunft, die er träumte, als eine erreichbare zu schildern begann. – Täusche dich nicht! hätte er ihm zurufen mögen. Das Land deiner Verheißung hat auf Erden keine Stätte. Begnüge dich damit, unsere Sehnsucht nach ihm erweckt zu haben. Schon das ist Befreiung.
Aber der Sendbote sprach . . . Der Klang seiner Stimme füllte wie etwas Körperliches den Raum, der Glutstrom seiner Beredsamkeit trieb seine kühnsten, prächtigsten Wogen, und endlich schloß er: »Zweck und Ziel unseres Bundes ist das Wohl des Volks, das Wohl eines jeden Bewohners der polnischen Erde; schwört Treue unserem Bunde!« Da riefen alle, da tönte es mit der Stimme einer Begeisterung aus der Brust von jung und alt, von Erfahrenen und Unerfahrenen, von Besonnenen und Schwärmern: »Wir schwören!«
Sie fielen vor ihm nieder und küßten seine Hände, seine Knie, seine Füße. »Wir schwören dir Gehorsam bis in den Tod!« überschrie einer aus der Menge alle übrigen. Der Sendbote wehrte ab: »Nicht mir Gehorsam – der Sache. Schwört, die Armen und Bedrückten zu lieben wie euch selbst, und das Vaterland mehr als euch selbst.«
Die Beteuerungen wiederholten sich.
»So geht denn hin. Werbt im Volke, werbt Werber für das Volk. Entsendet keinen, der nicht auf das Kruzifix geschworen hat. Ich bringe euch die Eidesformel und den Katechismus«, sprach der Agitator, und Stille trat während der Verteilung der Schriften ein.
Plötzlich wurde sie durch ein so angstvolles Gekreisch unterbrochen, daß alle zusammenfuhren. Abraham Dornenkron stürzte herein, schreckensbleich, mit aufgelösten Locken: »Rette sich, wer kann sich retten! Mein Sohnleben ist gewesen in Tarnow, hat gesehen steigen auf die Husaren, gleich werden sie sein hier, mein Sohnleben is geritten ihnen voraus.«
Die Warnung Abrahams erweckte Hohn, Trotz, Bestürzung. Einige stammelten ein leises Abschiedswort und eilten rasch davon. Was Waffen trug, scharte sich um Dembowski und schickte sich zu seiner Verteidigung an. Er aber wies seine Getreuen hinweg: »Fort! Ihr, ich, wir alle. Noch ist es nicht Zeit zum Kampfe. Ein Hochverräter jeder, der den Kampf zu früh beginnt. Fort! Alle fort!«
Die Stube leerte sich. Der letzte, der hinaustrat, war der Sendbote, knapp vor ihm schritt Nathanael. In tiefer Stille bestiegen die Verschworenen ihre Wagen und stoben auseinander wie Schatten. Das Pferd des Redners wurde vorgeführt, er schwang sich hinauf und gab ihm die Fersen. Das Tier bäumte sich, fiel schwer auf seinen Vorderfuß zurück und zog den andern mit schmerzvollem Zucken in die Höhe.
Eilends sprang Rosenzweig herbei. »Ihr Pferd lahmt«, sagte er, »auf dem Pferd kommen Sie nicht weit.«
Der Wirt näherte sich, eine Flasche tragend, in deren Hals eine tropfende Unschlittkerze stak, hockte am Boden nieder und bestätigte jammernd den Ausspruch des Doktors. Diesen ergriff ein Verdacht, er hielt dem Juden die geballte Faust vors Gesicht: »Wart, Kerl, wenn du das getan hast!«
Abraham brach sofort in Wehklagen und Unschuldsbeteuerungen aus. Der Emissär war vom Pferde gestiegen, stand regungslos und horchte.
Deutlich vernahm man schon das Heransprengen der Reiter auf der Straße. Sie ritten mit dem scharf herüberpfeifenden Wind. Gelblichgrau begann der Horizont zu schimmern. Der fahle Schein der ersten Dämmerung verbreitete sich über die Ebene. Nathanael fröstelte und glühte. Kalter Schweiß rann ihm über die Stirn, eine eiserne Kralle schnürte ihm die Kehle zu. Das war Furcht, deren Symptome er so oft an andern beobachtet, die er an sich selbst nie erfahren hatte.
»Verbergen Sie sich im Haus«, sprach er zum Emissär.
»Was würde mir das nützen, wenn der Wirt falsch ist – und er ist es«, antwortete jener. »Ich will meinen Beinen vertrauen. Soviel Klugheit wie das gehetzte Wild habe ich auch. Irgendwo findet sich ein Hohlweg, ein Baum, ein mitleidiger Strauch, der mich verbirgt.«
Er wandte sich zur Flucht.
Da faßte ihn der Doktor mit überlegener Kraft und drängte ihn zu seinem Wagen hin: »Herunter, Joseph!« befahl er, »und sieh zu, wie du nach Hause kommst. Sie aber, nehmen Sie seinen Platz ein. Rasch!«
Der Widerstrebende war auf den Wagen hinaufgehoben, bevor er sich's versah. Der Doktor warf ihm seinen im Wagen zurückgebliebenen Mantel über die Schultern, Joseph legte die Zügel in seine Hand und trat sofort im Eilschritt den Heimweg an.
»Du!« sprach Nathanael, und Abraham beugte sich beinahe bis zur Erde unter dem Blitz, der aus den Augen des Doktors auf ihn niederfuhr, »du sollst mich kennenlernen, wenn du den Verräter weiterspielst!« Einige Verwünschungen folgten, die ihm leicht von den Lippen flossen. Schwerer wurde es ihm hinzuzusetzen: »Wenn du aber dein Maul hältst – dann kriegst du von mir für dein Schweigen das Doppelte von dem, was deine Angeberei dir eingetragen hätte.«
Er machte eine rasche Wendung den immer näher kommenden Reitern entgegen.
»Holla ho!« rief er, die Hände vor dem Munde zum Sprachrohr geformt, »zu spät! zu spät!«
Ein Pikett Husaren mit einem blutjungen Kadetten an der Spitze kam hergaloppiert. Der Kadett riß sein Pferd dicht vor Nathanael zusammen: »Gottes Donner! der Herr Doktor! Was führt Sie her?«
»Beim Zeus! die Neugier, mein Gräflein. Aber Sie – warum just Sie? Ein heißer Ritt in kalter Morgenstunde, das gibt, so wahr ich Sie kenne, eine Halsentzündung.«
»Gottes Donner! scherzen Sie nicht! Komm ich wirklich zu spät? Ist das Nest leer? War der Emissär wirklich da? Haben Sie ihn gesehen?« fragte der Jüngling in überstürzter Hast.
»Gesehen, gehört, ihn als unschädlichen Schwärmer diagnostiziert.«
»Unschädlich? Dann war er's nicht.«
»Er war's!«
»Es is gewesen er!« fiel Abraham geläufig ein. »Der Herr Kadett können noch sehn stehen hier sein Pferd, das ich hab vernagelt, damit er nicht kann reiten davon.«
»Was ihn zwang«, bemerkte Rosenzweig, »im Wagen eines seiner Freunde davonfahren!«
Der Jüngling nahm das Pferd in Augenschein, ließ ihm das Eisen abreißen und befahl einem Soldaten, es am Zügel mitzuführen.
»Ich nehm es mit als Pfand«, sagte er. »Und nun – in welcher Richtung ist er davongefahren, Doktor?«
»Das verrate ich Ihnen um keinen Preis.«
»In welcher Richtung? Die Sache ist ernst. Ich bin ein gemachter Mann, wenn ich ihn fange. Wir haben verschärfte Order erhalten, heute nachmittag. – In welcher Richtung, Doktor? . . . Gottes Donner! sprechen Sie!«
Rosenzweig entgegnete mürrisch: »Ich habe keine Katzenaugen. Wahrscheinlich sind Sie ihm selbst begegnet auf der Straße.«
»Niemandem bin ich begegnet außer einigen guten Bekannten . . . Übrigens« – er hielt inne und schlug sich vor die Stirn. »Auch die sind ja verdächtig . . . Rechts um!« kommandierte er seinen Leuten, und die Husaren machten kehrt. »Adieu, Doktor. Und du, Jude, merk auf! Es soll ein Preis auf den Kopf des Emissärs gesetzt sein, heißt es, ein Preis von tausend Gulden. Dein wäre er gewesen, hätt ich den Kerl hier erwischt.«
Abraham zuckte zusammen, wand sich wie ein Wurm und kreischte laut. Der Fuß des Doktors stand auf dem seinen und trat ihn unbarmherzig.
»Was gibt's?« rief der Husar.
»Er weint um die tausend Gulden, die ihm an der Nase vorbeigeflogen sind«, entgegnete Rosenzweig.
Der Kadett setzte sich wieder an die Spitze seiner Mannschaft: »Ich reite zurück. Die Wagen holen wir noch ein . . . Gottes Donner! die wollen wir jetzt aufs Korn nehmen . . . In Galopp, Marsch!« Und das Pikett rasselte davon.
Abraham hüpfte kläglich auf einem Fuße und hielt den andern, zurückgekrümmten wie in einer Schlinge in der Hand.
»Zweitausend Gulden!« winselte er. »Sie haben mir zerquetscht, Herr Doktor, Sie Gibor, zwei Zehen . . . Aber Sie sollen gehen drein, ich verlang kein Schmerzensgeld, wenn Sie mir auszahlen morgen meine zweitausend Gulden, die Sie sind mir schuldig, so wahr Gott lebt!«
Rosenzweig antwortete dumpf: »Komm nur, Halunke. Was ich verspreche, halte ich – auch einem Halunken.«
Er trat an den Wagen und sprach, auf den Rücksitz deutend, zu seinem Fahrgast: »Da hinüber steigen Sie, überlassen Sie mir Ihren Platz. Ich bringe Sie in Sicherheit.«
Der Sendbote stand mit einem Satze neben ihm und drückte kräftig seine Hand: »Haben Sie Dank. Sorgen Sie nicht weiter um mich; ich finde Freunde überall.«
Vergeblich suchte der Doktor ihn zurückzuhalten; er entwand sich ihm und war bald den Augen seines Retters im verhüllenden Zwielicht entschwunden.
Rosenzweig kutschierte nach Hause, im kurzen Trab, im Schritt – wie es den Falben beliebte. Er hatte keine Eile. Wäre der Weg noch einmal so lang gewesen, er würde ihm nicht zu lang geworden sein. Demjenigen, der über ein an sich selbst erlebtes Wunder nachdenkt, vergeht die Zeit geschwind.
Gelogen, betrogen, einen Schurken bestochen – hatte er das wirklich getan, er, der redliche Rosenzweig? Um eines Menschen willen getan, den er noch vor kurzem für einen Feind der Gesellschaft, für seinen eigenen Feind gehalten? . . .
Die widersprechendsten Empfindungen lieferten sich eine Schlacht in Nathanaels sonst so gleichmütiger Seele. Nur die schlimmste von allen – die Reue war nicht unter ihnen.
Am Nachmittag kam Abraham, sein Geld zu holen. Ja, der Spitzbube nannte es sein, das schöne, zum Ankauf eines neuen Feldes bestimmte Geld. Finster gab der Doktor es hin.
Dann begab er sich auf das Kreisamt.
Er hatte die Absicht, seinem Chef die Ereignisse in der Schenke genau zu berichten, fand ihn jedoch so beschäftigt und in so ungewöhnlicher Aufregung, daß er vorzog zu schweigen. Auch in den folgenden Tagen ging es nicht besser.
Auf dem Amte herrschte in dieser Zeit eine beständige Unruhe, eine außerordentliche Tätigkeit. Der Kreishauptmann bewahrte mit Mühe den Schein seines heiteren Selbstvertrauens. Die Zuversicht war erzwungen, mit welcher er beteuerte, alle Fäden des Netzes in seiner Hand zu halten, an dem Tyssowski in Krakau, Skarzynski im Bochnier, Julian Goslar im Sandezer, Wolanski im Jasloer und Mazurkiewicz im Sanoker Kreise spannen. Die Untreue seines besten Freundes, der offen zur Revolutionspartei übergetreten war, machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Er und der Doktor tauschten allmählich die Rollen. Der Ängstliche wurde der Sorglose und der Sorglose der Ängstliche.
Eines Morgens überbrachte Joseph seinem Herrn einen Brief, der durch einen Boten im Hause abgegeben worden war. Er enthielt zwei Eintausendguldennoten in ein Blatt gefaltet, auf dem die Worte geschrieben standen: »Meine Schuld bleibt ewig ungetilgt.«
Nathanael barg das Blatt an seiner Brust und legte die Noten vor sich hin auf den Tisch.
»Joseph«, rief er.
»Sieh diese zwei Bilder gut an. Weißt du, was sie vorstellen?«
»Viel Geld, mein ich.«
»Geld! Geld! nun ja – aber noch etwas anderes.«
»Was denn, Herr?«
»Den Lohn deiner jahrelangen Arbeit . . . Nein, nicht ihren Lohn – ihren redlich verdienten Ertrag.«
Joseph sah den Gebieter fragend an.
»Dahin sieh, auf die Bilder, nicht auf mich«, rief dieser. »Sie stellen noch ein drittes vor.«
»Was denn, Herr?« wiederholte Joseph.
»Was denn? Soll ich Lubienka rufen? Die wüßte es gleich, daß es nichts anderes sein kann als – dein Heiratsgut.«
Da rief Joseph mit einem Schrei der Wonne: »Mein Wohltäter, mein Herr, du Gütigster!« und wollte sich vor ihm niederwerfen.
»Steh!« befahl Nathanael, legte beide Hände auf seine Schultern und blickte ernst in sein Angesicht, das sich zu ihm emporwandte wie zu einem Gotte.
»Du hast eine harte Jugend gehabt, mein Joseph.«
»Ich? – Was sagst du, Herr? – Warest du nicht immer wie ein Vater gegen mich?«
»Nein, nein, mein Junge, wirklich nicht. Aber du bist gegen mich immer wie ein Sohn gewesen«, antwortete der Doktor und setzte die für Joseph unverständlichen Worte hinzu: »Gäb es viele deinesgleichen, dann wäre der himmlische Sendbote kein Tor.« –
Von nun an hatte Joseph glückliche Tage, und noch viel glücklicher wären sie gewesen, wenn die große Veränderung, die mit seinem Herrn vorgegangen war, ihn nicht bekümmert hätte. Sie fiel jedem auf und erregte das Befremden aller Freunde des Doktors. Er, der emsige Sparer, wurde von großmütigen Regungen ergriffen. Er, für den der Bettler und der Dieb bisher in eine Kategorie gehört hatten, begann zwischen ihnen einen gewaltigen Unterschied zu entdecken. Er, auf den bisher die Reichen und der Reichtum eine starke Anziehungskraft ausgeübt, betrat nur noch gerufen die Schlösser, ungerufen aber die Hütten der Armen. Die Unruhe, die ihn umhergejagt hatte, war verschwunden. Mit stillem, hartnäckigem Eifer ging er seinem Berufe nach. Als die Revolution ausbrach und ihre ersten blutigen Opfer forderte, verstand er es, immer da zu sein, wo man seiner am meisten bedurfte. Nie, auch nicht in den schlimmsten Tagen, verließ ihn die kaltblütige Zuversicht: von der Revolution ist nichts zu fürchten.
Anderer Ansicht war der Kreishauptmann.
Alle Mutigen wandten sich bereits der Überzeugung zu, der Aufstand müsse in kurzem beendet sein, als er noch davon sprach, die Provinz sei verloren, wenn nicht in höchster Eile eine Armee einrücke, die tausendköpfige Hyder der »verwüstenden Insurrektion« zu bekämpfen. Er meinte, Rosenzweig habe den Verstand verloren, als ihm dieser eines Tages erwiderte: »Die Insurrektion ist keine tausendköpfige Hyder, sondern ein hilfloses Kind. Mit Blumen in den Händen kommt es heran, mit einem Herzen voll Liebe und mit Worten der Erlösung auf den Lippen . . . So kommt es zu uns. Aber wir sind Wölfe, Bären, Tiger, aber wir sind reißende Bestien. Wir verstehen die Sprache dieses Kindes nicht. Es predigt Erbarmen, Gerechtigkeit und Güte, und wir wollen von alledem nichts wissen, wir wollen mit niemandem Erbarmen haben als mit uns selbst, wir wollen bleiben, was wir sind, behalten, was wir haben, womöglich noch andern etwas wegnehmen, um uns zu bereichern. Und so wird es immer sein, und ein Narr, der daran zweifelt! Und wir, reißende Tiere, wir werden das Kind zerfleischen und fressen und uns zufrieden schlafenlegen nach dieser Heldentat.«
»Phantasterei! Das ist ja pure Phantasterei!« rief der Beamte voll Bestürzung aus . . . »Was ist mit Ihnen vorgegangen? Welcher Teufel hat Ihre gesunden Sinne verwirrt?
Wissen Sie«, nahm er nach kurzem Schweigen wieder das Wort, »daß mir berichtet wurde, Sie hätten einer Zusammenkunft beigewohnt, in welcher der gefährlichste Kommunistenführer eine seiner berüchtigten Ansprachen hielt? Wissen Sie, daß schlechte Spötter behaupten, seine Beredsamkeit habe Sie zum Schwärmer gemacht?«
Nathanael ließ sich durch diese Anklage nicht außer Fassung bringen.
»Ein Schwärmer wäre ich«, entgegnete er, »wenn ich an die Verwirklichung der Utopien glaubte, für welche dieser ›Kommunistenführer‹, wie Sie ihn nennen, lebt und für die er sterben wird. Nun, nicht einmal unter dem Einfluß seiner Nähe, beim Wohllaut seines Wortes, unter den Blitzen seines Auges ist es mir auch nur durch den Sinn geflogen: Wer weiß? vielleicht doch! . . . Vielleicht vermag ein Beispiel wie das deine uns Selbstlosigkeit zu lehren und allgemeine Erfüllung der einfachsten Pflichten. O nein, nein! dazu kenne ich uns Menschen zu gut. Aber gedacht habe ich mir: Du wirst zu Boden geworfen, zertreten, ein Narr geheißen und – vergessen werden. Kaum gibt es in zehn Jahren noch einen unter allen, die du liebtest, der deinen Namen nennt. Trotzdem ist der mächtige Fürst, den die Neugier oder der Wunsch, sich populär zu machen, in deine Versammlung trieb, ein Bettler gegen dich. Reich bleibt ewig nur der Schenkende, und die Größe des Mannes mißt sich nach der seiner Idee und der Opfer, die er ihr bringt. Die deine hat das Maß überschritten, das sich in unserer kleinen Welt verwirklichen läßt. Ihre Größe macht sie zum Irrtum und dich zum Irrenden. So dachte ich – und ich, der Arzt, der eingefleischte Hasser und Verfolger alles Krankhaften, Überspannten, Wahnbefangenen, ich tat ein Gebet für ihn zu meinem Gott: Laß ihn sterben, umringt von allen Gebilden seiner Torheit, laß ihn ungeheilt sterben, o Herr!«
Dieses Gebet schien bald im vollkommensten Maße erhört.
Die Erhebung war am Widerstand der Landbevölkerung gescheitert, das Korps, das die Insurgenten aufgebracht hatten, durch dreihundert Mann kaiserlicher Truppen und eine zehnfache Anzahl Bauern, die sich ihnen anschlossen, unter Benedeks energischer Führung bei Gdow geschlagen worden.
Von der erlittenen Niederlage erhielt die Revolutionsregierung in Krakau entstellte Kunde.
Die Freiheitshelden waren, so lautete sie, nicht durch reguläre Truppen, sondern durch fanatisierte Bauernhorden überwältigt worden, die, bis Wieliczka vorgedrungen, sich jetzt im Anmarsche auf die Stadt befanden.
Ein Schrei der Rache erhob sich und – verstummte vor der Beredsamkeit eines Mannes, der Schonung des verblendeten und irregeführten Volkes forderte und verlangte, ihm als Bekehrer entgegengesendet zu werden. Dieser Mann war Eduard Dembowski, und sein Wille geschah.
Vertrauend auf die Gewalt des Glaubens und seiner Beredsamkeit, verließ er Krakau, von Priestern im reichen Ornate, von Fahnen und Kreuze tragenden Mönchen begleitet. Eine große Menschenmasse folgte, dreißig Scharfschützen deckten den Zug. Er überschritt die Weichselbrücke und bewegte sich durch die Vorstadt Podgorze auf die Straße nach Wieliczka.
Sie lag still und öde – soweit das Auge reichte, keine Spur von herannahenden Bauernrotten. Von Podgorze aus jedoch eine Schreckenskunde, der Nachhut durch eilende Boten zugetragen. Sie durchlief den Zug wie ein Blitz: österreichische Truppen marschieren gegen Podgorze.
Ein rascher Befehl seines Führers, und der Zug trat den Rückweg an, in der Hoffnung, die Stadt vor den Kaiserlichen zu erreichen und die Brücke noch gewinnen zu können.
Auf den Anhöhen rechts von Podgorze angelangt, konnte der Sendbote schon den Sturm auf die Stadt und das siegreiche Vordringen der Truppen überblicken.
Die Kaserne war genommen, die Kirche besetzt, die polnischen Schützen, aus den Häusern vertrieben, jagten in ungeordneter Flucht der Brücke zu.
Grimm und Schmerz erfüllten bei diesem Anblick die Seele des Emissärs.
»Vorwärts! Mit Gott vorwärts, wir schlagen uns durch, wir erreichen noch die Brücke. Mut!« rief er den zögernden Priestern zu. »Ihr habt nichts zu fürchten. Die man zum Sturme zwingt, folgen widerwillig. Es sind Galizier, sie schießen nicht auf ihre Landsleute, schießen nicht auf geweihte Priester!«
Er befahl, ein geistliches Lied anzustimmen, und in majestätischer Ordnung, langsam und feierlich, kam die Prozession die Anhöhe herab. Der Emissär schritt voran im Bauernkleide, sein heller Kaftan schimmerte in der anbrechenden Dämmerung, in der Hand hielt er ein kleines schwarzes Kreuz.
Ungehindert gelangte der Zug durch den noch unbesetzten Stadtteil bis zur Kirche. Hierher aber war schon eine Kompanie vorgedrungen, die den Weg zur Brücke versperrte.
Der Emissär machte halt.
»Seht eure Brüder!« sprach er die Soldaten an und deutete auf die Scharen, die ihm folgten. »Auch ihr seid Polen. Keinen Kampf, Brüder – gebt Raum!«
Schweigen antwortete ihm. Noch einmal begann er die Soldaten zu beschwören – da ertönte das Kommando: »Fällt das Bajonett!«
Mit einem Blick der Verzweiflung sah Dembowski sich um.
Die Geistlichen und Mönche waren zurückgewichen. Seine Getreuen jedoch und die Schützen drängten sich um ihn.
»Kein Ausweg . . . Schießt – und vorwärts!« rief er plötzlich mit wilder Entschlossenheit und drang auf die Soldaten ein.
Zwei Dechargen erwiderten den unerwarteten Angriff.
Nach der ersten sah man Dembowski noch aufrecht stehen, das Kreuz hoch über seinem Haupte schwingend.
Nach der zweiten sank er, in den Kopf getroffen.
Rosenzweig erfuhr den Tod des Sendboten durch den Kreishauptmann, der seinen Bericht mit den Worten schloß: »So mußte ein Wahnsinniger enden.«
Die Prophezeiung Nathanaels traf ein, der idealste Vertreter der Revolution erfuhr den einstimmigen Tadel und Hohn aller Parteien, sein Andenken verlöschte auch bald im Volke.
Seine Leiche war unter denen der in Podgorze Gefallenen nicht aufgefunden worden, und eine Zeitlang erhielt sich das Gerücht, er sei nicht tot, er lebe versteckt als Bauer und werde beim Ausbruch neuer Freiheitskämpfe auf deren Schauplatz erscheinen.
Als jedoch die Stürme des Jahres 1848 aufstiegen und verbrausten, ohne ihn aus seiner vermeintlichen Verborgenheit gelockt zu haben, erlosch auch in denen, die sie am längsten genährt hatten, die Hoffnung auf seine Wiederkehr.
Es war zu Ende der fünfziger Jahre, an einem milden Septemberabend, in einem Dorfe unweit der schlesischen Grenze. Vor der Schenke hielt eine gedeckte Britschka, der ein Paar tüchtige Braune vorgespannt waren. Behaglich, ohne Eile, wie es guten Fressern geziemt, ließen sie sich den Inhalt einer vor ihnen aufgestellten Futterkrippe schmecken. Der Kutscher, ein ältlicher Mann, so wohlgenährt wie seine Pferde, hatte sich auf die Bank vor dem Hause gesetzt, dampfte aus einer kurzen Pfeife und machte sich ein Vergnügen daraus, die Fragen der hübschen Wirtsmagd mit einer schelmischen Zurückhaltung zu beantworten, die darauf abzielte, ihre durch die Ankunft völlig fremder Gäste ohnehin erregte Neugier noch zu spannen.
»Ihr fahrt wohl recht weit über Land?« fragte sie.
»Weiter, als du denken kannst«, erwiderte er.
»Vielleicht gar ins Ungarn hinein?«
»Pah! Das wäre ja nur ein Katzensprung!«
Das Mädchen stemmte den Arm in die Seite und lachte: »Die möcht ich sehen, die Katz, die so springen könnt!«
»Bei uns zu Haus gibt's ihrer genug. Komm du nur hin, dann wirst sie sehen.«
»Ei, so was! . . . Aber wo ist denn Euer Zuhaus?«
»Wo?« Er deutete mit der Hand nach drei verschiedenen Richtungen: »Da – und da, und dort.«
»Geh weg, du spaßest.«
»Frag meinen Herrn, wenn du mir nicht glaubst.«
»Ja, just«, spottete sie, »fragen – so einen Herrn!«
»Fürcht'st dich?« Er zwinkerte sie verschmitzt an. – »Hast es schon weg, daß er ein Hexenmeister ist?«
Sie schlug rasch und verstohlen ein Kreuz: »So? Das hätt ich ihm nicht angesehen.«
»Ja, ein gar großer Hexenmeister. Macht die Kranken gesund, macht die Toten lebendig.«
»Die Toten? . . .« Das Mädchen schauerte.
»Die Halbtoten also. Zu so einem sind wir grad auf dem Weg.«
»Da kommt ihr ja zu spät, wenn ihr noch lange zu fahren habt.«
»Wir kommen nie zu spät. Der Herr sagt nur: Wart! – und der Tod wartet.«
»So? – Hat dein Herr auch eine Frau?«
»Eine Frau hat er nicht, aber mehr als hundert Kinder.«
»Was du sagst!« und wieder lachte sie hellaut auf.
Derjenige, der den Gegenstand dieses Gespräches bildete, war ein Greis von kräftiger Gestalt. Er trug eine Reisekappe und einen langen, auf der Brust leicht verschnürten Rock. Den unteren Teil des markigen, dunkelfarbigen Gesichtes bedeckte der Bart, weiß und dicht wie die Haare, und wallte, in zwei mächtige Strähne geteilt, fast bis zum Gürtel herab. Der Alte, die Hände auf dem Rücken, stand am jenseitigen Ufer des Teiches, der sich auf eines Steinwurfs Entfernung vom Wirtshaus befand und ein langgestrecktes Oval bildete, an dessen einem schmalen Ende knorrige, ganz schiefgewachsene Weiden ihre Zweige zu seinem trüben Spiegel niedersenkten, während das andere sich sanft gegen die ansteigende Dorfstraße verflachte.
Der Teich war alles in allem: Badeort für die Jugend, Waschanstalt für die Hausfrauen, See für das schwimmtüchtige Geflügel, Schwemme für die Pferde. Am Werktagabend ging es in seiner Umgebung lebendig zu. Große und kleine Knaben, barfüßig, die Hosen übers Knie gezogen, ritten ihre Pferde ins Wasser, bewundert und beneidet von den Kindern, die am Ufer standen oder saßen, die meisten als ziemlich lässige Hüter jüngerer Geschwister. Männer und Weiber kehrten vom Felde heim, und von weitem schon angekündigt durch die Töne eines schallenden Gesanges, kam eine Mädchenschar, Rechen und Sicheln tragend, ins Dorf gezogen.
Unter den am Teiche spielenden Kindern war eines, das die besondere Aufmerksamkeit des Fremden erregte. Ein Bürschlein von etwa sechs Jahren, mit sehr lieblichem, aber blassem Gesichtchen. Seine schlichten blonden Haare, im Nacken lang, über der Stirn gerade geschnitten, quollen reich unter dem Mützchen hervor. Er hatte tiefliegende, blaue Augen, eine schmale, leicht gebogene Nase und einen feinen, ausdrucksvollen Mund. Nach der Beschaffenheit seines Kaftans und seiner Stiefel zu schließen, gehörte er wohlhabenden Eltern an.
In der offenen Tür eines der nächstgelegenen Häuser war ein junges hübsches Weib mit einem Kind auf dem Arm erschienen und rief dem Knaben zu: »Jasiu, der Vater kommt.«
Da machte das Bübchen einen Luftsprung, ließ seine Spielgefährten und rannte dem Angekündigten entgegen. Der blieb stehen, beugte sich und lachte, als sein Junge in vollem Laufe an ihn anprallte. Er rückte ihm die verschobene Mütze zurecht, nahm seine Hand und schritt mit ihm weiter.
Es war ergötzlich, sie daherkommen zu sehen, den Bauern und das Bäuerlein, das zweite in Haltung, Gang, Gestalt und Kleidung das verkleinerte Ebenbild des ersten.
Sie näherten sich, und der Fremde bemerkte auf dem Gesicht des Bauers die entstellenden Spuren einer schweren Verwundung. Die rechte Wange war eingefallen und von Narben zerrissen, das rechte Auge geschlossen.
Auch ein Veteran der letzten Kämpfe, dachte der Greis und heftete den Blick immer aufmerksamer auf den Herankommenden. Ein märchenhaft wunderlicher Einfall durchzuckte ihn. Plötzlich machte er ein paar rasche Schritte, stand dicht vor dem Bauer, starrte ihn an und rief: »Ist es möglich?!«
Überrascht wich jener zurück, aber nur, um schon im nächsten Augenblick auf ihn zuzustürzen.
»Sie! O Gott, Sie – Doktor Rosenzweig!« sagte er mit einer Stimme, deren Wohllaut unvergessen in der Erinnerung des Alten gelebt hatte. Früher als dieser gewann er seine Fassung wieder: »So habe ich Sie nicht umsonst erwartet, nicht vergeblich gehofft, daß Sie auf einem Ihrer Samariterzüge den Weg durch unser Dorf nehmen würden, um –« fügte er mit Rücksicht auf das Publikum, das sie umgab, hinzu – »Ihren Diener Hawryl zu besuchen.«
»Hawryl –« stammelte Rosenzweig, »Hawryl also . . . Wie geht's, Hawryl?«
»Überzeugen Sie sich selbst. Erweisen Sie mir die Ehre, in mein Haus einzutreten, ruhen Sie ein wenig aus unter meinem Dache.«
Schweigend, noch ganz betäubt, folgte der Doktor dieser Einladung und ließ sich zu dem Hause geleiten, auf dessen Schwelle die junge Frau stehengeblieben war und sich bemühte, das kräftige Kind in ihren Armen, das dem Vater jauchzend und mit ausgestreckten Händchen entgegenstrebte, festzuhalten.
»Mein liebes Weib, Herr Doktor«, sprach Hawryl, und zu ihr gewandt: »Heiße ihn willkommen, Magdusia, einen werteren Gast kann uns der Himmel nicht schicken.«
Ihr Gesicht spiegelte die Freude, die sich auf dem ihres Mannes malte, rein und innig wider: »Seien Sie schön gegrüßt, Herr«, sagte sie und lachte ihn mit ihren großen Augen treuherzig an.
Nathanael war wie im Traum. Erst in der Stube, allein mit Hawryl, begann er sich von seinem Staunen zu erholen: »Sie leben! – Mensch, Sie leben! Ist das auch wahr, daß Sie leben? Aber wenn es wahr ist, so stehen Sie doch nicht so gleichgültig da –«
»Gleichgültig?« rief Hawryl.
»So reichen Sie mir doch die Hand!«
Zum zweitenmal hielt er sie in der seinen – eine andere als damals, eine derb gewordene Hand, deren Besitzer den Bauer nicht nur spielte.
Sie nahmen Platz am Tische, der mitten in der freundlichen Stube stand, und lange dauerte es, bevor Hawryl, immer von neuem durch die verwunderten Ausrufungen des Doktors unterbrochen, die seltsame und doch so einfache Geschichte seiner Rettung erzählen konnte.
Zunächst schrieb er diese der Kleidung zu, die er trug, als er bei der Kirche in Podgorze verwundet wurde und für tot liegenblieb. Er war, da sich noch Leben in ihm fand, mit andern Landleuten und Soldaten ins Spital nach Krakau gebracht worden. Dort hatte er das Bewußtsein wiedererlangt, bald aber auch die Überzeugung, daß der Arzt, der ihn behandelte, ihn keineswegs für einen Bauer hielt. Später verrieten ihm einige wie absichtslos hingeworfene Worte desselben, daß er von ihm als der erkannt worden, der er war.
Am Tage, an dem man ihn für geheilt erklärte, kam der Direktor, ein Pole – man hatte die Spitalsleitung noch nicht gewechselt –, in die Rekonvaleszentenstube.
Der Agitator sah diesen Mann damals zum ersten und letzten Mal in seinem Leben.
»Du heißest Hawryl Koska«, sagte er zu ihm, »bist ein aus dem Königreiche zugereister Untertan des Grafen Branski, der dich nach seiner galizischen Herrschaft, auf ein Bauerngut, übersiedelt. So lese ich in deinem Passe. Ist das richtig?«
Und ohne seine Antwort abzuwarten, reichte er ihm einen auf den Namen Hawryl Koska lautenden, mit einer auf ihn passenden Personalbeschreibung versehenen Paß, wandte sich an seinen Nachbar und ließ den Umgetauften stehen. – –
»In der verworrensten Gemütsstimmung, Freund«, rief Hawryl, »in der ein Mensch sich befinden kann. Ich hatte zuversichtlich erwartet, nach meiner Genesung vor Gericht gebracht und als einer der Unruhstifter erschossen zu werden, und mich auf den Tod vorbereitet wie ein gläubiger Christ. Und nun sollte ich leben. – Mein erstes Gefühl war das der Enttäuschung, mein erster Gedanke schon ein Gedanke des Hochmuts: Gott spart dich auf. Er will nicht deinen Tod, er will deinen Dienst. Das Werk, das zu beginnen du ausersehen warst, du sollst es auch vollenden . . .
Von dem stolzen Glauben erfüllt, trat ich ins Volk und wurde sein Genosse; scheinbar ein Gleicher unter Gleichen, in meinen eigenen, eitlen Augen – ein verkleideter Prophet . . . O Freund! ein einziges Jahr dieses Lebens, und der vermeinte Prophet war ein demütiger Mann geworden. Das für erreichbar gehaltene Ziel rückte in unabsehbare Fernen. Zu der Kirche, die ich mit einer herrlichen Kuppel krönen wollte, war der Grundstein noch nicht gelegt, ja, der Boden für ihn noch nicht ausgehoben! Nicht die Arbeit des Künstlers war zu tun, sondern die des bescheidenen Taglöhners.
Das erkannte ich.
Und nun – wäre ich nicht ein elender Wortheld gewesen, wenn ich es verschmäht hätte, mich an dieser Arbeit, dieser allerwichtigsten, zu beteiligen? . . . So griff ich denn zu Schaufel und Spaten – nicht bloß im bildlichen Sinn. Das Kruzifix, in dessen Zeichen ich dereinst zum Kampfe schritt – da hängt es über dem Bette meiner Kinder. O sehen Sie die ausgebreiteten Arme der Liebe, die verwundete Brust, das geneigte, edelste Haupt . . . Wer darf sich vermessen, in dieses Versöhners Namen aufzurufen zu Kampf und Streit?«
Er seufzte, aber sein Angesicht bewahrte den Ausdruck tiefsten, klarsten Friedens, und mit einem heitern Lächeln fuhr er fort: »So finden Sie den gefährlichen Agitator wieder. Ach, wenn ich an meinen Ausgang denke, an alles, was ich gehofft, was ich mir zugetraut habe – und jetzt! Vergnügt lege ich mich zur Ruhe und preise den Tag, an dem es mir gelungen ist, den Jan abzuhalten, sein Weib zu prügeln, oder den Martin, in die Schenke zu gehen, oder den Basil dahinzubringen, seinen alten Pflug in den Winkel zu werfen und mit dem neuen auf den Acker zu fahren.«
»Ihr Geheimnis aber«, fragte Nathanael, den Gang des Gespräches unterbrechend, »war das nie in Gefahr, verraten zu werden?«
»Der vorige Gutsherr hat es mit ins Grab genommen. Für seinen Nachfolger bin ich ein Bauer wie ein anderer.«
»– Ein Bauer! Ein Bauer! . . . Und so wollen Sie es forttreiben bis an Ihr Ende?«
»Bis an mein Ende und nicht glauben, damit etwas Großes getan, vielleicht kaum denen, mit welchen ich verkehre, mehr gegeben zu haben, als ich von ihnen empfing. Ich bin keineswegs immer ihr Lehrer, sie sind auch die meinen. In ihre Freuden mich zu teilen, vermag ich nicht, aber in Leid und Schmerz habe ich sie oft gefunden. Ich habe Bauern vor ihrem verhagelten Feld, ich habe Mütter an der Leiche ihrer Kinder stehen gesehen und Ehrfurcht gefühlt. Selten ist mir einer von ihnen verachtungswürdig erschienen, aber Hunderte unzählige Male beklagenswert.«
In seinem Auge leuchtete die alte schwärmerische Glut, seine gebräunten Wangen erbleichten vor innerer Bewegung: »Es ist ein Schatz an Geduld, Ausdauer, heldenmütiger Ergebung in einen höheren Willen in diesem Volke, den alle Mißhandlung, die es erfahren hat, nicht zu erschöpfen vermochte. Aber seines Reichtums unbewußt, streut es ihn aus und erwirbt nichts dazu. Die Einsicht fehlt und mit ihr das Wirken der tätigen, sittlichen Kräfte. Genug! Genug! das alles wissen Sie so gut wie ich, und somit auch, daß es vieles nicht Geringe zu tun gibt auf meinem geringen Posten. Ihn auszufüllen, reicht mein Können gerade hin. Hawryl Koska wird nicht umsonst gelebt haben. – Der Sendbote ist gestorben, ohne einen Jünger zu hinterlassen.«
»Einen doch!« rief Nathanael. »Einen, den Sie aus den Reihen Ihrer eifrigsten Gegner geholt. Einen Mann, dessen Zwecke irdischer Natur gewesen, dessen Herz an verlierbaren Gütern gehangen und den Sie den Wert der unverlierbaren kennen gelehrt haben. Sendbote! da steht er vor Ihnen, Ihr Jünger in weißen Haaren.«
Beide waren zugleich aufgesprungen, stürzten einander an die Brust und hielten sich fest umschlungen.