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In der Hauptstraße einer freundlichen Vorstadt Wiens erhebt sich ein schmuckes Palais, Eigentum des Grafen Meiberg, welcher es mit seiner Familie bewohnt. Diese besteht aus der stattlichen Gräfin und aus sechs Kindern, von denen das jüngste, ein Sohn, fünf Jahre, das älteste, eine Tochter, zwanzig Jahre alt ist. Die Kinder werden sorgfältig erzogen, und den ganzen Tag über lösen die Leute sich ab, die ihnen Gelehrsamkeit und Kunstfertigkeit in das Haus tragen. So trafen einander regelmäßig zwischen zwölf und ein Uhr ein junger Mann und ein hübsches Fräulein im Vorzimmer oder auf der Treppe. Er kam von der Klavierstunde der großen Komtesse, sie ging zur französischen Lektion des kleinen Grafen; er sah gewöhnlich finster drein, sie schien immer munter und vergnügt. Sie war es auch, die zuerst lächelte, als er und sie einmal genau im selben Augenblick den mittleren Absatz der breiten, spiegelhellen Treppe betraten. Am Tage nach diesem Lächeln grüßte er und war entzückt von der anmutig zurückhaltenden Weise, in der sein Gruß erwidert wurde. Die beiden Leutchen ließen es bald nicht mehr bei einer stummen Verbeugung bewenden, sondern illustrierten dieselbe durch ein freundliches Wort: »Guten Tag, Fräulein!« – »Guten Tag!« – und schon das nächste Mal: »Guten Tag, Fräulein Dübois!« – »Guten Tag, Herr Bretfeld!«
Fräulein Dübois? dachte sie; er hat sich nach meinem Namen erkundigt. – Herr Bretfeld? dachte er; sie weiß, wie ich heiße.
Eine Woche später waren sie schon so vertraut, daß er einen scherzenden Ton anschlug und sagte: »Sie sind die Pünktlichkeit selbst, Fräulein«, worauf sie ebenso erwiderte: »Ja, meine Uhr richtet sich immer nach mir.« – »Das sollten alle Leute tun«, sprach er und erschrak derart über die Albernheit, die ihm da entwischt war, daß er sich ganz verlegen aus dem Staube machte.
Mangel an Hochachtung vor sich selbst gehörte sonst nicht zu seinen Schwächen; selten mißfiel ihm etwas so recht aus dem Grunde, das Arnold Bretfeld getan oder gesagt hatte; an dem Tage jedoch konnte er ein unangenehmes Gefühl nicht loswerden, und wenn er sich fragte: Was hab ich denn? kam die Antwort: Das Bewußtsein der Dummheit, die du gesagt hast. Seine Nachtruhe war gestört, und am folgenden Morgen wünschte er allen Ernstes, dem lieblichen Fräulein, vor dem er sich so schrecklich blamiert hatte, gar nie mehr unter die Augen kommen zu müssen. Diesen Wunsch vergaß er plötzlich, als er, nach der Klavierstunde aus dem Salon ins Vorzimmer tretend, die Gefürchtete dastehen sah. Er half ihr, da sich zufällig kein Diener in der Nähe befand, ihr Mäntelchen ablegen, das sehr elegant, aber merkwürdig leicht und dünn war, ein schlechter Schutz gegen die Kälte und den fallenden Schnee.
»Fräulein kommen von Hause?«
»O nein, ich habe heute schon drei Lektionen gegeben.«
Drei Lektionen! – Sie war früh aufgestanden, war schon gewandert durch Wind und Wetter, Straßen und Stiegen, auf und ab, und sah dennoch so nett aus, als ob sie unter einer Glasglocke gestanden hätte, seitdem die letzte Hand an ihre Toilette gelegt worden.
Er wollte ihr sein Erstaunen und seine Bewunderung ausdrücken, aber sie ließ ihm dazu nicht Zeit; sie grüßte und trat in den Gang, der zu den Zimmern ihrer Schüler führte.
Das Kompliment, das Herrn Bretfeld damals auf den Lippen geschwebt hatte, brachte er einige Tage später an und beeilte sich, einmal im Zuge, gleich ein zweites hinzuzufügen über die ganz besonders feine und schmucke Art, in der das Fräulein sich kleide.
»Je nun«, erhielt er zur Antwort, »ein gewisser scheinbarer Luxus gehört mit zu unseren Obliegenheiten. Wir würden bald das Notwendige entbehren, wenn wir das Überflüssige nicht mehr anzuschaffen vermöchten.«
»Ganz richtig!« bestätigte er und hätte sie gern gebeten, noch etwas zu sagen: es war so angenehm, sie sprechen zu hören und – zu sehen.
Sie trug, um den Hut geknüpft, einen kleinen schwarzen Schleier, der bis zum Munde reichte, dessen Atem ihn ganz leise bewegte. Wenn er sich hob, da kamen leicht aufgeworfene, rosige Lippen zum Vorschein, und schön gereihte Zähne schimmerten wie Apfelblüten im Tau.
Eine Viertelstunde später saß Arnold am Klavier neben der Fürstin L. und blieb bei den Schnitzern seiner durchlauchtigen Schülerin, die ihn sonst an den Wänden hätten hinaufjagen mögen, so gelassen wie ein geharnischter Mann vor der Mündung einer Erbsenschleuder. Und abends, während des Vortrags, den er im Konservatorium hielt, und nachts vor dem Einschlafen sah er den lieblichen Mund Fräulein Cläre Dübois' vor sich und sah, weniger deutlich, aber nicht weniger bezaubernd, ein Paar dunkle Augen und eine kluge Stirn, und er schrak aus dem Halbschlummer, in den er endlich gesunken war, plötzlich auf, weil er laut und unwillkürlich ausgerufen hatte: »Allerliebste Person!«
Der erste Tag der folgenden Woche war auch der erste des Monats. Bretfeld begegnete der Lehrerin nicht im Hause, er wurde sie erst gewahr, als er in den Torweg trat. Da stand sie und konferierte mit dem Portier.
»Keine Lektion, nein«, sagte dieser eben zu ihr, »die jungen Grafen haben heute frei.«
»Heute frei«, wiederholte Claire mechanisch.
»Weil der Geburtstag des Grafen Baby ist, lassen die Frau Gräfin sagen.«
Claire hielt ein Päckchen in ihrer Hand, auf das sie mit dem Ausdruck der Enttäuschung niederblickte. Es enthielt offenbar die mit Siegel versehenen Visitenkarten, Stück für Stück erworben im Laufe eines Monats, die Repräsentanten vieler mühseliger Stunden.
»Die Frau Gräfin haben Ihnen sonst keinen Auftrag für mich gegeben?« fragte das Mädchen nach einigem Zögern.
»Keinen, Fräulein«, antwortete der Portier und trat in seine Loge.
Das Päckchen wanderte langsam in den Muff zurück und Claire noch viel langsamer dem Ausgange des Hauses entgegen. Auf der Schwelle blieb sie stehen und schien unentschlossen, wohin sich wenden. Von den Bergen herüber pfiff ein steifer Nordwest, der Himmel schillerte in grauen, die Erde in braunen Farben, und große Schneeflocken, schon im Fallen schmelzend, wirbelten in der naßkalten Luft.
»Schlimmes Wetter«, sprach Bretfeld, der plötzlich an Claires Seite stand, »schlimmes Wetter, um eine Erholungsstunde im Freien zuzubringen. – Ich melde, daß ich gelauscht habe«, fügte er hinzu, den fragenden Blick beantwortend, den sie auf ihn richtete.
Sie schwieg. Eine Weile wandten die jungen Leute ihre ganze Aufmerksamkeit dem Unwetter zu, das draußen tobte.
»Was fangen Sie jetzt an?« rief Bretfeld endlich, »Sie haben nicht einmal ein Parapluie!«
»Das ist ja mein Unglück«, entgegnete sie mit einem Lachen, das ein wenig erzwungen klang, »ich habe es zu Hause gelassen. Der Morgen war so schön! Wer hätte dem Februar diese Aprillaune zugetraut?«
»Ich!« gab Bretfeld zur Antwort, spannte einen prächtigen Regenschirm auf und erbat sich die Gunst, das Fräulein unter dessen Schutz zur Wagenstation auf dem Ring führen zu dürfen. Claire lehnte diesen Vorschlag ab, gestattete aber ihrem Herrn Kollegen, sie bis zu einer Bekannten zu geleiten, bei der sie die Zeit, sich zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde zu begeben, abwarten wollte.
Die Wanderung kam den beiden sehr kurz vor und hatte ihnen doch Muße genug gewährt, einander ihre Lebensgeschichte zu erzählen.
Bretfeld erfuhr, daß Claire die Tochter eines in Wien dereinst in den hohen und höchsten Kreisen der Gesellschaft wohlbekannten Paares war: Monsieur et Madame Dubois, Professor und Professorin der Tanzkunst. Er und sie Pariser vom reinsten Blute, solide Leute, die in schon ziemlich vorgeschrittenen Jahren nach Österreich gewandert waren, um da ihr Glück zu suchen und für das spätgeborene Töchterlein ein kleines Vermögen zu erwerben. Es war ihnen gelungen. Ihre Ersparnisse – dem Bruder Dubois' nach Frankreich zugesendet und von ihm verwaltet – waren allmählich zu einem Kapital angewachsen, von dessen Renten sich's leben ließ. Claire wurde aus dem Kloster genommen, in dem sie ihre Kindheit zugebracht und ihre Erziehung erhalten hatte, und man schickte sich zur Rückkehr in die Heimat an. Die Wohnung war gekündigt, das Mobiliar verkauft; die kleine Familie stand im Begriff abzureisen – da kam die Schreckensnachricht: Bleibt, wo ihr seid; ihr seid ärmer, als ihr je gewesen, denn der Name, den ihr tragt, ist verunehrt. Euer Hab und Gut ist dahin mit demjenigen, dem ihr es anvertraut hattet. Er hat seinem Leben ein Ende gemacht; nicht ihr allein seid betrogen, noch viele andere sind es mit euch. Ihr würdet hier nur Klagen, vielleicht Vorwürfe hören; bleibt, wo ihr seid, und versucht womöglich von vorn anzufangen.
Der Rat war leider unausführbar, so gern der alte Tanzmeister und seine Frau sich ihn auch zunutze gemacht hätten. Die große Enttäuschung, die ihnen an dem Ziele zuteil wurde, zu dem sie sich so unverdrossen hingerungen, hatte sie zu schwer getroffen. Was sie bisher aufrecht erhalten, war ja längst nicht mehr das physische, es war das geistige Vermögen, der feste Wille, den die Hoffnung auf den nahen Erfolg beseelte. Wohl suchten sie eines vor dem anderen und beide vor dem Kinde ihre Mutlosigkeit zu verbergen, aber es gelang nur halb. Der Augenblick, das treulos gewordene Glück von neuem heranzulocken, war auch gar zu ungünstig. Man befand sich im Beginn des Sommers; die Schüler der alten Leute hatten ihren Landaufenthalt angetreten, an Erwerb durfte man vorläufig nicht denken. Die Barschaft, die als Reisegeld zurückbehalten worden, ging zu Ende, Madame Dübois erkrankte, die ersten Schulden wurden gemacht. Es stand schlimm um die kleine Familie, als ihre früheren Gönner im Spätherbst wieder nach der Stadt zogen, scharenweise, wie sie davongeflogen waren. Monsieur Dübois holte seinen schwarzen Frack aus dem Versatzamte und ging in würdiger Haltung von Haus zu Haus, um seine Dienste neuerdings anzubieten. Man empfing ihn allenthalben etwas kühl, etwas verwundert. Man war froh gewesen, den guten Dübois mit seinem Cäsarenprofil und seinen steifen Beinen auf angenehme Art losgeworden zu sein. Die Kinder lachten ja längst über ihn! Wie fatal, daß er nun wieder auftaucht, und – in traurigen Verhältnissen, wie es heißt. Unfaßbar eigentlich, die Leute haben soviel verdient. Die Frau soll sterbenskrank sein. – So möge der Mann doch daheimbleiben und sie pflegen.
»Er dauert mich im Grunde«, sagte die Gräfin Mimi zu der Fürstin Lili; »nimmst du ihn wieder?« – »Ich nicht, ich danke, ich habe Monsieur Pombal engagiert.«
Nun, wenn Fürstin Lili Monsieur Pombal engagiert, dann versteht es sich von selbst, daß Gräfin Mimi und deren Freundin Loulou dasselbe tun und daß alle Gräfinnen und Fürstinnen der Stadt diesem Beispiel folgen.
So ward dem alten Tanzmeister sein Wirkungskreis verschlossen, und es wäre ihm nichts übriggeblieben, als sich an die Straßenecke zu stellen und den Vorübergehenden mit möglichst zierlicher Gebärde seinen Hut entgegenzuhalten, wenn die Gunst, die man ihm entzog, sich nicht seiner Tochter zugewendet hätte. Aber fast alle Damen, die sich gegen Monsieur Dübois so unbarmherzig erwiesen, waren für seine Tochter die Güte selbst. Man kannte sie vom Kloster aus, in dem Claire zugleich mit einigen jungen Mädchen aus der großen Welt erzogen worden war. Mutter Niceta, die Oberin, ließ ihr ihren mächtigen Schutz angedeihen, empfahl sie, verschaffte ihr Lektionen.
»Man nahm mich auf ihre Fürbitte«, schloß das Mädchen, »man behielt mich, nicht etwa um meiner Verdienste willen – ach nein, ich war und, aufrichtig gesagt, ich bin eine schlechte Lehrerin –, sondern weil ich immer heiter und zufrieden aussah. Worauf die Vornehmen den meisten Wert legen, ist, daß man ihnen freudig diene oder zu dienen scheine; meine Lustigkeit, die gab uns Brot.«
Claire hielt inne; der gleichmütige Ausdruck, mit dem sie bisher gesprochen hatte, veränderte sich, und sie brach plötzlich mit den Worten ab: »Meine Lustigkeit mußte ich mir denn um jeden Preis zu erhalten suchen. Das habe ich auch getan.«
»Leben Ihre Eltern noch, Fräulein Dübois?«
»Nein, nein!« erwiderte sie rasch und gepreßt und wandte das Gesicht von ihrem Begleiter ab. Er wagte keine neue Frage.
Erst nach einer Weile richtete ihr Blick sich wieder auf ihn. »Sie wissen nun«, sprach sie, »wie ich eine Lehrerin geworden bin; lassen Sie mich hören, wie Sie ein Lehrer wurden.«
Er antwortete zögernd; er bemühte sich sehr, eine Art zu finden, in welcher er ihr den Unterschied zwischen seiner und ihrer Berufsausübung klarmachen könnte, ohne dabei ihr Selbstgefühl zu verletzen. Lektionen geben war eigentlich nicht seine Sache, er tat es nur ausnahmsweise, wenn irgendeine gesellige Rücksicht ihn dazu zwang, eine Fürbitte, die nicht abgewiesen werden konnte. Er brauchte nicht um seinen Lebensunterhalt zu ringen, er war der Sohn wohlhabender Kaufleute und hatte Musik von Kindheit an aus Liebhaberei getrieben. In Jünglingsjahren kam der Ehrgeiz über ihn, und er meinte das Zeug zum ausübenden Künstler in sich zu verspüren. »Aber der Traum verflog, und ich rief ihm nicht zu: Verweile!« sprach Arnold. »Ich bin zu meinem Glück nicht besessen von dem heißen und dämonischen Strebedrang, der sich so oft dem unzureichenden Talent zugesellt. So ward ich denn ein Musikgelehrter, wenn Sie es so nennen wollen, ein Genießender im allertiefsten Sinne. Jede Schönheit, die in meiner Welt geboren wird, gehört mir, denn ich verstehe sie. Ich bin ein glücklicher Mensch, denn ich vermag Begeisterung zu empfinden und vermag meine Begeisterung zu rechtfertigen.«
»Ein glücklicher Mensch!« wiederholte Claire, und eine edle Freude leuchtete aus ihren Augen. »Ein solches Wort zu hören, wie wohl tut das! Ich fühle mich gleich mit glücklich, wenn mir ein anderer sagt: Ich bin's!«
Sie wurde plötzlich neugierig. Wie lebte er? wie waren seine Familienverhältnisse beschaffen? Hatte er noch seine Eltern? – Nein, die waren tot. – Geschwister? – Ja, zwei Brüder; beide verheiratet, Geschäftsleute durch und durch.
»Wissen Sie, was das heißt: Geschäftsleute?« fragte er.
Eigentlich wußte sie es nicht, aber sie meinte sich's beiläufig denken zu können. »Ihre Brüder sind die Stützen und Sie der Schmuck des ehrenwerten Hauses Bretfeld.«
Er lachte. »Viel eher das ungeratene Kind, das man in Gottes Namen seinen eigenen Weg gehen läßt, nach vielen gescheiterten Versuchen, es davon abzubringen.«
Claire blickte forschend zu ihm empor. »So haben Sie doch auch Ihre Kämpfe gehabt?«
»Sehr zahme«, versetzte er. »Die Meinen lassen mich gewähren, seitdem es bei ihnen feststeht, daß ich nun einmal ein Sonderling bin.«
Er suchte das Gespräch wieder auf sie zu lenken, und sie erzählte munter, wie freundlich das Schicksal sich gegen sie erwiesen hatte, indem es ihr zum Heil gereichen ließ, was dem natürlichen Lauf der Dinge nach ihr Unheil hätte sein müssen, nämlich – ihre Unwissenheit. »Die Kinder lernen nichts bei mir, und das ist es, was ihre Mamas so freut, denn die meisten dieser Damen sind im geheimen überzeugt – daß Lernen dumm macht.«
Da unterbrach sie sich ganz bestürzt, wurde über und über rot und mußte das Geständnis ablegen, daß sie in unbegreiflicher Zerstreutheit an dem Hause vorübergegangen sei, in dem sie ein Obdach hatte suchen wollen. Ihr Begleiter war herzlos genug, sich dessen, was sie so tief beschämte, zu freuen, und sie kehrten um; sie rasch, er zögernd. Unter dem Tor gab es dann einen edlen Wettstreit. Er wollte ihr seinen Regenschirm aufnötigen, sie lehnte ihn mit Entschiedenheit ab und eilte nach wiederholtem Dank die Stiege hinan.
Und er stand im Treppenhause und blickte ihr nach, lange nachdem sie nicht mehr zu erblicken war. Doch mußte er sie trotzdem sehen und in ihr den Inbegriff des Anmutigen und Schönen, sonst hätten seine Augen wohl nimmer mit dem Ausdruck eines so innigen Entzückens in das scheinbar Leere geschaut.
Drei Generationen im Hause Meiberg waren Claire in einer Neigung zugetan, die sich bei den Jüngeren oft stürmisch, bei den Älteren immer huldvoll äußerte. Die Damen fanden sie »so herzig und so amüsant!« – »Und noch immer bildhübsch!« ergänzten die Herren. Man lud sie zu den kleinen Komtessensoireen, die Gräfin bat sie zu sich, wenn sie »nur einige Damen« hatte, und zu ihren Eltern, wenn ein Partner zum Boston fehlte. Solange Claire im Salon verweilte, wurde sie von allen Anwesenden wie eine der Ihren behandelt, etwas höflicher, etwas zuvorkommender höchstens. Über die Schwelle des Salons jedoch reichte die Gastfreundschaft, die ihr erwiesen wurde, nicht. Niemand fragte, wenn der Abend zu Ende war: Wie kommt Claire nach Hause? Es gehörte mit zu den Vorzügen, die man ihr am höchsten anrechnete, daß sie keine Prätensionen machte, daß es ihr nie einfiel, auf die Begleitung eines Dieners oder gar auf die Benutzung der Equipage Anspruch zu erheben. Die Eltern, die ihren eigenen Töchtern nicht erlaubt hätten, am hellen Tage die Straße allein zu überschreiten, fanden es ganz natürlich, daß Claire Dübois ohne anderen Schutz als ihren Mut bei Nacht den weiten Weg nach ihrer Vorstadt antrat. Sie pflegte wie Aschenbrödel sich aus der Gesellschaft davonzumachen, kurze Zeit vor den anderen Gästen. Ohne Abschied war sie mit einmal verschwunden, hatte im Vorzimmer den Mantel angelegt, das Hütchen auf den Kopf gestülpt und eilte, so rasch sie konnte, bis zur Stadt und durch die Stadt und durch den Park dem Hause zu, in dem sie wohnte. Näherte sich ihr einmal irgendein Zudringlicher, verstand sie es, ihn gehörig abzuweisen. Im schlimmsten Falle verließ sie sich auf ihre gelenken Beine. Furcht und Bangen hatte sie noch nicht gekannt – und nun plötzlich lernte sie beide kennen.
Eines Abends – es war kurz nach der Promenade unter dem seidenen Dach ihres Kollegen Bretfeld – bemerkte sie, daß ihr vom Ausgang des Palais Meiberg bis in die Nähe ihrer Wohnung ein Mann in teils größerer, teils geringerer Entfernung folgte. In den belebten Straßen blieb er ziemlich weit hinter ihr zurück, beim Durchschreiten des Parks war er mehrmals dicht an ihren Fersen. Seine großen regelmäßigen Schritte hallten auf dem gefrorenen Boden. Sie sah sich nicht um; sie rannte vorwärts, und himmelangst wurde ihr, als sie, vor ihrem Hause angelangt, das Tor schon verschlossen fand und wußte: Nun gilt es warten, und nun kommt der hartnäckige Verfolger heran. Sie stürmte an der Glocke, und zitternd am ganzen Leibe legte sie sich die kühnen Worte zurecht, mit denen sie ihn abzufertigen gedachte, wenn er sie anspräche. Aber der Gefürchtete näherte sich ihr nicht; auch er schien stehengeblieben zu sein – und zu warten wie sie . . . Vielleicht auf das Öffnen des Tors? Vielleicht war derjenige, vor dem sie geflohen, ein harmloser Hausgenosse, am Ende gar der brave Meister Dietl, »der zahlreiche Familienvater« und Inhaber der Schusterwerkstätte im vierten Stock? Claire staunte nur, daß der Meister so stumm blieb und so regungslos an der andern Seite der Straße. Jetzt war der Hausbesorger da, der Schlüssel drehte sich im Schlosse, und Claire sah sich, während sie ins Haus schlüpfte, nach ihrem stillen Begleiter um. Er stand im Schatten des gegenüberliegenden Hauses und schien eher bemüht, seine Anwesenheit zu verbergen als bemerkbar zu machen.
Derselbe Vorgang wiederholte sich von nun an in derselben Weise, sooft Claire einen Abend bei Meiberg zubrachte, und ihre Furcht vor dem geheimnisvollen Beschützer hatte sich allmählich verloren; hingegen war der Entschluß in ihr gereift, sich seine Begleitung nicht länger gefallen zu lassen.
Einmal wieder langten die schweigenden Wanderer im Parke an. Es war zu Ende des Monats März; der Mond leuchtete wie eine weiße Sonne. Die Bäume und Gesträuche trugen Knospen, frischer Erdgeruch entstieg den feuchten Wiesen, wie Sehnsucht und Verheißung lag es in der lauwarmen Frühlingsnacht. Claire hatte ihre Schritte verlangsamt; jetzt blieb sie stehen, wandte sich um und sprach: »Herr Bretfeld – was soll's? – Das muß ein Ende haben.«
Er fuhr unwillkürlich mit der Hand nach seinem Hute, grüßte, und so, entblößten Hauptes vor ihr stehend, erwiderte er: »Mein Fräulein – nein!«
»Wieso nein? Was heißt das?«
»Daß ich fortfahren werde, Ihnen aufzulauern und, wenn Sie des Abends Ihren Heimweg antreten, Ihnen zu folgen – in ehrerbietiger Entfernung wie bisher.«
»Und wenn ich es Ihnen verbiete?«
»Werde ich es mir nicht verbieten lassen. – Habe ich mich Ihnen lästig gemacht? . . . Habe ich durch ein Wort, durch einen Gruß Ihnen zu bedeuten gesucht: Ich bin da? – Sie hatten bisher die Gnade, mich nicht zu sehen – fahren Sie so fort, mein Fräulein.«
»Das ist nicht mehr möglich, Herr Bretfeld.«
»Und warum nicht? O Fräulein, ich bitte Sie –!« Wie unterdrückter Trotz hatte es bisher aus seiner Stimme geklungen, jetzt wurde sie weich und flehend. »Tun Sie es um meinetwillen – um meiner Ruhe willen, die gestört ist durch den Gedanken an Ihre weiten, einsamen Wanderungen bei sinkender Nacht . . . Ich bin ein Sybarit, ich bekenne es, das Unangenehme ist mir das Verhaßte, und gestörte Ruhe ist sehr unangenehm.«
»Ein Sybarit sind Sie und ein Kasuist obendrein«, sprach Claire. »Indessen gleichviel, man muß etwas für Sie tun.«
»Und was?« rief er freudig.
»Sie von Ihrer Unruhe befreien, einen Vorsatz ausführen, der nicht von heute stammt; keine Einladung für den Abend mehr annehmen.«
Claire setzte ihren Weg fort, und Arnold ging neben ihr her.
»Aber es ist doch schade«, hob er bedenklich an; »Sie unterhalten sich gewiß sehr gut in den Gesellschaften bei Ihren Freunden.«
»Meinen Freunden? – meinen Gönnern, wollen Sie sagen. Und dann: ich unterhalte mich? kommt das in Betracht? Bin ich auf der Welt, um mich zu unterhalten? – die anderen höchstens. Nun, das wird tagsüber besorgt – am Abend darf ich wohl auf meinen Lorbeeren ruhen. Es soll fortan geschehen.«
»Und ich um mein bestes Glück gebracht werden?« rief er aus.
»Welches Glück denn, Herr Bretfeld, ich bitte Sie?«
»Um das Glück, auf Sie zu warten, allabendlich, in Hoffnung und Ungeduld, und – ob Sie kamen, ob Sie nicht kamen – zufrieden heimzugehen. Dann sage ich mir entweder: Sie ist zu Hause, ruht aus, schläft wohl schon sanft und süß, oder – ich folge Ihnen, ein getreuer Eckart, dessen Nähe Sie beschützt!«
»Weit gefehlt!« entgegnete sie lebhaft, »dessen Nähe mich gefährdet. Sie verfehlen Ihren Zweck gänzlich. Kein Bekannter, wenn er mich auf meinen einsamen Wanderungen trifft, denkt etwas Übles dabei. Ich bin eine arme Lehrerin, kann mir keine Magd halten, die mich abholt, kann mir den Luxus eines Wagens nicht gestatten. Wenn man Sie aber auf mich warten, Sie mir folgen sähe, was dächte man dann? Also: Dank für Ihre gute Meinung, und: es bleibt dabei. – Warten Sie nicht mehr an der Straßenecke wie ein Kommissionär – ich komme nicht!«
Sie beschleunigte ihre Schritte. Er sah mit Schrecken, wie rasch die Strecke zwischen ihnen und ihrem Ziele sich verkürzte.
»Wann sehe ich Sie wieder?« sprach er hastig.
»Aber nur einen Augenblick. Sie gönnen mir in neuester Zeit kaum einen Gruß, kaum ein Wort, und ich habe Ihnen soviel zu sagen und soviel von Ihnen zu hören. Sie sind mir noch die Fortsetzung Ihrer Geschichte schuldig . . . Sie wissen auch noch kaum etwas von mir – wollen Sie auch nichts wissen?«
Die Frage klang halb wehmütig, halb komisch; Claire blickte zu dem, der sie gestellt, lächelnd empor und sprach: »Was war das nun? Scherz oder Ernst?«
Er aber antwortete mit einem plötzlichen Grimm, der ihr rätselhaft schien: »Wählen Sie!«
Das Mädchen schwieg. Man näherte sich dem Ausgang des Parkes. Der einmal erreicht, und die günstige Gelegenheit, Fräulein Claire zu sprechen, ist versäumt, Gott weiß auf wie lange!
»Fräulein«, begann Arnold wieder, so ruhig wie im Anfang des Gesprächs und auch ein wenig mit überlegenem Ernst, »wir sollten nicht leichtsinnig aneinander vorübergehen . . . Es ist nicht gescheit . . . Wir gehen vielleicht beide an unserem Lebensglück vorbei . . . Rauben Sie uns nicht die Möglichkeit, einander kennenzulernen.«
»Wozu?« erwiderte sie. »Was soll dabei herauskommen?«
»Daß wir einander gefallen, das heißt ich Ihnen, denn Sie gefallen mir schon sehr.«
»Nein, nein!« Sie rief es, ohne sich zu besinnen, und suchte seine Augen zu vermeiden, die bittend auf ihr ruhten. »Ich will nicht – ich kann das nicht brauchen, daß mir jemand gefällt – ich habe andere Sorgen.«
»Und welche? Blicken Sie mich nicht so strafend an – ich habe ein Recht zu fragen, meine große Teilnahme für Sie gibt es mir . . . Welche Sorgen, Fräulein?«
Sie war wieder stehengeblieben, sie schien mit sich selbst zu kämpfen und sagte endlich: »Ich habe Verpflichtungen zu erfüllen, die alle meine Gedanken, meine ganze Kraft in Anspruch nehmen. Ich darf mich durch nichts von ihnen abziehen lassen . . . Sie wollen das Ende meiner Geschichte hören, Herr Bretfeld? Hören Sie denn, da Sie sich nun einmal in mein Vertrauen gedrängt haben.«
»Gedrängt?« fragte er vorwurfsvoll.
»Rechten Sie nicht mit meinen Worten. Wenn jemand, der immer heucheln muß, einmal aufrichtig sein will, wird er auch gleich derb . . . Heucheln, natürlich!« bekräftigte Claire, die ihr Zuhörer durch einen Ausruf ungläubigen Erstaunens unterbrochen hatte. »Sie glauben doch nicht, daß meine Lustigkeit mir vom Herzen kommt? Meine Lustigkeit ist mein Metier, und ich bin eigentlich eine Spaßmacherin höheren Ranges. Jetzt fällt es mir ja leicht, aber früher, zum Beispiel in der Zeit, in der ich meine Mutter sterbend zu Hause wußte, damals war es schwer . . . heiter scheinen – ich mußte es können, aber ich verachtete mich, daß ich's konnte. – Wollen Sie das Traurigste wissen, das ich erlebt habe? – Als ich eines Tages von meinen Lektionen heimkam, bei denen mit verwöhnten, glücklichen Kindern gescherzt und gelacht worden, da lag meine Mutter tot auf ihrem Bette. Mein alter Vater war allein bei ihr gewesen in ihrer letzten Stunde – das verschmerze ich nie.«
Ihre Stimme war immer leiser, ihr Gesicht ganz weiß geworden. »Mein Vater lebte noch einige Jahre«, fuhr sie in gepreßtem Tone fort, »ich fristete ihm sein Dasein; elend natürlich, denn ich hatte wohl viel zu tun, aber ich verdiente wenig. Ihm aber habe ich die Augen geschlossen, und er starb ruhig, denn ich hatte in seine Hand geschworen, daß die Ehrenschulden, die er hinterließ – wir mußten sie machen während der langen Krankheit der Mutter, und man hatte uns geborgt, weil man uns vertraute –, von mir getilgt werden sollten. Daran arbeite ich nun.«
»Daran?« rief Arnold. »Und wenn Sie damit zustande gekommen sein werden, stehen Sie vor nichts?«
»Vor einer gelösten Aufgabe; und das ist etwas! Und wenn ich nur gesund und guter Laune bleibe, habe ich nicht mehr weit dahin. Darum – der mir wohlwill, störe meine Kreise nicht. Nicht zuviel Teilnahme, Herr Bretfeld, und gar kein Erbarmen. Es macht feige.«
Er starrte sie voll Bewunderung an und voll des Mitleids, das sie sich eben verbeten hatte.
»Wie schäm ich mich vor Ihnen!« rief er plötzlich aus. »Wie schäm ich mich meines nutzlosen, müßigen Wohllebens!«
»Schämen? ei was! Das Unglück mag sich schämen, das erweckt Mißtrauen, das wirkt abstoßend. Das Glück zieht an, dem öffnen sich die Herzen. Es gibt ja nichts Besseres als den Anblick eines guten Menschen, dem es wohl auf Erden wird.« Sie suchte ihre Hand zu befreien, die er ergriffen hatte und festhielt. »Wir wollen jetzt Abschied nehmen.«
»Noch nicht! . . . Entlassen Sie mich nicht so völlig hoffnungslos . . . sonst haben Sie keinen Grund mehr, sich zu freuen, daß es mir wohl auf Erden wird . . . Sonst ist es damit vorbei, und für immer, glaube ich.«
»Sie sind kindisch, Herr Bretfeld«, sagte Claire. »Habe ich Ihnen denn umsonst gesagt, warum ich ganz frei, ganz unabhängig bleiben muß?«
»Sie bleiben beides, Fräulein!« rief er und führte ihre Hand stürmisch an seine Lippen; »frei und unabhängig bleiben Sie, aber schutzlos sind Sie fortan nicht mehr . . .«
Schutzlos! – Das Wort geriet ihm zum Unheil. Sie sprach es mit Entrüstung nach und fügte hinzu: »Sie sind der letzte, dem ich zugetraut hätte, daß er sich diese Schutzlosigkeit zunutze machen wolle.«
Im selben Augenblick hatte er ihre Hand sinken lassen und war zurückgetreten – aber mit welchem Ausdruck bitterster Gekränktheit in seinem Gesicht!
Er tat ihr leid, wie er so dastand, am Schnurrbart nagte, schwieg und sich elend zu fühlen schien.
»Herr Bretfeld –« begann sie. Da schlug die Uhr vom nächsten Turm zehn und dann ein Viertel nach zehn, du guter Gott! – »Herr Bretfeld, leben Sie wohl!« Und Claire eilte davon, so rasch man eilen kann mit einem schweren, pochenden Herzen.
Eine Woche lang gingen sie bei ihren täglichen Begegnungen stumm aneinander vorbei. Sie hielt die Augen hartnäckig gesenkt, er machte Riesenanstrengungen, eine souveräne Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen, und grüßte das Fräulein ehrfurchtsvoll und kalt.
Trotz ihrer gesenkten Augen wußte indessen Claire, daß Arnold schmerzlich litt, und Arnold hätte lieber den Sonnenschein entbehrt als das Lächeln auf Claires Gesicht. Demungeachtet wurde sein Gruß immer eisiger, ihre Miene immer strenger, und sie hatten sich gegenseitig bereits so rechtschaffen gequält wie nur jemals ein Paar aufrichtig Liebende, als sie eines Tages beide, demselben übermächtigen Impuls gehorchend, voreinander stehenblieben und wie aus einem Munde sprachen: »Fräulein Dübois!« – »Herr Bretfeld!« – »Können Sie mir verzeihen?« Da war der Bann gelöst, und für zwei bedrückte Menschenseelen gab es plötzlich keinen Mißklang mehr in der Welt, kein Dunkel, kein Weh, und die Erde war schön und das Leben leicht.
»Herr Bretfeld«, sagte Claire, »was ich so gern verhütet hätte, das habe ich durch meine Rauheit erst recht heraufbeschworen. Statt an nichts anderes zu denken als an meine Schulden, habe ich fortwährend an mein Unrecht gegen Sie denken müssen. Machen wir Frieden, Herr Kollege!«
»O wie gern!« rief Arnold, »die Verhandlungen sind eröffnet, wann soll er geschlossen werden? . . . Daß ich Bedingungen stellen muß, versteht sich von selbst.«
Sie runzelte ein wenig die Stirn. »Bedingungen? . . . Und wie sehen die aus?«
»Ich habe mich erkundigt, Fräulein; ich weiß, daß Sie seit dem Tode Ihres Vaters bei einer Freundin wohnen, Baronin Reich, Rittmeistersgattin, und bitte, mich dieser Dame vorstellen und Sie, Fräulein, in deren Hause sehen und sprechen zu dürfen.«
»Diese Dame«, erwiderte Claire bedenklich, »wird Ihnen mißfallen, Herr Bretfeld, das sage ich Ihnen voraus.«
»Und ich sage Ihnen voraus, daß mich dieser Umstand sehr wenig kümmern wird.«
»Vielleicht doch mehr, als Sie glauben. Indessen – auf Ihre Gefahr! . . . Kommen Sie denn Sonntag um zwölf Uhr.«
So sprach Claire am Mittwoch.
Arnold begann sogleich die Stunden zu zählen, die ihn noch von der ersehnten trennten, und verwünschte alle zusammen und jede einzeln. Gern hätte er sich überredet, daß er eine ähnliche Ungeduld noch nie empfunden habe. Doch kamen unbequeme Erinnerungen und sprachen: Narr! Als wir Erlebnisse waren statt Schatten, da stand es nicht um ein Härchen anders mit dir. Du hast immer heiß und heftig gewünscht, was du später oft so leichten Herzens aufgeben konntest.
Es war mühsam, die Schwätzerinnen zum Schweigen zu bringen, gelang aber endlich doch. Und als der Sonntag herankam und Arnold an der Wohnung Claires schellte, da meinte er wirklich, es sei ihm so bang und glückselig zumute wie nie zuvor in seinem Leben. Er hörte wohlbekannte leichte Schritte nahen, die Tür wurde aufgeklinkt, und die Geliebte stand vor ihm.
Sie war sehr bleich und so bewegt, daß der Willkommgruß, den sie ihm bieten wollte, auf ihren Lippen erstarb.
Auch Arnold schwieg und betrachtete sie mit leiser Überraschung. Er hatte sie nie ohne Hut und Schleier gesehen und fand sie älter, als er gedacht. Ihr zartes Gesicht war nicht eben verblüht, aber doch schon des Schmelzes der ersten Jugend beraubt, und mit wehmütiger Beredsamkeit sprachen sich darin die Spuren überstandener Leiden aus.
Ein feuriges Mitleid ergriff ihn und täuschte ihn über seine Enttäuschung.
»Kommen Sie«, sagte Claire, »ich bitte von vornherein um Entschuldigung, wenn der Empfang, der Ihnen zuteil wird, an Enthusiasmus einiges zu wünschen übrigläßt.«
Er folgte ihr in ein geräumiges Zimmer, vor dessen mittlerem Fenster eine Frau, mit einer Handarbeit beschäftigt, an einem kleinen Tische saß.
Sie hatte einige fertiggemachte Herrenkrawatten vor sich liegen, faltete eben den Stoff zu einer neuen und nahm von dem Besuche auch dann noch keine Notiz, als er herantretend sich vor ihr verbeugte.
»Das ist der Herr Kollege, den ich dir angekündigt habe, Karoline«, nahm Claire das Wort, und als keine Erwiderung erfolgte, ließ sie sich dadurch nicht beirren, sondern setzte, gegen Arnold gewendet, hinzu: »Meine Freundin und zweite Mutter.«
Erst jetzt erhob die Dame den Kopf und richtete auf Arnold ein Paar hellgraue Augen, deren forschender Blick ihn maß vom Wirbel bis zur Sohle. Dieser Blick fragte unverhohlen: Was ist an dir? Was bist du wert? Du bist wohl nichts wert.
»Ich sollte nun sagen, daß ich mich freue, Sie kennenzulernen«, nahm Frau Karoline das Wort – und Arnold dachte: Deine Stimme paßt zu deinen Augen –, »verzeihen Sie, wenn ich es nicht tue; Phrasen machen habe ich verlernt. So sage ich denn nur: Ich wünsche, mich dereinst freuen zu können, daß ich Sie kennenlernte.«
Sie nahm ihre Beschäftigung wieder auf und knotete einen fein gemusterten Atlasstreifen mit schlanken und raschen Fingern, deren jeder einen Verstand für sich zu haben schien.
»Möge der Wunsch sich erfüllen, gnädige Frau«, antwortete Arnold. »Es wird nicht meine Schuld sein, wenn das Gegenteil geschehen sollte.«
»Einen Fall, den wir gar nicht für möglich halten«, sprach Claire, die für ihren Gast einen Sessel an den Tisch gerückt hatte.
»Liebenswürdigkeit!« fiel die Baronin geringschätzig ein; »lassen wir die aus dem Spiel – du weißt, was ich von ihr halte.«
»Ich weiß es; dieser Herr muß es erst erfahren«, erwiderte Claire. »Liebenswürdigkeit gilt bei uns für Falschheit, Feigheit und Gefallsucht.«
Arnold verstand die ernst gemeinte Warnung, die sich hinter diesen scherzhaft gesprochenen Worten verbarg, und erwiderte munter: »Ich werde mich bemühen, aber – aus Gehorsam, nicht aus Überzeugung. Denn, gnädige Frau, wenn ich zugebe, daß ich Ihre Meinung von der Liebenswürdigkeit teile, würde ich mich all der Greuel schuldig machen, die Ihnen dieses Wort bedeutet.«
Die Baronin richtete sich so gerade auf, als sie konnte mit ihren von der Last der Jahre und der Arbeit gebeugten Schultern, und sah ihn von neuem scharf an. Er fühlte, daß er einem strengen Richter gegenübersaß, und die Empfindung, mit welcher er den ungütigen Blick der alten Frau ertrug, war die der Abneigung und zugleich der widerstrebenden Ehrfurcht vor einer ungern zugestandenen Überlegenheit. – Arnold war Menschenkenner genug, um sich zu sagen: Die tiefen Furchen auf dieser Weiberstirn wurden durch unerbittliche Gedanken gegraben – Gedanken, die sich keine Rast gönnen, die nach den letzten Zielen streben, nach den letzten Gründen fragen. Der herbe Zug um den schmalen Mund deutet auf eine Kraft hin, die unbeugsam, auf einen Mut, der grenzenlos ist, und wenn die Fähigkeit, zu denken und zu wollen, unseren Rang unter den Menschen bestimmt, so ist der deinige ein so hoher, wie er wenigen zukommt.
Den inquisitorischen Blicken, mit denen Arnold geprüft worden, folgte ein förmliches Verhör: »Sie sind ein Sohn des reichen Hauses Bretfeld?«
»Ja.«
»Diesem Geschlecht entsprossen und kein Kaufmann?«
»Nein.«
»Und sind doch zum Kaufmann erzogen worden. Ich setze das voraus, denn ich habe Ihre Eltern und Ihre Großeltern gekannt.«
»Ich hatte aber weder Vorliebe noch Talent für diesen Stand.«
»So zogen Sie es vor, ein Musiker zu werden. – Kompositeur sind Sie nicht?«
»Leider nein.«
»Warum leider? Es sind heutzutage nur zuviel Leute produktiv oder glauben wenigstens, es zu sein. Ich danke jedem, der es sich versagt zu erfinden, in diesem Jahrhundert der Mittelmäßigkeit. Besonders musikalisch zu erfinden – nichts verweichlicht und erschlafft so sehr und macht gefühlsselig und denkfaul wie talentlos betriebene Musik.« Ein Ausdruck leidenschaftlicher Verachtung verzog ihre Lippen, sie brach ab. »Und was sagen die Ihren zu Ihrer Abtrünnigkeit vom hundertjährigen Familienbrauch?«
»Jetzt nichts mehr.«
»Sie verlieren ihre Worte so ungern als ihr Geld. Nichts umsonst! ist die Devise des Hauses. – Auf welchem Fuß stehen Sie mit Ihren Verwandten?«
»Auf ganz freundschaftlichem.«
»Ohne die ersten Bedingungen der Freundschaft – Sympathie, die gleichen Interessen?«
»In der Familie bleiben noch viele Interessen gemeinsam, wenn es auch die des Berufes nicht sind.«
»Das leugne ich. Unser Beruf sind wir selbst. ›Er geht auf in seinem Beruf‹, sagt die immer bewunderungswürdige Weisheit der Sprache. Wir verstehen nichts vom Wohl und Weh derjenigen, deren Gedankenkreis uns fremd ist.«
»Nicht völlig fremd! Die Anhänglichkeit an Jugendgenossen, die Erinnerung an die Jugendzeit bilden Vereinigungspunkte, in denen wir zusammentreffen.«
»Um einander anzustarren und im stillen zu denken: So verschieden sind wir geartet, wir Zweige desselben Stammes? – Nein, Herr. Die Kluft zwischen Brüdern, die feindlichen Mächten dienen wie Kunst und Erwerb, ist unüberbrückbar. Sie können es höchstens zu einem faulen Frieden bringen, und dem würde ich den Krieg vorziehen.«
Claire hatte nicht versucht, dieses Gespräch zu unterbrechen, aber Arnold sah deutlich, wie übel ihr zumute war, und wußte, was in ihr vorging, so gut, als wenn sie gesagt hätte: Siehst du nun, so wird man bei uns aufgenommen. Tat ich recht, dich zu warnen?
Während der Pause, die entstanden war, hatte sich im Nebenzimmer ein leises, ungeduldiges Pochen vernehmen lassen. Nun wurde die Tür ein wenig geöffnet, und durch den schmalen Spalt schlüpfte schüchtern und ängstlich ein alter Mann herein – eine Erscheinung von auffallender Schönheit.
Das feine längliche Gesicht war glatt rasiert, und die rosige Farbe desselben hob sich zart ab von dem silberweißen Haar, das auf der Stirn in zwei hochgewölbten Bogen emporstrebte und, bis zum Halse niederhängend, das edle Oval der Wangen in weichen Wellenlinien umfloß. Er näherte sich langsam und blickte dabei aus weit geöffneten blauen Augen scheu vor sich hin, ganz wie ein Kind, das trotz der Furcht, die es dabei empfindet, in Gegenwart seines Lehrers ein Unrecht begeht. Seine Kleidung bestand aus einem sehr eleganten Salonanzug, dem nur noch der Frack fehlte; statt desselben trug er einen bunten seidenen Schlafrock, auch war die Halsbinde nicht geknüpft; der Alte hielt deren beide Enden zwischen seinen Fingern und rief einmal ums andre mit klagender Stimme: »Karolinchen! Karolinchen!«
Arnold hatte sich bei dem Eintritt des Greises erhoben, und sobald jener das gewahrte, geriet er in Bestürzung und begann zu winken: »Sitzenbleiben! sitzenbleiben! – Was fällt Ihm ein? Karolinchen, sieh doch . . . Karolinchen, sag ihm doch . . .«
Die Baronin war ihm ruhig entgegengetreten, faßte ihn an der Hand und sprach mit großer Sanftmut: »Wer hat dir erlaubt, dein Zimmer zu verlassen, Wilhelm? Komm, wir gehen wieder hin. Komm, sei gehorsam.«
»Ich habe dich ja nur rufen wollen, Karolinchen, ich gehe schon«, entgegnete der Alte, blieb aber stehen, wiederholte die beiden letzten Worte mehrmals rasch nacheinander und richtete die Augen unverwandt auf Arnold. »Setzen!« rief er diesen plötzlich an. »Setzen! so – so ist's recht. Wer ist Er denn, hübscher junger Mann!«
Jetzt bemerkte er die Krawatten auf dem Tische, und sein ganzes Gesicht strahlte vor Vergnügen. Er schnalzte mit der Zunge und glitt mit den äußersten Fingerspitzen schmeichelnd über die blanken Seidengewebe. »Für mich!« flüsterte er, »alle für mich!«
»Die nicht, Wilhelm, diese nicht. Laß sie. Du hast ja viel schönere in deinem Schrank!« sagte die Baronin mit einem Ausdruck gütiger Überredung, dessen man sie kaum fähig gehalten hätte; »die braune, denk nur, und die blaue. Komm, wir wollen sie ansehen!«
»Ansehen, die anderen, die schöneren, die braune, die blaue«, sagte er, schob die Gegenstände seines flüchtigen Wohlgefallens mit einer geringschätzenden Gebärde fort und ließ sich widerstandslos hinwegführen.
»Das ist der Mann dieser armen Frau«, sprach Claire, als sie mit Arnold allein geblieben war.
»Irrsinnig?«
»Schwachsinnig. Er hat eine Gehirnkrankheit, er wird nicht mehr lange leben.«
»Gott geb's unter solchen Umständen!«
»Nein, nein!« fiel Claire lebhaft ein. »Gott erhalte ihn; gleichviel wie, er vegetiert so gern, und sie wäre elend, wenn sie nicht mehr für ihn arbeiten, sich nicht mehr mit ihm zu plagen brauchte.«
»Sie hat meine Eltern gekannt, sagt sie«, versetzte Arnold, »und ich besinne mich jetzt, daß ich vor Jahren von ihr sprechen hörte. Stammt sie nicht aus uraltem vornehmem Geschlecht? Hat sie diesen Mann nicht gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet?«
»Ja, ja, das hat sie getan.«
»Er aber war von niederem Adel, ein junger Offizier, der nichts besaß als seine große Schönheit und ein kleines musikalisches Talent, das er selbst freilich für ein außerordentliches hielt. – Stimmt das?«
»Es stimmt.«
»Dann kenne ich auch den ganzen Roman!« rief Arnold. »Kaum vermählt, hing der Baron den Militärdienst an den Nagel, um nur seiner vermeinten Kunst zu leben, veranstaltete kostspielige Aufführungen seiner Kompositionen. Ich habe selbst einmal ein solches Monstrum zu Gesicht bekommen.«
Er lachte, und in der Art seines Lachens lag etwas, wodurch sich Claire befremdet fühlte. »Allerdings«, fuhr Arnold fort, »fand der martialische Komponist ein Publikum, das ihn bewunderte in dem Troß gescheiterter ›Künstler und Künstlerinnen‹, mit dem er sich umgab und den er herrlich und in Freuden leben ließ. Zuletzt geriet er in die Schlingen einer Opernsoubrette, wurde von ihr ausgeplündert, betrogen, verlassen. – So war es doch?«
»Ich glaube.«
»Sie wissen es nicht?«
»Nein. Karoline erwähnt der Vergangenheit nie; so vermeide ich es denn, mich durch andere darüber unterrichten zu lassen. Mir ist nicht mehr bekannt, als daß sie ihren Mann nach Jahren der Trennung in Elend und Krankheit wiedergefunden hat; und daß sie nun für dieses arme Wesen wie eine Mutter sorgt, das sehe ich.«
Eine Pause entstand, nach derselben rief Arnold plötzlich aus: »Welches Leben, welcher Anblick für Sie, wenn Sie nach vollbrachtem Tagwerk erschöpft heimkehren!«
»Was denn – warum denn?«
Arnold hatte ein Buch zur Hand genommen, das auf dem Tische lag, und blätterte darin. Es war ein neues englisches Werk über den esoterischen Buddhismus. »Wer liest das?« fragte er.
»Ich lese es meiner Freundin vor«, erwiderte Claire.
Da fuhr er fast entrüstet auf: »Ist das eine gesunde Kost für Sie, ist das eine Erholung?«
»Ja – jawohl! Der Ernst ist Sonntagserholung für mich, die spielen muß die ganze Woche hindurch.«
Er zuckte die Achseln, lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah sie lange und liebevoll an. Sie hatte unter seinem Blick die Augen gesenkt, und eine süße und holde Verwirrung malte sich auf ihren Zügen. Er hätte aufspringen, sie in seine Arme schließen und ausrufen mögen: Du bist mein! Ich liebe deine Anmut, deinen Geist, ich liebe deine Seele und will sie fortan schützen und bewahren vor jeder rauhen Berührung. Dein Leiden ist zu Ende, es kommen goldene Tage, in denen ein glücklicher Mensch dich lehren wird, glücklich zu sein.
Doch sagte er von alledem nichts, sondern nur: »Sind Sie der Meinung, daß man mir vertrauen darf?«
»Ich bin der Meinung.«
»Gut; und wissen Sie auch, daß ich mit sehr deutlichen, sehr bestimmten Absichten und Ansprüchen hierhergekommen bin?«
Sie errötete bis an die Schläfen und schwieg.
»Diese Ansprüche beziehen sich alle auf Sie, auf Ihr liebes Selbst, das ich zu meinem Eigentum machen will, wenn es mir nämlich gelingt, Ihre Neigung zu gewinnen – Claire, teure Claire!«
Er hatte seinen Sessel dicht an den Tisch gerückt und reichte ihr über denselben die Hand; und langsam, aber ohne Zögern, legte sie die ihre hinein. Und diese kleine Hand verschwand beinahe in seiner großen, und gleich darauf verschwand sie ganz, denn eine zweite große war erschienen und hatte sie völlig umschlossen mit einer Zärtlichkeit und Vorsicht, als handle es sich darum, über einem zitternden Vögelchen ein bergendes Obdach zu errichten.
»Sie sind gut und großmütig«, sagte Claire, »Sie haben tiefes Erbarmen mit mir, und Ihr edles Herz treibt Sie, es zu betätigen.«
»Erbarmen? Sprechen Sie nicht von Erbarmen! Ich liebe Sie!« brach er stürmisch aus; »und Sie, lieben Sie mich denn gar nicht, bin ich Ihnen denn ganz gleichgültig?«
»Nein, nein«, entgegnete sie hastig, »das sind Sie mir nicht, und eben darum muß ich besser für Sie sorgen, als Sie selbst es verstehen. – Aufrichtig, Herr Bretfeld, finden Sie mich nicht schon verblüht?«
»Wären Sie's nur recht«, rief Arnold, »daß ich mich freuen könnte, wenn ich Sie wieder aufleben sehe unter meiner Obhut, in dem Dasein, das ich Ihnen so schön gestalten will!«
»Aufleben – für wie lange? Sorgen und Kummer haben ihr Werk an mir getan; ich weiß, was leiden heißt. Noch schlimmer als das – ich weiß, was es heißt, sein Leiden zu verbergen. Das taugt nichts, es macht nicht besser. Sie sollen ein Mädchen zu Ihrer Gefährtin wählen, das keine trüben Erfahrungen hinter sich hat, nichts ahnt vom Gemeinen und Schlechten – das ist ja die wahre Lauterkeit. Sie sollen ein Mädchen aus Ihren Kreisen wählen«, fuhr sie dringender fort, als er sie unterbrechen wollte, »eine Blume, nicht eine Nutzpflanze, nicht eine Arbeiterin und eine so arme, wie ich bin. Mein Gott, wie lange muß ich mich noch plagen, bis ich endlich werde sagen dürfen: Ich habe nichts!«
»O Claire!« versetzte Arnold, »ich habe mehr, als wir brauchen.«
»Still, still«, gebot sie ihm, »meine Schulden bezahle ich allein.«
»Und was erreichen Sie damit? Sie verschwenden damit mein teuerstes Gut, das unwiederbringliche, das köstlichste: Ihre Gesundheit, Ihr Leben – um meine Pfennige zu sparen. Haben Sie Mitleid mit sich selbst, mit mir, und opfern Sie Ihren Stolz. Nehmen Sie meinen Überfluß und schenken Sie mir das Unentbehrliche: Ihre Liebe.«
Er preßte seine Lippen auf ihre Hand, und ihm war, als ob die Geliebte sich über ihn beuge, als ob eine zarte Wange sein Haar streife. Da machte er eine rasche Bewegung – von einer Seite des Tisches fiel polternd das schwere Nähkissen zu Boden, von der anderen das Buch über den esoterischen Buddhismus. Zu gleicher Zeit ertönte im Nebenzimmer ein Laut des Schreckens, dem schmerzliches Ächzen und Stöhnen folgte.
Claire und Arnold sprangen auf. »Gehen Sie, um Gottes willen, gehen Sie!« flüsterte sie ihm flehend zu. »Wir sehen uns wieder, morgen. Jetzt muß ich fort, Karoline bedarf meiner bei ihrem Kranken . . . Warten Sie nicht auf mich«, bat sie, entschlüpfte ihm und verschwand in der Tür.
Einen Augenblick zögerte Arnold, unwillkürlich hatte seine Hand nach der Klinke gegriffen; bevor er dieselbe jedoch niederdrückte, war das Schloß von innen versperrt worden.
Er stand und lauschte; das Ächzen und Stöhnen dauerte fort, dazwischen vernahm man eine sanfte, beschwichtigende Stimme, die Trostworte murmelte, und ein Hin- und Hergleiten leichter und vorsichtiger Schritte.
In peinlicher Spannung wartete Arnold lange umsonst auf Claires Rückkehr und verließ endlich das Haus, die Seele voll der widersprechendsten Empfindungen: Grimm über die Behandlung, die er von der Baronin erfahren, und der heiße Wunsch, sich Genugtuung dafür zu verschaffen. Erbarmen mit Claire – ja, ja, sie hatte recht gehabt, obwohl er es aus ihrem Munde nicht hören wollte –, Erbarmen war hinzugetreten zu seiner Liebe zu ihr, vergrößerte und vertiefte dieselbe und verwandelte allen Egoismus der Leidenschaft in begeisterte Hingebung. Der glänzende und gefeierte Mann faßte den Entschluß, einem armen, schwachen, kämpfenden Wesen sein Leben zu weihen, ihm Schutz und Schirm und fürsorgliche Vorsehung zu werden. Und das Bewußtsein, etwas so Edles zu wollen, das Gefühl der Kraft, es vollbringen zu können, siegte zuletzt über den Unmut, der noch in ihm gärte, und erfüllte ihn mit stolzer, mächtiger Freude.
Daß diese Freude nicht frei war von Selbstbewunderung, gestand und – verzieh er sich.
Am folgenden Nachmittag, zu einer Stunde, in welcher er Claire abwesend wußte, erschien Arnold wieder bei deren Freundin und bat sie, ihm eine Unterredung zu gewähren.
Die Baronin, die durch den unerwarteten Besuch in ihrer Arbeit unterbrochen worden war, nahm dieselbe wieder zur Hand und lud Arnold durch einen Wink ein, Platz zu nehmen. Die einleitenden Redensarten, mit denen er das Gespräch eröffnet, blieben von ihr unberücksichtigt. Sie schnitt eine derselben mitten durch und sprach: »Sie sind also ein wohlhabender und unabhängiger Mensch, der sich in eine arme Lehrerin verliebt hat.«
»Und sie zu heiraten beabsichtigt«, fügte Arnold hinzu, »wenn sie ihn nämlich nimmt, was er von ganzem Herzen hofft.«
»Oh, mit bestem Recht! Warum sollte sie ihn nicht nehmen? Er wird es ja doch verstehen, dem unerfahrenen Ding Neigung einzuflößen, Schwärmerei, alles, was er will. Da ist aber eine alte Freundin, unter deren Schutz sich das Mädchen befindet. Die hat in der Sache auch ein Wort mitzureden.«
Arnold verbeugte sich beistimmend.
»Und dieses wird nicht nach Ihrem Sinne sein, denn es warnt.«
»Darf ich um Gründe bitten?«
Die Baronin strich einen Büschel ihrer grauen Haare, das sich nicht glätten ließ, unter die häßliche, den ganzen Kopf einschließende Haube aus schwarzem Sammet zurück und sprach: »Heiraten ist überhaupt ein Unsinn, in Ihrem Fall aber ein ganz besonderer. Sie taugen nicht für Claire, und Claire taugt nicht für Sie.«
»Wenn Sie das behaupten würden in einiger Zeit, nachdem Sie es der Mühe wert gehalten hätten, mich ein wenig kennenzulernen, würde es mich sehr erschrecken«, entgegnete Arnold gereizt.
»Und wenn ich Sie zehn Jahre kennte, mein Urteil bliebe unverändert. Bevor ich Sie sah, hatte ich ein Bild von Ihnen – Sie erraten, wer es entworfen in lauter Lob und Bewunderung. Nun stehen Sie da – jeder Strich paßt – nur der Gesamteindruck, den das Ganze auf andere und auf mich hervorbringt, ist grundverschieden. ›Der edelste und höchste aller Menschen‹, sagt ein gewisser Jemand. – Ein Glückskind, sage ich, das sein guter Stern von Kindheit an den geradesten Weg zum jeweiligen Ziel geführt. Ein Glückskind, in drei Gesellschaftskreisen, in bürgerlichen, in künstlerischen, in aristokratischen, heimisch oder mit Heimatsrechten aufgenommen. Überall wird ihm gehuldigt, überall ist er in entsprechender Weise maßgebend.«
»Oh, oh!« wandte Arnold halb geschmeichelt, halb spöttisch ein, »Sie erweisen mir zuviel Ehre!«
»Ehre? Ich rede von Glück, von dem Glück, das Sie Ihrer gewinnenden Persönlichkeit verdanken, den sympathischen und originellen Manieren, die Sie sich angeeignet haben; die Manieren des Künstlers, der zugleich ein Weltmann ist . . . Fremdes Gut im Grunde, denn Sie sind keines von beiden . . . Aber wer fragt danach? Herr Bretfeld gilt einmal für unwiderstehlich, weiß es und – bildet sich nichts darauf ein. Die Gewohnheit des Erfolges steht ihm mit sieghafter und dennoch unbefangener Heiterkeit auf dem Gesichte geschrieben! Das ist entzückend, besonders wenn dieses Gesicht schön und jung ist wie das seine. Und so braucht er sich nur zu zeigen, und wäre es mit zwanzig anderen – nur er wird gesehen, man hört nur ihn –«
»Meint Fräulein Claire, von welcher Sie diese Nachrichten haben«, wandte Arnold ein. »Fräulein Claire irrt, übertreibt, es ist nicht so . . . Wenn es aber so wäre – ganz oder wenigstens ein bißchen, mit welchem Rechte, gnädige Frau, würden Sie mir einen Vorwurf daraus machen?«
»Keinen Vorwurf; ich gebe es Ihnen zu bedenken und frage: Glauben Sie eine Verminderung der Erfolge, auf denen Ihre Existenz recht eigentlich gebaut ist, ertragen zu können?«
»Wie kommt das hierher?«
»Es ist doch unmöglich, daß Sie sich darüber täuschen, wie sehr eine Verbindung mit Claire Ihre Stellung in drei ›Welten‹ erschüttern würde«, versetzte die Baronin mit geringschätzigem Lächeln, und Arnold rief: »Gewiß, darüber täusche ich mich; das heißt, ich nehme es durchaus nicht an.«
Die alte Frau erhob den Kopf, offenbar verwundert über diese Zuversicht, und entgegnete: »Abgesehen von allem anderen, glauben Sie, daß die Familie Bretfeld die arme, kaum noch junge, kaum noch hübsche Tanzmeisterstochter Claire Dübois ohne weiteres in ihren Kreis aufnehmen wird?«
»Ohne weiteres – nein«, lautete Arnolds zögernde Erwiderung, »aber meine Familie ist gewöhnt, mich meine eigenen Wege gehen zu sehen. Ich habe mich vor kurzem einem Heiratsplan, den die Meinen für mich geschmiedet hatten, widersetzt . . . Eine Weile grollten sie, dann fügten sie sich . . . Sie fügen sich mir immer, sie würden es nie übers Herz bringen, es ganz mit mir zu verderben . . . Keine Einwendungen mehr, verehrte Frau!« fiel er der Baronin, die reden wollte, ins Wort. »Beiläufig dasselbe, was Sie mir heute sagen, hat mir Fräulein Claire gestern gesagt. Und ich kann darauf nur entgegnen: Ich liebe Claire, ich verehre sie, und was ich auch bis jetzt für die Aufgabe meines Lebens angesehen haben möge, von nun an habe ich keine wichtigere als die, das Dasein der Geliebten schön und glücklich zu gestalten . . . Ich will gern auf alles, was Sie meine Erfolge nennen, verzichten, ich will an der Seite Claires im Frieden meiner Hausgötter leben und meine Kinder, wenn mir solche zuteil werden, zu braven Menschen erziehen.«
Mit einer Entrüstung, die etwas Komisches gehabt hätte, wenn sie nicht aus so tiefer Überzeugung hervorgegangen wäre, fuhr die Baronin empor: »Kinder, Kinder! . . . Sprechen Sie mir von Kindern! Heilige Einfalt! Sehen Sie sich doch um! Geben Sie sich doch Rechenschaft davon, daß Leben erwecken das Elend auf Erden vermehren heißt. – Herr, Herr! Heiraten Sie nicht, ich warne Sie!«
»Sie warnen mich, meine menschliche Bestimmung zu erfüllen, dem Gesetze der Natur zu folgen?«
»Die Natur! Berufen Sie sich auf die!« zürnte die Baronin und warf ihre Arbeit auf den Tisch. »Die Natur, die uns betrügt, die jeden einzelnen von uns an den glühenden Ketten der Leidenschaften hinschleift zu ihren Zielen, um uns dort elend verkommen zu lassen . . . Die Natur, ein schlafender Dämon, der die Welten zusammenträumt – ein rätselhaftes Ungeheuer, unergründlich schlau, grenzenlos grausam – manchmal unsäglich blöd . . . Ja, die Natur – der Natur muß man folgen!« Sie ließ ihre Hände, die sie an die Schläfen gepreßt hatte, längs des Gesichtes herabgleiten und drückte sie nun fest verschränkt an die Brust. »Man muß nicht«, sprach sie nach einer Weile ruhig und eindringlich, »wenigstens nicht, ohne sich zur Wehr gesetzt zu haben. Man muß niemals tun, was alle tun.«
Höchst unangenehm berührt durch den Ausfall der Baronin, die ihm als törichte Auflehnung gegen das Unabänderliche, als frevelhafte Versündigung an einer ewigen und unergründlichen Weisheit erschien, sprach Arnold zum erstenmal zu dieser Frau im Tone ironischer Überlegenheit. Er erklärte ihr, daß er nichts voraushaben wolle vor seinen Menschenbrüdern, kein anderes Schicksal verdiene und anspreche als das des nächsten besten.
Die Baronin widersprach nicht mehr, sie hatte ihre Arbeit langsam wieder aufgenommen und schien in dieselbe ganz versunken. In der Stube herrschte nun solche Stille, daß man durch die nur angelehnte Tür des Nebenzimmers das tiefe und regelmäßige Atmen eines Schlafenden vernahm.
Arnold sah sich um in dem trostlos kahlen Raume, in dem er sich befand: ein geräumiges, zweifensteriges Gelaß, nackte, vom Rauch des eisernen Ofens geschwärzte Wände; links vom Eingang ein eichenfarbig angestrichenes Tafelbett, über welchem ein kleiner Weihbrunnkessel und ein Zweiglein der Palmweide an der Wand befestigt waren; ein Schrank, ein leeres Vogelbauer, der Arbeitstisch der Baronin, ein paar Sessel; daraus bestand die ganze Einrichtung.
Die Frau des Hauses schien nicht gewillt, die entstandene Pause zu unterbrechen; so begann denn ihr Gast: »Darf ich fragen, ob wir uns im Zimmer Fräulein Claires befinden?«
»Wenn sie heimkommt, wird es das ihre sein; bis dahin ist es mein Atelier, und dreimal im Tag betrachten wir es als unseren gemeinsamen Speisesalon«, entgegnete die Baronin mit einem bitteren Lächeln.
Arnold dachte an seine auf dem Burgring herrlich gelegene, mit erfinderischem Schönheitssinn geschmückte Wohnung, die viel zu groß war für einen Junggesellen, und er malte sich im Geiste aus, wie er mit der Geliebten dort eintreten und ihr sagen würde: Schalte und walte in deinem Eigentum; ich habe nichts, das nicht dein ist. Und im voraus genoß er ihr Entzücken.
Die Baronin weckte ihn aus seinen Zukunftsträumen, indem sie nichts weniger als einladend sprach: »Beabsichtigen Sie, meine Pflegetochter hier zu erwarten?«
»Wenn Sie, gnädige Frau, nichts dagegen haben – ja.«
Ein unwirsches Achselzucken war die Antwort, die er erhielt, und nun hätte er für sein Leben gern einen Gesprächsstoff gefunden, der imstande gewesen wäre, das Interesse dieser sonderbaren Frau zu erwecken. Redlich bemühte er sich danach. Er vergaß, daß es ihm sonst schon als hohes Verdienst angerechnet wurde, wenn er, Arnold Bretfeld, sich überhaupt herbeiließ, mit einer alten Frau, die weder eine Fürstin noch eine große Künstlerin war, mehr als zehn Worte zu sprechen. Er schlug einen scherzhaften Ton an, und als dieser nicht verfing, ging er in einen ernsten über; er besann sich kluger Dinge, die er gelesen hatte, und brachte sie vor, er gab einige seiner viel angestaunten Lieblingsparadoxe zum besten – alles vergebens. Die unerbittlich ablehnende Zuhörerin war gefeit gegen den Zauber des Geistreichtums wie gegen den der Liebenswürdigkeit. Mehrmals schon hatte Arnolds Blick sich während dieses vergeblichen Ringens auf ein Bildchen gerichtet, das am Fensterpfeiler hing. Eine verblaßte Aquarellmalerei, offenbar von Dilettantenhand, aber doch nicht ohne Reiz; die Liebe, mit der es ausgeführt worden, mußte der mangelnden Kunstfertigkeit nachgeholfen haben. Es stellte zwei Kinder dar, einen Knaben und ein Mädchen, und die lebensfreudigen, jugendlich holden Züge beider, ganz besonders aber die des Mädchens, hatten eine sprechende Ähnlichkeit mit denen des alten Mannes, dessen Anblick am Tage zuvor einen so ergreifenden Eindruck auf Arnold gemacht hatte.
»Bezaubernde Köpfchen«, sagte er, auf das Bild deutend, und die Baronin erwiderte: »Schlecht gemalt – von mir gemalt. Meine Kinder.«
»Ich dachte es wohl, gnädige Frau, daß es Ihre Kinder sind . . .«
»Waren –« fiel sie ein, »es waren meine Kinder – ja. Beide tot. Der Sohn gestorben, die Tochter verdorben . . . also für mich soviel wie tot.«
In der Brust Arnolds regte sich's wie Haß, als er diese mit herber Kälte ausgesprochenen Worte vernahm. Fast hätte er laut ausgerufen: Der Himmel wird ihm gnädig sein, dem unglücklichen Geschöpf, dem er eine solche Mutter gab. In den Augen des Allbarmherzigen ist dem Kind verziehen, das sich von dir abgewandt, und wär's zur Schmach und zur Sünde . . . Mit neuer Gewalt erfaßte ihn zugleich seine heiße Teilnahme für Claire, und nun war es nicht mehr Liebe allein, die ihn trieb, nach ihrem Besitze zu streben, es war auch Trotz gegen ihre Hüterin. Der erklärte er in diesem Augenblick einen unversöhnlichen Krieg, der wollte er Claire entreißen, der beweisen, wer in dem Kampf um ihre Schutzbefohlene der Stärkere sei.
Und während er, glühend vor innerer Bewegung, sich zuschwor, diesen Vorsatz auszuführen, durcheilten leichte, wohlbekannte Schritte das Vorgemach. Die Tür öffnete sich, und in derselben stand Claire und blieb wie festgebannt vor Überraschung, als sie den unerwarteten Besucher erblickte.
»Sie sind da?« sprach sie ihn an, als sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Hat vielleicht zwischen euch beiden eine Konferenz stattgefunden?« setzte sie, rasch erratend, hinzu.
»Ganz recht«, antwortete die Baronin, »wir haben eine Konferenz gehabt. Sie ist zu Ende, mit dem Resultat aller Konferenzen: jeder bleibt bei seiner Meinung.«
»Die der Frau Baronin ist, daß ich nicht zum Manne für Sie tauge. Ich bin vom Gegenteil überzeugt«, sprach Arnold.
Claire betrachtete abwechselnd ihren aufgeregt aussehenden Bewerber und ihre starrsinnige Freundin und ließ sich dann vor dieser langsam auf die Knie gleiten. Sie umfaßte die knochige Gestalt der alten Frau mit ihren Armen. »Karoline«, sprach sie, »gestern habe ich ihm Vernunft gepredigt; aber was ist mit einem Menschen anzufangen, der keine annimmt? Wir sind die Gescheiteren, tun wir, was uns als solchen zukommt, geben wir nach.«
Sie wurde durch einen Freudenschrei Arnolds unterbrochen, unterbrach aber ihrerseits seine feurigen Dankesworte, indem sie sanft und bittend fortfuhr: »Aber nicht unbedingt, nicht über Hals und Kopf. Er kommt als Bewerber, sagt er; sagen wir ihm: Kommen Sie einstweilen als Bekannter, der noch besser bekannt werden und auch noch besser kennenlernen will. Wenn wir ihm das Haus verbieten, wird er sich einbilden, ihm sei der Himmel verboten worden. Lassen wir ihn jedoch ruhig gewähren und geben ihm Gelegenheit, sich zu überzeugen, wie es in Wirklichkeit bei uns aussieht, dann bleibt er wohl von selbst aus – wer weiß wie bald!«
Nach neuen Einwendungen, neuen Bedenken von seiten der Baronin, neuen Bitten und Vorschlägen von seiten Arnolds einigte man sich endlich. Er erhielt die Erlaubnis, das Haus wöchentlich zweimal für eine Stunde zu besuchen, gab aber sein Wort, daß er nach einer Unterredung mit Claire außerhalb des Hauses nicht trachten und seine täglichen Begegnungen mit ihr nicht dazu benutzen werde, sie zu einer Entscheidung zu drängen.
So selige Tage wie diejenigen, die nun folgten, hatte Claire nie erlebt. Es war unmöglich, aufmerksamer, gütiger, in zarterer Weise liebevoll zu sein, als Arnold es war, auch unmöglich, ein Versprechen, Geduld zu üben, zu schweigen, gewissenhafter einzuhalten, ohne zugleich deutlicher durchblicken zu lassen, wie schwer einem das wurde. Freilich hörte Claire keinen Augenblick auf, das Wunder anzustaunen, durch welches so unerwartet, so unverdient, wie sie meinte, in ihr stilles Dasein ein Glück ohnegleichen getreten war. Freilich fragte sie sich: Paßt das zum übrigen? Kann es von Dauer sein? . . . Aber indem sie diese Zweifel hegte, machte sie sich auch schon einen Vorwurf aus ihnen, schalt sich selbst feig und kleinmütig und arm an schönem Vertrauen.
»Wisse«, sagte sie zu ihrer Freundin, »seinetwegen, um ihn vor einem Schritt, den er später bereuen könnte, zu bewahren, seinetwegen ganz allein spiele ich ihm diese Rolle der Dame Klugheit vor. Was mich betrifft, mein Wohl und Wehe würfe ich hin, um einer Laune von ihm genugzutun. Das wäre töricht, närrisch, sündhaft, aber wenigstens aufrichtig und beseligend – es wäre wenigstens nicht Komödie, wie ich sie ihm jetzt aufführe, dem unbefangensten und wahrhaftigsten aller Menschen.«
»Großer Irrtum«, entgegnete die Baronin um so gelassener, als sie Claires Leidenschaftlichkeit sich steigern sah. »Er spielt auch eine Rolle, nur besser als du. Er hat es dahin gebracht, sich für das zu halten, wofür er sich gibt, und das gewährt ihm ein außerordentliches Vergnügen. Dir, die er anbetet, zu Ehren, mir, der alten Skeptikerin, die er nicht leiden kann, zum Possen will er beweisen: Seht, der Edelmut, die Hochherzigkeit, sie leben auf Erden, sie haben Zelte aufgeschlagen in der Brust Herrn Arnold Bretfelds und . . .«
»Nicht Zelte«, fiel Claire ihr eifrig ins Wort, »sie sind dort heimisch, du wirst es endlich glauben müssen.«
»Vorderhand glaube ich noch, daß wir ihren Auszug erleben werden«, versetzte Karoline, und Claire schwieg, wie sie zuletzt immer tat der überlegenen Freundin gegenüber. Aber schreiender von Tag zu Tag fand sie deren Ungerechtigkeit gegen Arnold, und jeder gegen ihn ausgesprochene Tadel und Zweifel diente nur dazu, ihre Zuversicht zu nähren. Er sah es wohl; es war kein Kunststück zu erraten, daß sie sich selbst die bitterste Entbehrung auferlegt hatte mit dem Gebot, ihren Verkehr als gute Bekannte fortzusetzen, die miteinander so geistreich als möglich von gleichgültigen Dingen sprechen. Er durchschaute sie völlig, und ihr Kampf erleichterte ihm den seinen; er schwelgte im Gefühl seiner Macht über die Geliebte und versagte sich das Genügen nicht, sie dieselbe empfinden zu lassen – etwas mehr vielleicht, als eben nötig gewesen wäre.
Sie machte ihm keinen Vorwurf darüber, und hätte sie es getan, ein einziger bittender Blick würde alles gutgemacht haben. Kaum bemerkt, und wenn bemerkt, wie bald vergessen wurden von ihr diese kleinen Trübungen! Sie verflüchtigten sich wie Wölkchen an dem Himmel, den der Glaube an seine Liebe ihr erschlossen.
Das Glück, das sie in tiefster Seele trug, spiegelte sich in ihrem ganzen Wesen wider; eine stille Verklärung lag über ihr. Nie hatte ihre Heiterkeit sich in so gewinnender und anmutiger Weise gezeigt, ihr niemals mehr Sympathien erweckt. In allen Häusern, in denen sie Unterricht erteilte, steigerte sich das Wohlwollen, das man von jeher für sie gehegt, am ausgesprochensten jedoch geschah das im Hause Meiberg. Dort wußte man der »guten kleinen Claire« nicht Dank genug dafür zu sagen, daß sie immer »charmanter und amüsanter« wurde.
Der Graf munterte seine Töchter auf, sich ein Beispiel an ihr zu nehmen. »Laßt euch auch einmal etwas einfallen, über das ich lachen kann«, sagte er ihnen. »Lernt was von der Claire, sitzt nicht immer da wie die Bilder ohne Gnad, zerstreut mich und die Mama.«
Im Herzen der Gräfin stiegen bei solchen Äußerungen ihres Gatten Gefühle wahrer Empörung auf; aber sie widersprach ihm nie, sie hätte das für unvereinbar gehalten mit den Pflichten einer christlichen Ehefrau. Ihrer Schwester jedoch, der Stiftsdame Gräfin Eveline, machte sie das Geständnis: Eine Fremde loben hören auf Kosten der eigenen Kinder, von dem eigenen Vater, sei traurig.
»Nu, nu«, lautete die tröstende Entgegnung, »wie man's nimmt.«
»Man kann es nur so nehmen«, versetzte Gräfin Meiberg. »Mir darf wahrlich niemand vorwerfen, daß ich dem Familienegoismus huldige, aber die ewige Aufstellung Claires als Musterbild für meine Töchter stimmt mich – ich finde keinen bessern Ausdruck – traurig.«
Gräfin Eveline hatte einen so guten Verstand, daß er sie immer Gründe finden ließ, selbst für die seltsamsten Erscheinungen, und auch jetzt sagte sie denn: »Das kommt daher, daß unsre Kinder langweilig sind und daß Claire unterhaltend ist.«
Nun rollten die Tränen, die seit dem Anfang dieses Gesprächs in den wassergrünen Augen der Gräfin gezittert hatten, wie zwei Glaskügelchen über ihre Wangen. »Ich hoffe, du weißt, wie sehr ich dafür bin, daß meine Töchter mehr lernen, als ich gelernt habe, und meine Söhne mehr, als ihr Vater gelernt hat«, sprach sie sanft und leise. »Ich hoffe, du lässest mir die Gerechtigkeit widerfahren, daß ich die Ansicht so vieler von uns nicht teile, auf der Jagd nach Gelehrsamkeit gehe der gesunde Menschenverstand verloren.«
»Weil –« wollte Eveline erklären, aber ihre Schwester ließ sich nicht unterbrechen.
»Das liegt mir ferne«, setzte sie abwinkend hinzu, »meine Kinder sollen sich bilden, ich wünsche es. Wenn ich es aber wünsche, darf ich ihnen die ernste Richtung, die ich selbst ihnen gab, nicht vorwerfen.«
Eveline sagte, dagegen sei nichts einzuwenden, andererseits jedoch müsse man zugestehen, daß aus all dem Ernst ein Mangel an heiteren Elementen im Hause entspringe und daß es klug und politisch wäre, diesem Mangel abzuhelfen.
Eine lange Beratung zwischen den beiden Damen entspann sich und brachte einen Entschluß hervor, dessen Ausführung bereits auf den nächsten Tag bestimmt wurde.
Als Claire an demselben zur gewöhnlichen Stunde erschien, wurde sie sogleich zur Gräfin berufen, von ihr mit außerordentlicher Huld empfangen und eingeladen, auf einem Sessel neben dem Schreibtisch, an dem die Gräfin selbst saß, Platz zu nehmen.
»Ich habe mit Ihnen zu reden, ich habe eine Frage an Sie zu stellen, eine Bitte – ich falle gleich mit der Tür ins Haus«, begann sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie wissen, wie lieb Sie uns sind«, vermochte sie nur noch tiefbewegt zu sagen, dann kippte ihre Stimme um.
»Noch besser weiß ich, verehrte Gräfin«, erwiderte Claire, »daß ich von Ihnen und den Ihren nur Güte und Freundlichkeit erfahren habe.«
»Und das wird immer so bleiben! Sie tun uns so wohl mit Ihrer Heiterkeit, Sie zerstreuen uns, und wir brauchen das so notwendig bei unseren vielen Sorgen. Ach, wie schwer ist das Leben!«
»Es ist mitunter schwer«, lautete Claires nicht ohne Vorbehalt bestätigende Antwort.
Die Gräfin streckte ihren Hals etwas vor und sah das Mädchen an, wie man ein Kind ansieht, das mitreden will in den Angelegenheiten erwachsener Leute. »Mögen Sie es nie erfahren«, sprach sie, »und Ihre Munterkeit nie einbüßen, deren Anblick ein solches Labsal ist, besonders uns – ein solches Labsal, daß wir wünschen würden, es länger zu genießen. Deshalb, meine liebe Claire, stelle ich die Frage an Sie und hoffe, Sie mißverstehen mich nicht: Kann das sein?«
Claire bat um Entschuldigung und um eine deutlichere Erklärung, und die Gräfin erwiderte: »Wir bleiben bis Mitte Juli in der Stadt, unserem Emil zuliebe, der seine Maturitätsprüfung macht – noch einmal. Im vorigen Jahre ließen wir ihn hier allein zurück mit dem Hofmeister. Das war nicht gut, die Trennung von uns drückte sein Gemüt – und so ehrenvoll er schließlich auch bestand, erhielt er doch das Zeugnis der Reife nicht. Heuer will er sich aber eines geben lassen, und wir harren denn aus an der Seite unseres Sohnes in der Stadt, die im Sommer so traurig ist, so einsam und auch so ungesund . . . Wir tun's, wie gesagt, wir harren aus, wenn auch unter solchen Umständen den Mangel an einem heiteren Element im Hause besonders beklagend.«
»Oh, Frau Gräfin«, rief Claire, »und Chouchou und Baby, meine kleinen Schüler, zählen die für nichts?«
»Doch – ganz gewiß, sie zählen, aber sie gehen so früh schlafen, und dann dauert der Abend noch drei Stunden, und dann lassen Papa und Mama ihre Enkelinnen von den Aufgaben wegrufen und äußern sich mißbilligend, wenn die armen Studienmüden nicht belebend in die Konversation eingreifen oder der Whistpartie ihrer Großeltern nicht mit der Spannung folgen, die verlangt wird und verlangt werden darf, und das ist –« Die Gräfin hielt inne, erschrocken über die Voreiligkeit, mit der sie sich hatte hinreißen lassen, einen so tiefen Einblick in ihre Familienverhältnisse zu eröffnen vor dem Auge einer doch Fremden. »Ich hoffe, Claire«, sagte sie erregt, »daß mir niemand Geschwätzigkeit in den Angelegenheiten der Meinen vorwerfen kann, ich rede zu Ihnen wie zu einer Vertrauten; aber nun bitte ich, lassen Sie mich nicht weitergehen, erleichtern Sie mir meine Aufgabe, verstehen Sie mich.«
Claire versicherte, daß ihr nichts erwünschter wäre, als das zu können, worauf die Gräfin in lebhafte Dankbezeigungen ausbrach und so glücklich war, so sehr glücklich, daß ihr Antrag angenommen und daß alles abgemacht sei und Claire bereit, außer der Stunde, die sie täglich der jüngsten Generation widmete, den älteren Generationen regelmäßig den Nachmittag zu widmen.
»Den ganzen Nachmittag, Frau Gräfin?« sprach Claire betroffen, »verzeihen Sie – um das handelt es sich?«
Unbegreiflicherweise schien die Gräfin verletzt. »Handeln? welch ein Wort! – Oh, liebe Claire, wir zwei werden miteinander doch nicht handeln, oh, nicht einmal rechnen!«
Das Mädchen senkte verwirrt die Augen und stammelte: »Ich habe jeden Nachmittag drei Lektionen zu geben.«
»Drei Lektionen! Warum plagen Sie sich so sehr? Ist denn das notwendig?«
»Ich habe mich dazu verpflichtet, meine Schüler zählen auf mich.«
»Verlegen Sie die Stunden auf den Vormittag oder sagen Sie ganz ab; arrangieren Sie das.«
Wunderbar rasch hatte die zerschmelzende Weichheit der Gräfin sich in Strenge verwandelt und ihre Sentimentalität in eine trockene Schlagfertigkeit, die alle Bedenken und Einwendungen Claires kurz widerlegte und rücksichtslos zurückwies. Die Lehrerin, verblüfft, überrascht, suchte noch vergeblich nach dem rechten Mittel, sich dem Netze zu entziehen, in das sie sich unversehens verwickelt fand, als die Gräfin schellte und dem eintretenden Diener befahl, Chouchou und Baby zu holen. Die kleinen dicken Jungen erschienen, stürzten auf Claire los und überhäuften sie mit Vorwürfen. Sie hatten beide geschwollene Augen.
»Warum kommst du nicht?« fragte Chouchou, der ältere. »Mir weinen schon so lang, mir haben sich gefürcht, daß du nicht mehr kommst.« Er stellte sich vor sie hin und brach in ein lautes Geheul aus.
Baby aber hing sich an ihren Hals, küßte sie und rief: »Wenn ich werd groß sein, und du wirst klein sein, werd ich dich anbinden bei uns im Zimmer, daß du nit mehr fort kannst.«
»Sehen Sie, wie Sie geliebt werden«, sagte die Gräfin, rief ihre Kinder zu sich und teilte ihnen mit, daß Claire von nun an den ganzen Tag bei ihnen bleiben werde. Die Kleinen erhoben ein Jubelgeschrei, und ein letzter Versuch, den Claire machte, sich der über sie getroffenen Verfügung zu widersetzen, scheiterte. Ihre Gönnerin beschwor sie, nicht neue Schwierigkeiten zu erheben, ihr Wort nicht mehr zurückzunehmen. »Ich verlange ja kein Opfer; müssen Opfer gebracht werden, versteht es sich von selbst, daß ich sie bringen werde«, erklärte sie mit einer Hoheit der Gesinnung, an der sie nicht umhin konnte selbst ihre Freude zu haben. »Es gibt Gelegenheiten, in denen Opfer keine Konsideration sind und man an sich nicht denken darf, vielmehr suchen muß zu vergessen, wie oft man sich schon etwas abgeschlagen hat. Aber das soll man können . . . Nicht nur entsagen – so im großen« – sie schwenkte, indem sie also sprach, ihre lange schlanke Hand –, »auch im kleinen muß man sich etwas versagen können. Was mich betrifft, ich kann's. Für mein persönliches Vergnügen bleibt nie etwas übrig. Wie habe ich eine Erweiterung meines armen Glashäuschens nebenan gewünscht! Der Kassier tut Einsprache, und ich – verzichte.«
Claire schwieg, geblendet durch den Glanz einer so großen Tugend, und brachte es über sich, ohne Lächeln in den mächtigen, mit kostbaren Pflanzen reich gefüllten Wintergarten hinauszublicken, den eine geschmackvoll dekorierte Glastür von dem Schreibzimmer, in dem man sich befand, trennte.
Chouchou und Baby hatten der Rede ihrer Mutter die gebührende Aufmerksamkeit durchaus verweigert und während derselben Claire fortwährend am Kleide gezupft und ihr zugeflüstert: »Komm zu uns, komm, mir unterhalten sich hier nicht.«
Endlich entlassen, stürmten sie geradeswegs nach ihren Zimmern und verkündeten jedem, der ihnen begegnete, daß die »gute« Claire von jetzt an immer bei ihnen bleiben würde. Chouchous französische und Babys englische Bonne zogen bei der Kunde die erste ein schiefes und die zweite ein langes Gesicht, und Claire hatte Mühe, die beiden, die sich schon an die Luft gesetzt sahen, zu beruhigen. Spät erst konnte die Lektion begonnen werden und erfuhr dann fortwährende Unterbrechungen. Die Tante war die erste, die sich einfand, um Claire mitzuteilen, daß die Idee, sie dem Hause »dauernder zu gewinnen«, mindestens zur Hälfte von ihr ausgegangen sei. Bald darauf erschienen die Eltern des Grafen Meiberg. Schon war in das von ihnen bewohnte zweite Stockwerk des Hauses die Kunde von dem Engagement Claires gedrungen und machte ihnen eine Freude, welche die der Kinder fast beschämte. Die munteren alten Leute hatten die Schachpartie, welche die Reihe von Spielen eröffnete, mit denen sie den Tag auszufüllen pflegten, unterbrochen und waren, so eilig sie nur irgend vermochten, die Treppe herabgehumpelt gekommen.
Ein herzgewinnendes Paar! Ehrwürdig und freundlich, voll Wohlwollen und Höflichkeit. Mann und Frau von ganz gleicher Größe, beide hager und lebhaft, beide altmodisch, aber fein und sorgfältig angetan. Sie rühmten sich, in ihrer fünfzigjährigen Ehe nie länger als einige Stunden getrennt gewesen zu sein, und waren einander ähnlich geworden nicht nur im Benehmen und in der Sprechweise, sondern auch im kindlichen Ausdruck ihrer fein geschnittenen Gesichter.
Als Chouchou und Baby auf sie zugingen, um ihnen die Hände zu küssen, zog die Großmama, bevor sie diese Ehrfurchtsbezeigung gestattete, ihr Battisttuch aus der Tasche und wischte damit die rosigen Lippen der Knaben ab.
»Nur aus übler Gewohnheit«, sagte sie entschuldigend, »nicht etwa, weil ich glaube, daß es notwendig ist.«
Der Greis lüftete das Käppchen und verneigte sich mit liebenswürdiger Höflichkeit vor Claire. »Ah, Mademoiselle, Mademoiselle Gesellschafterin«, rief er, »demoiselle de compagnie! Wir wollen uns gleich unseren Anteil versichern an der Gesellschaft der Gesellschafterin.«
Ebenso munter wie er kündigte seine Gemahlin Claire an, daß sie täglich zum Tee und zur Whistpartie mit dem Strohmann geladen sei. Die schüchternen Entschuldigungen, die Claire vorbringen wollte, wurden mit der Aufforderung zurückgewiesen, keine Geschichten zu machen. »Nur keine Geschichten mit uns!« beschworen beide zugleich, und der alte Herr setzte lustig hinzu: »Sonst folgt die Strafe auf dem Fuß, und Sie müssen nach dem Whist noch mit jedem von uns eine Stunde lang Wolf und Lamm spielen. – Aber, Christine, wir verplaudern uns«, wandte er sich an die Gräfin; »die Pflicht ruft – die unterbrochene Schachpartie will beendet werden.« Mit gutmütiger Ironie blickte er auf den Tisch, der mit den verlockendsten Rechenspielen bedeckt war, und sprach fröhlich lachend: »Lernt fleißig, Kinder, lernt was! . . . Wenn man in der Jugend nicht zählen lernt, kann man im Alter nicht spielen.«
Er reichte seiner Gattin den Arm und verließ mit ihr das Zimmer.
Der letzte Besuch, den Claire bei der sogenannten Unterrichtsstunde empfing, war der des Grafen Meiberg. Er kam, stattlich und verdrießlich wie immer, dankte ihr, daß sie den Antrag seiner Frau angenommen habe, und bat sie, sich vornehmlich seinen erwachsenen Töchtern zu widmen.
»Gewöhnen Sie ihnen das totschlächtige Wesen ab, machen Sie sich's zur Aufgabe, ihnen Heiterkeit beizubringen«, empfahl er ihr, steckte die Hände in die Hosentaschen, sah eine Weile zum Fenster hinaus und fragte dann, ob etwas über »Bedingungen« vereinbart worden sei. Claire verneinte es, und er fuhr ungeduldig auf: »Hätt mir's denken können! Ich brauch von meiner Frau nur zu hören: Alles in Ordnung, dann weiß ich schon, daß die Hauptsache fehlt . . . Keine Bedingungen? Sie könnten aber auch praktischer sein, erlauben Sie mir. Oder sind Sie vielleicht überrumpelt worden? . . . Leugnen Sie nicht, überrumpelt – und jetzt gehen Sie nach Haus, und morgen kommt ein Brief von Ihnen, in dem steht: Ich entschuldige mich, kann nicht annehmen, bin überrumpelt worden. Aber hören Sie, tun Sie das nicht, warten Sie auf einen Brief von mir. Von Nebeln und Schwebeln wird nichts drinstehen, aber wie Sie dran sind, das werden Sie wissen.«
Noch am selben Abend kam eine Zuschrift, mittels welcher Graf Meiberg Fräulein Dübois in die glänzend besoldete Stellung einer »Gesellschafterin für den Nachmittag« in seinem Hause einsetzte.
Der Antrag war so vorteilhaft, Claires Überraschung so freudig, daß ihre Freundin nicht vermochte, sich absprechend über die neue Vereinbarung zu äußern. Claire vertiefte sich in die Gedanken an ihr Glück und hatte nur zu bedauern, daß es sich nicht etwas früher eingestellt. Gar leicht ließ sich ausrechnen: wenn das Anerbieten des Grafen ihr statt heute vor zwei Jahren gemacht worden wäre, stünde sie jetzt schuldenfrei da und könnte über sich verfügen.
»Oh, wenn meine Schulden nicht wären!« rief sie unwillkürlich laut aus, und die Baronin mit ihrem Seherblick für die geheimsten Vorgänge in der Seele ihrer Schutzbefohlenen verstand sie wohl und murmelte vor sich hin: »Gepriesen seien deine Schulden.«
In dieser Woche gab es Mühen und Verdrießlichkeiten die Menge. Claire brauchte viel Takt, viel Geschmeidigkeit und viel festen Willen, um die Eltern der Schüler, die sie beibehalten konnte, zu einer Verlegung der Stunden zu bewegen und um es möglich zu machen, aus den Häusern, die aufzugeben sie gezwungen war, in guter Freundschaft zu scheiden.
Indessen – schwer oder leicht – alles das gelang; was Claire aber nicht gelingen konnte, das war, den Groll, ja die Entrüstung Arnolds zu versöhnen, als sie ihm von der Übereinkunft, die sie mit Meibergs getroffen hatte, sprach. Er begriff nicht, wie sie ohne seine Zustimmung einen solchen Entschluß hatte fassen können, er machte ihr den größten Vorwurf aus der Sklaverei, in die sie sich begab, sie, die ihm gegenüber soviel Unabhängigkeitssinn bewies.
An dem Sonntag schied er von ihr, ohne Herr seines Unmuts geworden zu sein.
Seine Verstimmung überdauerte die Nacht, und es lag ihm sehr daran, dies zur Kenntnis derjenigen zu bringen, die er liebte und die ihn kränkte. Am nächsten Morgen, bei der täglichen Begegnung auf der Treppe im Palais Meiberg, grüßte er Claire wieder so kühl wie damals, als er ihr gezürnt, und wollte stumm vorübergehen. Sie aber blieb stehen und sprach: »Herr Bretfeld, was heißt das? – Verderben Sie mir die Laune nicht, Sie bringen mich sonst um mein Brot. Sie wissen ja, ich habe mich hier als heiteres Element verdungen.«
Die kleine Hand, mit der sie ihm dabei scherzend drohte, zitterte, ihre Wangen brannten, und gar schmerzlich zuckte es um ihren Mund, der sich zu lächeln zwang.
Einige Wochen lang versah Claire bereits ihr Vertrauensamt bei Meibergs und gestand kaum sich, am wenigsten aber den andern, wie schwer die übernommene Aufgabe ihr wurde und welche Anstrengung es sie kostete, ihr nun in zwei so ungleiche Hälften geteiltes Tagewerk zu vollbringen. Die zweite, die ungewohnte, war auch die mühevollere. Claire hatte sich die fragliche Kunst angeeignet, spielend zu lehren; sie besaß auch die [Fähigkeit] – und das war einer der Hauptgründe der Beliebtheit, deren sie sich erfreute –, den Eltern ihrer Zöglinge, wenn sie ihr von neuen Unterrichtsmethoden zu sprechen oder Winke zu geben kamen über die Art, in welcher man ihre Kinder »nehmen« solle, schlagfertig und witzig entgegenzutreten, ohne jemals die schuldige Ehrfurcht zu verletzen. Höchst unbehaglich jedoch fühlte sie sich in der ihr neuen Stellung einer mit den Pflichten und Rechten der Hausgenossin ausgerüsteten Fremden mitten in einer großen Familie.
Die jungen Gräfinnen Martha und Marie machten kein Hehl daraus, daß sie es von Papa »sehr komisch« fänden, ihnen Claires Gesellschaft zu oktroyieren. Die zweite, auf welche der Vater sein Talent zur Verdrießlichkeit vererbt hatte, ein unschönes Mädchen von achtzehn Jahren, sprach zu Claire: »Ich habe Charakter, ich! . . . Ich sage, was ich denke! . . . Bei Chouchou und Baby habe ich Sie gern gehabt, bei uns mag ich Sie nicht.«
Claire dankte ihr für ihren Freimut. »Sie sind im Besitze des angenehmen Vorrechts, unbeschadet aufrichtig sein zu dürfen«, meinte sie, »und machen davon Gebrauch.«
Die Komtesse verstand, stutzte und fragte: »Sind Sie vielleicht nicht aufrichtig?«
»Ich bin es gewiß«, entgegnete Claire, »wenn ich Ihnen versichere, daß ich trachten werde, Ihre eingebüßte Sympathie wiederzugewinnen.«
Halb und halb entwaffnet durch diese Antwort, brauchte Marie einige Selbstüberwindung, um ihrem »Charakter«, auf den sie sich soviel zugute tat, zu Ehren standhaft zu bleiben und die trockene Antwort zu geben: »Bin neugierig, wie Sie das anfangen wollen.«
Vorerst nun hatte Claire gar nicht angefangen, sogar den Schein einer Einflußnahme auf die jungen Damen gemieden und sich glücklich gepriesen, wenn ihre geistige Spannkraft und ihre vielgerühmte Unterhaltungsgabe ausreichten, um den Grafen und der Gräfin die langen Nachmittagsstunden zu verkürzen.
Man speiste der »Kleinen« wegen schon um vier Uhr und lud niemals Gäste zu Tische. Im Leben des Kindes ist alles Lektion; das Diner muß Lektion sein in der Kunst, anständig zu essen, die man nicht früh genug lernen kann, weil sie der Anfang allen Anstandes überhaupt ist. In dieser Meinung stimmten beide Eltern überein, und Tante Eveline gab ihren Segen dazu. So opferte sich denn der Graf, kam pünktlich um vier Uhr zur Tafel und befahl jedesmal, langsam zu servieren. Trotzdem mußte das Diner einmal zu Ende gehen, und sie brachen herein, die schrecklichen zwei, und die eine hieß: von fünf bis sechs, und die andre hieß: von sechs bis sieben. Fest wie eine Mauer stand die Zeit da und machte doch den Anspruch, vertrieben zu werden.
Chouchou und Baby hatten, der Hausordnung gemäß, schon vom Tafelzimmer aus mit ihren Bonnen zu verschwinden; die übrige Familie, begleitet von Erzieher und Erzieherin, betrat den Salon. Der Graf nahm Platz vor einer Fensternische unter den Zweigen einer Palme, die beinahe bis zur Decke reichte, kreuzte die Arme – er gehörte zu den seltenen Männern, die nicht rauchen – und überließ sich seiner üblen Laune mit dem Trotz eines Kindes und mit der Ausdauer eines Mannes. Unweit von ihm in einem bewunderungswürdig geschnitzten altdeutschen Lehnsessel ruhte die Gräfin als Zentrum des »blühenden Halbkreises«, den ihre Kinder um sie bildeten, während Gräfin Eveline sich leutselig der Gouvernante und des Hofmeisters annahm und ihre beiden aufmerksamen Zuhörer über die Ursachen der Dinge belehrte.
Am ersten Tage, an welchem Claire ihr neues Amt ausüben sollte, war sie zu ihrem Entsetzen nach dem Eintritt in den großen, heißen, durch schwere Vorhänge an den Fenstern verdüsterten Salon von einem unendlichen Ruhebedürfnis ergriffen worden. Sie hatte ihre Lider schwer werden gefühlt; ihr hatte geschienen, daß sich um die Menschen und die Gegenstände vor ihr eine Dunstatmosphäre bilde, in der sie sanft geschaukelt hin und her wiegten . . . Lieber Gott, wer jetzt schlummern dürfte! . . . Du darfst nicht, dachte Claire, deine Aufgabe heißt unterhalten, dafür bezahlt man dich, bezahlt reichlich.
Plötzlich unterbrach eine Kinderstimme das lastende Schweigen. Thekla, die jüngste der Töchter, die zwölfjährige, stellte die Frage: »Mama, sagt man Mohammed oder Mahomet?«
Auf den Zügen Mamas malte sich Ratlosigkeit, und sie erwiderte ausweichend und vorwurfsvoll: »Aber, mein Kind!«
»Man sagt Muhammed«, rief die Tante, »weil Muhammed ein Muselmann war!«
Der Hofmeister räusperte sich, errötete, nahm das Wort und bemerkte bescheiden, Mu- und Mohammed seien ihm neu.
»Mais pas du tout«, entgegnete die Gouvernante, so gereizt, als ob sie eine persönliche Beleidigung erfahren hätte. »N'avez- vous pas lu, monsieur, l'oeuvre admirable de monsieur de Voltaire?«
Der Graf ersparte ihm die Antwort; er stand auf, kam auf Claire, die sich aufgerafft hatte, zu, den Kopf vorgebeugt, die Hände, wie er pflegte, in den Hosentaschen.
»Nun«, sagte er, »da hören Sie nun, das ist ein Muster von der Unterhaltung, die ich in meinem Familienkreise genieße. Mohammed oder Mahomet! . . . Ist Ihnen etwas so Langweiliges schon vorgekommen? . . . Ich laß mir ja die Langeweil gefallen in einer Verdünnung, daß man dabei einschlafen kann, aber unsere Langeweil, das ist ein Extrakt, das ist eine Langeweil wie ein Löw; die macht einen wild.«
Die Echtheit seiner Verzweiflung stand in so drolligem Verhältnis zu ihrer Ursache, daß Claire unwillkürlich lachen mußte. Die große Gestalt ihrer Freundin, deren Lippen sich auch den schwersten Schicksalsschlägen gegenüber nie zu einer Klage geöffnet hatten, tauchte vor ihr auf, und wie neu gestählt durch den Gedanken an die Starke, wies sie die Beschwerden des Grafen scherzend zurück. Sie machte die Taktlosigkeit, mit welcher er sie zum Schiedsrichter zwischen sich und den Seinen aufgerufen hatte, wieder gut, indem sie sagte: »Oh, wie ungerecht sind Sie, Herr Graf; die Frage Gräfin Theklas ist ja interessant und besitzt überdies die schöne Eigenschaft, lösbar zu sein, und zwar zugunsten sowohl der Mo- wie der Ma- und der Mu-Partei.«
»Wieso? wie meinen Sie das?« riefen einige.
Die Stiftsdame versicherte, es sei ganz natürlich, und sie könne sich's erklären. Thekla umarmte ihre Beschützerin stürmisch aus Dankbarkeit dafür, daß sie sich ihrer angenommen hatte; Marie warf noch einige kühne Behauptungen hin, die Widerspruch erregten. Sogar Gräfin Martha und Graf Emil, die ältesten und zugleich die stillsten unter den Geschwistern, von denen selbst ihre Mutter gestand, daß man sie immer nur »schweigen höre«, nahmen teil an der Debatte.
Nach einer Viertelstunde war Leben in die Gesellschaft gekommen. Vortreffliches leistete die Gräfin an Ausdrechselung zierlicher Phrasen. Sie suchte den Eindruck zu verwischen, welchen vorhin der heftige Ausfall ihres Gemahls hervorgerufen haben mochte. Sie tat es in ebenso zarter als indirekter Weise; sie verteilte gleichmäßig Balsam an alle die Ihrigen, sprach von der grazienhaften Unschuld ihrer Kinder und von der Süße einer Familieneinigkeit, die wie eine Öloase auf dem Ozean des Lebens schwimme. Nicht umhin konnte sie, sich selbst das Zeugnis auszustellen, daß sie doch sehr gut spreche, und das gab ihr ein Hochgefühl, wie sie es lange nicht empfunden. Aber nicht sie allein, auch die übrigen waren mit sich zufriedener als sonst und waren es demnach auch mit den anderen gewesen. Vergnügt hatte man sich getrennt.
Diesem ersten Erfolge Claires schloß eine ganze Reihe von Erfolgen sich an, und wenn auch niemand im Hause Meiberg ahnte, wie schwer sie errungen wurden, so fiel es doch keinem ein, dieselben der wacker Ringenden zu verkümmern. Jeder erwies sich dankbar in seiner Weise. Der Graf in grämlicher, die Gräfin in schwülstiger, die Tante in kluger, Martha in melancholischer, Emil in schläfriger und so weiter. Nur Marie verhielt sich ablehnend und wurde manchmal sogar aggressiv.
»Ich durchschaue Ihren Kniff«, sprach sie einmal. »Er besteht darin, jedem von uns Gelegenheit zu geben, sein Licht leuchten zu lassen – ich will nicht unhöflich sein, sonst würde ich sagen: sein Nachtlicht, denn über mehr haben wir nicht zu verfügen.«
Und nun erging sie sich in beißenden Spottreden, zu denen Claire jedoch ein sehr ernstes Gesicht machte.
»Sie sind witzig, Gräfin«, sprach sie, »aber in einer Art, für welche der Sinn mir fehlt. Ein Witz, der sich nur auf fremde Kosten äußern kann, ist von geringer Qualität. Was mich betrifft, ich wäre zu stolz, um meinen Aufwand an sogenanntem Geist durch andere bestreiten zu lassen.«
Marie wandte ihr den Rücken. Drei Tage lang grollte sie ihr. Am vierten stürzte sie während der Unterrichtsstunde in das Zimmer der kleinen Brüder, war hochrot im Gesicht, ergriff die Hand Claires und stieß hervor: »Ich habe noch nie einen Menschen so liebgehabt wie Sie; zählen Sie von nun an auf mich.«
Seit diesem Augenblick war Claire die Vertraute ihrer heiligsten Geheimnisse geworden und hatte erfahren, daß die junge Gräfin innerlich eine Revolutionärin sei, mehrere Kopien eines Bildes von Danton angefertigt und eine große Ähnlichkeit zwischen ihren eigenen Zügen und denen des Urhebers der Septembermorde entdeckt habe. Was alles in ihr gärte, niemand ahnte es; aber Claire, ihre Freundin, sollte es wissen. Ja, sie dachte sehr oft daran, wie notwendig ein Umsturz der Gesellschaft geworden sei, besonders in Österreich, und wenn sie dreinzureden hätte – Kammerherrnschlüssel und Sternkreuzorden würden abgeschafft werden. Und noch etwas: In ihrer Kindheit hatte sie »Klavier gelernt«, es später aufgegeben, um sich leidenschaftlich der Zither zu widmen, kürzlich aber eingesehen, daß ihr Talent nach einer genialeren Ausdrucksform begehre. Einige Tage schon trug sie sich mit dem Entschluß, ihren Eltern zu erklären, daß sie sich entweder zur Violoncellvirtuosin ausbilden oder die Musik ganz aufgeben wolle, damit aber auch ihr höchstes Lebensglück. Alles oder nichts! So war sie, das war ihr Charakter. In der Freundschaft jedoch, da gibt es keinen Charakter, da gibt es nur Vertrauen. Zum Beweis desselben verfügte sie auch etwas eigenmächtig über das Geheimnis ihrer älteren Schwester und teilte Claire mit, Martha habe im vorigen Jahre ein Handschuhknöpfchen, das Herr Bretfeld bei der Stunde verlor, im Medaillon getragen. Mit der Schwärmerei sei es jedoch vorbei, und zum größten Glück habe Herr Bretfeld gar nichts davon bemerkt, sich vielmehr immer kostbarer gemacht, die Stunden immer mehr abgekürzt, dadurch nämlich, daß er stets zu spät komme, den Augenblick fortzugehen aber pünktlich einhalte.
Die Aufmerksamkeit, mit welcher Claire dieser Mitteilung lauschte, schmeichelte der kleinen Schwätzerin. Sie fuhr eifrig fort, von der Exaltation vieler ihrer Freundinnen für Herrn Bretfeld zu sprechen, und bedauerte, daß er so furchtbar verwöhnt werde. »Es ist schrecklich dumm«, meinte sie altklug und zog dabei ihre mageren Backfischschultern in die Höhe, »denn heiraten kann ihn ja doch keine von uns, und ich glaube, daß er sich's auch gar nicht verlangt . . . Er soll eine stille Liebe haben. Für eine deutsche Prinzessin, an deren Hof er jeden Sommer einige Monate verlebt, sagen die einen; für ein armes Mädchen, sagen die anderen, das aber nie seine Frau werden darf, weil seine Familie, die stolz und reich ist, es nicht erlaubt.«
Dieses Gespräch hinterließ einen Stachel im Herzen Claires. An die Hindernisse, welche die Angehörigen Arnolds gegen seine Verbindung mit ihr erheben könnten, hatte sie nicht ernstlich gedacht. Nun tat sie's, tat's in Sorgen, die sie dem Vielgeliebten verschwieg. Nicht vorsätzlich, nicht weil sie Scheu trug, die kurze Stunde, die er bei ihr zubrachte, zu trüben, sondern weil sie von keiner selbstsüchtigen Sorge mehr wußte, sobald er ihre Schwelle überschritten und seine Stimme sie begrüßt hatte. Geschah es in freundlicher Weise, sprach Ruhe und Zufriedenheit aus seinem schönen Gesicht, dann gab es in ihrer Seele keinen Raum mehr für eine andere Empfindung als die der Wonne. Lag ein Schatten auf seiner Stirn, klang leiser Unmut aus seinem Tone, gleich faßte es sie mit peinigendem Gewissensvorwurf: Du bist schuld – und sie wünschte nichts, als gutzumachen, was sie unbewußt gefehlt haben mochte.
Er ließ ihrer freudigen und geduldigen Liebe nicht Gerechtigkeit widerfahren. Wie konnte sie noch freudig und geduldig sein, während er litt und sich sehnte?
Vier Wochen waren seit seinem ersten Besuche verflossen, lange genug, um ihm das Glück, Claire in Gegenwart ihrer Freundin sprechen zu dürfen, als ein sehr zweifelhaftes erscheinen zu lassen. Abstoßend wirkten die Verhältnisse im Hause der Baronin, abstoßend sie selbst auf ihn. Er gab es auf, nach ihrem Wohlwollen zu ringen; er ließ sich in Wortwechsel mit ihr ein, bei denen er zu oft den kürzeren zog, um der Siegerin nicht zu grollen. Plötzlich erklärte er, sich nicht länger hinhalten lassen zu wollen, und drang auf Entscheidung. Es war ihm Folterqual, mit anzusehen, wie Claire alle ihre Kräfte anspannte, um Verpflichtungen abzutragen, deren sie zu entheben er brannte. Und nichts hätte es dazu bedurft, nichts als den Entschluß, ihren strafbaren Hochmut aufzugeben und als ihr Eigentum zu betrachten, was ihr ohnedies gehörte – das Seine. Er wiederholte es so oft, er war so gekränkt über die Weigerung, die sie ihm entgegensetzte, daß Claire endlich zu schwanken begann.
Freilich mahnte die Baronin: »Laß dich nicht überreden, um keinen Preis!« aber Claire gab im Herzen Arnold recht, wenn er sagte, daß ihm Schmach angetan werde durch diese ihre Scheu, von ihm eine kleine materielle Hilfe anzunehmen, von ihm, der ja sein Höchstes gegeben: seine Liebe, und das Höchste errungen zu haben hoffe: ihre Gegenliebe.
Ungewöhnlich früh kündigte in diesem Jahre der Sommer sich an; Maitage brachten drückende Hitze, die Luft lag schwül über der großen Stadt. Eine schlimme Zeit für die Leutchen, die, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, wandern müssen von Haus zu Haus, jetzt durch schmale Gassen, in welche nie ein Strahl der Sonne dringt, dann über breite Plätze, auf die sie niederbrennt, daß die Pflastersteine zu rauchen und die Statuen und Brunnenfiguren zu glühen scheinen. Claire sah ermüdet aus, wollte aber nicht zugeben, daß sie es war, und scherzte über Arnolds Besorgnisse.
Die Tage, an welchen sie mehr Ruhe haben würde, rückten ohnedies mit demjenigen heran, an welchem Emil Meiberg seine Maturitätsprüfung ablegen sollte. Dann zog die Familie fort und entschädigte sich für ihr ungewöhnlich langes Verweilen in der Stadt durch einen bis über den Spätherbst hinausgedehnten Aufenthalt auf dem Lande.
»Und was gedenken Sie indessen zu tun?« fragte Arnold.
Dasselbe, was sie immer tat in der toten Saison, erhielt er zur Antwort. Ein paar Lektionen geben – zwei bis drei, nicht der Rede wert. Auf ihren Gängen durch die Stadt die Modemagazine studieren und sich durch den Anblick des dort Geschauten begeistern lassen. Hilf Gott, man braucht Ideen! Die Zeit ist da, einen Staat herzustellen, zu welchem der des vorigen Jahres zwar das meiste Material liefert, der jenem jedoch möglichst unähnlich sein muß. Einfach, wie es sich schickt für eine Lehrerin; geschmackvoll, wie die feinen Leute, mit denen sie verkehrt, es verlangen. Und wenn das zu Ende gebracht sein wird, dann sehr oft mit rechtem Behagen die Hände in den Schoß legen. Am Abend das Fenster öffnen und sich der Sternguckerei ergeben, die lauter Wonne und Erhebung ist.
»Schöne Ferien, die Sie sich da gönnen!« rief Arnold. »Wirklich, Sie verlassen die Stadt nie? Unternehmen nie eine kleine Reise? Sie haben niemals bei Sonnenuntergang auf einem Berg gestanden? Sind noch nie in das Geheimnis eines Waldes gedrungen? Sie haben den klaren Spiegel eines Sees nie erblickt?«
»Niemals«, fiel die Baronin ein, »wie sollte sie? . . . Im Kloster, in dem sie erzogen wurde, herrschte Klausur. Aus dem Kloster trat sie in Verhältnisse, die sie teils am Lehrtisch, teils am Siechbett festhielten. Ohne Erholungspausen dazwischen. Das tägliche Brot wollte täglich erworben, die Kranken wollten täglich gepflegt werden. Man kann dem Hunger nicht sagen: Warte, und dem Leiden nicht: Setz ein wenig aus . . . Das ging so fort bis zum Tod der Eltern, und wie es seitdem geht, wissen Sie.«
Wohl wußte er's, und er wußte auch, daß es nicht länger so fortgehen durfte.
In seine Wohnung zurückgekehrt, fand er einen eben aus Deutschland eingetroffenen Brief: die gewöhnliche Einladung nach dem kunstsinnigen Hof, an welchen er alljährlich berufen wurde, nur dieses Mal früher als sonst abgesandt und dringender und schmeichelhafter denn je. Man bereitete große musikalische Aufführungen vor und verlangte dabei nach dem Rate und der Gegenwart des ausgezeichneten Kenners.
Die erste Regung Arnolds war: annehmen, sich losreißen, Claire ihrem Eigensinn überlassen. Bald jedoch erschien ihm das zu grausam gegen sie und unwürdig seiner selbst. Er wollte einen letzten, einen entscheidenden Versuch machen, sie zum Nachgeben zu bewegen. Widerstand sie – ihre Sache; dann hatte sie die Folgen sich selbst zuzuschreiben und mochte sehen, wie sie die monatelange Trennung von ihm trug.
Am nächsten Tag, zur Stunde, die Claire daheim zubrachte, bevor sie sich zu Meibergs begab, schellte er an der Wohnung der Baronin. Diese selbst öffnete. Er ließ ihr nicht Zeit, ihn zur Rede zu stellen über sein unbefugtes Erscheinen, entschuldigte mit kalter Höflichkeit, daß er durch Umstände gezwungen sei, die Konsigne zu brechen, und trat an ihr vorbei in das Zimmer. Ein Aufschrei freudiger Überraschung begrüßte ihn; Claire erhob sich vom Arbeitstisch, an dem sie gesessen, auf das emsigste mit einer feinen Arbeit beschäftigt. Sie hatte an einem durch einen argen Riß beschädigten Spitzenschleier genäht, der Karoline zur raschen Heilung anvertraut worden und heute noch abgeliefert werden mußte. Die Baronin vermochte nicht, die kunstvolle Arbeit zu beendigen, da sie zu sehr in Anspruch genommen war von der Pflege ihres Kranken, und so leistete denn Claire hilfreiche Hand. Bestürzt über den ernsten und inquisitorischen Blick, den Arnold auf sie und ihre Arbeit geworfen hatte, brachte sie diese Erklärung hastig und errötend vor.
Er bat sie, sich nicht unterbrechen zu lassen; Claire nahm ihren Platz wieder ein; er setzte sich ihr gegenüber, wartete, schwieg und dachte: Du bist das Ärmste, das lebt.
Nun breitete Claire den Spitzenschleier auf dem Tische vor Arnold aus. »Sehen Sie hierher! Das nennt man flicken. Wer entdeckt da die Spur eines Makels?«
Er ergriff ihre Hand. »Wunderschön haben Sie es gemacht, Geliebteste, und in edler Selbstverleugnung habe ich Ihnen Zeit dazu gelassen. Jetzt ist's geschehen, und es gibt nichts mehr zu tun, als mich anzuhören.«
Claire blickte mit offenbarer Bangigkeit zu ihm empor. »Was ist Ihnen? Sie sind so feierlich, ich bemerkte es schon früher. Habe ich etwas getan, das Ihnen mißfiel? . . . Sprechen Sie, sprechen Sie doch!«
»Mir ist auch feierlich zumute, liebe Claire. Ich habe einen unwiderruflichen Entschluß gefaßt und bin da, ihn zu verkünden. Unsere Probezeit muß abgekürzt werden. Sie haben Ihre letzte Unterrichtsstunde gegeben. Ich kann und will nicht mehr zusehen, wie Sie sich im Dienst einer Pflicht aufreiben, deren Erfüllung ich Ihnen so leicht abzunehmen vermag. – Geben Sie mir ein Recht dazu – ich fordere es.«
»Mein Gott, mein Gott!« sagte sie leise und gepreßt. »Was ficht Sie so plötzlich an? – Ich bin ja nicht frei – ich kann ja nicht über mich verfügen . . .« Die Stimme versagte ihr, sie rang nach Atem.
Arnold sprang auf, umschlang sie und drückte seine Lippen auf ihre Stirn. Sie ließ es geschehen. Einen kurzen Augenblick versank für sie die Welt mit all ihrem Leid, mit all ihren Anforderungen . . . Ihm aber war, als hätte er sie nie heißer, nie besser geliebt.
»In vier Wochen sind wir verheiratet«, sprach er, »und ich entführe Sie in unsere Alpen. Wir werden wandern, wohin es Ihnen gefällt, und wohnen, wo Sie wollen – am Saume des Waldes, am Ufer des Sees, im grünen Tal oder auf dem Gipfel des Berges . . . Haben Sie sich noch nie in die herrliche Welt hinausgesehnt? Doch – nicht wahr? . . . Sie werden diese Welt jetzt sehen, diese fremde, niegekannte, und Ihnen wird sein, als kämen Sie in die Heimat zurück.«
Mit immer wärmeren Worten, hingerissen von seiner eigenen Beredsamkeit, malte er ihr die nächste Zukunft als eine Reihe von freudenhellen Tagen aus, und sie hörte ihn lächelnd an und sagte nur manchmal: »Träume! Träume!«
»Wirklichkeit!« rief er.
»Nein, nein – bevor ich ein neues Leben beginnen darf, muß ich mit dem alten abgeschlossen haben. Ich muß abgeschlossen haben«, setzte sie zagend hinzu, da er sich unwillig abwendete. »Alles kann ich von Ihnen annehmen, nur das nicht, daß Sie meine Schuld gegen meine Toten abtragen.«
Arnold trat einige Schritte zurück, kaum unterdrückte er den Ausdruck seines Zornes. So verletzt fühlte er sich, so geringgeschätzt, daß er sogar verschmähte, ihr Vorwürfe zu machen, und nur leise und heftig sprach: »Wenn Sie mich heute mit einem Nein entlassen, so haben Sie etwas getan, das kein später gesprochenes Ja wiedergutmachen kann.«
Auch Claire war aufgestanden. Ihre gesenkten Lider bebten, sie stützte sich mit den Fingern der rechten Hand leicht auf den Tisch, indes die linke an ihrer zarten Gestalt niederhing. Ein stiller Seelenkampf vollzog sich in ihr, der keinen Ausdruck mehr fand, vielleicht keinen mehr suchte, den nur das Zittern der fest aufeinandergepreßten Lippen verriet.
Und von neuem faßte es ihn mit unsäglichem Erbarmen. »Sie quälen sich und mich mutwillig«, sagte er. »Wäre ich noch der, der ich war, bevor meine Liebe zu Ihnen mich zum Schwächling machte, würde ich Ihnen sagen: Geben Sie jetzt nach, oder lassen Sie uns jetzt scheiden . . . Aber ich spreche das Wort nicht aus, weil ich fürchte, es nicht halten zu können.«
Die ganze Verwerfung seiner selbst, mit der diese Erkenntnis ihn zu erfüllen schien, klang aus seinem Tone, und trotziger setzte er hinzu: »Sie werden mich abermals vertrösten, und ich werde mich abermals vertrösten lassen . . . Wenn es aber geschieht, wenn ich, heute abgewiesen, wiederkomme, dann mögen Sie mich mit dem Bewußtsein empfangen, einen unversöhnlichen Zwiespalt in mir erregt zu haben.«
»Herr Bretfeld«, stammelte Claire beschwörend, »Herr Bretfeld . . .« Sie war totenblaß geworden; starr und unverwandt ruhten ihre Augen auf ihm.
Und er sah, daß er nun endlich das Rechte getroffen hatte, daß es ihm gelungen war, ihre Kraft und ihren Stolz zu beugen . . . Er sah es triumphierend und gerührt und verschloß sein Inneres der Stimme, die ihm zuflüsterte: Der Zwiespalt, von dem du sprachst, besteht nicht – du könntest dich losreißen, du könntest!
Zärtlich umfing er die Geliebte, indes sie sagte: »Das soll nicht sein, um Ihre Selbstachtung darf ich Sie nicht bringen. Lieber mich um die meine«, schaltete sie fast unhörbar ein. »Ich sage ja zu allem; nehmen Sie mich denn, wie ich bin – ärmer als arm.«
»Ärmer als arm, aber dennoch wird Verlobung gefeiert«, wiederholte eine scharfe Stimme. Die Baronin war eingetreten.
»So ist es«, erklärte Arnold, »heute Verlobung, in vier Wochen Vermählung.«
Claire ergriff und küßte die Hände der alten Frau. »Verzeihe«, bat sie, »ich bin undankbar gegen dich; ich folge ihm, ich verlasse dich, du bleibst allein.«
»Was läge daran«, versetzte ihre Freundin; »aber du handelst unvernünftig und infolgedessen unrecht, und das ist schlimm. – In vier Wochen?« wandte sie sich an Bretfeld. »Da muß also von Ihnen aus alles in Ordnung gebracht worden sein. Da haben Sie aus eigener Machtvollkommenheit das Verhältnis zum Hause Meiberg, das Claires Zukunft gesichert hätte, gelöst. Da haben Sie auch schon für eine Ihrer Braut gebührende Aufnahme in der Familie Bretfeld gesorgt.«
»Das alles wird geschehen, verlassen Sie sich darauf.«
»Wird?« fragte die Baronin mit spöttischem Erstaunen, »ist noch nicht?«
»Nehmen Sie an, daß heute morgen sei«, entgegnete Arnold rasch und gereizt, »dann wird es geschehen sein . . . Übrigens bin ich kein Kind, das um Erlaubnis zu bitten braucht; ich bin gewohnt, den Meinen mit fertigen Tatsachen entgegenzutreten; und was Claire betrifft, so ist sie keine Sklavin.«
»Doch! entschuldigen Sie; sie ist, da sie redlich ist, Sklavin ihres Wortes«, entgegnete die Baronin und setzte nach kurzer Pause hinzu: »Von der Stunde an, in welcher Sie mit Ihren Verwandten gesprochen haben werden und mit oder ohne deren Zustimmung auf Ihrer Heirat mit Claire beharren. Bis dahin bleibt alles beim alten, das fordere ich – einen Schatten von Mutterrecht wird mein Pflegekind mir zugestehen . . . Ich weiß, ich weiß –« wehrte sie die Beteuerungen Claires ab und richtete wieder das Wort an Arnold: »Fügen Sie sich.«
»Worein?« rief er. »In das Bewußtsein, daß Sie mir mißtraut haben vom ersten Tage und mir mißtrauen werden bis zum letzten?«
Er wartete auf einen Widerspruch, der nicht erfolgte. »Und Sie –« brach er aus, »und Sie, Claire?«
»Und ich«, lautete ihre Entgegnung, »vertraue Ihnen blindlings, grenzenlos; ich sage, was Sie tun, das ist das Rechte . . . Aber aus Liebe zu mir überzeugen Sie auch diese Ungläubige, die – gleichfalls aus Liebe zu mir – gegen Sie fehlt. Erfüllen Sie ihren Wunsch.«
Er ließ sich bewegen, er gab nach.
Von ihm geleitet, trat Claire, viel zu spät – wie sie bald mit einem Schrecken, der ihn lachen machte, entdeckte –, ihren Gang zu Meibergs an. In der Stadt nahm er von ihr Abschied und schlug einen Weg ein, den er noch nie freudig gegangen war, den Weg zur Wohnung seines Onkels Johann Bretfeld. Das war der alte und kinderlose Chef des reichen Hauses, das Orakel, vor dessen Sprüchen und Beschlüssen die sonst so steifen Nacken der Kaufherren Bretfeld, seiner Neffen, Geschäftsteilhaber und einstigen Erben, sich unbedingt beugten.
Claire jedoch schritt weiter, von Träumen umwoben, die sich immer lieblicher gestalteten. In vier Wochen seine Frau . . . War's denn wirklich möglich? Geschehen solche Wunder? Verwandelt diese gütige Vorsehung, an welcher sie nie gezweifelt hat, für manchen über alle Maßen Begnadeten den dornenvollen Weg zum Himmel in eine Wanderung so schön und wonnehell, daß Engel das Menschenkind darum beneiden könnten? . . . Seligkeit ohnegleichen – seine Frau sein, seine Genossin . . . Und durch dieses höchste Glück, das zu erkaufen kein Opfer groß genug gewesen wäre, zugleich auch befreit werden von aller Sorge und Mühsal, den bitteren Kampf nicht mehr kämpfen müssen, den jeder Morgen erneute und zu dem nicht mehr jeder Morgen die alte Freudigkeit brachte . . .
Als Claire an ihrem Ziel anlangte und die Treppe betrat, auf welcher sie dem Geliebten zum erstenmal begegnet war, atmete sie tief und blieb einen Augenblick in stilles Sinnen versunken stehen.
»Fräuln!« wurde sie plötzlich angerufen. Der Portier war aus seiner Loge getreten und winkte ihr, den Hut im Genick, mit dem silberbeschlagenen Stock vertraulich zu. »Was ist's denn mit Ihnen? Die Herrschaften schicken schon in einem fort fragen, ob Sie nicht haben absagen lassen, die Herrschaften sind schon bei Tisch.«
Eilends begab Claire sich nach dem Speisesaal und fand dort in der Tat die Familie bereits versammelt. Feierliches Schweigen empfing sie, nur unterbrochen durch ein Freudengeschrei Chouchous, in das Baby einstimmte. Sie wurden sofort zur Ruhe verwiesen. Die Gräfin heftete auf Claire, als diese, sie begrüßend, an der Tafel Platz nahm, einen langen vorwurfsvollen Blick, senkte ihn dann auf ihren wohlbesetzten Teller und führte mit verächtlicher Leidensmiene einen Bissen nach dem anderen langsam zum Munde. Die Komtessen und Gräflein guckten voll mehr oder minder unschuldiger Schadenfreude abwechselnd Mama und Claire an, und Chouchou und Baby, die seit dem Eintreten der letzteren in einen Kampf mit ihren Bonnen geraten waren, machten sich plötzlich von ihren Bändigerinnen los und stürzten jubelnd auf Claire zu. Mit Donnerstimme befahl der Graf die kecken kleinen Gesellen auf ihre Sessel zurück, und als die unversehens Angewetterten vor Schrecken in Geheul ausbrachen, wurden sie in ihre Zimmer geschickt.
Nach dieser Katastrophe trat eine wahre Kirchhofsstille ein. Unhörbar für jeden außer für den, an den es gerichtet war, machte die Stiftsdame dem Hofmeister das Geständnis, daß »in ihr alles koche«. Die Gräfin aber salzte den Spargel, den sie eben aß, mit einer Träne.
Nach kurzer Weile erlaubte sich Claire, beim Grafen Fürsprache für ihre Zöglinge einzulegen; er aber reagierte nicht darauf, sondern sprach: »Sie unpünktlich, Fräulein Dübois! Die Welt steht nicht mehr lang . . . Ei, ei, Fräulein Dübois, unpünktlich zum erstenmal im Leben!«
»Lassen Sie mir das als Entschuldigung gelten, Herr Graf«, entgegnete Claire mit wunderbarer Gelassenheit.
»Was haben Sie denn für ein Gewissen?« flüsterte Marie, ihre Nachbarin, ihr neckend zu. »Sie versündigen sich gegen die Hausordnung, richten ein Familienunglück an und geraten darüber nicht einmal ein bißchen in Verzweiflung.«
Nun erhob die Gräfin ihr betrübtes Angesicht. »Es ist doch außerordentlich merkwürdig, daß . . .« Der Satz blieb unvollendet, dank der stets geübten Selbstüberwindung der edlen Frau und ihrer Rücksicht gegen Untergebene. Erst zwei Stunden später, als sie mit ihrer Schwester ins Theater fuhr, begann sie von neuem: »Es ist doch außerordentlich merkwürdig, daß Fräulein Claire es nicht der Mühe wert gefunden hat, ihr langes Ausbleiben zu entschuldigen.«
»Das kommt daher«, erwiderte die Stiftsdame, »daß ihr sie verwöhnt habt. Ich sage immer, man darf die Leute nicht verwöhnen.«
»Onkel und Tante zu Hause?« fragte Arnold, in das große kahle Vorzimmer der Wohnung Johann Bretfelds tretend.
»Jawohl«, antwortete die Zofe, an welche er seine Worte gerichtet hatte. »Die Herren August und Vincenz haben da gespeist und die Damen auch, und –« setzte sie hinzu und zupfte schmunzelnd an ihrer weißen Schürze, »das Fräulein Josephine Bretfeld ist auch da.«
Josephine Bretfeld . . . die einzige Tochter des Konsuls Bretfeld, die ihm von den Seinen bestimmte Braut, das junge Mädchen, mit dem zusammenzutreffen er sich bis jetzt so standhaft geweigert – sie hier?
»Ist heute aus Paris angekommen mit dem Herrn Papa und bei uns abgestiegen«, fuhr die Zofe fort, nicht ohne Ergötzen an der Bestürzung, die ihre Nachricht hervorgebracht hatte.
Arnold griff rasch in die Westentasche, zog ein paar zerknitterte Guldenscheine heraus und drückte sie der Dienerin in die Hand. »Sagen Sie niemand, daß ich hier gewesen bin«, sprach er, indem er sich hastig dem Ausgang zuwandte. – Da wurde die Tür des Speisezimmers aufgerissen, und August erschien.
»Nun, Musikus, bist einmal da?« rief er dem Bruder zu und wiegte dabei behaglich seine hohe schmächtige Gestalt mit der eingedrückten Brust und den vorgebogenen Schultern. »Wir haben dich vom Fenster aus kommen sehen und alle gelacht über den Zufall, der dich gerade heute herführt. Nur herein also, nur herein.« Er schwankte voraus wie ein Boot im Winde, die Türen hinter sich offen lassend, und Arnold blieb nichts übrig, als ihm durch eine Reihe steif und unwohnlich eingerichteter Gemächer bis in den Salon zu folgen.
Da saß der wohlbekannte Kreis in der wohlbekannten Weise. Auf dem altmodischen, mit rotem Brokat überzogenen Kanapee die alte Tante Johanna in silbergrauem Taffet mit einer gewaltigen weißen Haube auf dem noch stramm gehaltenen Kopfe. Rechts und links von ihr auf geradlehnigen Fauteuils ihre Nichten, die Zwillingsschwestern Elise und Berta, zwei strenge Schönheiten, mittelgroß, wohlproportioniert, mit länglichen ebenmäßigen Gesichtern, die bereits zur Üppigkeit neigenden Körperformen in eng anliegenden Küraßtaillen von gelbbraunem Atlas eingedämmt. Den Damen gegenüber verschwand beinahe in einem großen tiefen Lehnstuhl der greise und winzige Chef des Hauses Bretfeld. Seine Füße, die nicht bis zum Fußboden gereicht hätten, ruhten auf einem Schemel. Er horchte, den Mund halb geöffnet, mit der Neugier der Tauben nach allen Seiten hin und schien kein Wort des geführten Gespräches verlieren zu wollen.
»Arnold ist da!« rief August ihm nun zu und beugte sich zu ihm nieder.
»Wer?« fragte der Greis.
»Arnold«, wiederholte, ihm ins andere, ins bessere Ohr schreiend, sein Neffe Vincenz. Das war der »elegante« Vincenz, das leibhaftige Widerspiel Augusts. Kurz und gedrungen, schwarzäugig, schwarzbärtig, zu sorgfältig gekleidet, zu gut frisiert, den kleinen Finger jeder Hand mit einem Ring geschmückt, dessen Brillant fixsternmäßig funkelte.
Der Anblick dieser Ringe genügte sonst, um Arnolds Spott zu reizen und in ihm die Lust zu erwecken, den kargen Vorrat von abgedroschenen Späßen, aus dem das Unterhaltungsbedürfnis der Seinen gedeckt wurde, mit einigen lustigen Witzen aufzufrischen. Heute fertigte er die Familie mit einer kurzen Begrüßung ab. Seine ganze, seine staunende Aufmerksamkeit wurde von der neuen Erscheinung in Anspruch genommen, die er bei seinen Angehörigen traf, von dem Mädchen, das er sich eben angeschickt hatte zu fliehen . . . Himmel und Erde! wie schön war dieses schlanke Geschöpf mit den herrlichen aschblonden Haaren, das ihn aus großen Augen ansah und seine tiefe Verbeugung so unbefangen erwiderte, daß kein Zweifel walten konnte über ihre Unkenntnis der Absichten, welche ihr Vater mit dem Besuch der Verwandten in Wien verband – im vorigen Jahre wenigstens verbunden hatte, als Arnold, der Wahl, die seine Brüder für ihn getroffen, mißtrauend, einer Begegnung mit dem Gegenstand derselben schnöde ausgewichen war. Wer konnte aber auch den schwerfälligen Kaufleuten, den Männern ihrer Frauen, einen so ausgezeichneten Geschmack zutrauen? Sie waren aus Paris gekommen, entzückt von ihrer Nichte Josephine und deren Lob in allen Tonarten singend. Arnold jedoch hatte aus ihren Hymnen nichts herausgehört als den Schrei der Sympathie der Millionen des Hauses Bretfeld senior für die Millionen des Hauses Bretfeld junior. Welch ein Irrtum, welch ein Unrecht, an dem anmutigen Wesen begangen, das jetzt vor ihm stand, so natürlich, so einfach, so ernst – und so jung! . . . so jung! – Welcher Kontrast zwischen der liebenswürdig ungezwungenen Art und Weise dieses weltgewandten Kindes und den hölzernen Manieren seiner Schwägerinnen, die immer verfangen in einem Netz von Ansprüchen und doch immer verlegen waren und zweierlei Benehmen hatten, eines für die Gesellschaft und eines für das Haus.
Arnold mußte bekennen: die Absicht, die seine Brüder mit ihm gehabt, war eine gute gewesen. – Unglaublich nur, unverzeihlich fast erschien ihm, daß er, der Bräutigam von drei Stunden, ein Auge haben konnte, ein waches und scharfsichtiges Auge für die Vorzüge eines anderen Wesens als desjenigen, das er erkoren und errungen. Indessen war ja sein Schicksal besiegelt und das Wohlgefallen, welches das schöne Mädchen ihm einflößte, ein rein künstlerisches. Immer behaglicher gab er sich dem Vergnügen, mit ihr zu plaudern, hin und fand die Störung höchst unangenehm, die der Vater Josephinens verursachte, als er erschien, um sie zur Oper abzuholen.
Konsul Bretfeld kam vom Diner beim Handelsminister und war gar freundlich anzuschauen, wie er daherschnellte, federnden Ganges, im Schmucke seiner vielen Orden. Sein rundes, rötliches, von Selbstzufriedenheit strahlendes Gesicht verdüsterte sich, als er Arnold gewahrte, und ziemlich trocken erwiderte er auf dessen Anrede: »Noch nicht zu Hofe gefahren, Herr Vetter? Hat es damit in diesem Jahre weniger Eile als im verflossenen? Oder ist noch keine Einladung erfolgt?«
»Doch«, antwortete Arnold, »ich habe sie bereits erhalten.«
»Und ihr noch nicht entsprochen?«
»Noch nicht; es ist sogar wahrscheinlich, daß ich sie ablehnen werde.«
»Hahaha!« platzte August heraus und rieb sich geräuschvoll die knochigen Hände.
»Johanna, was hat er gesagt?« rief der Chef des Hauses seiner Frau über den Tisch zu. Vincenz kicherte, Elise und Berta sahen ihre Männer mit zur Ordnung verweisenden Blicken an. Der Konsul aber näherte sich der Tante, küßte ihr zierlich die Hand, versprach, nach dem Theater seine Tochter persönlich in das gastfreie Verwandtenhaus zurückzugeleiten, winkte dem Mädchen voranzugehen und empfahl sich, von August und Vincenz geleitet. Gern wäre Arnold dem Beispiel der beiden gefolgt, doch widerstand er dieser Versuchung und setzte sich auf den von Vincenz verlassenen Sessel an die Seite seines Oheims.
Der Greis hob den Kopf. »Nun, was sagst du?« fragte er gespannt. »Sprich aber laut, daß ich's hören kann.«
»Hören Sie denn, lieber Onkel«, nahm Arnold nach einer Pause, während welcher seine Brüder wieder in den Salon getreten waren, das Wort. »Ich bin gekommen, um Ihnen, meiner verehrten Tante und meinen Geschwistern mitzuteilen . . .« Die Ruhe, mit der er begonnen hatte, drohte ihn zu verlassen, und mit erzwungener Festigkeit schloß er: »Daß ich mich heute verlobt habe.«
»Verlobt!« Alle Lippen wiederholten das Wort, teils erschrocken, teils ungläubig, nur August lachte: »Dummer Spaß!«
Den Onkel überkam plötzlich eine große Lustigkeit. »Ei der Tausend – da schau einer den Burschen an!« Er schlug mit dem geballten Fäustchen, so stark er konnte, auf Arnolds Knie. »Er macht Spaße über seine Verlobung . . . dürfte bald Ernst werden, was? Nun, wie sieht sie aus, die Braut? . . . Ist sie reich? ist sie schön? wie heißt sie?«
»Sie ist nicht reich und heißt Claire Dübois.«
»Wie?« fragte der Alte, der schlecht verstanden zu haben glaubte, und Arnold rief ihm den Namen noch einmal laut ins Ohr.
Es entstand eine allgemeine Stille.
Elise unterbrach dieselbe zuerst, indem sie mit schneidendem Spotte sprach: »Ich entsinne mich eines Tanzmeisters Dübois.«
»Ganz recht«, entgegnete Arnold, und seine Wimpern zuckten, »dessen Tochter ist meine Braut.«
Der kleine Onkel wand sich vor Lachen in seinem großen Fauteuil, und Tante Johanna lachte mit, sehr erfreut, ihren alten Herrn so munter zu sehen. Die beiden Schwestern blieben stumm; August sagte noch einmal: »Dummer Spaß«, und Vincenz brummte: »Willst du uns zum besten haben? . . . Du – und eine Tanzmeisterin!«
»Das ist sie nicht . . . lernt sie doch kennen . . . erlaubt mir, euch meine Braut vorzustellen.«
Ein ablehnender Ausruf der drei Damen beantwortete diese Zumutung. August und Vincenz traten dem jüngeren Bruder entgegen, der sich seinerseits erhob. Niemals, erklärten sie, werde Fräulein Dübois ihre Schwelle überschreiten; den Vorschlag, Erkundigungen nach ihr einzuziehen, wiesen sie entschieden von sich. Nicht einmal einen Tag lang sollte es heißen, die Familie erwäge, fasse das Undenkbare als eine Möglichkeit ins Auge.
»Du irrst, Arnold«, mischte Elise sich in den Streit, »wenn du glaubst, daß ich deine Erkorene niemals gesehen habe. Ich besinne mich jetzt, ihr in einem Hause begegnet zu sein, in dem sie Lektionen gab. Eine verblühte Person, mein Lieber, die sich auf die Jugendliche spielt.«
»Verblüht auch?« polterte Vincenz, »dafür aber natürlich um so erfahrener. Oh, du Musikus! – sich so fangen zu lassen von einer Intrigantin, einer Tänzerin, einer Französin.«
»Kein Wort über sie!« rief Arnold; aber er wurde überstimmt. Was wußte er von der Welt, er, ein Bewohner von Wolkenkuckucksheim, von Natur dazu verurteilt, hinters Licht geführt, betrogen und ausgebeutet zu werden.
Ein häßlicher Kampf entspann sich. Jeder Ausdruck von Gutmütigkeit war aus dem fahlen Gesicht Augusts verschwunden, der elegante Vincenz hatte sich in einen plumpen, Verleumdungen hervorstoßenden Gesellen verwandelt. Arnold öffnete den Mund nicht mehr. Wie fern stehen mir diese Menschen, dachte der Freund des Schönen.
Mit regstem Interesse horchte der greise Oheim dem laut geführten Streit seiner Neffen.
»Bleibst du trotzdem dabei?« ließ August seinen Bruder an.
»Ich bleibe dabei«, erhielt er zur Antwort.
»Johanna, was hat er gesagt?« kreischte der Chef.
Seine Frau gab ihm einen Wink; sie standen auf und schritten Arm in Arm in das Nebenzimmer, wo man sie trotz der verschlossenen Tür sprechen hörte. Ihre Unterredung war bald zu einem Schlusse gelangt, und feierlich traten sie wieder ein und auf den Helden dieser Familienszene zu.
»Du heiratest also wirklich die Tänzerin?« fragte der Greis.
»Ich heirate Claire Dübois.«
»Nun denn, Arnold, mein Junge« – die kleine Gestalt des Alten schien noch mehr in sich zusammenzuschrumpfen, und sein kahler, eckiger Kopf zitterte heftig –, »nun denn, so muß ich dich enterben. Es tut mir leid, mein Junge, aber Bretfeldsches Geld darf nicht auf Tanzmeisterkinder übergehen.«
»Es ist kein Geld wie ein anderes«, sprach die Tante, »es ist in ehrenwerter Arbeit erworbenes Geld, das wir nur ehrenwerten Händen anvertrauen wollen.«
»Vincenz«, befahl der Onkel, »geh hinüber ins Kontor und bringe mir Arnolds conto corrente.«
Wenige Minuten später legte Vincenz ein großes Buch auf den Tisch, vor das der Chef sich stellte und dessen lange Zifferreihen er musterte wie ein Feldherr seine Truppen. Jetzt sollte mit dem Musikus abgerechnet werden. Bisher hatte man es nicht getan, sondern ihm die Summen gegeben, die er verlangte. Wenn er viel Geld ausgab für seine Musikinstrumente oder seine Bildersammlung, sagte August höchstens: »Bist ein Klavier- und Geigen-Don-Juan«, oder: »Schon wieder ein Bild gekauft? Mußt immer Bilderln anschauen wie ein kleines Kind.«
Und immer war vom alten Herrn entschieden worden: »Zahlt, aber nicht von dem Seinen, ich streck ihm vor. Solang er's nicht ärger treibt, streck ich vor. Laßt ihm das Seine nur beisammen.«
Der alte Herr hatte ihn ein für allemal akzeptiert als den Unmündigen in der Familie, für dessen Wohl gesorgt werden muß, weil er nicht selbst dafür zu sorgen versteht. Eine andere Gestalt jedoch nehmen die Dinge an, wenn der liebe Junge sich loslöst aus dem Verband des Hauses, wenn man nicht mehr den zukünftigen Erben in ihm zu schonen hat.
»Soll und Haben«, murmelte der Greis.
August und Vincenz zogen Bleistifte und Blocks aus den Taschen und schrieben mit fast komischer Geschwindigkeit Zahlen auf; der Chef rechnete im Kopfe.
»39 651 Gulden und 40 Kreuzer«, sprach er nach kurzer Zeit, und zugleich legten August und Vincenz ihre Blocks vor ihn hin und wiederholten: »39 651 Gulden und 40 Kreuzer.«
»Wenn ich mich bezahlt mache – und ich werde mich bezahlt machen –, heute dein ganzes Vermögen, mein lieber Junge«, sagte Onkel Johann.
»Wie?« rief Arnold in Bestürzung aus.
»Ja, ja, lieber Junge, du hättest das längst wissen können, wenn du dich um deine Sache gekümmert hättest. Deine Eltern haben Vincenz und dich auf den Pflichtteil gesetzt, damit August das Geschäft in der alten glänzenden Weise fortführen könne. Der hier« – er wies auf Vincenz – »ist ein Mehrer, hat auch vernünftig geheiratet; das Seine ist gewachsen. Du bist ein Zehrer, willst nicht vernünftig heiraten; das Deine ist zusammengeschmolzen und wird bald nichts mehr sein. Die arme Tänzerin, ich muß sie bedauern. Sie hat sich verrechnet. Du wirst als Ehemann nicht so großmütig gegen sie sein können, wie du es gewiß als Courmacher gewesen bist.«
»Onkel!« schrie Arnold gepeinigt; und der Alte hob sogleich wieder an mit seiner schrillen und zitternden Stimme: »Ich bitte dich, überleg's! Sie besitzt keinen der äußeren Vorzüge, die uns Männer blenden und hinreißen, aus eigenem Antrieb Dummheiten zu machen; ihre Reize haben dich nicht verführt, du kannst nur gefangen worden sein . . . Sei doch kein Narr und sieh es ein: eine solche Verblendung ist kein Unglück mehr, ist eine Schande.«
Die Zustimmung der übrigen begrüßte diesen Ausruf des Chefs, und Arnold wußte, daß er sich sechs Menschen und einer Meinung gegenüberbefand, einer unerschütterlichen Meinung, in welcher Claire ungesehen gerichtet und ungehört verdammt war.
Jede gute Regung in ihm bäumte sich auf gegen diese engherzige grausame Ungerechtigkeit, und stolz aufgerichtet im Gefühl seines höheren Wertes sprach er: »Ich bin nicht verblendet, ihr seid es, und zwar in der Weise, die eurer Phantasie entspricht. Ich hätte nichts anderes erwarten sollen. Nun bleibt mir die ewige Reue, den Namen Claires vor euch genannt zu haben.«
»Johanna, was sagt er?« rief der Greis, und Arnold, der sich schon zum Gehen gewendet hatte, sah, noch einen letzten Blick zurückwerfend, daß die Augen des Alten mit einem Ausdruck schmerzlicher Bangigkeit auf ihn gerichtet waren.
Am nächsten Tage beklagten sich die Eltern der Gräfin Meiberg darüber, daß Claire gestern bei der Partie sehr zerstreut und gar nicht wie sonst gewesen, auch ungewöhnlich früh fortgegangen sei. Was mag sie gehabt haben? Vielleicht Migräne? Die meisten Lehrerinnen haben Migräne. Bisher war Claire von diesem Übel verschont geblieben; wie fatal, wenn es sich gerade jetzt, da man ein dauerndes Engagement mit ihr abgeschlossen, einstellte.
Von dieser Besorgnis erfüllt, begab sich die Gräfin nach der Kinderstube, in welcher Claire, wenn sie heute pünktlich gewesen, vor fünf Minuten eingetroffen sein mußte.
Sie war da. Sie saß am Tische zwischen Chouchou und Baby und erzählte ihnen eine Geschichte, eine durchaus nicht traurige, sondern eine lustige Geschichte, über welche die kleinen Jungen schon oft herzlich gelacht hatten. Heute aber lachten sie nicht. Sie sahen vielmehr ganz verdutzt drein und starrten regungslos und unverwandt auf den Mund der Erzählerin. Diesen hübschen und edlen Mund umspielte, während er von heiteren Dingen sprach, ein unstet flatternder Leidenszug, und sooft Claire auch versuchte, ihre kleinen Zöglinge freundlich und heiter anzublicken, immer wieder senkten sich ihre Lider rasch und unwillkürlich. Die Gräfin war an den Tisch getreten, nachdem sie Claire durch einige Worte aufgefordert hatte, sich nicht unterbrechen zu lassen. In der Art, in welcher Mama das tat, mußte etwas liegen, das Chouchou nicht gefiel und das er gutzumachen wünschte. Plötzlich sprang er auf und klopfte mit seiner kleinen Hand derb und zärtlich die Wange seiner Freundin. Sie wollte es ihm verweisen, vermochte aber weder zu sprechen noch die Tränen, die ihr in die Augen traten, zurückzudrängen.
Das sehen, sich Claire an den Hals werfen und mit ihr weinen, war eins für Chouchou und für seinen getreuen Nachahmer Baby. Mit größter Mühe hätte die Gräfin eine bessere Gelegenheit gerührt zu werden nicht finden können. Seltsamerweise machte sie von derselben keinen Gebrauch. Ihre Ergriffenheit bildete nicht wie gewöhnlich einen feuchten Niederschlag, sondern kristallisierte zu Eis. Es wurde ordentlich kühl im Zimmer, als sie den Blick ihrer lichten Augen über Claire hinweggleiten ließ, ihn auf eine sinnbildliche Darstellung der Caritas heftete, die an der Wand hing, und sprach: »Gestern sind Sie zu spät zu uns gekommen und sind zu früh fortgegangen, heute machen Sie meinen Kindern eine Szene. Das geht nicht; es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß das nicht geht. Besonders nicht diesen Kindern gegenüber, denen ihr Vater vorwirft – und ihr Vater wirft immer nur mit Recht vor –, daß sie den ganzen Tag nichts tun als weinen.«
»Sie werden nicht mehr weinen, es ist schon vorbei; nicht wahr, Chouchou und Baby?« sagte Claire, die wieder Herrin ihrer selbst geworden war, sich erhoben und die Standrede der Gräfin schweigend angehört hatte.
Die letztere öffnete ihre schmalen, immer trockenen Lippen nur noch zu den Worten: »Wir wollen sehen«, und schritt mit unnachahmlicher Hoheit aus dem Zimmer.
Noch eine Unterrichtsstunde gab Claire an dem Vormittage, dann eilte sie heim wie gejagt.
»Keine Nachricht?« war ihre erste hastig hervorgestoßene Frage an die Baronin, und diese schüttelte, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, verneinend den Kopf.
Claire setzte sich ihr gegenüber. »Er wird selbst kommen wollen«, sagte sie, »er weiß, daß ich bis drei Uhr zu Hause bin.«
»Möglich«, erwiderte Karoline, und lange Zeit wurde kein Wort mehr gesprochen.
»Weißt du, was ich meine?« unterbrach Claire endlich das Schweigen. »Es ist so: er hat gestern seiner Familie seine Verlobung mit mir angezeigt, und seine Familie hat die Kunde« – sie machte einen mißlungenen Versuch, einen leichten und scherzenden Ton anzuschlagen – »mit geringer Begeisterung aufgenommen.«
»Wahrscheinlich.«
»Und jetzt kämpft er für mich, um mich.«
»Er kämpft? . . . Sagte er nicht, daß er gewohnt sei, seiner Familie mit fertigen Tatsachen entgegenzutreten?«
»Er sagte es; aber er kennt mich, er täuscht sich nicht über die Qual, die der Gedanke mir verursachen würde, schuld zu sein an einer Entfremdung zwischen ihm und den Seinen. Darum bemüht er sich, mir die Pfade zu ebnen . . . Offene Arme sollen mich empfangen, das will er; und wie dank ich ihm! . . . Ich könnte es ja nicht verwinden, seine Frau –« Claire wiederholte die letzten Worte mit dem Ausdruck des höchsten Stolzes, »seine Frau zu sein und nicht aufgenommen, wie es ihm gebührt, von denen, die ihm die Nächsten sind.«
An der Haustür wurde geschellt – Claire stieß einen leisen bebenden Schrei des Jubels aus und eilte ins Vorgemach. Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück – allein.
»Ein Diener der Gräfin Küstin«, sprach sie, »hat das Geld für die Ausbesserung des Spitzenschleiers gebracht. Ich habe den Empfang in deinem Namen quittiert. Die Gräfin läßt sagen, die Rechnung sei sehr hoch gestellt gewesen.«
»Wenn Leute, die von Arbeit keinen Begriff haben, sich doch nicht unterfangen wollten, Arbeit zu taxieren«, entgegnete Karoline und stickte weiter.
Claire schloß die Augen; ihre Hände ruhten müßig in ihrem Schoße. Das Bewußtsein der Zeit, die verstrich, ergriff sie beklemmend wie etwas physisch Fühlbares. Entsetzlich langsam für die sehnsüchtige Erwartung, fürchterlich rasch für die getäuschte Hoffnung rannen die Stunden dahin.
Manchmal stand die Baronin auf, ging, nach ihrem Kranken zu sehen, und kam dann wieder an den Stickrahmen zurück. Claire wandte den Blick nicht zu ihrer Freundin; sie war gewiß, wenn sie es täte, würde sie einem strengen Antlitz begegnen, auf dem sich Unzufriedenheit mit ihr malte.
»Halb drei Uhr«, sprach Frau Karoline plötzlich, »du mußt nun fort.«
Die Angeredete fuhr zusammen. »Und wenn ich nicht ginge?« fragte sie zögernd.
»Tätest du eben unrecht«, lautete die Antwort.
Eine Viertelstunde später befand sich Claire auf der Wanderung zu Meibergs. Sie ahnte nicht, als sie, die Brücke zum Stadtpark überschreitend, am Kastanienwäldchen vorüberging, daß sich von einer Bank in demselben ein junger schlanker Mann erhoben hatte, der nun auf den Weg trat, den sie eingeschlagen, und ihr nachsah, solange er sie irgend erblicken konnte. Ihm war nicht wohl zumute, sein Mund bebte schmerzlich, seine Brauen zogen sich zusammen. Er stieß den Fuß heftig gegen den Boden, er dachte: Arme Claire! Mitleid mit ihr schwellte sein Herz und Groll und Haß gegen diejenigen, die nicht zulassen wollten, daß sie glücklich werde.
Auch er hatte schwere Stunden gehabt und zum erstenmal in seinem Leben eine Nacht in heißem Seelenkampfe durchwacht. Von der Unterredung mit seinen Angehörigen war er in seine Wohnung heimgekehrt und rastlos auf und ab geschritten in den hellen, mit künstlerischem Schönheitssinn ausgeschmückten Räumen. Der Augenblick, in welchem er Claire hierherführen und ihr sagen würde: Tritt ein, schalte und walte, du bist in deinem Eigentum, der köstliche Augenblick, den er sich so freudig ausgemalt, sollte niemals kommen. Was Arnold der Erwählten jetzt zu bieten hatte, war nicht mehr Wohlstand; diese Wohnung paßte nicht mehr zu den Verhältnissen, in welche er von heute an getreten war; sie mußte aufgegeben und ihre besten Zierden, um die Reichere, als er gewesen, ihn gar oft beneidet hatten, mußten verkauft werden. Es hieß Geld schaffen. Der neue Haushalt, wenn auch noch so bescheiden, mußte errichtet werden. Und dann sollte man leben, und daß man es von den schmalen Renten könne, die sein zusammengeschmolzenes Vermögen abwerfen werde, fiel Arnold nicht ein. Verdienen galt's, beträchtlich verdienen! In welcher Weise, lag auf der Hand. Aber ein wahrer Greuel war ihm diese Weise – schon damals, als er sie spielend, mit der hochmütigen Gleichgültigkeit des vielumworbenen »finishing master's«, betrieb. Er pflegte über die Preise zu spotten, mit denen man den Vorzug erkaufte, sich des Unterrichts Herrn Bretfelds rühmen zu dürfen, und ließ das aufgedrungene Geld, das ihn für die Langeweile des »Stundengebens« doch nicht entschädigte, achtlos durch die Finger gleiten. Daß er auf Erwerb keinen Wert legte, das bewies die Lässigkeit, mit welcher er sein so überaus einträgliches Lehramt versah. Als er sich eine Zeitlang, den Begegnungen mit Claire zuliebe, regelmäßig bei Meibergs eingefunden hatte, erregte diese Pünktlichkeit den Neid aller seiner übrigen Schülerinnen.
Gewesen, diese Zeiten! eine neue Ära beginnt. Der interessante, der schöne, der reiche Herr Bretfeld versäumt keine Lektion mehr . . . Wie merkwürdig! – Ja, er hat eine »dumme Heirat« gemacht und braucht jetzt sein Honorar. Steht es so? – Nun, wenn das Honorar gebraucht wird, dann wird es zugleich billiger, das ist ganz natürlich; und mit seiner »dummen Heirat« und mit seinen billigen Honoraren sinkt Herr Bretfeld von seiner Höhe, sinkt herab zum Lehrer, den man aus Höflichkeit »Herr Professor« nennt und – ausschließt. Die Zeit wird bald dahin sein, in welcher Arnolds Name sein Titel war und ihm die exklusivsten Kreise zugänglich gemacht hatte. Er sah ganz genau, was ihm bevorstand, er kannte die Menschen und das Leben besser, als seine Angehörigen sich's träumen ließen, die meinten, daß einer, der vom Weltmarkt nichts versteht, von der Welt überhaupt nichts weiß. Er gab keiner Täuschung Raum, gestand sich, daß alles verfehlt sei, auch der Geliebten gegenüber, alles. Eine glänzende Zukunft hatte er ihr zu bereiten versprochen, und was er ihr in Wirklichkeit zu bieten vermochte, war nichts anderes als eine Fortsetzung ihrer jetzigen Existenz. Der Gedanke an Claire war ihm der bitterste; die lange Nacht hindurch quälte er sich damit, eine Hilfe, einen Ausweg zu suchen, entwarf die abenteuerlichsten Pläne, zog die unmöglichsten Wenn ins Bereich seiner Erwägungen, nur das eine nicht: Wenn die Meinen nachgeben würden! . . . Die gaben nicht nach; die hatten gesprochen, und wie sie es heute getan, würden sie es in zehn Jahren wieder tun.
Am Morgen verließ er seine Wohnung und wanderte ziellos in den Straßen umher. Er nahm sich vor, Claire nicht zu schonen, ihr die ganze Wahrheit zu sagen. Und wenn sie dann, wie es ihr so ähnlich sah, werde zurücktreten wollen, dann werde er es nicht zugeben – um keinen Preis . . . Was wäre ich, wenn ich das vermöchte, was wäre ich! wiederholte er zahllose Male leise vor sich hin.
In den Stunden, in welchen sie so bang auf ihn gewartet, war er zum Entschluß gekommen, die schlimme Kunde, die er ihr mitzuteilen hatte, nicht selbst zu bringen. Zu grausam für sie, zu peinlich für ihn erschien ihm das, und so hatte er des Augenblickes geharrt, in dem Claire die zweite Hälfte ihres Tagewerks begann, und schlug nun den Weg, den sie eben gegangen war, in entgegengesetzter Richtung ein.
Unweit von dem Hause, dem er zuschritt, wurde er von einem Mietwagen überholt, der vor dem Tore desselben anhielt. Langsam öffnete sich der Schlag, eine kleine Greisengestalt entstieg ihm, schwankte, unsicher auf einen Stock gestützt, über das Trottoir und verschwand im Eingang.
Arnold blieb, starr vor Überraschung, stehen.
Nach einer Weile bog er dann in die nächste Seitenstraße ein und spähte von dort nach dem Tor hinüber. Kaum eine Viertelstunde verging, und der Greis kehrte zurück, gab dem seiner wartenden Kutscher ein Zeichen und kauerte sich hastig, als fürchte er gesehen zu werden, in eine Ecke des Gefährts, das mit ihm davonrollte.
Arnold aber eilte ins Haus, rannte die Treppe empor, und von der Baronin auf sein Schellen eingelassen, stürmte er ihr nach in das Zimmer.
»Mein Onkel war bei Ihnen. Was hat er hier gewollt?« fragte er, ergriff beide Hände der alten Frau und schüttelte sie heftig, kaum wissend, was er tat.
Freundlicher, als es jemals geschehen, blickte ihm Karoline in das glühende Gesicht. »Er hat Ihnen eine unangenehme Erörterung erspart«, sagte sie. »Sie brauchen mir nichts mehr zu erzählen. Hingegen habe ich Ihnen eine Botschaft zu verkündigen, die Sie in Staunen setzen wird. Ihr Onkel – ja, das Alter zerbröckelt sogar den Stein und erweicht einen Bretfeld –, Ihr Onkel meldet Ihnen durch mich, daß er Ihnen acht Tage Bedenkzeit läßt.«
»Was soll das?« rief Arnold. »In acht Tagen werde ich wollen, was ich heute will!«
»Und in acht Monaten, und vielleicht früher schon, blutig bereuen, so gewollt zu haben. Warum gewollt? Nicht weil eine allmächtige Liebe und Leidenschaft Sie treibt, nein, aus Eitelkeit, aus Trotz, weil Ihnen der Mut fehlt zu sagen: Ich bitte um Entschuldigung, ich habe mich geirrt.«
»Der Mut? . . . das heißt die Schamlosigkeit!«
Die Baronin beantwortete diesen Ausruf mit einer Gebärde unsagbarer Geringschätzung.
»Lauter falsche Empfindungen«, sprach sie, »lauter Hohlheit, lauter Schein. Ein bißchen ehrlicher Zynismus wäre mir lieber. Seien Sie doch einmal aufrichtig mit Arnold Bretfeld, Herr Arnold Bretfeld! Sie haben nachgedacht, ich sehe es Ihnen an; Sie wissen, welche Zukunft mit Ihnen zu teilen Sie Claire einladen. Eine Zukunft voll Mühen, denen Sie nicht gewachsen sind.«
Sie hielt ihm die eindringlichste von allen Reden, eine Rede, die aussprach, was er sich selbst im stillen schon gesagt, nur klarer, nur schneidiger. Kalt und unerbittlich schilderte sie ihn, wie er war, entkleidete ihn Stück für Stück seiner erborgten Herrlichkeiten und ergoß den grausamsten Hohn über das, was übrigblieb.
Er suchte sich zu verteidigen; da hob die alte Frau ihren mächtigen Kopf hoch empor und fragte: »Wenn Sie alles ungeschehen machen könnten, was sich zwischen dem Tage Ihrer ersten Begegnung mit Claire und dem heutigen begeben hat, würden Sie es tun?«
Arnold errötete und wandte sich ab. »Ich kann es aber nicht ungeschehen machen.«
Die Baronin lachte triumphierend auf. »Etwas Vergessenes ist so gut wie nie Gewesenes! Vergessen Sie!«
»Vergessen? Ein Unrecht, eine Schuld?«
»Pah! Niemand weiß besser als Sie, daß es eine Torheit wäre, Ihr angenehmes Leben, Ihre schöne Zukunft einer Heirat mit Claire aufzuopfern. Wer sollte Ihnen eine Schuld beimessen, weil Sie eine Torheit nicht begehen? – ein Tor höchstens. Nun, Herr, ich kenne wenig Menschen, die darauf bestehen, sich selbst einer Schuld zu zeihen, wo kein Kluger eine Schuld findet. Sie gehören nicht zu diesen wenigen, Sie werden mit Ihrem Gewissen so ins reine kommen. Ferner Sohn des Reichtums, kehren Sie zurück unter das väterliche Dach! Tun Sie es rasch, nicht mit grausamer Langsamkeit. Je plötzlicher Sie sich von Claire losreißen, desto leichter machen Sie es ihr, ihrem Glückstraum zu entsagen. Ich bitte um Schonung für diejenige, die Ihnen eine vergängliche Liebe, aber – nicht wahr? und mich wundert nur, daß Sie es nicht schon ausgesprochen – eine ewige Freundschaft eingeflößt hat . . . Opfern Sie sich; erscheinen Sie roh, um eine Wohltat zu erweisen! Seien Sie einmal großmütig – die letzte Gelegenheit zur Großmut, Herr – greifen Sie zu!«
Arnold knirschte und hätte im Zorne über die erfahrene Beleidigung sich fast von neuem verschworen, sich abermals in das Netz verwickelt, nur um dem bitteren Hohn des Weibes, das er haßte, zu entgehen. Aber er besann sich, er dachte: Durch! diese große Demütigung ist der Weg zur Freiheit!
»Verleumden Sie mein Herz, soviel Sie wollen«, sprach er, »sagen Sie Claire, was Sie wollen. Ich liebe Claire, und was auch geschehen möge, ich werde nie aufhören, sie zu lieben . . . Und auf dem Recht, das sie selbst mir eingeräumt, werde ich bestehen . . . auf dem Recht, sie für immer zu befreien von jeder materiellen Sorge!«
»Herr!« schrie die Baronin, »Herr!«
Sie erhob sich, ihre lange schmale Gestalt in dem ärmlichen schwarzen Kleide nahm eine unendliche Würde an. Wie eine Königin gegen einen frech gewordenen Untertan streckte sie die Hand aus und wies dann nach der Tür.
Einen finsteren Blick warf Arnold auf sie und empfand, in welchem Maße er sich selbst in ihren Augen erniedrigt hatte. Sein Hochmut rang und suchte nach Waffen gegen den Stolz dieser Frau, nach einem Partherpfeil wenigstens, den er ihr zuschnellen könnte, bevor er schied. Umsonst! Nichts gab der Augenblick ihm ein, und stumm leistete er ihrer stummen Aufforderung Folge.
Daheim warf er sich auf den Diwan, vergrub den Kopf in die Kissen, ließ den Sturm in seinem Innern austoben und kam allmählich mit einem gewissen Behagen zum Gefühl physischer Müdigkeit, Hungers und Durstes; er aß, trank und schlief. Um zehn Uhr brachte ihm sein Diener ein Telegramm aus Deutschland: »Hoheit lassen Ihr Schweigen als Annahme der an Sie ergangenen Einladung gelten. Sie werden stündlich erwartet.«
Allein in einem Kupee erster Klasse des Schnellzuges der Westbahn befand sich am nächsten Morgen Arnold Bretfeld. Er stand am Fenster und blickte in den jungen Tag hinein. Taufrisch, üppig und grün wellten die Höhen dem goldschimmernden Horizont zu, in wolkenloser Reinheit blaute der Himmel. Die graue Dunstatmosphäre über der großen Stadt im Osten bildete in all dem Glanze den einzigen Fleck. Auch der versank in immer weitere Ferne.
Da atmete Arnold auf wie ein Erlöster. Da war der eiserne Ring, den selbstgeschaffene Leiden um seine Brust geschmiedet hatten, entzweigesprungen. Heil mir! jauchzte er laut im Gefühl der seligsten Genesung. Abgetan der schnöde Drang, ein anderer sein zu wollen, als er war; abgetan das kränkliche Mitleid, das ihn irregemacht an seiner eigenen Empfindung und ihn Liebe hatte nennen lassen, was Erbarmen war. Abgetan Selbsttäuschung und Lüge. Ohne falsche Bescheidenheit nehme jeder den Platz ein, der ihm zukommt am Mahle des Lebens. Ist's ein bevorzugter, um so besser! Was nützt es den Armen, für die der Abhub bestimmt ist, wenn man sich zu ihnen gesellt? Jedem das Seine – Mühsal und Arbeit denen, die dazu berufen sind; Freude, Genuß, göttliches Odium den Erwählten! . . . Mir! sagte sich Arnold, und jeder seiner Pulsschläge war Lebenslust, und jeder Herzschlag Verheißung. Weit öffnete die Welt sich wieder vor ihm, die schöne Welt, die ihm gehört und seinesgleichen.
Alles Glück dem Glücklichen. Sogar die leise Wehmut, die sich bei dem Gedanken an Claire durch seine Seele schlich, war nichts als ein leichter Schatten, der das Licht, das ihn allzu grell überfluten wollte, mild abdämpfte.
Am Abend zuvor war Claire nach Hause gekommen, hatte das erste Zimmer leer und Karoline im zweiten am Bette ihres Kranken gefunden, der in tiefem Schlafe lag. Das Mädchen näherte sich mit unhörbaren Schritten und fragte sie: »Ist er dagewesen?«
»Ja.«
»Und –?«
Karoline zuckte die Achseln.
»Die Seinen verwerfen mich . . . Ich kann mir's denken . . . Rede!«
Aber als die Baronin zu sprechen begann, fiel Claire ihr ins Wort: »Nicht in diesem Tone! . . . Ich ertrag es nicht . . . weiß auch genug.« Ihr ganzer Körper zitterte und bebte. »Was ich erfahren muß, will ich von ihm erfahren, durch niemand anders.«
Und dabei blieb sie. »Er soll mir sagen, wie es steht, das zu tun kommt ihm zu, das zu fordern mir. Du«, erklärte sie der Baronin mit einer Festigkeit, die den Widerspruch ausschloß, »hast für ihn kein Verständnis und keine Güte.«
Die Zeit verging.
»Hoffst du noch?« fragte Karoline.
»Ich bin so töricht! – Durch die Dämmerung um mich her dringt ein Sonnenstrahl, nicht stärker als der dünnste Faden«, erwiderte Cläre, »an den klammere ich mich und – gegen alle Voraussicht der Vernunft, gegen alle Gesetze der Physik – hält er mich – hält er mich aufrecht . . . Was ich«, fügte sie herb hinzu, »jedenfalls so lange bleiben muß, bis Meibergs abreisen.«
Unverdrossen ging sie den Anforderungen des Tages nach. In der Nacht aber lag sie schlaflos und bemühte sich, Gründe für Arnolds Ausbleiben zu ersinnen. Sie hatte ihn auf die Probe gestellt; vielleicht verlangte er Genugtuung dafür und stellte nun sie auf die Probe. Und wenn ihre Freundin behauptete, er sei verreist und werde nicht zu ihr zurückkehren, fragte Claire: »Hat er es dir gesagt?«
»Das nicht.«
»Siehst du! Ich setze meinen Glauben gegen deinen Unglauben und baue auf sein Wiederkommen.«
Still, tapfer und treu kämpfte sie ihren Kampf ums Dasein fort. Sie meinte, es ganz genauso zu tun wie je und immer. Dennoch mußte sich irgendeine Veränderung an ihr wahrnehmbar machen; zu viele Leute fragten, ob sie leidend sei, und was ihr fehle. Daß sie versicherte, sich ganz wohlzufühlen, überzeugte niemand. Sie dürfe es nicht gelten lassen, daß sie zu kränkeln beginne, meinte man; wer würde denn eine kränkliche Lehrerin behalten?
Wie es aber auch mit ihr stand, der Gräfin Meiberg hatte sie jedenfalls eine Enttäuschung bereitet.
Es war doch zu fatal, daß Claires vielgerühmte gute Laune minder gut geworden, seitdem das Haus Meiberg sich dieselbe hatte nutzbar machen wollen.
»Meibergsches Unglück!« seufzte die Gräfin. »Uns mißrät alles. Wir engagieren eine heitere Gesellschafterin – sogleich wird eine melancholische aus ihr.«
»Dann sind wir Ursache, an uns liegt die Schuld!« entgegnete Marie.
»Und ich finde sie auch so zerstreut«, sagte die Gräfin, welche nur ihren eigenen Gedanken nachgehangen hatte. Ihre Tochter jedoch versetzte: »Was liegt daran, Mama, zerstreut bist auch du.«
Ihr Vater schmunzelte, bemerkte aber mit obligater Mißbilligung, das sei »ganz etwas anderes«, und so kühn die junge Dame auch war, den Mut zu fragen: Warum? hatte sie nicht.
Eines Abends kam Claire, von Gräfin Meiberg ungewöhnlich früh entlassen, bei einbrechendem Zwielicht nach Hause.
Das erste, worauf ihr Blick fiel, als sie das Zimmer betrat, war ein Brief mit der Postmarke des Deutschen Reiches. – Seine Botschaft! Leben oder Tod!
Da hielt sie ihr verkörpertes Schicksal in den Händen. Ein kleines, lebloses Ding – wie ihm ähnliche zu Tausenden in der Stunde die Welt durchfliegen – und birgt das Heil oder Unheil eines Menschenlebens.
Die Knie Claires versagten; sie ließ sich auf einen Sessel am geöffneten Fenster sinken und las beim letzten Lichtschein des langen Sommertages. Die schönen sympathischen Schriftzüge, die sie so oft bewundert hatte, wurden immer undeutlicher, immer mächtiger brach die Dunkelheit herein – nun war es Nacht.
Die Bogen lagen auf Claires Schoß, unter ihren gefalteten Händen; sie konnte sie nicht mehr sehen, fühlte sie nur noch, hob sie empor und – riß sie langsam entzwei.
Die Baronin trat ein, stellte die Lampe auf den Tisch, sah rasch auf denselben nieder und dann forschend hinüber nach Claire. Die Freundinnen tauschten einige Worte, und Karoline wandte sich wieder der Krankenstube zu. »Es gibt heute eine böse Nacht«, sprach sie im Fortgehen; »wirst du mich ein paar Stunden beim Wachen ablösen können?«
Claire bejahte es, erhob sich und trat zur Lampe, über welche sie den Brief hielt. Die feinen Blätter krümmten sich, qualmten, flammten plötzlich auf und waren bald nichts mehr als schwarze Flocken, die Claire sammelte und hinausflattern ließ in die heiße, schwere Luft; die trug sie davon, in der zerstäubten sie, und mit ihnen zerstob, was das sichtbare Zeichen gewesen einer heftigen Selbstanklage, das Geständnis eines großen Irrtums – der Ausbruch eines nagenden Schuldbewußtseins.
Getreulich half Claire der Freundin in der Ausübung ihres Samariteramtes. Es ging abwärts mit ihrem alten Hausgenossen, und wie sein unbedeutendes Leben kampflos verflossen war, so nahte ihm der Tod ohne Kampf, als ein sanftes langsames Aufhören.
Und Claire beneidete ihn. Nie hat ein Kranker sich heißer nach Genesung gesehnt, als sie sich sehnte zu erkranken, recht schwer, am liebsten rettungslos. Es wäre so gut gewesen, zusammenzubrechen und sich nicht mehr aufraffen zu müssen jeden Morgen zum neuen Gang nach der alten Tretmühle des »Kreises der Pflichten«. Aber ihr Körper widerstand – sie blieb gesund.
Der Schluß des Schuljahres kam; der junge Graf Meiberg legte seine Prüfung mit noch mehr Ehren ab als im vorigen Jahr, denn dieses Mal bekam er sogar ein Zeugnis, und die Familie reiste auf das Land.
Beim Abschied gab die Gräfin Claire zu verstehen, daß sich manches ändern müsse, wenn die »neu eingegangenen Beziehungen« zu ihr in der kommenden Saison wieder bindend angeknüpft werden sollten. Die Gräfin konnte nicht umhin, das Bekenntnis abzulegen, daß ihr dünke, das Naturell der Lehrerin weise sie entschiedener auf den Umgang mit Kindern als auf den mit Erwachsenen an.
Einmal wieder nach langer Zeit verirrte sich ein Lächeln auf die Lippen Claires, als sie der Freundin den Ausspruch der Gräfin mitteilte.
Karoline nahm die Sache ernst. »Es wäre bös«, sagte sie, »wenn du dir die Stelle verscherzt hättest, um deretwillen du deine besten Stunden aufgeben mußtest.«
»Was liegt daran?« lautete Claires Entgegnung, die von der Baronin mit Schweigen aufgenommen wurde.
Sie sprachen überhaupt wenig, die beiden. Ruhig pflegte Karoline den Sterbenden und fand immer noch Zeit, die ihr anvertrauten Arbeiten richtig abzuliefern. Ihre Kraft wuchs mit den Anforderungen, die an sie gestellt wurden. Die starke Frau hatte ihr Haupt niemals höher getragen als jetzt im Leid um ihr armes altes Kind, gegen das die Herbe, Unbeugsame immer so mild und liebreich gewesen war und das sich nun anschickte, sie zu verlassen.
Einmal war Claire später noch als gewöhnlich zur Ruhe gekommen und hatte dann fest und tief geschlafen bis gegen die Mittagszeit. Plötzlich fuhr sie auf und horchte; ihr schien, als sei ihr Name gerufen worden. Doch war es wohl nur Täuschung gewesen – nebenan herrschte lautlose Stille.
Sie kühlte das brennende Gesicht, die heißen Glieder in frischem Wasser, warf ein leichtes Tuch über die Schultern und trat, um ihr Haar zu ordnen, an den kleinen Spiegel, der auf dem Kasten stand. Seit Wochen hatte sie nur mechanisch hineingeblickt – geblickt, ohne zu sehen; heute versenkte sie sich in die Betrachtung des traurigen Bildes, das er ihr in dem grellen Sonnenlicht, von dem die Stube erfüllt war, widerstrahlte. Oh, wie fahl ihre Wangen geworden waren, wie tief die Falten auf der Stirn, wie krankhaft gespannt die Züge! So war's doch möglich? so sollte ihr stiller sehnlicher Wunsch vielleicht doch in Erfüllung gehen? früher vielleicht, als sie zu hoffen gewagt hatte?
»Der Kummer tötet den Mann und ernährt das Weib.« Dieses Sprichwort hatte ihre gute Mutter oft im Munde geführt und war doch selbst aus Kummer gestorben. Die Tochter ging denselben Weg. Gewiß, der Gram, der solche Verheerungen anzurichten vermag, der kann auch töten, der hat die Macht.
Ein Gefühl von düsterer Freude erfüllte sie bei dem Gedanken und zuckte mit unheimlichem Aufleuchten aus ihren Augen.
Nun tauchte hinter ihrem Spiegelbilde ein zweites, ein ruhiges, ernstes empor. Die Baronin war eingetreten. Claire begrüßte sie und sagte: »Ich habe mich nach langer Zeit einmal wieder in dem Spiegel gesehen und bin erstaunt . . . Meine Schülerinnen scheinen recht zu haben – ich bin wohl wirklich krank.«
»Du bist es«, sprach die Baronin, »und tödlich, denn du willst dich sterben lassen. Das kann man ja. Du hast keine Freude mehr am Leben – du gehst. Und was treibt dich aus der Welt? – Ein Glück, das in deinem Fall allerdings ein ganz unerhörtes gewesen wäre, ist dir nicht zuteil geworden. Aber du hattest auf das Unerhörte gebaut, es angesehen als ein dir zukommendes; du fühlst dich in deinem Recht gekränkt und gehst aus dieser ungerechten Welt.«
»Karoline!« beschwor Claire, doch jene fuhr fort: »Sieh dich um bei deinen Berufsgenossinnen – wie viele von ihnen haben ein dem deinen mehr oder minder ähnliches Schicksal nicht gehabt? Wie viele haben ein schlimmeres erfahren? – Nun, sie leben, sie leisten, sie tragen die eigene Last, und wenn es sein muß, wohl auch die anderer, die minder beladen, aber schwächer sind als sie . . . Du wandelst gleichgültig an ihnen vorüber – ich sage dir, beuge dich vor jeder, jede von ihnen ist mehr als du! . . . Du lässest die Hände sinken, eh die Zeit zur Rüste gekommen; du hättest hier noch manches zu tun, deine Aufgabe ist noch nicht erfüllt, ein heiliges Versprechen noch nicht eingelöst; aber gleichviel – du gehst . . . und – kannst gehen.«
»Karoline«, rief das Mädchen noch einmal mit inbrünstigem Flehen um Schonung.
»Und kannst gehen!« wiederholte die alte Frau unerschütterlich. »Ich bin da. Ich habe noch Kraft übrig für deine Aufgabe, die meine ist getan. Komm, überzeuge dich.«
Sie schritt voran und ließ die Tür des Krankenzimmers weit offenstehen. Auf dem Bette lag, mit schneeigem Linnen bedeckt, eine regungslose Gestalt, eine Leiche. Karoline näherte sich ihr, zog das Tuch hinweg und enthüllte ein Antlitz voll Schönheit. Ihr eigenes Gesicht erhellte sich im Widerschein des Friedens auf dem des Entschlafenen. Sie streichelte liebkosend seine langen weißen Haare, die sich weich unter ihre Finger schmiegten, und sprach zu Claire: »Ich hätte dich eigentlich nicht hierherführen sollen, der Anblick ist nicht angetan, vom Tode abzuschrecken. Aber glaube mir, so kommt er denen nicht, die sich ihn erzwungen haben. Claire« – sie legte den Arm um ihre Schutzbefohlene und zog sie an ihre Brust –, »nicht zu hastig, liebes Kind, warten wir in Geduld, bis sie kommt, die große Stunde, vielleicht tritt sie auch uns so freundlich an wie den!«
»Was meinst du?« begann sie von neuem, als Claire gesenkten Hauptes und tränenlos in Schweigen verharrte. – »Was meinst du? Willst du zu warten nicht wenigstens versuchen?«
Das Mädchen richtete sich an ihrer Freundin empor, und es war etwas von dem heiligen Mut der Märtyrer in dem Tone, in welchem sie sprach: »Ich will's versuchen.«
Dem heißen Sommer folgte ein früher Herbst; die Villenbewohner kehrten aus der Umgegend, die Schloßbewohner aus den Provinzen nach der Stadt zurück. Claire nahm ihre Tätigkeit wieder auf, im Anfang mit einer gewissen Zaghaftigkeit, später mit neu erwachtem Selbstvertrauen und endlich mit gewohnter Lust und Liebe. Karoline findet heute an ihr eine feste Stütze, viele junge Herzen glühen für sie, und viele sehr alte weihen ihr die letzte Freundschaft. Sie zieht den Verkehr mit Kindern und Greisen jedem anderen vor. Die einzige Ausnahme darin macht sie für Komtesse Marie-Danton, die sich denn auch berühmt, zwischen ihr und Fräulein Dübois sei es auf Tod und Leben.
Was Gräfin Meiberg betrifft, so versäumt sie es nie, wenn in ihrer Gegenwart von der Lehrerin gesprochen wird, mit tiefer Durchdrungenheit zu sagen: »Unsre gute Claire hat sich eine Zeitlang etwas vernachlässigt, jetzt aber ist sie wieder die alte.«