Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Erste Trennung

Seit sechs Wochen war seine Frau nun abwesend. Sie hatte den Winter hindurch gekränkelt und, so schwer die Trennung von ihrem Manne ihr wurde, dem Rate der Ärzte folgen und in ein Seebad reisen müssen. Er erwartete ihre Rückkehr mit heißer, täglich wachsender Sehnsucht, verriet es ihr aber nicht, bat sie in jedem seiner Briefe, das Heimweh, über das sie klagte, zu überwinden und ihre Kur ruhig, gewissenhaft und ohne jede andre Rücksicht als die auf ihre Gesundheit fortzusetzen, solang der Arzt es irgend nötig fände.

In derselben Weise schrieb er an ihre Schwester, die sie begleitet hatte und sich auch von den Wellen der See bespülen ließ, aber nicht weil der Doktor es ihr empfohlen, sondern weil er es ihr erlaubt hatte.

Die Schwägerin antwortete seit einiger Zeit auffallend kühl. In ihrem letzten Briefe war sie sogar boshaft geworden. Da hieß es: »Emmi und ich sind sehr dankbar für Deine rührende Besorgnis um unsre Gesundheit. Ich bewundere die Selbstverleugnung – denn so gar leicht kann es Dir doch nicht werden –, mit der Du Deine Frau fortwährend ermahnst, nur ja recht lang auszubleiben. Mein Mann reicht Dir an Edelmut nicht das Wasser. In jedem Briefe heißt es: ›Wann kommst Du endlich zurück? Bestimme doch den Tag. Ich brenne lichterloh.‹«

Georg lachte: Ja, freilich, auf deine Ankunft muß er beizeiten vorbereitet sein. Eine Überraschung kann er nicht brauchen, der Schwager. Armes Gänschen, wenn du wüßtest . . .

In seinen Gedanken verglich er die kleine Schwägerin und ihren jungen, lebenslustigen Gatten mit Emmi und mit sich, dem ehrgeizigen, hohen Zielen schon so nahen Staatsmann. Alltagsleutchen, welch ein Unterschied!

Er trat an den Schreibtisch und holte die Briefe hervor, die seine Frau ihm während dieser ersten Trennung in ihrer nun dreijährigen Ehe geschrieben hatte. Prächtige Briefe voll Liebe und voll Humor, sprühend von Geist und guten Gedanken, reich an originellen Einfällen, feinen Beobachtungen. Mit freudigem Stolz überlas er einen um den andern und erinnerte sich dabei ihrer während der Brautzeit an ihn gerichteten Briefe. Sie hatten ihn beglückt, weil sich in ihnen die zärtlichste Bewunderung des jungen Mädchens für den gereiften, überlegenen Mann gar rührend aussprach.

Heute aber fand er sich selbst in jeder ihrer Zeilen wieder. Sie war gewachsen in seiner Nähe, ihm verdankte sie diese reiche und köstliche Entfaltung ihres geistigen Wesens. Und sie war von dem Bewußtsein davon durchdrungen. Sie hatte ihm oft gesagt, sie schrieb es ihm: Was ich bin, bin ich durch dich. So gestaltete sich immer schöner und beglückender das in seinen Augen ideale Verhältnis zwischen Mann und Frau.

Ihm war seine Jugend vergällt worden durch das weibliche Regiment im Elternhause. Er hatte in steter Empörung gelebt über die Schwäche seines Vaters der heißgeliebten, herrschsüchtigen Gattin gegenüber. Eine beschämende Qual war ihm durch die Unterwerfung dessen bereitet worden, der berufen ist, der Gebieter zu sein.

In seiner Ehe gab es nur einen immer entscheidenden, immer freudig befolgten Willen, den seinen. Er hielt sich auf seiner Höhe und nahm die Brandopfer der Liebe, die seine junge Frau ihm darbrachte, gelassen hin. Wie schwer ihm das oft wurde, sollte ihr verborgen bleiben, sie sollte ihre Macht nicht kennenlernen.

Wenn sie zu ihm sagte: »Ich liebe dich mehr als du mich, und das gehört sich, ist ganz recht. Du hast die Welt, deine große Aufgabe, du hast die Zukunft, ich habe dich, mir bist du die Welt, Gegenwart und Zukunft«, hätte er sie in seine Arme nehmen und sagen mögen: Mein Ehrgeiz bleibt unbelohnt, wenn ich seine Früchte nicht mit dir teilen darf. Und wenn ich mein Ziel erreiche, und du stehst auf seiner Höhe nicht neben mir, dann ist alles errungen, was ich erstrebte, nur eins fehlt – das Glück.

Immer peinlicher empfand er täglich und stündlich die Last der Trennung und schrieb dennoch in jedem Briefe: »Beeile Deine Rückkehr nicht!«

Bei seinen Gängen durch die Gärten, den Wald, wie vermißte er da ihren leichten Schritt an seiner Seite, ihren weichen Arm, der sich zutraulich in den seinen legte, ihr Geplauder, ihr liebes Lachen – das vielleicht am meisten. Es war ein ihr eigenes Lachen, in dem die hingebende Heiterkeit eines Kindes an alles, was erquickt und erfreut, zutage kam, ein silberhelles Lachen, und das immer melodisch blieb, in das nie ein greller Ton sich mischte. Er liebte auch ihren Ernst, ihre Fähigkeit, sich zu vertiefen in eine Aufgabe, eine Beschäftigung, in den Geist eines Buches. Manchmal nur, wenn er in ihre dunklen Augen sah, gestand er sich, daß er etwas Unausgesprochenem begegnete, einem stillen Leiden, das nach Erlösung rang. Gern hätte er dann plötzlich gefragt: Was denkst du jetzt? Doch hatte er es nie getan. Wozu ihr verraten, daß er sie nicht immer durch und durch blickte?

Sein Vertrauen zu ihr in allem, was ihn selbst und alles Persönliche in seinem Berufe betraf, war unbegrenzt und war berechtigt. Einem Mangel an Verständnis, einer kleinlichen, engherzigen Auffassung begegnete er bei ihr nie. Sie hatte Geistesblitze, die ihn überraschten, die plötzlich ein Dunkel klärten. Sie fand unbewußt, wie zufällig, in einer verworrenen Frage das Fädchen, das zur Lösung führen konnte.

Seit drei Jahren genoß er ohne Unterbrechung dankbar und freudig all den Reichtum, den ihr Besitz ihm bot. Aber nun war ihm, als hätte ihm erst die Trennung, diese gerechte Wertmesserin, die Augen über ihn geöffnet. Und je besser er das erkannte, je mehr wuchs seine Sehnsucht nach der geliebten Frau, und eines Tages entschloß er sich und schrieb an sie etwas weniger heroisch als sonst und zeigte volles Verständnis für das Heimweh, über das sie klagte: »Quäl Dich nicht länger als nötig und komme, komm!«

Eigentlich hatte er als Antwort ein Telegramm erwartet, das jubelnd verkündete: In zwei Tagen bin ich bei dir. Indessen kam ein Brief, umgehend, aber doch nur ein Brief, und brachte eine Enttäuschung. Die Schwester Emmis war fort, war, von einer unüberwindlichen Sehnsucht ergriffen, nach Hause gestürmt. Sie selbst werde am nächsten Morgen absegeln unter dem Schutze ihrer alten Kammerfrau und des Kammerdieners, der, wie Georg wisse, ein ausgezeichneter Reisemarschall sei. »Ich mache unterwegs Station . . .«

Ihre Schwester war nach Hause gestürmt; sie machte Station.

Er las nicht weiter, die Liebesversicherungen nicht, die nun ohne Zweifel kommen würden, zerknüllte den Brief zu einem kleinen Ball und warf ihn in den Papierkorb.

Nach einiger Zeit holte er ihn aber doch wieder hervor, glättete ihn und las ihn wieder; sie mußte ja bestimmt haben, wann sie anzukommen gedenke . . . Sie mußte, sollte – hatte es nicht getan. Kopflos, lieblos. Georg fand sie nicht wieder in diesem Briefe, aus dem es ihn förmlich kühl anwehte.

Sehr übel gelaunt, ging er gegen Abend auf die Pirsch, hatte merkwürdiges Jagdglück und wurde bei seiner Rückkehr durch die Ankunft einiger Briefe überrascht, die ihn an jedem andern Tage himmelhoch beseligt hätten. Sie kamen seinen kühnsten Wünschen entgegen. Die sichere Aussicht auf einen großen Wirkungskreis eröffnete sich ihm, die langersehnte Erfüllung war da, er brauchte nur die Hand nach ihr auszustrecken. Ein großes Glück bot sich ihm dar, aber die Freude an dem Glück fand keinen Weg zu seinem Herzen, eine abscheuliche Verstimmung verlegte ihn.

In dem großen Postpaket hatte er vergeblich nach einem Briefe von ihr gesucht.

Dafür erschien am nächsten Tage in aller Gottesfrühe ein Telegramm aus Hamburg.

Aha! Es ist doch nichts mit dem Aufenthalt unterwegs. Sie sagt sich an – sie kommt. Aber das Blatt, das er entfaltete, brachte die erhoffte Kunde nicht. Er las:

»Georg, ich beschwöre Dich inständigst, liebster Georg, erfülle mir eine heiße Bitte. Es wird morgen ein Brief von mir eintreffen, lies ihn nicht. Ich bereue, ihn geschrieben zu haben. Nochmals, ich beschwöre Dich, lies ihn nicht.

Deine Emmi«

Unsinn! Kindische Frau! Ja, sie kann unglaublich kindisch sein, und das ist sogar etwas, das er besonders an ihr liebt . . . Hat sich vielleicht zu spät eines orthographischen Fehlers erinnert, den sie in ihrem Briefe stehenließ . . . Unverzeihlich nur, daß sie vergessen hat, ein paar Worte, die ihre Ankunft anzeigen, diesem lächerlichen Telegramm hinzuzufügen. Hoffentlich besinnt sie sich und schickt ein zweites nach. Käme es nur, und bald! Jählings erfaßte ihn ein großer Schrecken. Sie ist krank und verbirgt es mir . . . Doch beruhigte er sich im nächsten Augenblick; der Arzt, mit dem er ohne ihr Wissen in Korrespondenz stand, hatte ihn jüngst wieder versichert, es könne nichts Glänzenderes geben als das Befinden der Frau Gemahlin.

Dieser Sorge also konnte er sich entschlagen. Er ging an die Arbeit, bereitete seine Antworten auf die gestern erhaltenen Mitteilungen vor, mußte auch den Inspektor empfangen, der sich hatte anmelden lassen. Ein umständlicher Herr, der Entscheidungen zu erbitten kam in allerlei wichtigen und unwichtigen Angelegenheiten und seinen großen Grafen, wie er Georg nannte, merkwürdig zerstreut und ungeduldig fand. Der immer Herrschende und Selbstbeherrschte zeigte sich oft unglaublich nachgiebig und geriet gleich darauf in Zorn über eine bescheidene Einwendung. Der sonst Unermüdliche entließ seinen Beamten vorzeitig mit einem schroffen: »Genug für heute!« das keinen Widerspruch duldete.

Wie gestern ging er wieder auf die Pirsch und hätte wieder Glück haben können. Der Stolz des Reviers, ein kapitaler Rehbock, kam aus dem Dickicht auf die kleebewachsene Lichtung heraus. Wenige Schritte hinter ihm die Geiß, schlank und fein und jung. Zu jung für diesen würdigen Gatten. Aber er war der Starke, hatte sie den Mitbewerbern abgerungen. Was für Augen sie hat! Es gibt nichts Schöneres als die Augen eines Rehes. Er weiß andre, die dieselbe Farbe, denselben zugleich ernsten und sanften Blick haben. Jetzt hat der Rehbock Witterung bekommen, hebt das Haupt, streckt den Hals, entdeckt den lauernden Feind – schaut ihn an.

Schau du! Bist ja schon tot, denkt Georg, zuckt die Achseln und tritt in den Wald zurück. Er freue sich noch eine Weile seines Lebens und seiner jungen Gefährtin, er bekommt ja keine lächerlichen Telegramme.

Dieses lächerliche Telegramm, das er nun einmal gelesen, hatte sich ihm eingeprägt. Es war über die Blätter, die er mit seinen festen Schriftzügen bedeckte, und über die Zahlenkolonnen der Ausweise des Inspektors durchsichtig und dennoch deutlich hingeschwebt.

Des Nachts träumte ihm, daß eine Schlange, die aber ein Telegramm war, sich um seinen Hals gewickelt hatte und ihn würgte.

Er erwachte keuchend, lachte sich herzhaft aus, stand auf, trat ans offene Fenster, blieb dort lange stehen und lauschte der tausendstimmigen Stille der Sommernacht.

Dann suchte er wieder Ruhe, fand sie, schlief einige Stunden und war am nächsten Morgen ein so abgeklärter, mit seiner kindischen Frau so versöhnter und mit sich selbst so zufriedener Mann, wie er es nur wünschen konnte.

Im Laufe des Vormittags kam unter vielen andern der angekündigte Brief. Poststempel Hamburg, großes breites Hotelkuvert. Er schob ihn weg, las einen Teil der Einläufe – nahm ihn wieder auf, wog ihn, betrachtete ihn. Er war sorglos zugeklebt, klaffte ein wenig an den oberen Ecken. Ihn öffnen und unmerkbar wieder schließen wäre spielend leicht . . .

Der Gedanke durchzuckte ihn nur, aber selbst dessen schämte er sich, und ohne längeres Zögern nahm er den Versucher und trug ihn hinüber in das Schreibzimmer Emmis. Mitten auf ihre große dunkle Mappe legte er ihn; beim Eintreten, auf den ersten Blick mußte sie ihn sehen.

Wäre sie nur wieder da, in diesen Räumen, die zu ihr passen, zu denen sie paßt, in denen jede Einzelheit das Gepräge ihres Wesens trägt.

Unsre Wohnung – unsre erweiterte Kleidung. Hier lebte sie, ihr feiner Geschmack, ihr Schönheitssinn, hier fand er sie. In ihrem letzten Briefe, ihrem Telegramm fand er sie nicht.

Wäre sie nur wieder da! Inniger denn je würde er sie an sein Herz schließen, sie, sein Weib, sein Kind, sein höchstes Gut . . . Wie wollte er sie empfangen, wenn sie auf einmal, plötzlich vor ihn hinträte! . . . Er spielte mit dem Gedanken an eine Überraschung, die sie plane: gar zu fern lagen ihr dergleichen Scherze nicht.

Die Tür des anstoßenden Zimmers, die auf den Gang führte, wurde geöffnet, Schritte näherten sich. Der alte Schloßwärter machte seine Runde, kam herein und fuhr beim Anblick des Herrn erschrocken zusammen: »Jesus!« Seine Knie, seine Hände zitterten; ein Wunder, daß die mit Blumen gefüllte Vase, die er trug, ihm nicht entfallen und in Scherben gegangen war.

Was sich in Jahren nicht begeben hatte, geschah. Georg schrie den alten Diener heftig an: »Leonhard! Was ist Ihnen? Warum erschrecken Sie? Bin ich ein Gespenst?«

»Oh – oh – oho!« brummte tief beleidigt durch diesen Ton der Verweser des Hauses und stellte die Vase auf ein Tischchen im Fenster.

»Was soll das?« fragte sein Gebieter. »Warum stellen Sie hier Blumen auf? Die Gräfin ist ja nicht da.«

»Freilich nicht.«

»Und kommt auch nicht so bald.«

»Gott bewahr, noch lang nicht.«

»Wozu also?«

»Daß alles in Ordnung ist.«

»Und daß die Blumen ungesehen hier verwelken.«

Leonhard sprach nicht mehr, öffnete ein Fenster nach dem andern, rückte die Möbel, warf ungeduldige Blicke nach seinem Wischzeug, das in einer Ecke bereit stand, gab augenfällig zu verstehen, daß er in seiner Tätigkeit nicht gestört sein wolle.

Georg entfernte sich. Es war ja schön von dem Alten, daß er die Gemächer der Herrin in ihrer Abwesenheit so nett hielt und schmückte wie in ihrer Anwesenheit. Er trieb eben einen Kultus mit ihr, vergötterte sie, wie alle im Hause taten. Da war niemand, der ihren Tadel nicht als gerecht empfunden, der sich durch ihr Lob nicht beglückt gefühlt hätte. Verwöhnt ist sie, dachte er, und wieder regte Bitterkeit sich in ihm.

Einmal hatte die Schwägerin einem ihrer Briefe das Postskriptum zugefügt: »Wir befinden uns beide vortrefflich und unterhalten uns sehr gut.« Auf seine scherzende Frage: »Mit wem am besten?« war die Antwort unterblieben. Und er wollte nicht darauf zurückkommen, obwohl, ja – obwohl . . .

Eifersucht war in seinen Augen Selbsterniedrigung. Jetzt versank er plötzlich tief in ihren Abgrund. Daß er die Möglichkeit nie angenommen hatte, Jugend, Frohsinn, Leidenschaft könnten den Sieg davontragen über seine Reife, seinen Ernst, seine zurückhaltende Liebe, war doch eigentlich Selbstüberschätzung gewesen . . . Er gab sich schonungslos davon Rechenschaft, schwer aufs Herz fiel ihm auch der Gedanke an das Unausgesprochene in ihren Augen, nach dem er so oft gern gefragt hätte und nie gefragt hatte. Warum? Aus Stolz, aus Eitelkeit. Aus demselben Grunde, der ihn jetzt abhielt, der unwürdigen Zweifelsqual, in die er sich immer mehr einspann, ein Ende zu machen und ihren Brief zu lesen. Aus demselben Grunde, er gab es zu. Aber gleichviel warum, er wollte nicht, nahm eine Arbeit vor, vertiefte sich mit Gewalt in sie, vergaß, konnte sich wenigstens eine Stunde lang weismachen, daß er vergaß. Dann unternahm er in der Mittagsglut einen weiten Ritt, und er, der für einen übertriebenen Pferdeschoner galt, brachte seinen edlen Liebling müdgehetzt, schweißtriefend, mit fliegenden Flanken nach Hause.

»Ist die Post gekommen?« war seine erste Frage.

Noch nicht. Er ließ sich umkleiden, nahm im Fluge das längst bereitete Mittagessen und begab sich in sein Schreibzimmer. Dahin war inzwischen die Nachmittagspost gebracht worden. Ein großes Paket, das er hastig durchsah. Dabei – er schämte sich vor sich selbst – zitterte ihm die Hand. Soviel Geschreibe, und von ihr nichts, keine Zeile . . .

Aber doch – Gott sei Dank!

Auf dem Pult neben dem Schreibtisch, allein und recht sichtbar gemacht, lag ein großer Brief. Ihre Schrift, seine Adresse . . . Er griff danach und lachte grimmig auf. Das war ja der, den er vor einigen Stunden in ihr Zimmer getragen. Leonhard hat ihn gefunden, wie er meint, und herübergebracht . . . Er warf ihn auf das Pult zurück, ergriff ihn wieder, hielt ihn in der Hand . . . Daß er sich Stunden, in denen er vor einer großen Wendung in seinem Leben steht, so vergällen läßt . . . Nicht bloß töricht, verächtlich kommt er sich vor. Ernst? – er muß ihn kennen. Scherz? – er ist eben nicht gestimmt, auf ihn einzugehen. Im nächsten Augenblick ist der Brief aufgerissen . . . Er enthält – Georg traut seinen Augen nicht – ein weißes Blatt . . .

Genarrt! Sie hatte mit ihm gespielt, das war das Ärgste, und das hatte sie gewagt. Alle Liebe, Bangigkeit, Eifersucht war aufgelöst in Groll und Zorn, in einen brennenden Durst nach Strafe und Rache . . . Er wird sie lehren, was es heißt . . .

»Georg!«

Die Stimme der Heißersehnten, Vielgeliebten, schwer Verklagten hatte seinen Namen so zärtlich und schmeichelnd ausgesprochen, wie von allen Stimmen der Welt nur sie allein ihn aussprechen konnte.

»Georg!«

Sie stand da im Hut und langen lichten Reisemantel, schön und schlank, ein wenig scheu, mit den Augen fragend, in ihrer unaussprechlichen Lieblichkeit und Macht . . . Schuldig? Nein, und doch schuldig.

Er hielt ihr das weiße Blatt entgegen: »Was soll das heißen?«

Ein tiefes, freudiges Aufatmen, ein heller Jubelruf antworteten ihm: »Du hast es nicht ausgehalten, du hast ihn aufgemacht . . . Gleich? Lange schon? Jetzt erst? Georg, du Liebster, Liebster!«

Sie wollte auf ihn zueilen, er streckte den Arm abwehrend aus: »Was das heißen soll, frag ich.«

Sie faltete die Hände und antwortete leise: »Es soll heißen: wenn ich diesen Brief uneröffnet auf meinem Tisch gefunden hätte, so recht gleichgültig uneröffnet, wäre ich sehr traurig gewesen.«

»Welcher Unsinn! Wieso? Warum?«

»Weil ich mir hätte sagen müssen: Gib ihm nur Rätsel auf, er denkt nicht daran, sie aufzulösen, es ist ihm nicht der Mühe wert.«

»Emmi!«

»Er hat nicht gefragt: Was kann sie bereuen geschrieben zu haben? Worüber quält sie sich? Kindereien, von denen er zeitig genug hören wird, die zu erfahren er gar nicht neugierig ist.«

»Und dann?«

»Dann hätte ich dich genauso liebgehabt, wie ich dich jetzt habe, mehr oder weniger kann ich nicht; aber gewußt hätte ich, was ich bisher bezweifelnd befürchtet habe und was mich oft sehr leiden gemacht hat . . .« Sie hielt zögernd inne.

»Weiter! Weiter!«

»Einen besonders wichtigen Platz nehme ich in deinem Leben nicht ein.«

»Was du zweifelnd befürchtet und nie ausgesprochen hast? Warum?«

»Du hättest geantwortet: Was fällt dir ein? Du bist ein Kind.«

»Um darüber ins klare zu kommen, hast du dir ein seltsames Mittel ausgeklügelt . . . Mit Hilfe der Schwester – was?«

»Ganz allein. Sie war schon fort. Ihr Mann sehnte sich so sehr . . . Sie ließ mich seine Briefe lesen. Da hieß es immer: ›Wann kommst du? Wann sehe ich dich endlich wieder?‹; Du schriebst . . . du schriebst anders, und die Entfernung, weißt du, die ist gefährlich . . . in der Nähe sah ich nur deine Güte, deine Liebe . . .«

Er war voll Ungeduld. »Darf ich dich nicht bitten, deinen Hut und deinen Mantel abzulegen?« fragte er spöttisch und fühlte dabei, daß der Wunsch nach Versöhnung in ihm wuchs und wuchs. »Und wissen möchte ich, wie kommst du so plötzlich daher – warum hast du dich nicht angesagt?«

»Ich hab's getan – bei Leonhard.«

»Ja so.«

»Habe ihm telegraphiert, daß er mir den Wagen auf die Station schicken, dir aber nichts sagen soll, weil ich dich überraschen wollte.«

Sie hatte den Hut und den Mantel abgenommen, sich auf den Diwan gesetzt und begann nun langsam ihre Handschuhe auszuziehen.

Er trat vor sie hin, sah streng und schweigend, wie ein Richter auf eine Schuldige, zu ihr herab, und als sie ihm die Hand entgegenstreckte, kreuzte er die Arme. »Du hast also diese ganze Veranstaltung getroffen, um – was zu prüfen?«

»Die Art deiner Liebe zu mir.«

»So, und jetzt bist du darüber im reinen?«

»Halb und halb«, erwiderte sie und lächelte ihn sanft und glücklich an.

Nur nicht lachen, nicht lachen! dachte er, sonst bin ich verloren.

Sie lachte nicht, sie sprach mit innigster Bitte: »Gib mir die Hand, Georg, und komm, setze dich zu mir, laß mich nicht so aus der Tiefe zu dir emporrufen.«

Nun flog endlich ein Lächeln über sein Gesicht, er gab nach, nahm Platz an ihrer Seite und ließ ihr die Hand, die sie mit ihren beiden Händen umfaßt hielt.

»Ich will dir alles sagen, höre mir zu. Ich habe immer gewußt: Er liebt mich. Warum auch sollte er nicht? Er fühlt ja, daß ich ihn anbete; er sieht, daß er um mich beneidet wird, ich mache ihm Ehre. Das ist und hat so zu sein und gebührt ihm, der mir alles ist, dem ich – etwas bin.«

»Etwas?«

»Sagen wir viel, aber ich habe es nicht genug gefunden, und vor allem nicht das Rechte. Ich habe gefühlt: Er schließt sich mir nie ganz auf. Er hütet vor mir das Geheimnis seiner Liebe, weil er . . . weil er fürchtet, ich könnte sie mißbrauchen. Ist es so?«

»Und darüber sollte diese seltsame Probe dich aufklären?«

»Sie hat es getan, Georg. Du hast die Möglichkeit annehmen müssen, daß in mir etwas vorgehen könne, von dem ich dir nicht Rechenschaft geben wollte. Etwas – verzeih, Lieber, Liebster –, das nicht völlige Unterwerfung war. Du hast über mich nachgedacht, ernstlich wie nie, dich vielleicht gefragt: Geschieht's zum erstenmal, daß sie mir ihr Vertrauen vorenthält? Und wenn nicht und wenn ich ihr ganzes Vertrauen nicht genommen habe, habe ich sie dann auch ganz glücklich gemacht? . . . Mit dem Zweifel sind andre gekommen – für mich nicht sehr schmeichelhafte. Ja?«

»Ja! Und wie diese Zweifel mir getan haben, und ob ich unter ihnen gelitten habe, danach fragst du nicht?«

»Ich frage, und in meiner grausamen Liebe juble ich, und in meiner unaussprechlich zärtlichen Liebe hoffe ich: Es wird nicht sehr viel gewesen sein.« Sie hatte beide Arme um seinen Hals geschlungen und sah ihm tief und warm in die Augen.

»Da irrst du.« Er widerstand nicht länger, er zog sie fest an sein Herz und sagte ihr, wie schwer seine Briefe voll lauterer Weisheit ihm geworden waren, und gab ihr Rechenschaft von jedem törichten Gedanken, jeder Regung schnöder Eifersucht, jeder Verdächtigung, von seinem Vorsatz, zu strafen und sich zu rächen.

»Verzeih, verzeih!« wiederholte sie immer nur, den Kopf an seine Brust gepreßt.

Er streichelte sanft ihre Haare, ihre Wange: »Sag doch selbst, wär's nicht schöner gewesen, wenn es dir nicht gelungen wäre, mich in diese Versuchung zu führen, in der ich unterlegen bin? Wenn ich ganz ruhig geblieben wäre und gedacht hätte, ich verstehe sie nicht, aber sie will's, so muß es das Rechte sein, und ihr Wille geschehe.«

»Sublim wär's gewesen, halbgottmäßig, nur geholfen hätte es mir nicht. Wie immer wäre ich anbetend und frierend vor deiner Größe gestanden. Viel ärmer als jetzt, da ich erfahren durfte, daß sich ganz tief im Innersten deiner Unnahbarkeit und Vollkommenheit eine süße kleine menschliche Schwäche verborgen hält. Gönnst du mir mein Glück?«

»Gewiß«, sprach er, aber ein letzter verschwimmender Schatten trübte ihm den Glanz dieser Stunde. »Und doch – ich kann mir nicht helfen, mir ist, als wären wir beide kleiner geworden.«

»Wir werden wieder wachsen, ich habe unendliches Vertrauen«, sagte sie und küßte ihn.

 


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