Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Gestern nach dem Theater kamen eine Menge Leute. Er war da, stiller und schweigsamer denn je. Er bekommt schon sehr bald einen anderen Posten und muß fort – wahrscheinlich nach Sarajewo.
Meine Freundinnen meinen, das sei für ihn gerade die rechte Station. Sie haben kein Herz – für einen Menschen, den sie unelegant finden, haben sie kein Herz.
Gräfin Albertine sprach lange mit dem französischen Sekretär, neben dem er stand. Ich hörte den Sekretär sagen, unsere deutsche Literatur, die sonst so reich ist, leide empfindlichen Mangel an Memoiren. Der Gräfin war das alles eins; sie erwiderte nur: »Ah!« und lächelte so freundlich, als ob man ihr die größte Schmeichelei gesagt hätte. Er aber, der mir so gut gefällt und den ich so hoch stelle, er, der so gescheit und patriotisch ist, sprach: »Das ist leider wahr.«
Also wahr! dachte ich, der Franzose hat recht – in mir reifte ein Entschluß.
Wenn ich nicht heirate – und ich heirate nicht, nie! –, sitz ich da und habe keinen Beruf. Wäre das nicht einer und ein ganz schöner, sich nach bescheidenen Kräften zu bemühen, einem empfindlichen Mangel abzuhelfen?
Ich will's versuchen. Mir ist ordentlich feierlich zumute. Mit Gott!
Am 15. Mai 1865 bin ich zur Welt und meinen Eltern recht ungelegen gekommen. Meine Schwester war schon Braut; mein Bruder bereitete sich auf die Maturitätsprüfung vor. Das ganze erste Jahr soll mich mein guter Papa nicht angeschaut haben. Ich machte mir aber nichts daraus und wurde groß und dick. Groß bin ich auch jetzt, aber dick, Gott sei Lob und Dank, nicht mehr. Und mein guter alter Papa, wenn er mich wirklich einstmals nicht gemocht hat, jetzt verspürt man davon nichts mehr. Alles tut er mir zuliebe, und ihn erst um Erlaubnis zu bitten, habe ich mir nachgerade abgewöhnt; ich bekomme ja doch keine andre Antwort als: »Do whatever you like.«
In meiner Kindheit war ich fast immer allein, erst mit einer Kinderfrau, dann mit meiner Gouvernante, die ein Engel war und auch von irdischen Dingen nicht viel mehr gewußt hat als ein Engel. Von der Botanik, unter anderem, wußte sie eigentlich nichts. Fragte man sie, wie der Rittersporn auf französisch heißt, gab sie zur Antwort: »C'est le coucou bleu«, und die Butterblume war bei ihr »le coucou jaune«, und das Blümchen Augentrost war »le coucou blanc«. Sie hielt alle Blumen, namentlich die Feld- und Wiesenblumen, für »coucous« von verschiedenen Farben. Übrigens hatte sie ein Recht, bei meinem Unterricht nicht allzu gründlich vorzugehen, und berief sich oft darauf, daß mein lieber, teurer Papa sie mit der ausdrücklichen Bedingung engagiert habe, er wünsche für seine Tochter eine gute »oberflächliche« Erziehung. Die ist mir denn auch zuteil geworden.
So habe ich lange Zeit geglaubt, die Weltgeschichte zu kennen, von einem Ende zum andern. Da bemerke ich auf einmal, daß mir Madame Duphot auf Wunsch Mamas ein ganzes Zeitalter eskamotiert hat – das der Reformation. Sie wollten vor mir den Luther geheimhalten! Ich habe ihn aber entdeckt – im elften Bande von Schlossers Weltgeschichte, der zufällig vergessen wurde und liegenblieb, als man sich entschloß, mit den alten Büchern meines Bruders aufzuräumen, und alle zum Antiquar spedierte.
Verzeih mir's Gott, wenn ich eine schlechte Katholikin bin, aber ein solches Scheusal scheint mir der Doktor Luther nicht zu sein, daß man von ihm nichts wissen dürfte. Eine so freigeistige Ansicht sprach ich natürlich vor meiner frommen Duphot nicht aus; um ihre Ruhe wäre es geschehen gewesen, und sie hätte alle ihre armen Moneten hingegeben, um Messen lesen zu lassen für mein bedrohtes Seelenheil. Dem Herrn Kaplan jedoch, dem hab ich's gestanden in meiner nächsten Beichte. Er hat mir ein Bußgebet mehr aufgegeben als sonst – das war alles. An seiner gewohnten Ermahnung änderte er nichts, auch nicht den Satz, mit dem er immer schloß: »Und dann sagen Sie: Lieber Gott, ich danke dir für alle Gnaden, die du mir erweisest und meiner hohen Familie.«
Ich habe das von jeher sonderbar gefunden und eigentlich nicht passend zu dem Tone, in welchem wir zu Gott sprechen sollen, der von »hohen« Familien nichts weiß, vor dem wir alle gleich sind.
Dieser Punkt war nicht der einzige, in dem der Herr Kaplan mir Gelegenheit gegeben hat, mich über ihn zu wundern. Er hatte in wissenschaftlichen Dingen Ansichten, die niemand mit ihm teilte, außer höchstens Madame Duphot und ich, und selbst wir nur eine Zeitlang.
Ein Beispiel!
Meinen Unterricht in der Geographie erhielt ich von ihm, und wir fingen gleich bei der mathematischen an, weil das die schwerste ist und, wenn man sie einmal im Kopfe hat, alles übrige einem ganz leicht vorkommt. Da teilte unter anderem der Herr Kaplan uns mit: »Am Nordpol ist es kalt, und am Süd-« – freilich sprach er »Sied« –, »am Südpol, meinetwegen, heiß.« Im Augenblick leuchtete uns das ein. Nachträglich aber stiegen in mir Zweifel auf, denn ich ersah aus meiner Sprachlehre, daß »Süd« und »Sieden« miteinander gar nichts zu tun haben.
Nun habe ich genug von meinen Studien gesprochen und gehe über zu meinem Familienleben.
Es war das glücklichste. Wenn's Frühjahr ward, zog ich mit meiner Duphot nach Trostburg auf das Land, und zur Jagdzeit kamen meine Eltern auf mehrere Wochen dahin.
Lange bevor die Sonne aufgeht, wird es schon licht, und lange bevor ich meine Angebeteten da hatte, war mir die Seele hell vor freudiger Erwartung. Nach ihrer Ankunft konnte es natürlich nicht genauso zugehen, wie ich es mir eingebildet hatte. Die vielen Gäste, die fast zugleich mit ihnen einzogen, nahmen sie sehr in Anspruch, und gingen die Gäste, dann gingen auch sie. Wir begleiteten sie zum Wagen, Madame Duphot und ich. Papa umarmte mich mit innigster Zärtlichkeit, und Mama erlaubte mir, ihr das kleinwinzige Hündchen nachzutragen, von dem sie sich niemals trennte. Unter dem Vorwande, es ihr auf den Schoß legen zu müssen, stieg ich in den Wagen, nahm sie um den Hals und küßte sie nach Herzenslust. Man kann sich denken, ob das wenig war! . . .
Sie fuhren fort, und Mama winkte mir eine Weile noch zurück mit ihrer lieben Hand. Wenn ich sie vom Hofe aus nicht mehr sehen konnte, lief ich ins Turmzimmer und wartete am Fenster, bis die Equipage, nur noch so groß wie ein Würmchen, im Hohlwege erschien, durch den sie fahren mußte, um zur Eisenbahnstation zu gelangen. Und noch eine halbe Stunde, und eine dicke weiße Wolke glitt am Horizont vorbei und löste sich langsam in Flocken und Streifen auf. Und jetzt wußte ich: Sie sind fort; diese Wolke hat der heiße Atem der Lokomotive, mit dem mein Liebstes auf Erden davonsaust, in die Luft geblasen.
Nach einem solchen Abschied habe ich immer noch bis zehn Uhr – tief in die Nacht hinein, wie ich damals meinte – in meinem Bette geweint, am nächsten Morgen aber schon angefangen, mich zu freuen auf das Wiedersehen in Wien.
Dort ging es mir noch viel besser. Papa kam sehr oft auf mein Zimmer, mich zu besuchen; Mama ließ mich in den Salon rufen, wenn fremde Leute da waren, die mich zu sehen wünschten; fast täglich begegneten wir uns im Prater, und – Gott weiß es! – etwas Angenehmeres konnte mir nicht begegnen. Auch Mama freute sich immer; um so mehr, je hübscher ich angezogen war. Ich bemerkte, daß sie mich am liebsten hatte, wenn ich mein graues mit Pelz verbrämtes Sammetkleidchen trug. Fiel es meiner guten Duphot einmal ein, mir ein anderes herrichten zu lassen, machte ich ihr Verzweiflungsszenen.
An einem Frühlingstage, einem sehr warmen – nie vergeß ich ihn, denn es war just an meinem zehnten Geburtstage –, hatte ich denn wieder, ganz gegen Madame Duphots bessere Überzeugung, das Pelzgewändlein durchgesetzt. Ich glühte nur so darin und meinte vor Hitze zu vergehen, aber – mit Entzücken!
Im Wäldchen neben der Allee spielte ich mit anderen Kindern und lugte dabei beständig nach Mama aus, an die ich in einem fort dachte . . . Endlich kam sie mit einigen Damen und Herren, und ich zeigte sie meinen Freundinnen und rief mit ungeheurem Hochmut: »Seht – das ist meine Mama, die größte, die schönste von allen Mamas!«
Die Kinder guckten und staunten; nur ein naseweises Ding, mit dem ich überhaupt schon oft Zank gehabt hatte, sprach: »Ja, wenn sie nicht so alt wäre! Meine Mama sagt, daß die deine alt ist und schon eine Menge Falten hat, bei den Augen.«
Das hören und mich auf sie stürzen und ihr einen Puff versetzen, das war bei mir eins. Sie natürlich schlug zurück, und das Duell war fertig. Unsere Gouvernanten trachteten umsonst, uns zu trennen; sie richteten nichts aus, sondern erwischten nur hier und da einen Faustschlag, den eine von uns zweien der andern zugedacht. Plötzlich ruft mich meine Mama, und ich vergesse alles, Zorn, Duell und Gegnerin, und renne in die Allee, wo sie steht, mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
Sie weist mich zurück, mit einem Blicke, der mich förmlich festbohrt an meine Stelle, und sagt: »Comme vous voilà faite!«
Da habe ich meine gute Mama zum ersten Male böse gesehen. Sie stellte Madame Duphot, die im Hintergrund knickste, zur Rede, warum ich meine neue Frühlingstoilette nicht benütze, schritt vorbei, und wir vernahmen die Worte: »Sie sind unglaublich, diese Gouvernanten!«
Und ich, und ich! ich hätte weinen mögen aus Mitleid mit meiner Duphot und aus Beschämung für mich selbst – weinen, aber Feuerfunken wie jene Königin Shakespeares, von der ich damals freilich noch nichts wußte.
Drei Tage lang wagten wir uns nicht in den Prater.
So wuchs ich auf.
Von Jahr zu Jahr verlängerten meine Eltern ihren Aufenthalt in Trostburg, und jetzt verlassen sie es den ganzen Sommer nicht mehr. Das Leben meiner geliebten Mutter ist nur noch eine Reihe von guten Werken. Sie behandelt die Kranken im Dorfe homöopathisch und hat schon wunderbare Kuren gemacht. Sie hat eine Krippe errichtet und auch ein Korrektionshaus, in dem die Arbeitsscheuen Beschäftigung und die Nichtsnutzigen strenge Zucht finden. Alles sehr praktisch – schade nur, daß man die Leute nicht zwingen kann einzutreten, und von selbst gehen sie nicht.
Meine Duphot ist nun in ihrem Elemente. Sie begleitet die Mama täglich zweimal zur Kirche, liest ihr aus frommen Büchern vor und besorgt die homöopathischen Verdünnungen. Und ich leiste derweilen dem Papa Gesellschaft. Dieser gute Papa – er ist so gut!
Wir unternehmen weite Ritte zusammen; in früherer Zeit gingen wir auch zusammen auf die Jagd, und es machte ihm Vergnügen, wenn ich einen Hasen niederknallte – mehr als mir. Was mich betrifft, so könnten alle Hasen am Leben bleiben, auf Kosten der jungen Anpflanzungen und des Kohls. Im vorigen Herbst hat sich jedoch etwas zugetragen, das mir die Jagd für ewige Zeiten verleidete.
Im Tiergarten wurde der Wildstand vermindert, und es sollten denn auch einige Geißen abgeschossen werden. Papa, der für kurze Zeit verreisen mußte, betraute mich mit der Kommission. Er glaubte mir eine große Freude zu machen, und ich hatte nicht das Herz, ihm zu gestehen, daß es mir gar keine war.
So wanderte ich denn eines Nachmittags mit dem Förster und mit meinem Stutzen in den Tiergarten hinaus, das heißt, eigentlich hinein in seine zahme Wildnis, seine grüne Dämmerung. Auf dem moosbewachsenen Pfade, von dem aus ich so oft das Wild belauscht hatte, wenn es zum Wasser kam, erreichten wir den Weiher, umgingen ihn und sahen durch die Lichtung am anderen Ufer eine Geiß aus dem Gehölz auf die Halde treten. Sie streckte den schlanken Hals, hob schnuppernd das Haupt und schritt dann langsam vor.
»Das ist die rechte, die Schmalgeiß«, raunte mir der Förster zu. »Schießen, gut hinhalten, nicht fehlen!«
Die Wangen zitterten ihm vor Aufregung; seine alten grauen Augen waren voll Mißtrauen gegen mich. Und mich ergriff's mit heißer Hast und überrieselte mich zugleich eiskalt; mein Finger bebte am Stecher; ich wußte nur, daß ich zielte. Plötzlich fiel der Schuß . . . »Getroffen!« jauchzte der Förster und rannte mir voraus. Ich ging langsam nach; mein Herz pochte so stark, daß ich nicht laufen konnte.
»Mitten ins Blatt!« rief mir der alte Waidmann von weitem zu. »Ein kapitaler Schuß! Ich gratuliere!«
Er war völlig trunken von meinem Ruhme, schwang seinen Hut und bat sich den meinen aus, um ein Fichtenreis daranzustecken. Während er damit beschäftigt ist und ich still dastehe und die weitgeöffneten Augen des schönen jungen Tieres betrachte und sein sanftes kleines Haupt, erscheint am Rande des Gehölzes – ein Kitzlein . . .
»Bayer«, sag ich, »um Gottes willen!« Und der Förster stiert hin: »Sapperment, hat die schon ein Kitz gehabt! Hätt ich das gewußt!«
Das Kitzlein aber nähert sich uns vertrauensvoll und furchtlos. Die Menschen, vor denen eine Mutter so ruhig im Grase liegenbleibt, die werden ihm nichts tun, meint es und kommt und stößt mit seiner feuchten, glänzenden Nase die Mutter an und geht dann ruhig hin und trinkt und saugt die letzte Nahrung aus dem gewohnten Quell, und wie er nicht mehr fließen will, durchaus nicht, läßt es endlich ab, wendet sich und schaut fragend und erstaunt die Mutter an und uns . . . Schaut so unschuldig, wie nur ein Tier schauen kann . . .
Der Förster hat es in seine Arme genommen und nach Hause getragen. Der schönste Platz im Fichtenhain ist für das Kitzlein eingehegt worden; es hat eine Hütte gehabt und darin ein weiches Lager aus Moos und Heu. Ich habe meine Tage bei ihm zugebracht; ich hatte im Leben noch nichts so sehnlich gewünscht, als daß es sich an mich gewöhne, sich nicht mehr vor mir fürchte. Aber in der Freiheit arglos, scheu und voll Mißtrauen in der Gefangenschaft – hat es sich nicht gewöhnt; es hat sich immer gefürchtet, es ist gestorben.
Als mein guter Papa nach Hause kam, sagte ich ihm, daß ich nie mehr auf die Jagd gehen werde. Er lachte mich aus; ich geriet in Eifer und rief: »Du solltest es gar nicht von mir verlangen! Wenn ich heirate und bekomme eine Tochter, und sie fände Freude daran, auf etwas Lebendiges zu schießen, untröstlich würd ich sein!«
»Red nicht solchen Unsinn! Ich glaube, du bist närrisch!« erwiderte Papa und setzte in bittendem Tone hinzu: »Und überhaupt: speak english!«
Jetzt werde ich von meinem geliebten Papa sprechen.
Ihn so recht deutlich zu beschreiben, daß jeder, der diese Memoiren liest, ihn vor sich zu sehen und zu kennen meint, vermag ich nicht; nur anzudeuten will ich suchen, wie er ist und wie sein Verhältnis zu mir ist.
Er hat im Grunde recht viel an mir auszusetzen, findet mich zu laut und zu lustig und findet doch auch wieder, daß ich zuviel im Zimmer hocke und lese. Eine gelehrte Frau, sagt er, das ist die größte von allen Kalamitäten. Er hält die Gelehrsamkeit für ein zudringliches Wesen, das einem gleich an den Hals springt, wenn man ihm nur die geringsten Avancen macht. Ich muß ihn immer trösten und versichern, daß ich meine Bibliothek von einem Ende zum andern auswendig wissen könnte und doch keine Gelehrte wäre. »Geb's Gott!« pflegt er zu antworten. »Der Kopf der Frau soll in ihrem Herzen sitzen; aus dem Herzen, aus dem Gemüt muß bei der Frau alles kommen.«
Weil er das gar zu oft wiederholt, habe ich ihm gestern eingewendet: »Es muß kommen, sagst du, es kommt aber nicht. Es gibt Dinge, die auch eine Frau nicht aus den Tiefen ihres Gemütes schöpfen kann. So hat neulich Baron Schwarzburg von Livland gesprochen, und ich habe nicht gewußt, wo das liegt, und mein Herz hat es mir nicht gesagt.«
Aber ich greife den Ereignissen vor.
In meiner Bibliothek gibt es kein einziges schönes Buch, das mir nicht derselbe Papa geschenkt hätte, der stets gegen die »Bücherpassion« eifert. »Schön« meine ich hier noch mehr in bezug auf das Äußere als auf das Innere. Heil mir, daß es prachtvolle Einbände gibt und unwiderstehliche Illustrationen! Heil mir, daß du gelebt und gezeichnet hast, Gustave Doré! Dir verdanke ich eine der Perlen meines Schreins, dir auch allein, daß mein geliebter Vater beinahe ein Bücherwurm geworden ist – in der Art nämlich, in der ich eine Gelehrte bin.
Der edle Jünger von der Mancha war's, der es ihm zuerst angetan. Im Anfange hatten die Bilder ihn bestrickt, und ihnen zu Ehren erhielt ich das Buch. Das bißchen Text, obwohl nicht einmal englisch, ging so mit in den Kauf. Die größte Überraschung dabei erlebte ich. Ich hatte mich nur für ein Bilderbuch bedankt, und welcher Schatz war in meinen Besitz gekommen! Ich vermochte meine Wonne darüber nicht für mich allein zu behalten, sondern erzählte Tag für Tag dem Papa, was ich gelesen hatte, und Tag für Tag wuchs sein Interesse an dem Ritter Dulcineas. »Was hat er heute wieder getan, der Esel?« fragte er, und eine Weile ließ ich den »Esel« gelten. Nicht allzu lange. Bald lachte ich nicht mehr, sondern zerschmolz vor Mitleid, brannte vor Bewunderung; ich liebte den immer Getäuschten und nie Enttäuschten, den stets Überwundenen und nie Besiegten und erklärte meinem Vater, daß ich mir kein besseres Glück wünsche, als dereinst einem Don Quijote im Leben zu begegnen und seine Frau zu werden.
Gleich verlangte Papa nach einem andern Buche, weil mich dieses zu sehr exaltiere. Und von nun an legte er sich's auf, über meine Lektüre zu wachen, und tut zu dem Ende, was er sonst nie getan – er liest; und etwas Liebenswürdigeres als die Hingebung und Versunkenheit, die sich dabei in den großen Zügen seines edlen Wallensteingesichts, in jeder Falte seiner Stirn ausspricht, kann man nicht sehen. Manchmal seufzt er und wickelt den Zwickelbart mit förmlicher Wut um den Zeigefinger; der Zwicker sitzt nach und nach ganz schief, die Augen beginnen zu schielen und werden rot von der ungewohnten Anstrengung. Ich halte es nicht mehr aus; ich stehe auf, nähere mich, küsse ihn so leise auf die Schulter, daß er leicht tun kann, als ob er nichts bemerkt hätte, und sage: »Gehen wir ein wenig spazieren, Papa; man wird ganz steif vor lauter Dasitzen.«
»Auf Ehre, ich spür's auch«, sagt er, und mir tut's wohl, wie er sich emporrichtet und völlig befreit aufatmet. Doch folgt er nicht ohne weiteres meiner Einladung; erst wird das Merkzeichen bedächtig eingelegt. »So, bis hierher.« Er nimmt die durchlesenen Blätter zwischen seine flachen Hände: »Wird es dir nicht zuwenig sein?«
Und ich, indiskret, undankbar wie ich sein kann, habe mich schon öfters so weit vergessen, zu antworten: »Oh, viel zu wenig; das ist ja beinahe nichts. Du mußt mir erlauben weiterzulesen, Papa.«
Er schließt das Buch und schüttelt langsam den Kopf, sieht mich an, geht mit sich zu Rate, sieht mich wieder an, und nun ist's entschieden: »Do whatever you like!«
Da flieg ich ihm in die Arme, daß er sich meiner nicht erwehren kann. »Nein, nein, nur was du likest, nicht was ich like, wird geschehen, heute und immer!«
»Du hättest mir das ebensogut ganz auf englisch sagen können«, erwidert er.
O mein geliebter Papa!
Im vorigen Jahre brachte meine Schwester, zum ersten Male seit ihrer Verheiratung, den Winter in Wien zu. Wie die Sage ging, hatte ihr Mann schon auf der Hochzeitsreise erklärt, sie dürfe nicht hierher zurückkommen, bevor er ihr die »Komtessenmanieren« ausgetrieben haben würde.
Er ist ein langer, kalter, stolzer Mensch, der kaum zwanzig Worte spricht an seinen geschwätzigen Tagen. Woran er wirklich Freude hat, das möcht ich wissen. Zu zeigen vermag er nur einiges Interesse für sein Palais, seine Equipagen, die Livreen seiner Leute und die Toiletten seiner Frau. Sie macht Witze darüber, recht gute; aber mir scheint, sie sollte das lieber in seiner Gegenwart tun als hinter seinem Rücken. Kinder haben sie leider nicht, was für mich sehr traurig ist; denn ich wäre so gern eine gute Tante geworden.
Zu den Bällen, die meine Schwester und mein Schwager geben, sollte ich erst nach meinem Eintritt in die große Welt geführt werden; zu den Soireen in der Fastenzeit nahm Papa mich schon im vorigen Jahre öfter mit. Ich lernte viele Menschen kennen, und was mir am meisten auffiel, war bei der Quantität die Gleichartigkeit der Qualität. Mit siebzehn Jahren fängt man doch schon an zu denken, und so dachte ich mir: Wenn man die Seelen aller dieser Damen und Herren – besonders der Herren – ihrer Körper entkleiden und frei herumlaufen lassen könnte, so wäre es mir nicht möglich, eine von der andern zu unterscheiden.
Ordentlich komisch waren mir die Konversationen. Ich konnte mir's an den Fingern abzählen; sooft die alten Fragen: »Werden Sie im nächsten Fasching in die Welt gehen?« – »Tanzen Sie gern?« an mich gestellt wurden, so viele Herren hatten sich mir vorstellen lassen; keiner war mir auch nur im geringsten anders als die andern vorgekommen. Da ließen mich eines Vormittags Papa und Mama in den Salon rufen, den kleinen, style Empire, weiß mit gold. Meine Mama saß auf dem Kanapee und strickte Pulswärmer für die Sträflinge. Sie trug ein schlohweißes Häubchen und ein Morgenkleid aus weißem Schalstoff und sah aus wie eine Königin und wie eine Heilige. Papa saß neben ihr in einem Fauteuil, kerzengerade und in großer Gemütsbewegung, die man ihm leicht anmerkt, weil er da immer so stark blinzelt. Meine Duphot hatte sich in ihrer unverwüstlichen Bescheidenheit wieder das kleinste Taburett mit den allerdünnsten Beinen ausgesucht, und der Anblick der korpulenten alten Frau auf dem filigranen Untersatz war geradezu atemraubend.
»Ist's gefällig, sich zu placieren?« sprach Papa mich an, in gezwungen scherzhaftem Tone, und ich placierte mich denn möglichst nahe zu meiner Duphot, um ihr gleich beispringen zu können im Falle einer Katastrophe.
Die Mienen meiner Eltern wurden immer feierlicher; mich ergriff eine große Bangigkeit, und in aller Eile erforschte ich mein Gewissen . . . Es war rein, gottlob, sonst wäre mir übel zumute gewesen.
Mein Vater blickte meine Mutter erwartungsvoll an: »Nun, Caroline, willst du so gut sein?«
»Ich dachte, du wolltest . . .« erwiderte meine Mutter.
»Nicht doch, ich bitte dich«, sagt er – und sie faßt einen Entschluß, läßt die Hände mit dem Pulswärmer in den Schoß sinken und spricht zu mir: »Paula, du bist nun ein erwachsenes Mädchen – fast achtzehn Jahre . . .«
»Und siehst aus wie zwanzig«, ergänzt Papa, und meine Duphot flicht eine Bejahung ein, ist scharlachrot und wankt auf ihren Zahnstochern.
Meine Mutter fährt fort: »Im nächsten Jahre, liebes Kind, sollst du in die große Welt eingeführt werden.«
»Ich freue mich darauf, liebe Mama.«
»Freust dich, weil du nicht weißt, wie karg und nichtig im Grunde die Vergnügungen sind, die dich dort erwarten, und wie teuer man sie erkauft.«
»Ja, ja«, bestätigte Papa, »und man muß sich fragen wozu, was ist denn der Zweck?«
Mama fiel ihm ins Wort: »Schließlich kein anderer als der, sich zu erproben und zu dem Bewußtsein zu gelangen, que le jeu ne vaut pas la chandelle. Man macht das Spiel mit, liebe Paula, weil es so üblich ist.«
»Und sehr amüsant, Mama, und weil man jung ist und gern tanzt!«
Sie nickte: »Aber die Erkenntnis der Schalheit bleibt bei denkenden Menschen nicht aus, und dann wenden sie sich dem Ernst des Lebens zu und bereuen oft bitter die verlorene Zeit. Ich frage dich nun: Wäre es nicht besser, sich das Spiel ganz zu ersparen und gleich mit dem Ernst zu beginnen?«
»Es ist nur eine Frage«, sprach Papa mit unendlicher Güte, und ich las in seinen Worten den stummen Nachsatz: Do whatever you like!
»Jawohl, nur eine Frage«, bestätigte Mama. Meine Duphot erläuterte: »Une question«, und die Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn.
Ihre Aufregung, ihre Bangigkeit bemächtigten sich auch meiner; ich dachte: Gott im Himmel, was haben sie mit mir vor? Und plötzlich geriet ich in Todesangst und rief: »Soll ich vielleicht ins Kloster?«
Mama lächelte, Papa lachte, und Madame Duphot platzte heraus: »Au contraire!«
Ich wurde noch bestürzter, und es durchzuckte mich wie ein Blitz: Da soll ich also heiraten!
Papa klopfte mir freundlich auf die Schulter: »Du mußt wohl bemerkt haben, daß einer der Herren, welche du bei deiner Schwester kennenlerntest, dir besondere Aufmerksamkeit erwiesen hat.«
»Nein, Papa, ich versichere dir, ich habe gar nichts bemerkt.«
»Er hat doch jeden Abend mit dir gesprochen, das letztemal eine halbe Stunde lang.«
»Wer?«
»Der junge Graf T.«
»Ein großer, brauner Herr?«
»Nicht doch, ein mittelgroßer, hellblonder.«
Endlich besann ich mich. Ja, ein mittelgroßer, hellblonder Herr hatte allerdings öfters mit mir gesprochen. Was? Die Folter würde es nicht aus mir herausgebracht haben, so völlig war es mir entschwunden.
Mama und Papa teilten mir nun mit, daß er ein ausgezeichneter Mensch sei, der Augapfel seiner Mutter, die sich nie von ihm getrennt, die ihn in den strengsten Grundsätzen erzogen habe. Meine Eltern überboten sich in Lobeserhebungen des Grafen, und Madame Duphot vergoß Tränen der Rührung und sagte begeistert: »Quel bonheur, mon enfant!«
Die Glocke des Portiers schlug zweimal an.
»Sie kommen«, sprach Mama, und mein Vater warf mir einen Blick zu – einen fürchterlich lieben! Ich kann ihn nicht anders bezeichnen, denn mochte er auch eingehüllt sein in ein tyrannisches: Du sollst, du wirst! ich entdeckte in ihm doch wieder das alte, milde, beschämend gütige: Do whatever you like!
Und mein gepreßtes Herz klopfte von neuem frank und frei, mein gesunkener Mut hob sich, es überkam mich sogar eine unüberwindliche Lust zu lachen, weil Madame Duphot, die eilig Anstalt getroffen hatte, von ihrem Taburett – es stammte in Wahrheit aus dem Salon Josephinens – aufzustehen, schwer auf dasselbe zurückfiel, und ich sagte ihr: »Nehmen Sie sich in acht! Sie werden noch zusammenbrechen wie das Kaiserreich.«
»Kind! Kind!« warnte Mama, und: »Nur keine Blaustrümpfeleien!« setzte Papa noch eilig hinzu, denn schon hatte die Tür sich geöffnet, und die Gräfin T. und ihr Sohn traten ein.
Und von dem Tage an traten sie regelmäßig zweimal die Woche um drei Uhr nachmittags bei uns ein, und überdies sah ich den Grafen jeden Sonnabend in den Soireen bei meiner Schwester. Meine Eltern behandelten ihn mit der größten Auszeichnung; Madame Duphot nannte ihn »un jeune homme accompli«; mein Schwager, den ich noch nie zuvorkommend gesehen hatte, war es gegen ihn. Des Grafen Mutter wiederholte mir, sooft sie mit mir sprach, daß ihr Sohn ihr im Leben nie eine trübe Stunde bereitet habe und daß sie glücklich zu schätzen sei vor allen andern Müttern.
Ich wäre in Widerspruch mit meinen geliebtesten Menschen und mit solchen, die ich schätzte, getreten, wenn ich an dem Grafen auch nur das geringste auszusetzen gefunden hätte. Dazu aber verspürte ich merkwürdig viel Lust, ohne mir Rechenschaft geben zu können warum.
Eine förmliche Bewerbung hatte nicht stattgefunden; mir war nur mitgeteilt worden, daß sich der Graf für mich interessiere und daß er durch seine Mutter um Gelegenheit habe bitten lassen, mich kennenlernen zu dürfen. Es muß ihm jedoch weniger darum zu tun gewesen sein, kennenzulernen als kennengelernt zu werden; denn er sprach immer von sich, seiner Lebensweise, seinen Gewohnheiten, seinen Liebhabereien. Besonders gern erzählte er von seiner Ordnungsliebe und von der Pünktlichkeit, die er von seiner Umgebung forderte. Er beschrieb uns ausführlich seinen alten Stammsitz, die Einrichtung der Zimmer, die Ausschmückung der Hallen und der Gänge. Weniger erfuhren wir von der Gegend, in der seine Güter lagen; und von den Menschen, die dort lebten, eigentlich nichts.
»Wie ist es denn mit der Nachbarschaft?« fragte einmal meine Schwester, und Bernhard, mein Bruder, der bei uns auf Urlaub war, rief: »In Ihrer Nähe muß ja der Benno Schwarzburg gehaust haben in seinen guten Tagen.«
Da habe ich den Namen, der mir später so teuer geworden ist, zum ersten Male nennen hören. Am 13. April 1882.
Sie begannen von ihm zu sprechen wie von einem halben Narren und machten sich beide lustig über ihn, Bernhard in gutmütiger Art und stets wiederholend: »Ein Genie ist er aber doch!«
»Ja, ein verrücktes«, meinte der Graf. »Er wird nie auf einen grünen Zweig kommen. Ich habe ihm das selbst gesagt, schon damals, als er seinen dümmsten Streich beging und gegen sich selbst Prozeß führte.«
»Wie war denn das?« fragte ich. »Wie kann man gegen sich selbst Prozeß führen?«
»Ja, wie kann man!« antwortete der Graf. »Ich begreife es nicht, kein vernünftiger Mensch wird es begreifen. Sein Vater, der eine Menge Schulden hinterlassen hatte, ist doch noch so gescheit gewesen, kurz vor seinem Tode eine Schenkung aufsetzen zu lassen, die dem Sohne den unantastbaren Besitz eines kleinen Kapitals gesichert hätte. Der Vater stirbt, die Gläubiger fallen über alles her. Waren meistens elende Wucherer, die sich mehr als bezahlt gemacht hatten. Nur eine Witwe, natürlich mit fünf Kindern . . .«
»Pardon«, unterbrach ihn Bernhard, »sie hat eine Tochter gehabt, eine blinde.«
Der Graf liebt es nicht, daß man ihm widerspricht, und entgegnete ungeduldig: »Ich bitte Sie, das bleibt sich ja gleich! . . . Diese Witwe also ist leer ausgegangen«, wandte er sich wieder an mich. »Es ist nichts mehr da, hieß es, als sie auftrat mit ihrer Forderung. Wieso nichts mehr da? Mein Kapital ist noch da! sagte Benno. Auf das haben die Gläubiger keinen Anspruch, erklärte der Advokat, der zugleich der Kurator Bennos war. Einen Kurator hat man ihm nämlich gesetzt, weil er schon früh Anlage gezeigt hat, im Punkte der Verschwendung dem Vater nachzugeraten. Er beweist es auch jetzt, will durchaus zahlen; der Kurator gibt's nicht zu, und das Ende ist dann der Prozeß gewesen, in dem Benno gegen sich selbst plädiert, den er gewonnen und dabei sein kleines Vermögen verloren hat.«
Sie lachten und erzählten noch manches Stücklein von dem sonderbaren Kauz.
Ich aber dachte mir: Alle dummen Streiche, die er begangen hat – es gibt deren viele der verschiedensten Art –, stimmen in zwei Punkten überein: samt und sonders liegt ein edles Motiv ihnen zugrunde, samt und sonders sind sie am denkbar schlechtesten für ihn selbst ausgefallen.
So sagte ich denn: »Dieser Baron tut lächerliche Dinge; er hat aber auch viel Unglück.«
»Das sehe ich nicht ein«, entgegnete der Graf; und damals hatte ich es schon weg, daß diese Worte in seinem Munde soviel bedeuteten wie: Es ist nicht einzusehen. »Wenn ich lauter verkehrte Wege einschlage, darf ich es doch nicht Unglück nennen, daß ich ganz woanders ankomme als am Ziele. Überhaupt, was man so Unglück nennt – meistens ist es Folge von Unvernunft. Ein vernünftiger Mensch hat selten Unglück.«
Mein Bruder murmelte halblaut: »Krankheit, Tod, Hagelschlag.« Wieder war an dem Grafen die Ungeduld bemerkbar, die er sogar bei dem bescheidensten Einwurf, der ihm gemacht wurde, nicht zu unterdrücken vermochte, und er sprach trocken: »Gegen Hagelschlag bin ich versichert.«
Ein Groll stieg in mir auf gegen dieses Kind des Glückes, das soviel Neigung zeigte, sich als Verdienst anzurechnen, was das Geschenk unseres lieben Herrgotts war, und ich versetzte: »Wenn Sie einen Vater gehabt hätten, ebenso verschwenderisch wie der des Baron Schwarzburg, würden Sie diese vernünftige Vorsicht nicht ausüben können, weil Sie nichts besäßen, das zu versichern der Mühe wert wäre.«
Seine Mutter wurde feuerrot, meine Eltern wechselten einen bestürzten Blick, und ich erschrak nachträglich. Die größten Helden dürfen nachträglich erschrecken, heißt es; in mir war aber nichts Heldenhaftes vorhanden, sondern nur Beschämung und Verlegenheit und Angst; und diese grauen Gefühle – wenn man so sagen darf – hoben sich ab wie Rauch von einem noch dunkleren Hintergrunde: Mißfallen an dem Grafen! Er sprach einige unzusammenhängende Sätze, die scharf und schlagend sein sollten, aber nur gereizt und verdrießlich klangen. Nicht zum ersten Male machte ich die Bemerkung, daß die hohe und noble Bescheidenheit, die meine Eltern an ihm rühmten, in engster Verbindung mit den ihm gezollten Lobsprüchen stand. Sie verwandelte sich in Anmaßung dem leisesten Tadel gegenüber. Diesen trachtete er nicht etwa zu widerlegen; er wies ihn entrüstet zurück, als etwas Albernes und Verächtliches, mit dem man nichts zu tun haben will.
Nachdem er uns verlassen hatte, machten meine Eltern mir bittere Vorwürfe. »Du benimmst dich höchst ungeschickt; du hast keinen Begriff von der Ehre, die dir widerfährt, indem der Graf um dich wirbt, ein solcher Mann, ein solcher Sohn!«
Ich bestätigte kleinlaut: »Der seiner Mutter nie eine trübe Stunde bereitet hat!«
»Das weißt du, und es flößt dir nicht die höchste Achtung ein?«
»Doch, was zu achten ist, achte ich ja an ihm.«
»So betätige es denn auch in deiner Art und Weise. Du respektierst den Grafen und hast allen Grund dazu, warum es verbergen?« sagte Mama. »Ich bitte dich, liebes Kind, zeige ihm, daß du ihn respektierst.«
Sie blickte Papa auffordernd an, und nun begann er mich zu bitten, meinen Respekt für den Grafen deutlicher an den Tag zu legen, und wollte durchaus wissen, warum ich, so wohlwollend und freundlich gegen alle Menschen – nur zu wohlwollend und freundlich –, gegen diesen ausgezeichneten Mann so zurückhaltend und gleichgültig sei.
Mein Gott, ich wußte keine Antwort darauf. Ich hatte mich selbst schon oft umsonst gefragt. Die kleinen Fehler, die mir an dem Grafen auffielen, waren ja nichts im Vergleich zu den großen Vorzügen, die er in den Augen meiner Eltern besaß. Und so versprach ich ihnen denn, von nun an viel höflicher und aufmerksamer gegen ihn zu sein als bisher.
Aber auch das war meinen Vielgeliebten nicht ganz recht. »Sieh, Paula«, sprach Papa in ernstem und gerührtem Tone, »sieh, Kind, deine Schwester lebt zufrieden und in glänzender Stellung an der Seite Eduards, der so gut gegen sie ist und überhaupt so brav und ein echter Grandseigneur. Dein Bruder, nachdem er uns durch seinen Leichtsinn viele Sorgen gemacht hat, ist endlich auf den rechten Weg gekommen. Über die Zukunft deiner Geschwister können wir beruhigt sein . . . Wir haben nichts mehr zu wünschen, als auch über die deine beruhigt sein zu können.«
»Wir wären es«, begann Mama von neuem, »wenn du dich, liebes Kind, der Bewerbung des Grafen günstig zeigen wolltest.«
»Ja«, setzte Papa hinzu, »wir wären ruhig und glücklich.«
Er reichte mir die Hand; ich ergriff und küßte sie und empfand plötzlich einen stechenden Schmerz in den Augen und sah das geliebte Gesicht meines Vaters wie durch einen zitternden Schleier immer weicher werden, immer sanfter – und nun sagte der beste Papa: »Übrigens . . .«
Aber der Nachsatz, der diesem Worte zu folgen pflegte, blieb aus. Ich wartete sehnlich, vergeblich – er wurde nicht gesprochen.
An diesem Abend habe ich vor dem Schlafengehen andächtiger gebetet denn je. Und doch war mein Gebet das eines dummen Kindes. Ich flehte um Kraft zu freudigem Gehorsam gegen meine Eltern; ich hätte um etwas ganz anderes beten sollen – das lehrte mich schon die allernächste Zukunft.
Am 24. April 1882, einem der schönsten Tage, deren ich mich entsinnen kann, fuhren wir im offenen Wagen in den Prater, Papa und ich. Viele Kastanienbäume begannen schon zu blühen, alles prangte in dem hellen Grün des Frühlings, das so lieblich ist und etwas so unsagbar Freudiges hat. Eben erst an das goldene Licht hervorgebrochen, weiß es noch nichts vom Wüten des Sturmes und vom Sonnenbrand.
Ganz langsam rollte unser Wagen an der Reiterallee dahin; Bekannte und Freunde trabten und galoppierten vorbei, und bald kamen uns auch drei Reiter im Schritt entgegen. Der mittlere war der Graf. Er ritt einen breiten majestätischen Braunen. Mann und Roß machten den Eindruck behäbiger Selbstzufriedenheit. Alles in Ordnung in der Welt, uns geht es gut, dachten sie – wenn sie etwas dachten. Links vom Grafen ritt mein Bruder, schmuck und stattlich in seiner Ulanenmajorsuniform, und rechts ein magerer Herr auf magerem Gaule. Er saß sehr gerade auf seinem Roß, und dieses war wie verzehrt von innerem Feuer, das ihm förmlich aus den wunderbar schönen und wilden Augen herausschlug. Im übrigen eine hochbeinige, knochige Mähre, geradezu häßlich. Und auch der Reiter konnte auf den ersten Blick nicht gefallen. Zum Glück für ihn wird es wohl niemand bei einem Blick in dieses merkwürdige Antlitz bewenden lassen. Es ist länglich und schmal, und eine ganz ungewöhnliche Energie spricht sich darin aus. Die dunklen Brauen, die gebogene Nase, der große, in eine scharfe Spitze auslaufende Knebelbart, der Schnurrbart, dessen Enden kühn geschwungen in die Höhe standen und den Mund frei ließen, mahnten mich an die Porträts der spanischen Edelleute aus dem 17. Jahrhundert. Was aber an nichts mahnte und mit nichts verglichen werden konnte als mit ihm selbst, das war der lebhafte und sympathische Geist, der aus den Augen funkelte.
Er grüßte feierlich und hielt den Hut noch in der Hand, als der Graf den seinen längst wieder aufgesetzt hatte. Eine edle, freie Stirn kam da zum Vorschein, in deren Mitte die leicht gekräuselten, dichten Haare ein schwarzes Flämmchen bildeten. Das Gehirn, habe ich einmal gelesen, baut sich selbst sein Haus, und das seine hatte sich eine Kuppel gewölbt. Ich weiß so manches, das sich unter einer Plattform bequemt.
Der fremde Herr sah mich mit außerordentlicher Aufmerksamkeit an; ich fühlte, wie rot ich wurde unter seinem Blicke, und berührte Papa, der mit Bekannten in der Fahrallee Grüße gewechselt hatte, leise am Arm. Er wandte sich zu mir, und meinem Augenwink folgend, gewahrte er eben noch die Reiter.
»Hast du ihn erkannt?« fragte ich.
»Wen?«
»Den von der Mancha«, entgegnete ich mit einem sehr unpassenden Scherz, hinter dem die Verlegenheit, die mich ergriffen hatte, sich verbergen sollte.
Papa bemerkte es nicht und sprach obenhin: »Das ist ja der Narr, der Schwarzburg.«
Meine Courage war gleich wieder da; ich wagte zu bitten: »Erzähle mir von seinen Narrheiten.«
»Ich weiß nichts«, antwortete Papa.
»O doch! Bernhard spricht so oft von ihm.«
»Um sich lustig über ihn zu machen.«
»Nicht immer! Im Grunde liebt und bewundert er ihn und sagt, daß er eine große Zukunft hat.«
»Da müßte sich vieles ändern.«
»Nicht gar so vieles, lieber Papa. Ein wenig Glück müßte er haben; bis jetzt hat er nur Unglück gehabt, von Kindheit an. Erinnere dich, was Bernhard erst neulich wieder von ihm sagte: Seine Eltern geschieden, die Mutter wiederverheiratet und ausgewandert, und der Vater ein Verschwender, der sich um den Knaben nicht kümmert, und der ist schlimmer daran als eine Waise. Im Institut mißhandeln sie ihn, weil nicht einmal sein Unterhalt regelmäßig bezahlt wird. Er wächst heran, er ringt sich durch, er wird in Jünglingsjahren schon ein Mann und verdient sich sein Brot . . .«
»Ja, ja, aber dann die Don-Quijoterien mit seinem kleinen Erbe und seine lächerliche Liebesgeschichte.«
»Liebesgeschichte? . . . Das ist aber sonderbar –«
Eine unangenehme Empfindung ergriff mich, und ich fand es sehr kurios, daß mir Bernhard von dieser Liebesgeschichte nicht gesprochen hatte. Nach einer Weile fragte ich: »Wen liebt er denn, der Baron?«
Papa dachte nicht mehr an unsere frühere Konversation und wußte nicht gleich, wen ich meinte; dann sprach er kurzweg: »Jetzt kann er nur noch ihr Andenken lieben; sie ist gestorben.«
»Wann?«
»Vor einigen Jahren, als die Frau eines anderen, den sie ihm vorgezogen hatte – zum Danke für eine Treue, die ihn im Mittelalter berühmt gemacht hätte und durch die man sich in unserer Zeit lächerlich macht.«
»Das begreife ich nicht! Wie kann der Besitz einer Tugend lächerlich machen? Und Treue ist doch eine Tugend!«
Papa räusperte sich: »Wenn die Tugend zu weit getrieben wird, dann ist sie keine Tugend mehr, sondern Unvernunft.«
Vernunft, Unvernunft – ich hatte einen Haß gegen diese Worte, die der Graf so oft aussprach. »Ach geh, Papa«, sagte ich, »mir scheint, die Tugend braucht nicht erst hineinzuwachsen in die Unvernunft, sie ist Unvernunft von allem Anfang. Deshalb habe ich auch vor der Vernunft so wenig Hochachtung.«
»Das merkt man«, versetzte Papa.
»Und deshalb schwärme ich auch für eine Treue, die keinen Lohn findet und dennoch besteht.«
»So? Und wie albern das ist von einem Manne, sich geliebt zu wähnen, wenn er nicht geliebt wird? Sich in der Kühlwanne halten zu lassen? Niemandem glauben, der ihm sagt: Sie macht sich nichts aus dir? Wie albern das ist, das siehst du nicht ein? Oder vielmehr, es gefällt dir ja wohl, weil es gar so albern ist!«
»Hat sie ihn denn wirklich nicht geliebt?«
»In der Kühlwanne hat sie ihn gehalten, sag ich dir. Und er ist schmachtend herumgegangen unter ihren Fenstern, hat jeden, der ihn auslachte, kurz abgetrumpft und sich wegen der Dummheit mehr als einmal schlagen müssen.«
Ich jubelte: »Das war recht! Das entzückt mich! Ich seh's von hier, und ich höre, wie er nach dem Kampfe, ob siegend oder besiegt, ausruft: Dulcinea von Toboso ist das edelste Weib der Welt, und ich bin der treueste Ritter auf Erden! Herrlich, bester Papa!«
»Zum Kuckuck, wenn du nicht überschnappst . . . Aber solche Narrheiten kommen von den vermaledeiten Büchern, und ich werde . . . Übrigens, enough of it!«
Nun war's Zeit für mich zu schweigen; wenn mein lieber, guter Papa englisch kam – allerhöchste Zeit!
Seit einigen Wochen hatte Mama wieder angefangen, täglich nach dem Theater Leute bei sich zu sehen. Sie wollte dem Grafen Gelegenheit geben, öfter zu uns zu kommen, ohne daß es auffiele. Half aber alles nichts! Obwohl seine Bewerbung so still war, daß selbst ich, Gott sei Lob und Dank, kaum etwas von ihr merkte, neckten meine Freundinnen mich mit ihm. Die meisten – es ist unglaublich! – sagten mir, daß ich ein Glückspilzchen sei, und eine von ihnen – ich will sie Dora nennen – verfehlte nie hinzuzusetzen: »Ein dummes, ein schrecklich dummes Glückspilzchen!«
Sie ist älter als ich und gilt für sehr gescheit und unterrichtet. Als kleines Mädchen hat sie von einer alten Tante, die eine Gelehrte war, eine Bibliothek geerbt und in ihrem Zimmer aufstellen dürfen, weil ihre Eltern alles tun, was sie will. Da studierte sie mit dreizehn Jahren schon den Kosmos von Humboldt und das Leben Jesu von Strauß. Sie hat mir aus diesem Buche manches expliziert, aber nicht recht deutlich; ich habe es nicht begriffen.
Dora drohte mir oft: »Du, wenn du den Grafen nicht zu schätzen weißt, so fische ich dir ihn weg, das merk dir!« Und ich munterte sie jedesmal auf: »Fische du nur, du kannst mir keinen größeren Gefallen tun.«
Sie nahm das die längste Zeit für Spaß. »Weißt du denn«, fragte sie, »sie haben die Fürstenkrone, die T.?«
»Wie soll ich's wissen?«
»Und denkst nicht, wie sich das machen würde, das Monogramm mit der Fürstenkrone im Taschentuch?«
Ich lachte sie aus. »Was hast du davon, daß du mit dreizehn Jahren den Humboldt und den Strauß gelesen hast, wenn du mit zwanzig noch so kindisch bist?«
»Oh, das ist eine ganz andere Sache! Ich habe einen Weltblick. Ich verstehe das. Die größten Gelehrten legen Wert auf solche Dinge und wären über die Maßen froh, Aufnahme zu finden im Salon und mit Fürstinnen zu tanzen. Aber weil sie zu langweilig und pedantisch sind . . .«
Ich war empört über ihr Geschwätz und rief: »Genier dich, so etwas vorzubringen! Was weißt du von Gelehrten? Du hast noch nie einen lebendigen Gelehrten gesehen.«
»Du ebensowenig.«
»Wir alle zusammen nicht, weil sie in unsere Salons gar nicht kommen, sich's gar nicht verlangen. Aber so etwas kannst du dir nicht vorstellen. Du willst immer einen Weltblick haben und hast einen kleinwinzigen Blick, der nicht über den Salon hinausreicht. Auf den kommt bei dir alles an!«
Sie war pikiert; sie ist es so gewohnt, bewundert zu werden, wie der Graf, und verträgt so wenig wie er einen Widerspruch.
Wir hatten unsere Unterhaltung laut geführt zum Ergötzen eines Auditoriums von jungen Herren und Damen. Dora stand bei den letzteren nicht in Gunst, und sie kicherten schadenfroh über meinen Ausfall.
»Unterschätze mich nur!« sagte Dora ärgerlich, aber so leise, daß nur ich es hören konnte. »Du wirst sehen, was geschieht, wenn ich nicht mehr deine Freundin bin.« Dabei blinzelte sie bedeutungsvoll nach der Tür, durch welche der Graf eben eintrat.
Ich verstand sie und entgegnete ebenfalls leise: »Wenn dir das gelingt, was du meinst, dann wirst du erst recht meine Freundin sein.«
»Angenommen, die Herausforderung!« erwiderte sie und ahnte nicht, wie ich im stillen ihren Entschluß segnete und ihm allen möglichen Erfolg wünschte. Der Graf stand da, und mir war, als ob die Luft schwerer und alles um mich her dunkler geworden wäre.
Dora räumte ihm ihren Platz mir gegenüber ein und setzte sich auf die Armlehne meines Fauteuils. Sie sah in ihrem weißen Gazekleide und mit ihrer hübschen Frisur so allerliebst aus wie ein allerliebstes Meißener Porzellanfigürchen, und der Kontrast zwischen ihrer anmutig zierlichen Erscheinung und den Reden, die sie führte, war köstlich.
»Ich wette«, sagte der Graf, »daß hier wenigstens achtundzwanzig Grade sind.«
»Und wenn ihrer achtunddreißig wären«, entgegnete sie, »ich spür's nicht, ich habe nie warm, ich bin der steinerne Gast.«
Der Graf sah sie gleichgültig an und sagte: »So?«
»Ich habe aber auch nie kalt.«
»Aha, Sie wollen originell sein. Ich bin gar nicht originell, ich bin ein prosaischer Mensch.«
»Oh – ich bin auch sehr prosaisch. Denken Sie nur – ich schnupfe.«
»So?«
»Ich habe meine Dose immer bei mir.«
»Es ist aber nichts darin.«
Sie zog ein goldenes Döschen aus der Tasche, nicht größer als ein Guldenstück: »Es ist immer etwas darin, nur gerade heute nicht. Sehen Sie, ich habe mir einen Totenkopf auf den Deckel gravieren lassen. Ich habe auch Totenkopfbriefpapier. Ich denke immer an den Tod; ich glaube, daß ich durch Selbstmord sterben werde . . .«
Der Graf erhob die Augen zum Himmel.
»Ich trage auch immer einen Dolch bei mir.«
»Ah«, sagte der Graf.
»Damit ich mich gleich erstechen kann, wenn mir einmal der Tabak, meine einzige Freude, nicht mehr schmeckt.«
Er lächelte, er begann sie ergötzlich zu finden, und als sie jetzt von einem alten eingelegten Kasten erzählte, der in einer Dachkammer ihres Schlosses gefunden worden war, interessierte ihn das wirklich. Ich benützte den Augenblick, in dem ihr Gespräch lebhaft wurde, um aufzustehen und mich auf gute Art von ihnen wegzustehlen. Wie ich mich wende, sehe ich Bernhard vor mir. »Ich suche dich schon die längste Zeit«, sagte er. »Man kommt ja nicht vorwärts in dem Gedränge.« Und er sieht sich um und ruft: »Schwarzburg!«
Und ich, ganz überrascht und so freudig, als ob es sich um einen lieben, ungeduldig erwarteten Bekannten handelte, fragte: »Ist er da?«
Sogar Bernhard hat mich nachträglich wegen dieses: »Ist er da?« recht ernstlich ausgezankt. Ich habe es nie bereuen können. Ich blickte, nachdem es ausgesprochen war, in ein Paar Augen, aus denen eine Glückseligkeit flammte, zu groß, als daß ich je bereuen könnte, sie erweckt zu haben. Schwarzburg verneigte sich tief vor mir, und mir war die Ehrfurcht, die sich in seinem Gruße ausdrückte, fast beschämend. Wie komme ich dazu, Ehrfurcht zu erwecken? . . .
Wir redeten lange zusammen – viel zu lange, wurde mir vorgeworfen. Ich kann darüber keine Auskunft geben; ich dachte nicht daran, daß die Zeit verfloß, und auch nicht, daß noch andere Leute anwesend waren. Schwarzburg sprach mit mir, und was er sagte und wie er es sagte, war mir wichtig und angenehm, und es kam mir weiser und besser vor als alles, was ich je gehört, und klang mir zugleich lieb und vertraut.
Wenn ich jetzt die Erinnerung an jenen Abend zurückrufe und mich frage: Haben wir uns damals kennengelernt? muß ich antworten: Nein. Dessen bedurfte es nicht. Wir begrüßten einander wie Freunde, die ihren Bund längst geschlossen haben, und unser erstes Begegnen war ein Wiedersehen.
Unserem Gespräche wurde ein Ende gemacht durch Papa. Er wollte in einer ihm sehr am Herzen liegenden Angelegenheit unserer Gemeinde auf dem Lande den Rat Schwarzburgs einholen und berief sich auf Bernhard, dessen Meinung sei, der Baron könne die Erledigung der Sache betreiben. Die beiden Herren vertieften sich in eine eifrige Konversation; ich sah, daß sie einander am Schlusse derselben die Hände schüttelten, und fühlte mich sehr geschmeichelt. So konnte man doch ein vernünftiges Wort mit ihm sprechen, mit dem Narren, dem Schwarzburg – er konnte einem sogar nützlich sein! –
Die Soiree war aus, die meisten Gäste waren fort. Unter den letzten, die gingen, befanden sich Dora und ihre Eltern, der Graf und seine Mutter. Die comtesse douairière, wie meine Duphot sie nennt, bewies sich mir beim Abschiede besonders freundlich. »Sie sind so gut, liebes Kind; ich habe Sie bewundert. Wie gut waren Sie heute gegen diesen Beamten, diesen armen Baron! Es ist nur die Frage, ob Ihre Güte nicht mißverstanden wird. Diese Gattung von Menschen ist manchmal übelnehmerisch und fühlt sich unangenehm berührt durch unsere zu deutliche Bemühung, sie à leur aise zu setzen . . .«
Ich wußte nicht recht, was ich aus dieser Bemerkung machen sollte, ob sie ein Lob enthielt oder eigentlich ein Tadel war.
Es ist mir nicht möglich, meine bescheidene Herzensgeschichte ausführlich zu erzählen. Daß meine Eltern mich dem kleinen Beamten, Baron Schwarzburg, zur Frau geben würden, glaubte ich nie; das Bewußtsein meiner Liebe und das ihrer Hoffnungslosigkeit erwachten zugleich in mir, und es wäre ein schweres Unrecht gewesen, mich der ersteren hinzugeben. Ich habe mich ihr aber nicht hingegeben; sie hatte mich ergriffen, ehe ich mich dessen versah, und sie war damals so mächtig und innig wie heute. Ihm wird es auch nicht anders ergangen sein; seine Neigung zu mir kam wohl ebenso plötzlich wie meine große Liebe zu ihm. Nur weil er nicht eitel ist, hat er es lange Zeit für unmöglich gehalten, daß er mir ein wärmeres Gefühl als das der Freundschaft einflößen könnte. Aber schon dadurch schien er aufs tiefste beglückt, und was mich betrifft – mir ist ja ein neues Leben aufgegangen, seitdem er mich zur Vertrauten des seinen gemacht hat und seitdem ich sein edles und selbstloses Herz ganz kenne. Er hat fast nur Unrecht erfahren, und doch sagt er immer: Das Recht muß siegen; er hat zahllose Bitternisse durchgekostet und ist doch unverbittert geblieben. Freilich, mit einem solchen Schatz von Menschenliebe und Kraft in der Brust, wie sollte man da am Guten verzweifeln!
Merkwürdig kommt es mir vor, daß er sich für ganz anders hält, als er ist. Er sagt, das Motiv der meisten seiner Handlungen und der Quell aller seiner Stärke sei – der Eigensinn. Als er neulich wieder diese Behauptung tat, fragte ich ihn: »Haben Sie auch damals schon, als junger Jurist, den Prozeß gegen sich selbst aus Eigensinn geführt?«
Er zog die Augenbrauen zusammen: »Ist die alte Geschichte noch nicht vergessen?«
»Noch nicht.«
»Da muß ich sie berichtigen. Ich habe nicht in lächerlichem Opfermut gehandelt; ich habe meine Rechtschaffenheit gegen mein Geld verteidigt, etwas Unschätzbares gegen etwas Schätzbares. Meine Klientin war die Witwe eines braven Mannes und alten Dieners, und die Summe, um die es sich handelte, dessen redlich Erworbenes und Erspartes. Vor wie vielen Jahren es dem gnädigen Herrn in devoter Vertrauensseligkeit zur Verfügung gestellt worden war, wußte die Frau nicht mehr. Sie wußte nur, daß der gnädige Herr ihr gar oft versichert, die beste Hypothek, die er geben könne, solle sie haben. Was für eine Hypothek das war – er selbst hatte keine Ahnung davon, und der Witwe seines treuesten und ergebensten Dieners wird es doch nicht einfallen zu fragen: Bin ich auch wirklich sichergestellt, und in welcher Weise? . . . ›Ja‹, sprach nachträglich der Advokat, ›warum war sie so dumm? Hat sie denn nicht gesehen, was vorging und wie gewirtschaftet wurde?‹ Sie hatte alles gesehen, aber dem Worte ihres Herrn mehr getraut als dem Augenschein. Und dafür sollte sie bestraft werden, und der Sohn dieses Herrn sollte es zugeben? Konnte er's? Was meinen Sie, Gräfin, und was hätten Sie an seiner Stelle getan?«
Ich antwortete: »Was Sie getan haben.«
»Und damit etwas Außerordentliches?«
»Gott sei Dank!« erwiderte er, und eine stille, mächtige Freude erhellte sein Gesicht; »einfach das Rechte, so ist es.«
Er sah ganz glücklich aus. »Warum denn Gott sei Dank?« fragte ich.
»Dafür, daß ich mich vor Ihnen entschuldigen durfte.«
»Entschuldigen? Aber ich bitte Sie!« rief ich, wirklich in Verlegenheit.
»Und dafür, daß Sie es mir so leicht gemacht haben und daß Ihr Blick so hell und Ihr Sinn so gerade ist; dafür vor allem, daß Sie zugeben, wir tun nicht mehr als das einfach Rechte, wenn wir das Recht auch auf Kosten des eigenen Vorteils verteidigen.«
»Ist denn das nicht natürlich?«
»Nein, natürlich ist der Egoismus. Und er wird jetzt sehr geschätzt. Sie können in jedem Zeitungsblatte kleine Exkurse zu seinen Gunsten und zu denen seines Verwandten, des ›gesunden Realismus‹, lesen. Das Zeitalter der Humanität bekämpft – was unglaublich ergötzlich ist – den Idealismus und nennt jede etwas weit getriebene Selbstverleugnung, diese Basis und Bedingung der Humanität, krankhaft und sentimental . . .«
Da wurden wir unterbrochen, und der Graf, Dora und meine Schwester traten zu uns. »Aha, hier wird doziert«, sagte der Graf, und Schwarzburg wandte sich förmlich betroffen zu mir: »Ist es wahr, habe ich doziert?«
»Es geschieht Ihnen manchmal«, meinte der Graf, der sogleich die hochmütig kühle Weise annahm, in welcher die eleganten Leute die nicht eleganten zu behandeln pflegen und die mir immer so engherzig vorgekommen ist, so blöde, so gemein!
»Sie haben gar nicht doziert«, rief ich, »Sie haben mir etwas Interessantes erzählt.«
»Ein Geheimnis?« fiel Dora kichernd ein.
»Durchaus nicht.«
»Dann möchten wir sie auch hören, die interessante Geschichte, besonders wenn sie nicht lang ist. Aber sie ist lang, ebenso lang als interessant. Ich habe euch beobachtet aus der Ferne – ihr seid immer so köstlich, ihr zwei.«
Mir schoß das Blut in die Wangen, und Schwarzburg warf Dora einen Blick zu, der ihr die Lust verdarb, ihren taktlosen Scherz fortzusetzen. Doch hatte er seine Wirkung getan und trug schlimme Früchte für mich. Graf T. wich den ganzen Abend nicht von meiner Seite, und wir führten ein trostloses Gespräch über Waffenhallen und antike Einrichtungen – eine »Moder- und Schimmelkonversation«, wie Elisabeth sagt, wenn ihr Mann, der ja überhaupt soviel Ähnlichkeit mit T. hat, anfängt über dasselbe Thema unerschöpflich zu werden. Sie sah manchmal von ihrem Platz aus mit unverhohlenem Mitleid zu mir herüber.
Am nächsten Tage kam sie zu mir, um mich zur Rechenschaft zu ziehen. Es war noch früh und ich eben erst vom luncheon in mein Zimmer zurückgekehrt. Da trat sie ein. Sie nahm ihren Hut vor dem Spiegel ab und richtete die Stirnlöckchen zurecht, die der Wind in Unordnung gebracht hatte. Scheinbar geschah's mit großer Aufmerksamkeit; allein ich merkte wohl, daß ihre Gedanken keineswegs mit dem edlen und schönen Bilde beschäftigt waren, das der Spiegel ihr widerstrahlte. Plötzlich sagte sie: »Hör einmal, Kind, was willst du eigentlich mit deinem Schwarzburg-Kultus?«
Die unerwartete Frage brachte mich in Bestürzung, und ich entgegnete leise: »Was soll ich wollen?«
»Ich möchte es wissen; ich möchte wissen, was du denkst, was du dir einbildest! Du bist ganz verändert seit einiger Zeit – weißt du das?«
Mir wurde immer beklommener zumute. »Worin denn verändert, Elisabeth?«
»Ach«, sagte sie, »reden wir nicht so unnötigerweise herum! Die Auszeichnung, mit der du Schwarzburg behandelst, fällt jedem auf. Du trägst für ihn eine Art Verehrung zur Schau.«
»Ich trage sie nicht zur Schau; ich verberge sie nur nicht.«
»Und was soll dabei herauskommen?«
»Es wird nichts dabei herauskommen«, antwortete ich kleinlaut; »in ein paar Wochen geht er nach Bosnien, und ich gehe nach Trostburg.«
Sie zuckte die Achseln, machte ein paar Schritte und nahm Platz auf dem Sessel vor meinem Schreibtisch. Das Heft, auf dem mit großen Lettern geschrieben stand »Meine Memoiren«, fiel ihr in die Augen; ihr ganzer Ernst war verschwunden, sie lachte auf.
»Da sind sie ja, die Vertrauten! Es schreibt Memoiren, das Kind. Da steht wohl alles drin, man braucht nur aufzuschlagen . . . Mach kein so erschrockenes Gesicht! Ich bin wohl sehr neugierig, aber nicht indiskret.«
Indes ihre Lippen spotteten, sahen ihre großen blauen Augen so treuherzig, so voll Mitleid und Liebe zu mir empor, daß ich Mut faßte, näher zu ihr trat und sprach: »Du hast mich gefragt, was ich will . . . Ich gestehe dir, was ich nicht will: ich will den Grafen T. nicht heiraten.«
Sie entgegnete phlegmatisch: »Bravo, das ist gelungen. Und der Graf, der heute oder morgen förmlich um dich anhalten wird?«
Ich rief tödlich erschrocken: »Woher weißt du das?« Sie antwortete: »Von ihm selbst.«
»Merkt er denn nicht, wie gleichgültig er mir ist?«
»Nein, er merkt nicht so leicht etwas.«
»Und wie sehr, wie unaussprechlich ich ihm einen andern vorziehe?«
»Das am wenigsten. Ein Graf T. hält es für unmöglich, daß ein Baron Schwarzburg ihm vorgezogen werden könnte.«
»Und Dora, die tausendmal besser für ihn paßt, die mir versprochen hat, ihn wegzufischen, auf die ich gehofft habe – warum hält mir Dora nicht Wort?«
»Weil sie nicht kann; was an ihr lag, hat sie getan. Alles umsonst. Sie mißfällt dem Grafen. Ein Verwöhnter wittert eine Verwöhnte und weicht ihr aus.«
»Was tun, Elisabeth, was tun? Wenn ich den Grafen heiraten muß – ich verzweifle!«
Sie legte die Arme um mich und zog mich zu sich heran; ich lehnte die Wange an ihren Scheitel. »Glaubst du es wirklich?« fragte sie. »Ich meine, es ließe sich vielleicht doch friedlich mit ihm hausen. Nur ein bißchen klug müßte man sein. Man dürfte ihm nur nicht widersprechen in kleinen Dingen, dann hätte man in großen freie Hand. Man müßte sich sehr hüten, seine Eitelkeit zu verletzen, und es so oft wie möglich zu einem Lobliedlein bringen.«
»Schmeichelei!« rief ich, »loben, was ich nicht billige! Schmeichelei, o pfui, Schmach und Schande!«
»Keine großen Worte«, sprach sie. »Eine schlechte Ehe führen, das allein ist Schmach und Schande. Dagegen wiegen die Demütigungen leicht, die du mit dir selbst abmachen kannst. Und auf das Abwägen eines Übels gegen das andere, auf ein Paktieren mit dem Feinde, dem Elend des Lebens, darauf kommt es ja überhaupt an. Das volle Glück, das wolkenlose, wem wird das zuteil? Wer bringt's auch nur zu einem rechten Traum von ihm?«
»Ach, wenn man nur zu träumen brauchte, da hätt ich's gleich.«
»Wahrhaftig? So fasse Vertrauen und träume laut.«
»Darf ich? Soll ich?«
»Vergiß aber nicht, daß ich träume.«
»Nun, wird's?«
»Ich träume, ich wäre sein – du weißt schon, wen ich meine – und hätte keinen heißeren Wunsch, als ihm das Leben, das immer so hart gegen ihn gewesen ist, schön und süß zu machen. Und an seiner Seite würde ich gescheit, tüchtig und besser von Tag zu Tag. Jeder meiner Atemzüge wäre ein Loblied auf ihn. Geschäh aber einmal ein Wunder, und täte er etwas, das mir unrecht schiene, so würde ich es ihm sagen, frank und frei. Und dem Leiden ginge ich nicht aus dem Wege; trüg er's doch mit mir, und zusammen würden wir damit fertig. Was ist denn das Leiden, was kann mich treffen, solang ich sein bin und er mich liebhat?«
»Jawohl«, sagte Elisabeth dumpf und lautlos, »jawohl.«
»So sieht mein Traum aus, lautere Seligkeit! Aber die Wirklichkeit ist Entsetzen – Entsetzen, Elisabeth! Du hast mich völlig vernichtet. Dieses Paktieren, dieses heuchlerische Kleinbeigeben, um den Schein der Einigkeit zu wahren, um den inneren Zwiespalt zu verstecken – ich könnt es nicht. Und du? . . .«
Ein schrecklicher Gedanke hatte mich durchblitzt. Ich beugte mich vor; ich sah sie an: ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Kannst denn du's?« fragte ich, ließ mich auf die Knie gleiten und umschlang sie. Sie drückte meinen Kopf heftig an sich, und qualerpreßtes Schluchzen hob ihre Brust: »Ich habe es gelernt!«
Eine Weile verharrten wir in tiefem Schweigen. Als ich endlich den Blick zu ihr erhob, lag wieder die gewohnte Ruhe auf ihren Zügen. Sie stand auf. »Komm mit mir zu den Eltern, Kind«, sprach sie. »Zur Verwirklichung deines Traumes werde ich dir nicht verhelfen können, aber geopfert sollst du nicht werden.«
Mama saß in der Kanapee-Ecke und häkelte; Madame Duphot las ihr vor aus Ozanams Poètes Franciscains.
»Dürfen wir eintreten, Mama? Wir hätten mit dir zu sprechen«, sagte Elisabeth.
Ohne aufzublicken, antwortete Mama: »Erlaubt nur, daß wir unser Kapitel schließen. Setzt euch.«
Wir setzten uns, und Madame Duphot brachte die hübsche Legende vom heiligen Franziskus und vom Wolf von Gubbio zu Ende. Dann legte sie ihr Buch, über das hinweg sie mich mehrmals flüchtig angesehen hatte, auf den Tisch und erhob sich. Ich ergriff ihre Hand: »Bleiben Sie!« flüsterte ich ihr zu, und Elisabeth fiel lebhaft ein: »Bleiben Sie, liebe Duphot, wir rechnen auf Ihre Unterstützung. Wir möchten auch mit Papa sprechen. Darf ich ihn herüberbitten lassen, Mama?«
»Laß ihn bitten.«
Meine gute Mama, die so ahnungslos und friedlich ihre Arbeit fortsetzte und den liebenswürdigen Lehren des heiligen Franziskus nachsann, tat mir schmerzlich leid. Wie gern hätte ich ihr den Kummer erspart, den ich im Begriff war ihr zu verursachen, aber – konnte ich denn?
Die Tür öffnete sich; Papa erschien, aber nicht allein; mein Bruder begleitete ihn. Die Blicke beider richteten sich sogleich auf mich. »Da ist sie ja«, sagte Papa streng und drohend.
Ich wollte mich erheben; aber meine Knie zitterten zu sehr, und so streckte ich nur die Hand aus, um die seine zu fassen, als er an mir vorüberging. Er zog sie rasch zurück und nahm Platz auf dem Kanapee neben Mama. Mein Bruder ließ sich an seiner Seite auf einen Sessel nieder, und Madame Duphot, an der Seite Mamas, schob, bescheiden wie immer, ihr Taburett ein wenig zurück. Meine Schwester und ich saßen ihnen in einer kleinen Entfernung gegenüber, wie der Schuldige und sein Advokat vor den Richtern.
»Lieber Papa, liebe Mama«, begann Elisabeth, »ich möchte euch im Namen Paulas bitten, dem Grafen zu sagen, er möge seine Bewerbung nicht fortsetzen. Paula kann keine Neigung für ihn fassen und ist entschlossen, ihn nicht zu heiraten.«
Ich staunte und erschrak über die schroffe Art, in welcher sie das hervorstieß. Madame Duphot seufzte; Bernhard murmelte: »Oho!« Vater und Mutter schwiegen.
»Paula hofft innigst«, nahm Elisabeth wieder das Wort, »daß ihr, liebe Eltern, ihren Entschluß genehmigen werdet.«
»Tut es«, sprach nun ich, »habt die Gnade, ich werde euch ewig dankbar dafür sein. Ich kann den Grafen T. nicht heiraten; ich habe für ihn nicht die geringste Neigung, eher das Gegenteil.«
»Soll das heißen, daß du eine Abneigung gegen ihn hast?« rief Papa sehr heftig. »Wer setzt dir solchen Unsinn in den Kopf? Am Ende gar deine ältere Schwester?«
»Um alles in der Welt, das denke nicht! Ich habe sie gebeten, meine Fürsprecherin bei euch zu sein.«
»Erstens«, sprach Mama, »brauchst du keine Fürsprecherin bei deinen Eltern, sondern solltest dich vertrauensvoll direkt an sie wenden; zweitens hätte deine Schwester dieses Amt nicht übernehmen, sondern dich darauf aufmerksam machen sollen, wie töricht es ist, eine Abneigung in sich aufkeimen zu lassen und ohne weiteres auszusprechen, für welche nicht der geringste Grund vorhanden ist.«
»Sie besteht, das ist ihr Grund!« entgegnete Elisabeth.
Ihre Stimme, die eben noch etwas verschleiert geklungen, war wieder so scharf und hart wie im Anfang unserer Unterredung. Ich rückte näher zu ihr und legte den Arm um sie; ihr ganzer Körper bebte.
»Unsinn! Unsinn!« wiederholte Papa. »Auf solchen Unsinn nehmen wir keine Rücksicht.«
»Der Graf ist ein rechtschaffener, ehrenhafter Mann, wohlerzogen, von angenehmem Äußern und guten Manieren, an dessen Seite du glücklich werden mußt, Paula«, fiel Mama streng und unerbittlich ein. »Du liebst ihn jetzt noch nicht; du wirst ihn aber gewiß lieben lernen, wenn es erst deine Pflicht sein wird.«
Mich überlief ein Schauer, und ich stammelte: »Nein, Mama, nein! Ich werde ihn nie liebgewinnen, weil ich . . .«
Das Geständnis, das ich hatte tun wollen, erstarb mir auf den Lippen. Hilfeflehend sah ich meine Schwester an. Ihr schönes Gesicht glühte, sie hatte die Arme über die Brust gekreuzt und hielt unverwandt einen Blick voll Groll und Vorwurf auf Mama gerichtet. »Erinnere dich«, sagte sie, »daß du mir vor siebzehn Jahren dieselbe Verheißung machtest, und genau mit demselben Rechte. Auch der Mann, der um mich freite, war rechtschaffen, wohlerzogen und von angenehmem Äußern. Nun, liebe Mutter, weil du es nicht gesehen, nicht erraten hast, so hör es denn endlich einmal: deine Verheißung ist nicht in Erfüllung gegangen . . .«
»Elisabeth!« riefen beide Eltern zugleich. Bernhard, der zuerst ungläubig lächelnd aufgehorcht, senkte plötzlich den Kopf. Madame Duphot hatte sich erhoben und war aus dem Zimmer geglitten, wie ein Schatten.
Mit einer Ruhe, die auf mich einen entsetzlichen Eindruck machte, fuhr Elisabeth fort: »Die Liebe, die in der Ehe von selbst hätte kommen und mich hätte einhüllen sollen in selige Blindheit, in glücklichen Trug, sie kam nicht. Mein Herz blieb kalt, meine Augen blieben hell, und mit diesen hellen Augen sah ich meinen rechtschaffenen, wohlerzogenen Mann durch und durch . . .« Sie lachte kurz und herb: »Es war kein begeisternder Anblick!«
Ich war über die Reden Elisabeths und besonders über die Bestimmtheit, mit welcher sie dieselben vorbrachte, so betroffen, daß ich nicht wagte, meine Eltern anzusehen. Verstohlen nur warf ich einen Blick auf die Stelle, die Bernhard früher eingenommen hatte; sie war leer; mein Bruder war aufgestanden und ans Fenster getreten, in dessen Nähe Elisabeth saß. Er sah ernst zu ihr nieder, aber, wie ich dankbar fühlte, ohne Entrüstung.
»Was soll das heißen?« fragte Papa. »Was hast du deinem Manne vorzuwerfen? Er hat nie etwas getan, das nicht anständig gewesen wäre, sich nie ein Unrecht zuschulden kommen lassen.«
»Nie! Er hat nie einen Menschen geschädigt an Ehre oder Gut«, sagte Elisabeth, »er hat aber auch nie freudig und aus eigenem Antrieb geholfen, nie ein Opfer gebracht, nie sich selbst vergessen um eines andern willen. Er hat keinen Sinn für die Großmut und keinen für das Schöne, außer« – wie ein Blitz schoß ein schalkhaft heiterer Ausdruck über ihr Gesicht –, »außer wenn es ihm etwa in Gestalt eines alten Schrankes begegnet oder eines Sporns, den ein Ritter, vielleicht bei der Plünderung eines reisenden Kaufmanns, vor vierhundert Jahren verloren.«
»Aber Elisabeth!« sprach Bernhard, der nun hinter ihr stand und seine Hand auf die Lehne ihres Sessels gelegt hatte.
»Ich weiß, ich sollte so nicht sprechen«, entgegnete sie, »doch geschieht es ja heute zum ersten Male, und es wäre auch heute nicht geschehen, wenn es sich nicht darum handelte, dieses Kind vor dem Schicksal zu bewahren, das mir bereitet worden ist.«
Die gute Mama war in höchster Bestürzung und völlig verwirrt. »Du treibst alles auf die Spitze«, klagte sie; »du beschuldigst deine Eltern, du sprichst ungehörig von deinem Manne!«
Elisabeth nickte zustimmend: »So tu ich! Aber ich habe meiner Schwester versprochen, ihr beizustehen in ihrem schweren Kampfe zwischen dem kindlichen Gehorsam, den sie euch gern beweisen möchte, und ihrem Widerwillen gegen den Grafen.«
»Widerwillen«, murmelte Papa, »lächerlich!«
»Ich halte Wort, ich sage ihr vor euch: Gib nicht nach! Du bist meine rechte Schwester, du würdest, in dieselben Verhältnisse versetzt wie ich, ebenso elend werden wie ich«, sprach Elisabeth, immer mit ihrer furchtbaren Ruhe, und Papa rief ihr zu: »Elend – was das für ein Ausdruck ist!«
Sie darauf: »Wüßt ich doch einen stärkeren, daß ich ihn gebrauchen könnte! Keiner ist stark genug für die Erniedrigung, in einer Nullität seine höchste Instanz anzuerkennen – anerkennen zu sollen, versteht sich –, und was für eine Heuchelei das ist, sich scheinbar zu beugen vor einem Kleineren, als man sich selber fühlt . . .«
»Hochmut! Hochmut!« seufzte Mama. Sie hatte die Arbeit sinken lassen, war schrecklich blaß, und in meiner Seele empfand ich es, wie sehr sie litt, als Elisabeth diesen Ausruf nur mit einem leisen Aufwerfen der Lippen beantwortete und eiskalt fortfuhr: »Und wie man dabei innerlich verkommt, wie man sich verachtet, aber nur, um gleich wieder in schuldiger Demut unterzukriechen unter das ›geheiligte‹ Joch! Das versteht sich immer von selbst! – Wer macht denn einen Skandal? Wer läuft davon? Wer wirft sich ins Wasser? So etwas tun ja nur die ordinären Leute, die keine Religion haben, oder die weichlichen Abkömmlinge von Gevatter Schneider und Handschuhmacher, die keine Courage haben und nichts aushalten können. Unsereins ist fromm, ist stark, hat Heldenblut in den Adern, unsereins desertiert nicht von seinem Posten! Darum, Paula, überleg's, eh du dich hinstellen lässest; es ist ein verteufelt heikler Posten . . .«
Sie wandte sich zu unseren Eltern: »Lieber Vater, liebe Mutter – wenn ihr dem Kinde sagt: Tu's, weil du eine schöne Stellung in der Welt haben, weil du in schönen Schlössern wohnen, ein großes Haus führen und herrliche Equipagen haben wirst, so mögt ihr nach eurer Ansicht wohl recht haben; aber sagt ihm nicht: Tu's, weil du glücklich werden wirst. Das dürft ihr dem Kinde nicht sagen – das, glaubt mir, wäre eine Vermessenheit . . .«
Wer diese Worte nicht gehört, kann sich nicht vorstellen, welchen Eindruck sie machten, als Elisabeth sie sprach, ohne die Stimme zu erheben, ohne sie mit der geringsten Gebärde zu begleiten. Langsam und leise quollen sie hervor, wie Blutstropfen aus einer tiefen Wunde, und indem ich zuhörte, wuchs in mir der Wunsch empor, es möge doch etwas auf Erden geben, etwas ganz Ungeheures und fast Unmögliches, das ich vollbringen könnte für meine Schwester.
Mama war wie versteinert, und Papa hatte die Arme auf seine Knie gelegt und sah auf seine verschränkten Finger herab. Seine Stirn war voll Falten, und zum ersten Male kam mir der Gedanke, daß er doch schon ein alter Mann sei. Bernhard unterbrach die Stille: »Liebe Eltern, ich bitte euch, wenn die Sachen so sind, wäre ich dafür . . . ihr versteht mich schon . . .«
Ach, eine wahre Wohltat für uns alle, die herzliche Art, in welcher er das vorbrachte! Papa erhob den Kopf und dankte dem guten Bernhard mit einem Nicken der Zustimmung. Dann blickte er Mama fragend an: »Was meinst du?«
Sie wollte antworten und konnte nicht; sie seufzte nur: »Mein Gott, mein Gott!«
»Was meinst du?« wiederholte Papa. »Meinst du nicht auch . . .«
»Ich weiß es nicht«, brachte sie mühsam heraus. »Es ist sehr schwer . . .«
»Nichts ist schwer, alles ganz einfach«, versetzte Bernhard. »Ihr sagt dem Grafen: Unsere Tochter fühlt sich geschmeichelt und so weiter, aber sie kann sich noch nicht entschließen zu heiraten; sie wünscht noch bei uns zu bleiben. Punktum!«
Es folgte eine lange, peinliche Pause. Papa machte ihr ein Ende, indem er sprach: »Ja, wenn sie durchaus bei uns bleiben will . . .«
Zögernd fügte Mama hinzu: »Paula ist freilich noch sehr jung!«
»Viel zu jung!« rief ich; dieses Auskunftsmittel war mir noch gar nicht eingefallen. »Oh, meine geliebtesten Eltern! . . .« Ich wollte auf sie zustürzen; aber Mama winkte Elisabeth zu sich heran, und meine Schwester stand auf und trat vor sie hin.
»Du hast uns heute weh getan, Elisabeth«, sagte Papa, aber er reichte ihr die Hand. Sie küßte sie nicht. Wie muß es in ihr ausgesehen haben in diesem Augenblick! Der beste Papa hatte ihr voll Versöhnung die Hand gereicht, und Elisabeth hatte sie ihm nicht geküßt.
In dem Moment ließ der Graf sich anmelden, und auf dem Fuße folgte ihm mein Schwager, der seine Frau zu einer Spazierfahrt abzuholen kam. Beide Herren befanden sich in übler Laune, weil allerlei Reitzeug, das sie, ich weiß nicht woher, bestellt hatten, nicht nach ihrem Geschmack ausgefallen war. Bernhard bedauerte sie recht ironisch, aber sie nahmen es für puren Ernst.
Als Elisabeth und ihr Mann das Zimmer verließen, lief ich ihnen nach, und draußen, im Salon, warf ich mich an die Brust meiner Schwester und dankte ihr und kümmerte mich nicht um die Mißbilligung, mit welcher mein Schwager uns betrachtete. »Was sind das wieder für Exaltationen und Geschichten?« fragte er.
Bernhard, der meinem Beispiel gefolgt war und sich auch davongemacht hatte, gab ihm zur Antwort: »Ja, mein Lieber, wenn du erst hören wirst, was diese Person« – er zwinkerte mir zu – »für Mucken hat! Denke dir, diese Person will den Grafen T. nicht. Ein so amüsanter Mann, ein so nobler Mann, ein so hübscher Mann, und – sie will ihn nicht!«
Mein Schwager hielt das gewiß nur für einen schlechten Spaß, entgegnete aber doch: »Da seid ja ihr da, um ihr den Kopf zurechtzusetzen.« Er wandte sich zum Gehen und Elisabeth mit ihm. Wir sahen ihr nach, wie sie so gleichmütig an seiner Seite dahinschritt – die arme Frau.
»Mir hat schon lange vor dem gegruselt, was herauskommen wird, wenn die uns einmal reinen Wein einschenkt über ihr häusliches Glück«, sprach Bernhard.
»Auch mir hat schon lange gebangt«, erwiderte ich und konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. »Ich habe mich nur gewundert, daß sie niemals klagt.«
»Darüber hast du dich nicht zu wundern!« rief er. »So etwas ist kein Konversationsstoff; von so etwas spricht eine anständige Frau, wenn's sein muß, einmal und nicht wieder. Merk dir das zur Beachtung ihr gegenüber.« Freundlich klopfte er mir auf die Wange: »Der da drinnen kriegt jetzt seinen Abschied. Bist zufrieden, Kleine?«
Ich wollte ihm danken für seine große Güte gegen mich; er erlaubte es nicht, sondern sagte ungeduldig: »Ich bitte dich um Gottes willen, sei nur nicht fad!«
Meine Eltern sprachen nicht wieder vom Grafen mit mir, und daß ich von ihm nicht sprach, ist natürlich.
Vor einigen Tagen, in der Soiree, nach welcher ich den Entschluß gefaßt habe, meine Memoiren zu schreiben, war auch seine Mutter erschienen und behandelte mich mit großer Freundlichkeit. Dieser Edelmut ergriff und beschämte mich, und ich brauchte viel Selbstüberwindung, um die Gräfin nicht inständigst zu bitten, mir zu verzeihen und mir wohlwollend gesinnt zu bleiben. Doch wäre das vielleicht taktlos gewesen.
Als sie sich abwandte, kicherte Pierre Coucy, der so boshaft ist, hinter ihr her und sagte: »Sie ist heute mehr Creme denn je – aber saure.«
»Kein Wunder«, meinte sein Bruder und sah mich verstohlen an, indes er Elisabeth fragte: »Wissen Sie schon? Der Lord ist zu Schiff nach – Böhmen.«
»Nein«, versetzte Pierre, »zu Luftballon, in einem Korb.«
Ich war betroffen über diesen schlechten Witz; Elisabeth jedoch sprach mit ihrer herrlichen Gelassenheit: »Sie dichten – nun ist's heraus! Im Verdacht, daß Sie insgeheim fabulieren, habe ich Sie längst gehabt.«
»Mit Unrecht! Ich bin mehr als ein Fabulist, ich bin ein Seher.«
»Was man auch sein muß, um eine Sphinx wie den guten T. zu durchschauen.«
Sie fuhren fort, abgedroschene Späße zu machen, und da hat mir der Graf leid getan, der diese Coucys für seine Freunde hält. Sie müssen auch gegen andere Leute geschwatzt haben, denn als Baron Schwarzburg sich bei mir empfahl – es geschah mittelst einer stummen Verbeugung –, stand es ihm auf der Stirn geschrieben und lachte es ihm aus den Augen, wie er so von ganzem Herzen dem Grafen eine glückliche Reise wünschte.
Bei uns ist es jetzt merkwürdig und nicht gerade sehr angenehm. Meine Duphot grollt zum ersten Male im Leben mit mir – in ihrer sanften Weise, versteht sich, und ebensosehr zu ihrer eigenen Pönitenz als zu der meinen. Mein vielgeliebter Papa ist verstimmt und sagt überaus oft zu mir: »Do whatever you like.« Und die Worte, über welche ich sonst gejubelt habe, machen mich jetzt traurig. Ich fürchte immer, aus ihnen herauszuhören: An unseren Wünschen liegt dir ja nichts.
Mama scheint auch verstimmt; sie bringt noch mehr Zeit in der Kirche zu als sonst. Gewiß betet sie dort für Elisabeth, und sie hat auch mir aufgetragen, Gott täglich zu bitten, er möge das Herz meiner armen Schwester wandeln und in ihr die gebührende und pflichtgemäße Liebe zu ihrem Manne erwecken. So bete ich denn, muß aber aufrichtig gestehen – ich weiß nicht, ob der Allmächtige sich gerade in dem Punkte etwas dreinreden läßt. Die Liebe, die wahre, die einen solchen Feuereifer für alles Gute in uns entflammt und sich nur mit heißer Andacht vergleichen läßt, die schickt unser Herrgott, wenn er sie überhaupt schicken will, von allem Anfang an. Eine armselige, nachträglich zusammengebettelte Liebe, wen soll die beglücken?
Am 25. Mai
Gestern habe ich diese Blätter überlesen und mich gefragt, ob ich da auch wirklich Memoiren schreibe? Memoiren handeln von interessanten Menschen, und ich spreche immer nur von mir; sie handeln von interessanten Zeiten, und ich spreche von unserer Zeit gar nicht, die ja sehr interessant ist. »Eine eminent politische Zeit!« hörte ich neulich einen alten Herrn sagen. Nun beschränkt sich aber meine ganze Meinung in der Politik auf eine entschiedene Vorliebe für die Statthalterei; die Gelegenheit, von ihr zu sprechen, ist mir stets willkommen, bietet sich auch oft, weil Papa dort seine Angelegenheit betreibt. Er will eine seiner Gemeinden hindern, gegen bessere Einsicht und eigenen Nutzen den Wald auszuroden. Bisher klagte er oft über die Energielosigkeit der Behörde; auf einmal haben seine Klagen aufgehört. Ich hätte schon längst gern gewußt warum, habe mich aber nicht getraut, mich zu erkundigen, eben wegen des Zusammenhangs unserer ländlichen Übelstände mit der Statthalterei. Heute bei Tische endlich fasse ich Mut und frage: »Was ist's denn mit dem Gemeindewald, Papa? Wird er ausgerodet?«
»Wird nicht ausgerodet.«
»So hast du es glücklich durchgesetzt? Das ist gescheit!«
»Papa hat es durchgesetzt, weil er sich endlich an den rechten Mann gewendet hat«, fiel Bernhard ein und ließ sich nicht hindern fortzufahren, obwohl Papa abwinkte, »an den Mann des Rechtes, der doch einmal nicht Unrecht gehabt hat zu behaupten: Das Recht muß siegen.«
Mama und Madame Duphot haben immerfort versucht, den Übergang zu einem andern Thema zu finden, und immerfort ist Bernhard auf das seine zurückgekommen und hat nicht nachgelassen, bis es ihm gelungen ist, dem guten Papa das Geständnis abzuzwingen, daß Baron Schwarzburg ein Mann von Talent ist und von sehr bravem Charakter. –
Nachmittags wurde beschlossen, daß wir in acht Tagen auf das Land fahren. Elisabeth kommt zu langem Aufenthalt zu uns – ohne ihren Mann. Der hat eine neue Besitzung in der Marmaros gekauft und baut dort ein Jagdschloß. Meine Schwester ist eine andere Person seit der Abreise ihres Mannes, viel lebhafter, viel lustiger, ordentlich übermütig und den Eltern gegenüber zärtlich und voll Aufmerksamkeiten. Mit mir treibt sie es oft wie mit einem Baby. »Wenn du doch ein wirkliches Baby hättest!« sagte ich zu ihr.
Da rief sie: »Schweig! Es ist mein größtes Glück, daß mir der Himmel keines schenkt! Ich könnte es ebensowenig liebhaben wie . . .«
Sie ließ das weitere unausgesprochen; ich aber verstand sie gar wohl und hatte mit ihr ein unendlich tiefes Mitleid.
Wenn ich sie so aufatmen sehe in ihrer Freiheit, erinnere ich mich immer jener schönen Esche bei uns daheim im Walde. Ein furchtbarer Sturm hatte gerast und den jungen Baum derart niedergedrückt, daß sein Wipfel sich im Geäst einer zausigen, krummen Kiefer verfing, die viel kleiner war als er. Und nun konnte die Esche nicht mehr loskommen. Ihr junger Stamm war gekrümmt wie ein Bogen; ihre zarten Zweige, die gewohnt gewesen waren, nur den Himmel über sich zu haben und sich zu regen und zu strecken, wie es ihnen gefiel, hingen welk und freudlos und zur Erde gezerrt in den dünnen Krallen des Bedrängers. Zum Glücke kamen wir vorbei, mein Vater und ich. Er ließ die Kiefer, an der nichts lag, abhauen: die Esche war befreit, welche Seligkeit! Der elastische Baum richtete sich sogleich wieder auf, wonnig bebten seine Zweige, jedes einzelne Blatt begann ein Freudengeflatter zu erheben, und der schlanke Wipfel grüßte seinen Nachbarn und Gefährten, grüßte den Himmel, der ihm, wie zur Erwiderung, einen mild leuchtenden Sonnenstrahl zusandte.
Die Esche ist für immer gerettet; meine arme Schwester muß zurück in die Gefangenschaft, wenn der Sommer vorbei sein wird. Sie läßt sich durch diesen Gedanken die Freude nicht stören, die tapfere! Sie sagt: Man genießt das Gute, solange man's hat. Das sind die vom Schicksal Verzärtelten, die für ein Glück nicht danken, weil es nur ein vorübergehendes ist. Krösus hat keine ruhige Stunde, wenn er nicht darauf zählen kann, daß er bis an sein Ende in Reichtum schwelgen wird; der Bettler läßt sich den Appetit an dem Brot, das du ihm schenkst, nicht verderben durch die Furcht vor dem morgigen Hunger.
Ich muß sie immer mehr bewundern und bedauern und mein Los im Vergleich zu dem ihren immer mehr preisen. Wie gnädig ist Gott gegen mich! Die selige Freiheit, die meiner Schwester nur für kurze Zeit gegönnt ist, ich werde sie beständig genießen und außerdem noch die große, stille Wonne, recht von Herzen an ihn denken zu dürfen, der mir so unaussprechlich teuer ist. Obwohl von ihm getrennt, werde ich wandeln wie unter seinen Augen und bei all meinem Tun und Lassen mich fragen: Wäre ihm das recht, dem »rechten Mann«, dem »Mann des Rechts«?
Merkwürdige Dinge müssen im Werke sein. Es finden geheimnisvolle Zusammenkünfte im kleinen Salon, lange Besprechungen im Schreibzimmer Papas statt. Konfusion herrscht in allen Ecken. Mama hatte die letzten Soireen, die bei uns noch stattfinden sollten, absagen lassen; dennoch erschien vor einigen Tagen Baron Schwarzburg und war sehr verwundert, uns allein zu finden; er hatte keine Absage erhalten. Ich bemerkte, wie Papa und Bernhard, als er eintrat, einen raschen Blick wechselten und dann nicht ganz ohne Besorgnis zu Mama hinüberguckten. Sie verhielt sich kühl, bei weitem aber nicht so kühl wie meine Duphot. Die hat gegen Schwarzburg eine unbegreifliche Antipathie und vertraute mir schon mehrmals unter allen Symptomen des Abscheus, daß sie ihn für einen »esprit fort« hält.
Er blieb eine Stunde, und mir war das Glück, ihn zu sehen und sprechen zu hören, sehr getrübt durch die Furcht, die ich immer hatte: Jetzt wird er aufstehen und sich empfehlen, und ich werde ihn nicht mehr sehen, nicht mehr hören, jahrelang vielleicht – wer weiß? –, vielleicht nie mehr! . . . Eine namenlose Überraschung war es für mich, als ihm Papa beim Abschiede die Hand schüttelte und sagte: »Auf Wiedersehen also, noch einmal vor Ihrer Abreise.«
Da konnte ich mir nicht helfen – ich stürzte auf Papa zu und küßte ihm die Hand. Er sah mich streng an und brummte: »Was hast du? Ich glaube, du bist wieder einmal närrisch.«
Am 30. Mai
Ich will aufschreiben, was ich erlebt habe – wenn ich kann, wenn meine Hand nicht zu sehr zittert, wenn mir die Gedanken nicht zu arg durcheinanderschwirren. Ich war schon ruhig den ganzen Abend, habe unbefangen von gleichgültigen Dingen gesprochen – warum jetzt wieder diese peinliche Bangigkeit? Es ist mir freilich vorgekommen, als ob meine Eltern und meine Geschwister die verkehrten Antworten, die ich ihnen anfangs gab, absichtlich unbemerkt gelassen hätten . . . Täuschte ich mich? Sie machten alle so wichtige Mienen, und mir flogen die wunderlichsten Vermutungen durch den Kopf. Aber das war nachträglich und, was sich vorher begeben hatte, folgendes: Heute nachmittag befand ich mich allein im großen Salon und wartete auf die Rückkehr Mamas und Madame Duphots aus der Kirche. Da geht die Tür auf, und ohne daß er gemeldet worden, tritt Baron Schwarzburg ins Zimmer und sagt: »Ich komme, mich zu verabschieden, Gräfin, ich reise morgen.«
Und ich, in meiner Überraschung, bringe nichts anderes heraus als: »Die Mama ist nicht zu Hause.«
»Sie wird wohl gleich kommen«, sagte ich. Darauf verneigte er sich schweigend.
Bei seinem Erscheinen war ich aufgestanden und wußte nicht, ob ich ihn bitten dürfte, Platz zu nehmen, und ihn dastehen zu lassen war doch zu unhöflich. Das gab ein unangenehmes Dilemma, und der schöne Moment unseres ersten Alleinseins war recht peinlich. Er ging ans Fenster und sah eine Weile aufmerksam auf die Straße hinunter. Dann wandte er sich wieder zu mir. Er hielt seinen Hut in einer Hand und seine Handschuhe in der andern und klopfte mit den Handschuhen auf den Rand des Hutes. Um nur etwas zu sagen, bemerkte ich: »Es ist heute recht staubig draußen.«
Ein sehr liebes Lächeln spielte um seinen Mund. »Ach nein«, sprach er, »es hat ja geregnet.«
Nun entstand abermals eine Pause, und es dauerte lange, bis der Baron ihr ein Ende machte und begann: »Sie wissen, daß ich sehr gern nach Bosnien gehe.«
Ich erwiderte: »Ich weiß es und weiß auch warum – weil Sie dort eine große Aufgabe zu erfüllen haben.«
»In dem kleinen Bereich meiner Stellung«, beeilte er sich zu berichtigen. »Und eben die Kleinheit dieses Bereichs läßt die Aufgabe groß erscheinen. Jedenfalls wird es lange dauern, ehe sie bewältigt werden kann, und früher will ich an die Heimkehr nicht einmal denken.«
»Aber einen Urlaub werden Sie doch hie und da nehmen?«
»Das gewiß!«
»Und uns besuchen?«
»Oh – natürlich!«
»Das wird viele Menschen freuen, besonders mich.«
Diese so selbstverständlichen Worte machten auf ihn einen unglaublich starken Eindruck. Er wiederholte gerührt und warm: »Besonders Sie? Besonders Sie?« schien noch etwas hinzufügen zu wollen, tat einen Schritt auf mich zu, besann sich aber, hielt inne und warf nur plötzlich und heftig seine Handschuhe in seinen Hut, den er auf das Fensterbrett gestellt hatte.
Nun faßte ich mir ein Herz und sagte: »Setzen Sie sich doch, Baron Schwarzburg.«
Er folgte meiner Einladung, und wir setzten uns einander gegenüber auf die zwei kleinen Fauteuils vor dem Blumentisch, in der Nähe der offenstehenden Balkontür.
»Wie schwer und schwül ist diese Stadtluft!« rief er, und ich meinte, auf dem Lande würde es jetzt wohl bei weitem angenehmer sein, und in Bosnien auch.
»Oh – bei weitem! Und Sie gehen sicherlich ebensogern auf das Land, wie ich nach Bosnien gehe.«
Ich bejahte es, und er verlangte eine Beschreibung meines Lebens in Trostburg, und ich gab ihm genaue Rechenschaft meiner Tageseinteilung. Er dankte mir herzlich dafür; es sei prächtig zu wissen, wo seine Gedanken mich zu jeder Stunde zu suchen hätten, im Wald, im Garten, in meinem Zimmer oder in der Bibliothek, in die Lektüre eines schönen Buches vertieft . . . »Und meine Gedanken werden Sie oft suchen«, schloß er.
»Darauf zähl ich«, war meine Antwort.
»Werden auch Sie an mich denken?« fragte er und sah mir fest in die Augen.
Ebenso fest sah ich ihn an und sagte: »Immer.«
Da ergriff er meine Hand und hielt sie in der seinen, ängstlich, fast wie ein Kleinod: »Das sollen Sie ja nicht tun! Auch an seinen besten Freund, und ich bin der Ihre, denkt man nicht immer. Er muß sich glücklich preisen, wenn Sie sich seiner manchmal wohlwollend erinnern.«
Diese Genügsamkeit befremdete mich, mißfiel mir, und ich hatte den Mut, es auszusprechen. Wie von ganzem Herzen lieb er mir ist – sagte ich mir –, muß er ja wissen, und wenn ich so kühn bin, an seine Neigung für mich zu glauben, kann doch er von der meinen für ihn überzeugt sein. So blieb ich denn dabei: Was mich beträfe, so würde ich immer an ihn denken und darin mein höchstes Glück finden. Daß ich mich verheiraten solle, verlangten meine guten Eltern von mir nicht mehr; mit der Gefahr sei es vorbei, ein- für allemal. Ich bliebe bei ihnen, würde sie lieben und pflegen, solange sie leben, und dereinst, wenn ich sie nicht mehr habe, ihr Andenken ehren, ihre guten Werke fortsetzen und das Dasein einer alten Jungfer führen, einer ehrsamen und glücklichen, vielleicht sogar einer hilfreichen und nützlichen.
Geduldig hatte er mir zugehört und entgegnete: »Gut, gut. Sie haben mich von allem unterrichtet, von Ihrer Tagesordnung zuerst und jetzt von Ihren Zukunftsplänen. Gut, gut – so wollen wir es halten. Sie eine freiwillige und zufriedene alte Jungfer, ich« – er zuckte die Achseln –, »durch die Notwendigkeit gezwungen, ein alter Junggeselle.«
»Durch die Notwendigkeit?«
»Ja!« rief er. »Wo fände ich eine Frau, die sich herbeiließe, die harte Existenz zu teilen, welche ich ihr, wenigstens vorläufig, anzubieten habe?«
»Ach deswegen! Die harte Existenz, das ist doch kein Hindernis.«
»Und was sonst?«
»Der Wunsch der Eltern.«
»Da stehen wir auf dem alten Fleck. Dieser Wunsch entspringt aus der Erkenntnis: die Töchter, die wir erzogen haben, dürfen eine schlechte Partie nicht machen; sie würden durch eine schlechte Partie höchst unglücklich und elend; sie kämen sich gesunken vor und gar nicht mehr anständig.«
Er ereiferte sich immer mehr und sagte in der Heftigkeit Dinge, die nicht ganz logisch waren. Er spottete über die Vorurteile der großen Welt und zwang sich doch mit peinlicher Selbstüberwindung zu versichern, der Brauch habe diese Vorurteile geheiligt, und derjenige, der dem Kreise angehört, in welchem sie gelten, tue gut, sie zu ehren.
»Dann tun also Sie nicht gut«, wandte ich ihm ein.
»Ich, ach Gott, ich! Sprechen wir nicht von mir! Ich bin ja, wie Sie von jedem hören können – ein Narr. Ich tue nicht gut, freilich nicht, und tue nicht gut aus Überzeugung, und deswegen bin ich ja eben ein Narr . . . Aber doch nicht Narr genug, Gräfin, nicht Narr genug, um einem Wesen, das ich liebe, zuzumuten« – er preßte meine Hand, daß ich Mühe hatte, nicht aufzuschreien –, »meinem Beispiele zu folgen und mich zu begleiten auf meinem einsamen Wege.«
Er biß die Zähne zusammen, seine Augen rollten, seine gewohnte Selbstbeherrschung verließ ihn, er sah entsetzlich aufgeregt aus, und ich würde mich gefürchtet haben, wenn ich ihn nicht so liebgehabt hätte; aber weil ich ihn so liebhatte, tat er mir nur ungeheuer leid, und ich sagte: »Ich weiß eine, der Sie gar nicht nötig hätten das zuzumuten; die es gerne von selbst täte, wenn sie nur dürfte!«
Statt ihn zu beschwichtigen, brachten meine Worte ihn nur noch mehr auf.
»Heil dieser Törin, daß sie nicht darf! Es ist ihr Glück; sie ahnt nicht, was sie unternähme, wie auch ich es unbewußt unternahm und den Namen nicht kannte, der mir zukommt und den ich erst erfuhr, als der Hohn der anderen mich taufte: Idealist. Sei du es nur! Ringe gegen das mächtige Element, vergeude deine Kraft im erfolglosesten Kampfe! . . . Ringe dich los von allen, die seinem frischen, frohen Laufe folgen, die deinesgleichen, deine Genossen, deine Brüder waren und deren Widersacher du geworden bist, deren Interessen du bestreitest, deren Überzeugungen du verleugnest und – an denen du doch mit allen Fibern deines Herzens hängst!«
Er schwieg nun. Auch ich vermochte nicht zu sprechen. Desto lauter jedoch, desto deutlicher rief es in mir: Törin? Ja! weil du meintest, es sei genug, ihm aus der Ferne zu folgen. Bei ihm mußt du stehen, da ist dein Platz! Alle meine anderen Pflichten erschienen mir plötzlich als die geringeren, meine Angst vor meinem geliebten Vater kindisch . . . Ich glaube, daß ich dann, wenn auch leise, doch nachdrücklich gesagt habe: »Wäre es nicht besser, wenn man in einem solchen Kampfe einen Gefährten an seiner Seite hätte?«
»Einen Gefährten?«
»Der ebenso gesinnt ist wie man selbst, es aber nur nicht ebenso geradezu eingesteht oder bisher eingestanden hat, weil er sich nicht getraute, sich noch nicht selbst ganz klargewesen ist . . .«
Ich stockte, ich wagte nicht, ihn anzusehen; aber ich wußte, daß seine Augen auf mir ruhten, und er fragte sehr sanft und sehr liebevoll: »Ist er sich denn jetzt auch wirklich völlig klargeworden?«
»Ja, er weiß jetzt, daß er dasselbe ist wie Sie – ein Idealist.«
»Zeichen und Wunder!« sagte er mit, ach, so gütigem Scherz und vergeblich unterdrücktem Jubel. »Soll mir der wirklich begegnen, ein Idealist, in Ihrem Kreise? Heutzutage! . . . Es ist unmöglich!«
»Nehmen Sie's doch an.«
»Soll ich? Darf ich? . . . Würde der Idealist, den Sie meinen, es aushalten bei mir unbekanntem und obskurem Manne?«
»Natürlich, und ich wünsche es sogar von Herzen, daß Sie unbekannt bleiben und obskur, damit ich Ihnen um so mehr beweisen kann . . .«
Ich kam nicht weiter, denn jauchzend unterbrach er mich: »Sie! Sie! . . . Sie sind also der treue, hingebende Gefährte? Sie wollen es sein, und mir wäre beschieden, was fast unerhört ist, was das höchste Glück ist – in dem Weibe seiner Seele den Gesinnungsgenossen zu finden, den Vertrauten aller, auch der kühnsten Gedanken, den Berater im Zweifel, im Schmerz den süßesten Tröster und im Gelingen den innigsten Teilnehmer? Das alles wollen Sie mir sein? Alles – trotz allen?«
»Es wird wohl nicht trotz allen sein müssen«, antwortete ich, verwirrt durch das leidenschaftliche Entzücken, mit dem er mich an sich zog – »ich werde meinen guten Vater bitten . . .«
Da schrie er auf: »Ihr Vater!« und sprang empor und griff sich an die Stirn wie ein Verzweifelter. Und ich, zu meiner größten Überraschung, sah, daß Papa und Bernhard dastanden. »Nun«, sagte Papa, »Wort gehalten?«
»Fragen Sie mich nicht! Fragen Sie mich nicht!« rief Schwarzburg ganz außer sich.
Bernhard lachte laut und rief: »Hast du ihr den Baron Schwarzburg nicht ausgeredet? Das freut mich!«
»Mich nicht«, versetzte Papa, »aber ich habe es so erwartet; ich bin kein Idealist, ich kenne die Menschen.«
Bernhard platzte wieder heraus: »Wenn er wirklich ein solcher Don Quijote gewesen wäre, daß er . . .«
»Gib Ruh!« befahl Papa, doch Bernhard rief: »Ich hätte meine Hand von ihm abgezogen.«
Ein Diener kam und meldete, daß Mama die Herren erwartete. Diese folgten sogleich dem Rufe, und mich schickte Papa auf mein Zimmer.
Da bin ich noch. Sie haben mich ganz vergessen oder wollen von mir nichts mehr wissen. Niemand kümmert sich um mich . . . Ach, wenn ich dich nicht hätte, mein liebes Tagebuch, dem ich alles anvertraue, ich wäre sehr, gar sehr zu bedauern . . .
Teurer Leser, wenn du mir bis hierher gefolgt bist, hab Dank für deine Treue. Wir nehmen nun Abschied. Die Memoiren, die zu schreiben ich mich vermaß, sind ohnehin in ein Tagebuch ausgeartet, und jetzt wird das Tagebuch sich in eine Korrespondenz verwandeln, deren Inhalt das ewige Geheimnis zweier Menschen bleiben muß.
Willst du wissen, wie das gekommen ist, so höre mich noch einmal freundlich an.
Schrecklich lange haben sie mich neulich allein gelassen. Es war dunkel geworden, und eine Stille herrschte wie im Grabe. Sogar der unermüdlichste Sänger unter meinen Vögeln war verstummt und schlief zusammengeduckt auf seinem Sprößlein. Beneidenswert fand ich den Frieden des winzigen Geschöpfes . . .
Endlich näherten Schritte sich der Tür, die kleinen Schritte meiner Duphot. Sie trat ein, sagte traurig und vorwurfsvoll: »Ah, ma chère!« und hieß mich ihr zu meinen Eltern folgen. Ein Herzklopfen wie das, mit welchem ich gehorchte, sollte es nicht geben in der guten und schönen Welt – es ist zu schlimm, zu arg . . .
Bei meinen Eltern befanden sich meine Geschwister und Schwarzburg. Er stand auf, als ich kam, und auch ich blieb stehen. Papa nahm augenblicklich das Wort: »Paula, deine Mutter und ich wollen uns nicht zum zweiten Male vorwerfen lassen, daß uns das Glück eines Kindes . . .«
Mama warf ein: »Oder das, was es dafür hält.«
» . . . nicht so wichtig ist«, fuhr Papa fort, »wie es guten Eltern sein soll. Darum haben wir dem Baron Schwarzburg erlaubt, vor seiner Abreise mit dir zu sprechen. Es ist geschehen . . .«
»Anders, als wir erwartet hatten«, bemerkte Mama.
»Und wie ich höre, habt ihr euch geeinigt in der Idee . . .«
»Oder der Einbildung«, meinte Mama.
» . . . daß ihr füreinander geschaffen seid«, sprach Papa, und ich sagte: »Ja.«
»Ja«, wiederholte Schwarzburg tief bewegt.
»Also – wenn also zwei Menschen wirklich füreinander geschaffen sind – kommt übrigens selten vor –, da ist nichts zu machen. Aber beweisen muß es sich, und der Beweis braucht Zeit – die Dauer ist der Beweis, also wartet.«
»Wir werden warten«, sagte Schwarzburg, und Papa sagte: »Drei Jahre.«
Mir schwindelte; ich konnte mein Glück nicht fassen. So hieß es denn nicht, wie ich zitternd und bebend mit Bestimmtheit erwartet hatte: Tu's, aber auf unsere Einwilligung verzichte!
»Nur drei Jahre?« fragte ich.
»Keinen Tag weniger«, versetzte Mama.
Und ich: »Das ist gar nichts! Zehn Jahre warten wir mit Freuden, wenn ihr es befehlt, beste Eltern . . . Wir sind selig und wünschen nichts mehr, als nur hoffen zu dürfen . . .«
»Sprich für dich!« fiel mir Bernhard ins Wort.
Schwarzburg machte auf einmal ein sehr erschrockenes Gesicht, und ich fragte ihn: »Finden Sie nicht auch, warten, aufeinander warten – ist das nicht himmlisch?«
»Je kürzer, um so himmlischer«, entgegnete er.
Elisabeth war auf mich zugekommen und hatte mich in ihre Arme geschlossen: »Seht, wie klug, wie vorsichtig! Drei Jahre der Prüfung sind ihr zu wenig, sie will zehn. Oh, die weiß es: Sterben ist nichts, aber heiraten, das ist gewagt!«
»Scherzen Sie nicht, Gräfin, ich bitte Sie«, sprach Schwarzburg; »drei Jahre, keinen Tag weniger, aber auch keinen mehr.« Seine Stimme schwankte, aus seinen Augen jedoch blitzte eine kühne und unerschütterliche Entschlossenheit. »Es ist ausgemacht und muß dabei bleiben. Vor wenig Stunden noch«, wandte er sich zu mir, »hätte ich das Glück, das ich jetzt erfahre, unerreichbar genannt – aber ich habe es erfahren, es ist mein, und ich halte daran fest, wie ich gewohnt bin, festzuhalten an meinen hohen Gütern, und Sie, Paula, Sie sind mir das höchste und zugleich, ich weiß es, das sicherste.«
Er reichte mir die Hand: »In drei Jahren – aber dann fürs Leben!«
»Jetzt schon fürs Leben . . .« Mehr vermochte ich nicht zu sagen.
Er nahm Abschied von allen. Wie herzlich war dabei Elisabeth mit ihm . . . Oh, meine Schwester, dir kann ich nicht genug danken!
Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, da erst fiel das Bewußtsein der Trennung mir bleischwer aufs Herz . . . So war er fort, und wir hatten uns kaum, eigentlich gar nicht Lebewohl gesagt. Eine namenlose Sehnsucht ergriff mich, ich kämpfte mit den Tränen, die mich ersticken wollten. Niemand sprach. Plötzlich lachte Bernhard: »Da geht er jetzt, der Mensch, und hat nicht einmal einen Hut.«
Sogleich fiel mir ein, wo der stehengeblieben war, und ich lief in den Salon, um ihn zu holen. Und in den Salon kamen sie mir nach – Schwarzburg und Papa –, und wie es geschah, weiß ich nicht, aber im nächsten Augenblicke lag ich an der Brust meines Verlobten, und er küßte mich innig und zärtlich. Papa stand neben uns, nicht mehr der strenge Papa von vorhin, der milde, nachsichtsvolle von je und immer. Ich brauchte nur in seine lieben Züge zu sehen, um mein ganzes grenzenloses Vertrauen wiederzugewinnen und mit dem Mut dieses Vertrauens auszurufen: »Papa, darf ich ihm schreiben?«
»Und ich ihr?« fragte Schwarzburg.
Papa zögerte. »Warum? Zu was? . . . Schaut –«
Er seufzte, hielt inne, sah uns gerührt an und sagte dann mit dem vollen Tone seiner unendlichen Güte das alte, hochgepriesene: »Well, do whatever you like.«