Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Parabolisches

Altweibersommer

Im Spätherbst, wenn die Blumen welk und entblättert von dürren Stengeln fallen, wenn in der Landschaft nichts bunt mehr ist als die Farben des sterbenden Laubes, sieht man auf den Wiesen und den Ackerschollen ein schleierhaftes Gewebe aus dünnen Fäden liegen. Sie spannen sich auch einzeln an Äste, an Zweige, an manche hochragende Dinge oder fliegen, nicht viel dicker als ein Haar, abgerissen und lose in der Luft vor uns her, mattweiß bei trüb und verdrossen über ihnen schwebendem Gewölke, wie Seide schimmernd, wenn ein Sonnenstrahl sie streift. Sie sind die Arbeit einer kleinen Werkmeisterin und bilden für sie einen Weg, einen Übergang, geleiten sie zu einem Ziele, kommen und vergehen mit ihr.

Man hat ihnen die verschiedensten Namen gegeben in allerlei Ländern. Bei uns heißen sie Mariengarn oder – Altweibersommer.

Etwas Mythologie

Es ist nicht allzulange her, da wurden von den Schicksalsgöttinnen die Menschenlose des kommenden Jahrhunderts – jetzt das unsere – gewoben und gestaltet. Die schwerwiegenden und die im Alltagsgeleise leicht hingleitenden, die dunkeln und die hellen waren bestimmt. Über Glück und Unglück und über alles, was sie herbeiführt, war verfügt. Nur eines blieb noch vorzunehmen, eine schwierige Verteilung – die des dichterischen Genius.

»Tun wir einmal etwas Außerordentliches!« sagte die jüngste der Schwestern, »schenken wir den ganzen Reichtum einem einzigen Sterblichen, lassen wir den einen die poetische Leuchte des ganzen nächsten Zeitalters sein.«

Die zweite Schwester war mit dem Vorschlag einverstanden, die älteste nicht – durchaus nicht! Wovon lebt der Olymp? – Von der Tradition. An der Tradition darf nicht gerüttelt werden. Wie sie es bestimmt, sollen auch im kommenden Zeitalter einige Auserwählte mit einer der höchsten Gaben des Göttervaters begnadet werden.

Die jüngeren Schwestern beharrten auf ihrer Meinung, ein Streit entbrannte, wurde immer heftiger, zog immer weitere Kreise, und bald beteiligte sich an ihm der ganze Olymp.

Kupido, der in den Armen seiner Mutter eingeschlafen war, erwachte über dem Lärm und sah verdrossen um sich. Auf dem Altar vor den Schicksalsgöttinnen stand ein ihm unbekanntes Ding: eine geschlossene Schale aus verdichtetem, zugeschliffenem Äther, in der es geheimnisvoll qualmte und wallte und mit dem Glanze von hundert Sonnen glühte. Geblendet, von einer wilden Laune erfaßt, lief das Knäblein hinzu, ergriff die Schale und schleuderte sie in weitem Bogen in den Weltenraum hinab.

Das herrliche Gefäß zerschellte an Monden und Sternen, und sein himmlischer Feuerstrom ergoß sich, in einen Funkenregen zerstiebend, über die Erde.

Dort sieht man jetzt unzählige große und kleine Lichter glänzen – nirgends aber lodert eine Flamme.

Die Aufrichtigkeit

Die Aufrichtigkeit schritt eines Tages durch die Welt und hatte eine rechte Freude über sich.

Ich bin doch eine tüchtige Person, dachte sie; ich scheide scharf zwischen Gut und Schlecht, mit mir gibt's kein Paktieren; keine Tugend ist denkbar ohne mich. Da begegnete ihr die Lüge in schillernden Gewändern an der Spitze eines großen Zuges. Mit Ekel und Entrüstung wandte die Aufrichtigkeit sich ab. Die Lüge ging süßlich lächelnd weiter; die letzten ihres Gefolges aber, kleines, schwächliches Volk mit Kindergesichtchen, schlichen demütig und schüchtern vorbei und neigten sich bis zur Erde vor der Aufrichtigkeit.

»Wer seid ihr denn?« fragte sie.

Eines nach dem andern antwortete: »Ich bin die Lüge aus Rücksicht.« – »Ich bin die Lüge aus Pietät.« – »Ich bin die Barmherzigkeitslüge.« – »Ich bin die Lüge aus Liebe«, sprach die vierte, »und diese kleinsten von uns sind: das Schweigen aus Höflichkeit, das Schweigen aus Respekt und das Schweigen aus Mitleid.«

Die Aufrichtigkeit errötete; sie kam sich plötzlich ein wenig plump und brutal vor.

Eine Nachfeier

Lange schon weilte Goethe im Olymp; er war dort heimisch geworden, hatte seine Kunst immer weiter ausgeübt, und sie entfaltete eine Blütenpracht, von der die Götter selbst geblendet waren. Der große Dichter nahm ihr Lob wie etwas Erfreuliches hin; dennoch schwebte eine Sehnsuchtswolke über seiner Stirn, und in seinen vom Sonnengott selbst um ihren Glanz beneideten Augen schimmerte manchmal eine Träne.

Vater Zeus bemerkte es und sprach: »Deine olympische Zufriedenheit ist nicht vollkommen. Was fehlt dir, Wolfgang?«

»Kronide«, erwiderte Goethe, »der Umgang mit Menschen fehlt mir. Diese Wesen haben mir während meines Erdendaseins freundliche Gesellschaft geleistet. Sie haben auch jedes Wort, das von meinen Lippen fiel, aufgehoben, artig einbalsamiert und mit einigem Eifer registriert und bewahrt zum Nutzen und heitern Genuß ihrer Nachwelt. Wie würde es mir jetzt doch willkommen sein, Vertreter dieser Nachwelt, besonders die jüngsten und also fortgeschrittensten, die Ururenkel meiner Riemer, von Müller, von Meyer, Boisserée, Eckermann und so weiter, hier zu sehen! Ich fühle mich oft gestimmt, ihnen einiges aus den wunderlichen Werken meiner olympischen Periode mitzuteilen.«

»Ein bescheidener Wunsch, den ich gern erfülle«, sprach Jupiter und winkte.

Im nächsten Augenblick war Goethe umringt von einer Schar fast noch kindlicher Jünglinge und Mädchen. Sie umjauchzten, umschwärmten, umschmeichelten, umarmten ihn. Er wurde angefleht, beschworen, ja bedroht und – schwieg. Immer höher hob sich sein Haupt, immer strenger verzogen sich seine Lippen, und – er schwieg. Schwieg wartend, wartete schweigend, aber der Sturm legte sich nicht.

Endlich streckte er den Arm aus . . . Zum Halbgott verklärt stand er da, frei von jedem Zug nach Irdischem; auf seiner Brust erlosch ein Stern, mit einer Gebärde, bei der die letzte Spur von Geheimrätlichkeit entwich, wies er den Bedrängern die Pforte.

»Ich staune«, bemerkte Jupiter, »warum hast du sie weggeschickt, ohne ihnen etwas von deinen aufgehäuften Geistesschätzen gespendet zu haben?«

»O du Bester und Höchster«, lautete die Antwort, »ahnt dir, was sie wollten? Die einen Autographen, die andern wünschten mich zu interviewen, noch andre erkundigten sich, ob mein Verhältnis zu Charlotte von Stein platonisch gewesen; einige schleppten einen ansehnlichen Trichter herbei und verlangten, daß ich meinen Erlkönig hineinsprechen möge.«

»Die meisten werden aber doch nach den Werken deiner olympischen Periode gefragt haben.«

»Nein. Die meisten wollten mir die ihren vorlesen.«

Ein Zukunftsbild

Ein zwölfjähriges Bübchen des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, das sehr klug war, schon eine Geliebte und eine Glatze hatte, stöberte gern im Trödel auf dem Speicher. Eines Tages fand es dort die halb verwitterten Reste eines Buches, überflog ihren Inhalt, stutzte plötzlich – begann nachzusinnen. Diese Beschäftigung setzte es eine Weile fort und begab sich dann zu seinem Vater.

»Da bin ich«, sprach es, »auf ein seltsam fremdes Wort gestoßen, habe bis zur Erschöpfung darüber spekuliert, aber dunkel blieb mir seine Bedeutung.«

»Wie lautet es?« fragte der Vater.

Das müde Knäblein buchstabierte mit leise hinfließendem Tone: »Rit-ter-lich-keit.«

»Ritterlichkeit?« Mählich ließ der Vater den mageren, blassen Zeigefinger der überdamenhaft schmalen Hand zur neurasthenischen Stirn emporschweben. »Ritterlichkeit?« wiederholte er visionär; »mir ist, als hätte ich deinen Großvater dereinst etwas ähnlich Klingendes aussprechen gehört. Warte – ich will nachschlagen – in einem alten Wörterbuch.«

Die Begleiterin

Er kam müde von einer weiten Wanderung zurück und stieg langsam den waldigen Bergpfad zum Felsenkegel empor, den sein altertümliches Schloß krönte. Ruhig und schwer lagerten im Tal die weißlichen Nebel, mit verräterischer Eile schwebte die Dunkelheit heran und umfing die Stämme und die Wipfel der Bäume.

Als dem einsam Schreitenden aus einem der Türme seines Hauses helle Lichter entgegenblinkten, erschien ihr Glanz ihm lieblich wie Sternenschimmer.

Die Gartenmauer entlang ging er eine Weile tastend bis zur kleinen Pforte, die sich nur einem bestimmten Drucke der kundigen Hand öffnete.

Im Augenblick, in dem er sie berühren wollte, hatte sie sich wie von selbst leise aufgetan, und bereit, mit ihm zugleich einzutreten, stand an seiner Seite eine schattenhafte Gestalt. Ihre Umrisse verschwammen in der grauen Dämmerung, eine Schleiermaske bedeckte ihr Gesicht.

Angewidert wandte er sich ab und schwieg und fragte nicht: Wer bist du? Was willst du von mir? – Kein menschliches Ohr würde ihre Antwort vernehmen.

Ihm graute auch nicht, es wunderte ihn kaum, daß die Körperlose ihm folgte.

Plötzlich aufgeschossen und dennoch unerschütterlich, frei von Furcht und Schauder, aber traurig wie das Sterben des Gottlosen durchdrang ihn die Überzeugung: Wo die einkehrt, da ist ihr die Heimstätte bereitet. Sie ist gekommen, um nie mehr von mir zu weichen. An meinem Tische wird sie sitzen, an meinem Lager wird sie stehen, auftauchen wird sie vor mir, wenn ich den Rätseln der Welt und des Lebens nachsinne, ihren Schatten wird sie werfen zwischen mich und jede Daseinsfreude und jedes Erdenglück.

An den Pfeilern des Einganges zum Schloßhof, in eisernen Ringen, staken brennende, schwelende Fackeln. Stoßweise und spielend entriß der Wind ihnen Funkenbüschel und streute sie, kleinen feurigen Blumen gleich, auf das Pflaster.

Diener erwarteten den Herrn, gingen ihm voraus durch die Halle, über die breite, sanft aufsteigende Treppe, und er wußte, daß ihm, den andern unsichtbar, die Begleiterin folgte.

Er führte sein gewöhnliches Leben fort als Jäger, als Reiter, als Segler, als gastfreier Hausherr, als allenthalben freudig begrüßter Gast.

Dann wieder monatelang als einsamer Denker und Träumer, versunken in die vergessene Weisheit der uralten Foliantenschätze, die er angesammelt hatte.

Immer derselbe erschien er. Niemand sah ihm die geringste Veränderung an. Keiner bemerkte, daß ihm das Herz schwer und daß in seinem Innern das Licht der Heiterkeit erloschen war.

Die stille Begleiterin kam nicht mehr allein. Mit ihr schwebten herbei die Schatten aller seiner Toten. Ein jeder von ihnen erhob einen Vorwurf gegen ihn, einen leisen oder schweren. Zuckende Lippen, tränenumflorte Augen fragten: Weißt du noch? – Besinnst du dich noch?

Nur eine lächelte ihn selig an – sie, die nie erwog, wie schwer das Unrecht, das er ihr angetan, weil seine Schuld in dem reinen Feuer ihrer Liebe zerschmolz.

Die Zeit verfloß, Jahre um Jahre gingen dahin.

Einmal, auf einer ziel- und planlosen Wanderung, kam er zu einem Kirchlein im Walde, in dessen Nähe sich ein aufgelassener Friedhof befand. Dort war sie einst zur Erde bestattet worden, die ihn am meisten geliebt hatte; eine Flatterrüster bezeichnete die Stelle. Damals eine Gerte bloß, jetzt ein schlanker Baum mit zierlichem Geäst und seidigen Blättern, in dessen Zweigen Singvögel nisteten. Vom Grabe war nichts mehr zu sehen; nur üppiger als auf dem Waldboden ringsum entfaltete sich auf ihm ein reiches Pflanzenleben. Kleinblättriger Efeu, Gräser und Farren drängten ans Licht, in Fülle hervorgestrotzt breitete die wilde Erika mit ihren winzigen Glöckchen einen rosigen Schein über die stille Stätte.

»Sind das Grüße, die dein Staub mir entgegenschickt?« fragte er.

Heiße Tropfen schossen ihm ins Auge, und Erinnerungen an entschwundene Tage stiegen vor ihm auf. Bittere, herbe Erinnerungen an seinen Undank, seine Härte, an schlecht belohnte grenzenlose Hingebung. Nicht einer schönen und süßen Stunde entsann er sich, und ihrer waren doch so manche gewesen. Vergessen alle – nur die andern, die dunkeln, seinem Geiste eingeprägt mit grausamer Deutlichkeit. Ihm war, als öffne eine Wunde sich in seiner Brust und blute – blute . . . Und was er vermochte, war und besaß, und allen Reichtum des Wissens und jeden Triumph des Erkennens hätte er gegeben, um hinknien zu können vor sie und sagen zu können: Verzeih!

O Gott! – sie sehen, wenn auch nur im Traume! Vor sie hinknien und sagen können: Verzeih! – wenn auch nur im Traume . . .

Seine stumme Begleiterin indessen glitt immer näher an ihn heran. Und zum ersten Male wendete er sein Haupt nicht ab, senkte er nicht die Augen. Leiddurstig sah er sie an, und sein Blick durchdrang den Schleier auf ihrem Angesicht. Und er staunte, denn nicht wie ein feindliches erschien es ihm, sondern wie das einer Versöhnerin.

Die Freunde

Zwei Freunde und Studiengenossen hatten durch eine Reihe von Jahren dieselbe wissenschaftliche Richtung verfolgt. Doch kam die Zeit, in der ihre Wege sich trennten und sie sich entgegengesetzten Zielen zuwandten. Mit leidenschaftlichem Bemühen suchte einer dem andern zu beweisen, daß er auf falscher Fährte sei und einer furchtbaren Täuschung entgegensteuere. Jeder Angriff auf einen vermeinten Irrtum des Freundes wirkte wie ein Hammerschlag, der die bestehende Überzeugung noch mehr befestigte. Unerschütterlich war die eines jeden der beiden; und als sie es endlich einsahen, gaben sie den Kampf auf.

Ohne ausgesprochenen Vorsatz, gleichsam von selbst, fand ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen ihnen statt. Sie wollten Fragen, die für sie ewig Streitfragen bleiben mußten, nicht mehr berühren. Sie wollten durch rücksichtsvolles Schweigen ihre Achtung – nicht für die fremde Überzeugung, sondern für den, der sie hegte, bekunden.

Sie verkehrten miteinander scheinbar in alter Herzlichkeit, sprachen lebhaft von Dingen, die in zweiter Reihe ihres Interesses standen, aber von dem, was ihnen das Teuerste und Wichtigste war und die Achse bildete, um die ihr ganzes Leben sich drehte – kein Wort.

Große gegenseitige Hochachtung belohnte diese Rücksicht, wenn sich auch manchmal ganz leise in tiefster Seele die Empfindung regte, daß sie eine beschämende Komödie spielten.

Die Hochachtung war ja noch da, war wie in Erz begründet, erhob sich zwischen ihnen, eine edle Schutzwehr, an der nur leider das Vertrauen und die Liebe so lang anprallten, bis sie sich endlich abstumpften.

Die Halben

Es gab einmal in Griechenland eine Zeit außerordentlicher Fruchtbarkeit. Eine Menge Kinder kam täglich zur Welt, und Juno, die Geburtshelferin, wußte vor Arbeit nicht ein noch aus. Müde und abgehetzt kam sie zu Jupiter und sprach: »Zwanzigtausend Kinder sind in Aussicht; hast du Vorrat an Seelen?«

»Einigen allerdings«, erwiderte der Beherrscher des Olymps, »aber für zwanzigtausend Menschlein reicht er nicht aus.«

»Für wie viele denn?«

»Nun – zur Not für zehntausend.«

»Das ist ja viel zuwenig! Was fangen wir nun an, um Jovis willen?«

»Wir geben jedem nur eine halbe Seele; man muß sich zu helfen wissen.«

Bald darauf liefen zwanzigtausend Leute mit halben Seelen herum, und sie waren die Vergnügtesten in ganz Griechenland und wurden um ihren guten Humor viel beneidet, am meisten von den Seelenvollen.

Naturerscheinung

Im Traume sah ich mich in eine geheimnisvolle, eine unabsehbare Werkstätte versetzt. Um mich her war ein Keimen und Werden, eine leise Ruhelosigkeit. Schatten glitten, Dämpfe qualmten, formlose Gebilde ballten sich langsam, träge, aber ohne Stillstand. Das kroch und schwebte, schlich und sickerte und platzte. Und ein Großartiges, Unnennbares schien Ausgangspunkt dieser Regsamkeit zu sein.

Es ragte aus den Tiefen, es durchdrang die Höhen. Ich glaubte ein Haupt zu entdecken – war das ein Haupt? Und geschlossene Augen – waren das Augen? Und eine gebieterische Gebärde glaubte ich wahrzunehmen. Sogleich entstand eine heftige Bewegung in allen Teilchen des Unermeßlichen. Durch Fernen, die mein Blick, wunderbar geschärft, durchflog, sah ich Menschen im Kampfe. Kaum dem Kindesalter entwachsene Jünglinge, Männer, Greise, Frauen. Sie rangen in blutigem Schweiß, bauten, meißelten, musizierten und schrieben. Auf ihren Stirnen thronte der Hochmut der Titanen. Ehrwürdige Trümmer und die Kuppeln und Zinnen hehrer Tempel und Paläste, reich an Kunstwerken und Büchereien, bildeten den Boden, auf dem sie standen; aber verächtlich blickten sie über ihn und über die Schätze, die er ihnen darbot, hinweg. Buntes, Blendendes, Unverständliches schufen sie in fieberhafter Tätigkeit. Einige übergossen gediegenes Gold mit ätzenden Giften, bemüht, es in Flittergold umzuwerten. Viele zerrten geheime Häßlichkeiten ans Licht, traten das Schöne und Reine mit Füßen und trugen aus dem Kampfe mit den unüberwindlichen Mächten unheilbare Wunden davon. Zerfleischt und verstümmelt, ruhten sie nicht; schon überwunden, hielten sie sich für Sieger und stimmten sterbend Triumphgesänge an.

Ein herzzerreißendes Mitleid ergriff mich, und ich schrie zu ihr, die mir die Ursache alles Regens schien: »Welch einen Kampf hast du mit einem Wink entfacht! Ist einer unter diesen Ringenden, der nicht fruchtlos ringt? Einer, dessen in Liebe und Qual geschaffenes Werk leben wird?«

Die blinde, stumme, taube Allmutter verstand meine Frage und ich ihre lautlose Antwort: »Keiner.«

»Umsonst also triebst du diese Opfer ins Gemetzel, gabst ihnen Kraft, Können und Wollen umsonst?«

»Umsonst ist nichts.«

»Und wer gewinnt durch die ungeheure Vergeudung von Menschenarbeit und Menschenglück? Was wächst hervor aus diesem Totenfeld, auf dem unsägliches Leid begraben liegt?«

»Eine neue Schattierung auf dem Bilde der Kunst, eine kleine Erweiterung ihres Gebietes.«

Offenbarung und Wissenschaft

Der Schöpfer sprach: »Die Rose werde!« Und eine herrliche Rose entfaltete sich auf sein Geheiß.

Der Schöpfer sprach: »Die Rose werde!« Und ein Keimchen entstand. Es schwoll und trieb, es machte ungezählte Wandlungen durch, und nach unermeßlichen Zeiträumen entfaltete sich eine herrliche Rose.

Auf dem Wege

Ein Sklave in Damaskus hatte zeitlebens den heißen Wunsch, nach Mekka zu pilgern. Als er alt und gebrechlich geworden war, schenkte sein Herr ihm die Freiheit. Sogleich griff er nach seinem Stabe und wollte die Wanderung antreten. Aber nach den ersten Schritten schon brach er zusammen, vom Hauch des Todes angeweht. Mitleidige beklagten sein trauriges Schicksal; doch er verwies es ihnen mit den Worten: »Beneidet mich vielmehr; ich sterbe auf dem Wege nach dem Ziel meiner Sehnsucht.«

Seherauge

Ein Jüngling trat in eine Gesellschaft schweigender Weiser. Er sah ihnen in die ehrwürdigen Gesichter und sprach dann laut die Gedanken eines jeden von ihnen aus.

Sie staunten und fragten: »Wer bist du, du Schauender?«

Der Jüngling antwortete: »Ich bin ein Poet.«

Was die Götter nicht wissen

Ares und Aphrodite ruhten auf rosigem Wolkenpfühl, kosten, träumten und warfen zeitweise dem Getriebe der Lebewesen auf der rollenden Kugel Erde einen lässigen Blick zu.

Nun aber ging dort etwas vor, das die regere Aufmerksamkeit der Schaumgeborenen erweckte und ihr zu denken gab. Ihre Stirn umflorte sich; sie schloß den olympischen Heros fester an ihr Herz und fragte: »Wie lang wird unsere Liebe dauern? Was meinst du wohl?«

Ares küßte ihre ambrosischen Lippen. »Das weiß ich so wenig, wie du es wissen kannst, himmlische Spenderin seligster Stunden«, sprach er, »und kein Gott weiß es.«

»Nun denn, schau und höre!« Sie deutete mit der Hand auf vier Erdbewohner, von denen zwei, zärtlich umschlungen, dahinwallten, zwei, Flügel an Flügel geschmiegt, sich in der Luft wiegten: ein Menschenpaar und ein Paar Eintagsfliegen, und beide Pärchen, Menschen und Eintagsfliegen, schwuren einander feurig, aus tiefinnerster, jubelvoller Überzeugung – ewige Liebe.

Der Gott und die Göttin lächelten, ein bißchen ironisch, ein bißchen wehmütig: »Eigentlich – beneidenswert!« sagten sie.

Mütterliches Bedenken

»Das Herz ist ein hohler, empfindungsloser Muskel, der im tierischen Organismus die Funktionen einer Pumpe versieht.«

Die Tochter lernt das in der Schule. »Entsetzlich!« meint die Mutter. »Wie soll ein Mädchen sich noch bemühen, einen empfindungslosen Muskel zu erobern?«

Jenny Geddes

Es ist ganz merkwürdig, wodurch manche Menschen zur Berühmtheit gelangen. Handlungen, von denen die Nachwelt nicht die geringste Notiz zu nehmen pflegt, haben, in einer gewissen Stunde an einem bestimmten Orte vollzogen, ihrem Urheber einen unvergänglichen Namen gemacht.

Da ist zum Beispiel Jenny Geddes, die fromme Puritanerin, die, von protestantischem Eifer erfüllt, im Jahre 1637 in der Hochkirche von Edinburgh dem im Ornate zelebrierenden Bischof ihren Faltstuhl an den Kopf warf. Nun frage ich, wieviel Leute haben nicht schon in einem Augenblick der Aufregung einem Nebenmenschen einen Stuhl an den Kopf geworfen, ohne dadurch etwas anderes zu werden als straffällig. Jenny Geddes Faltstühlchen indessen schwirrte durch das Gotteshaus, und »Kirche und Staat gerieten in Aufruhr, Adel, Geistlichkeit und Bürger traten zusammen, faßten den Covenant ab«. Die Glorious Revolution hatte begonnen – und Jenny Geddes' rasche Tat sicherte ihrer Urheberin ein Anrecht auf Unsterblichkeit.

Dem Faltstuhl, den sie mit sicherer Hand geschleudert, entschwebten die Habeas-Corpus-Akte, freie Parlamente, die Selbstherrlichkeit eines Volkes.

Die angenehme Eigenschaft

Die Ehrlichkeit hatte das Tun und Treiben der Liebenswürdigkeit eine Zeitlang beobachtet. »Höre«, sprach sie zu ihr, »ich habe etwas recht mißfällig bemerkt – du versündigst dich alle Augenblicke an mir.«

Die Liebenswürdigkeit brach sogleich in Tränen aus und schluchzte: »O weh, das ist ja mein Unrecht oder vielmehr mein Unglück! So klar ich meinen Fehler einsehe, so tief meine Beschämung über ihn ist, ob ich will oder nicht – ich muß ihn begehen, ich muß mich betätigen an jedem, der mir in die Nähe kommt. Meine eigenste Natur zwingt mich dazu.«

»Du folgst ihr wieder, indem du das eingestehst«, versetzte die Ehrlichkeit; »und wer dürfte leugnen, daß sie eine nette Natur ist? Trotzdem kann ich dich den Tugenden absolut nicht ebenbürtig nennen; zu dem Rang erhebe nur ich. Du bist eben eine angenehme Eigenschaft.«

Die Unüberwindlichen

Allerlei Tugenden und Untugenden, allerlei gute und üble Eigenschaften hatten sich versammelt, vertrugen sich, verkehrten friedlich miteinander. Nur die Dummheit verstand keinen einzigen Spaß, fühlte sich beleidigt bei jedem noch so unabsichtlich gesprochenen Scherzwort, hielt sich abseits und schmollte.

Die Nachsicht und das Wohlwollen traten zu ihr: »Komm«, sagten sie, »mische dich in unsre ohnehin gemischte Gesellschaft. Du brauchst keine Beleidigung zu fürchten; wir haben Mitleid mit dir und nehmen Rücksicht auf deine Hilflosigkeit.«

Da ließ ein häßliches Kichern sich hören – die Bosheit hatte es hervorgebracht und sprach: »Strengen Sie sich nicht an, meine Herrschaften; meine Freundin bedarf weder Ihres Mitleids noch Ihrer Rücksichtnahme. Wenn nur ich ihr meine Stütze leihe, ist sie mächtiger als ihr alle zusammen!«

Große Ähnlichkeit

Die Herzensgüte begegnete eines Tages einem Wesen, das ihr auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich sah.

»Wer bist du?« fragte sie, »wer geht einher in meiner Gestalt?«

Das Wesen verneigte sich tief und erwiderte: »Verzeih, ich bin's – ich bin die Höflichkeit.«

Vertrauen

Ein großer Sünder lag im Sterben.

»Bete! Bereue!« flehten die Seinen ihn an; »in wenigen Augenblicken wirst du vor dem ewigen Richter stehen.«

»Den Allwissenden fürchte ich nicht«, sprach der Sünder und starb in Frieden.

Der traurige Engel

Es gibt einen Engel in den himmlischen Scharen, der still in sich versunken steht, wenn alle andern jubeln und lobpreisen. Nie stimmt er ein in ihren jauchzenden Chor, nie erhellt ein Lächeln sein schönheitsverklärtes Angesicht. Die seligen Geister ehren sein Schweigen und neigen sich seiner Trauer. Denn er ist der Engel, der die unausgesprochenen Leiden der Menschen in seinem Herzen sammelt, sie auszuschütten vor Gottes Thron.

Der Schüler

Ein hoher Kirchenfürst kehrte von seinem Landsitze nach Rom zurück. Er fuhr vierspännig in seiner vergoldeten Kutsche, zog den Mantel fest um seine Schultern und drückte sich fröstelnd in die Wagenpolster. Es war Winter, die Tramontana hatte sich aufgemacht, raste mit voller Kraft und messerscharfer Kälte über das offene Land. Die mächtigen Rosse kämpften schwer gegen sie, die Kutsche schwankte. Langsam nur näherte man sich dem Ziele, war beim riesigen Amphitheater angelangt. Beraubt, zerstört, dem Plünderungswerk von Jahrhunderten preisgegeben, ragte es noch in überwältigender Größe empor, führte noch mit Recht seinen Namen Kolosseum. Und nun war's, als sänge aus ihm der Sturm sein gewaltiges Lied. Es brauste wie das Gewoge der toll erregten, blutdürstigen Menge, stimmte ein in das Gebrüll der ausgehungerten wilden Bestien, stieß Schmerzenslaute aus, wie sie einst verzweiflungsvoll zum Himmel schrien.

Den Kirchenfürsten überlief's. »Vorwärts!« befahl er dem Pferdelenker, aber – wenige Augenblicke nur, und schon rief er hastig aus: »Halt! Halt!« Er hatte etwas Überraschendes erblickt.

Vor der Bresche, in die der Eingang zum Kolosseum sich verwandelt hatte, stand ein kleiner alter Mann in weltentrückter Versunkenheit. Er hatte das Nahen der Kutsche nicht, nicht das Gestampfe der Rosse gehört, er blieb unbeweglich wie ein knorriger Baumstrunk, vom Sturm umtobt, das gefurchte Angesicht vom greisen Haar umflogen.

Und der da stand, einsam, unansehnlich, häßlich, war der Maler des Jüngsten Gerichts und der Deckengemälde in der Sixtina und der Schöpfer der Kuppel vom Sankt Petersdome, war der Ruhm und Stolz Italiens.

»Maestro!« rief der Kardinal. »Kommt, kommt! Ich bringe Euch nach Hause . . . Maestro!«

Erst nach dem zweiten Anrufe vernahm ihn Michelangelo, wandte sich, kam wie aus einem andern Dasein, traumverloren, heran.

»Was wollt Ihr da? Was tut Ihr?« fragte der Kardinal.

»Eminenz« – sein Blick stieg von neuem zu den gigantischen Trümmern empor –, »ich lerne«, sprach der Neunzigjährige.

Spricht die Stufe

Du Tor! du Tor! Weil du mich überschritten hast, verachtest du mich? Ständest du, wo du stehst, wenn ich nicht gewesen wäre?«

Tageskritik

Alle Augenblicke wird ein armer Marsyas geschunden – nur nicht von einem Apoll.

Ein Dunkeltier

Ein Maulwurf, gefräßig wie alle, die seines Geschlechtes sind, war auf einem Raubzug begriffen. Er wurde von einem Füchslein beobachtet, das ihn nach einer Weile fragte: »Warum gehst du immer nur der Nase nach? Mach doch die Augen auf!«

»Werde mich wohl hüten«, erwiderte der Maulwurf, »es könnte mir ja Licht hineinfallen.«

Berühmt sein

»Berühmt möchte ich sein«, sagst du und weißt nicht, was du redest. Berühmt sein heißt, mit nackten Füßen über ausgestreute Glasscherben dahinschreiten.

Ewig neu

Gott schenkte den Menschen einige Leidenschaften und einige Gedanken, und Satan sprach: »Warum so karg?«

Und Gott sprach: »Sie haben genug, um sich bis ans Ende der Welt in jeder Stunde einzubilden, daß sie ganz Neues empfinden und denken.«

Die Überlebenden

»Nein, diese Eintagsfliegen, wie keck die werden!« sagte eine junge Hummel zu ihrer Mutter. »Überall drängen sie sich vor; man sieht und hört nur sie; wir sind wie weggewischt, von uns nimmt niemand Notiz.«

Die Hummelmutter schüttelte ihren dicken Kopf: »Was liegt daran? Sie haben ja nur den einen Tag.«

»Aber nach ihnen kommen neue, immer und immer neue, und den ganzen Sommer hindurch spielen Eintagsfliegen die erste Rolle in der Welt.«

Jetzt lächelte die Hummelmutter: »Und rechnest du das Bewußtsein für nichts, so viele Generationen überlebt zu haben?«

Justine

Madame Justine war eine liebe, kleine, alte Französin, die ihr tägliches Brot durch Unterrichtgeben in ihrer Muttersprache erwarb. Ihre Schüler und Schülerinnen vergötterten sie, bezahlten sie aber schlecht, denn die meisten waren selbst unbemittelt.

Einmal kam eine Landsgenossin zu ihr und beschwor sie um Rettung aus dringender Geldverlegenheit.

Justine war rot geworden und fragte ganz befangen: »Wieviel brauchen Sie?«

»Ach, wenn Sie mir fünf Gulden leihen könnten?«

Das war ein erlösendes Wort. Die alte Frau öffnete ihr Portemonnaie und rief freudig: »Fünf Gulden? – warum denn nicht? Ich hab ja sieben!«

Der Schatten

Ein großer und guter Mensch wurde zu Grabe getragen. Die Besten des Landes bildeten sein ehrenvolles Geleite, und tiefe Trauer sprach aus dem Angesichte eines jeden von ihnen.

In der Nähe des Sarges aber, jetzt an seiner Seite, jetzt ihm folgend oder ihn umkreisend, schwebte ein grauer Schatten.

Nicht alle sahen ihn, nur wenige, und sein Anblick schnitt denen am tiefsten ins Herz, die den Guten und Großen gekannt hatten wie sich selbst und Rechenschaft geben konnten von jeder Stunde seines reinen Lebens.

Die Trauerfeierlichkeiten waren vorbei, die Teilnehmer traten den Heimweg an.

Einer – der treueste – blieb am Ausgang des Friedhofs zurück und sah noch einmal nach der Ruhestätte des Freundes hinüber.

Der Schatten war nicht von ihr gewichen, er hob und senkte sich, bildete wallende Wolken, nahm abenteuerliche Formen an, schien verweht von einem Lufthauche, ballte sich dann um so dichter zusammen, und der Beobachter wußte: Er wird nie weichen, nie vergehen, er ist unsterblich und unüberwindlich. Sooft die Wahrheit ihre leuchtende Fackel in seine dumpfe Finsternis stieß, erlosch die leuchtende Fackel. Er hat den Glanz eines edlen Daseins getrübt, er wird ein edles Andenken verdunkeln und beschmutzen, er ist ja die ewig neu und ewig wieder aus sich selbst erzeugte Frucht der Niedertracht und heißt – Verleumdung.

Nach besten Kräften

Ein Käferchen hatte nach vielen gescheiterten Versuchen endlich mit großer Mühe und großer Ausdauer die Spitze eines Grashalms erklommen. Nun sonnte es sich auf seiner Höhe, spreizte wonnig die Flügel und war vergnügt bis in den letzten Winkel seiner Käferseele.

Da kam ein Esel des Wegs, blieb vor ihm stehen und lachte es aus: »Du meinst wohl Gletscherluft zu atmen auf deiner Grashalmzinne?«

Ein alter Löwe kam ebenfalls vorbei, blieb ebenfalls stehen und betrachtete den kleinen Emporkömmling mit Wohlgefallen: »Heil dir, Käferchen«, sprach er, »du hast das Ziel deines Strebens erreicht; das gelingt nicht jedem Löwen.«

Der Erstgeborene

Die alte Gärtnersfrau steht vor uns und trägt ihren Enkel auf dem Arme. Ein blasses Kindlein mit seltsam vorwurfsvollen Augen und blauen Adern, die man pulsieren sieht, an den Schläfen. Sein Gesichtchen hat etwas Altes, Leidendes. Ihre Tochter ist auch da, ein schönes blondes Weib, jugendstolz, lebensfreudig. Fest an ihre Hüfte schmiegt sich ein etwa sechsjähriger brauner Junge. Er strotzt in Gesundheit und Kraft, seine reichen dunklen Haare wellen und locken sich mit trotziger Anmut, seine prachtvollen Augen sind kohlschwarz, und tief drin in ihnen glüht's wie Feuer.

»Auch Ihr Enkel – der Erstgeborene?« sage ich zur Alten. Sie drückt das weinerliche Geschöpfchen zärtlich an sich und blickt wegwerfend über den braunen Buben hin.

»Ach der! Das ist ja das unglückliche Kind der Liebe.«

Die junge Frau lächelt weder beschämt noch frech: es ist ein gar liebliches Lächeln. Der Junge starrt finster zu Boden.

Der Vergötterte

In der Hauptstraße einer kleinen, hochkultivierten Stadt gingen dreihundert Schriftsteller und vierhundert Schriftstellerinnen spazieren. Unter ihnen herrschten im Innern wie im Äußern große Verschiedenheiten, sämtlich aber waren sie selbstbewußt.

Plötzlich entstand in ihren Reihen und Gruppen eine Bewegung. Ausrufe wurden laut, alle Hälse streckten sich. Alle Blicke flogen einem Herannahenden zu, der in der Avenue zu den Gartenanlagen erschienen war.

Die Schriftsteller beugten die stolzen Häupter, die Schriftstellerinnen übertrafen im Knicksen die höflichste Japanerin. Herren und Damen machten Spalier.

»Er kommt! Er wird gleich dasein!« lief es von Mund zu Mund.

»Wer?« fragte eine kurzsichtige Lyrikerin ihren Nachbarn, einen Werte umwertenden Novellisten.

Und er, unter rieselnden Schauern, hauchte: »Ein Leser!«

Lysipp

Ein Steinmetz hatte dem Lysipp durch längere Zeit als Handlanger gedient. Er war von Begeisterung für die Werke des Meisters beseelt, und dieser holte gern die Urteile des schlichten Mannes ein, freute sich seines Lobes, ließ gar oft seine naiven Einwendungen gelten. Ihm war leid, als er das Interesse an seinen Arbeiten bei dem guten Gesellen immer mehr abnehmen sah, als er immer seltener erschien und endlich ganz fortblieb. Von Ungeduld und Sorge ergriffen, machte Lysipp sich eines Morgens auf und ging zu ihm. Er fand ihn im tiefen Schlafe in einer Ecke der Werkstatt. Neben ihm die ausgebrannte Lampe. Offenbar hatte er die Nacht bei der Arbeit durchwacht – Bildhauerarbeit. Welchen Schlages, ihr, talentspendende, ihr, talentverweigernde Götter!

Er wußte nun, warum ihm die Teilnahme seines guten Gesellen verlorengegangen war.

Der Steinmetz war selbst produktiv geworden.

Unbewußt

Ein Kind streicht mit seinem Händchen über eine Tischplatte und zerdrückt dabei ahnungslos eine Mücke.

Und nun könnte alle irdische Weisheit und Gelehrsamkeit und alle Zauberkraft der Kunst und alles, was gewaltig ist in der Welt, sich vereinigen und vermöchte nicht wiederherzustellen, was unbewußt, in eines Augenblickes Dauer, von einem Kinde vernichtet wurde.

Manchmal erfährt ein guter Ruf das Geschick der kleinen Mücke.

Erziehungsresultate

Fath Ali hatte hundertundfünfzehn Söhne. Hundert waren fein gebildet, fünfzehn waren Lümmel. Da vertraute er die fünfzehn ihren hundert Brüdern zur Erziehung an und verreiste für ein Jahr. Nach seiner Heimkehr freute Fath Ali sich darauf, seine Söhne durchweg als Musterbilder edler Sitten anzutreffen, besuchte sie und fand – hundertundfünfzehn Lümmel.

Im Alter

Alles verläßt uns im Alter, die Treue des Gedächtnisses, die Schärfe des Verstandes, die Fähigkeit des Fleißes, zuletzt versiegt sogar der Quell unsres guten, braven Talents. Nur eines bleibt dem Begnadeten, steht noch vor seinem brechenden Auge – die schöne Illusion.

Ein Traum im Traume

Mir träumte, ich hätte das vollkommene Luftschiff erfunden und sei mit ihm an eine so ferne Stelle im Weltenraum gelangt, daß erst jetzt Bilder von Ereignissen zu ihr drangen, die sich vor tausend und aber tausend Jahren auf unsrer Erde abgespielt hatten.

Ein überraschender Anblick stellte sich im Äther mir dar. Ich sah eine große Menge brauner schlanker Menschen mit der Ausführung eines riesigen Bauwerks beschäftigt. Sie projizierten, visierten, gruben, hämmerten und sägten an ungeheuren Blöcken, hieben gewaltige Stufen zu. In der Höhe über ihnen schwärmten Flieger, die ich anfangs für vielgestaltige Vögel hielt. Es waren aber keine Vögel, es waren Luftfahrzeuge der verschiedensten Art, nach allen Systemen, die wir kennen, erbaut, aber jedes zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet. Sie kamen von überall daher, mit dem Winde, gegen den Wind, mit rasender Eile herabgewirbelt, nahe dem Boden sachte hingleitend. Sie kamen schwer beladen mit Wüstensand, mit Ziegeln und Nilschlamm, mit Quadern und auch mit Melonen, Datteln, Bananen, Granatäpfeln, köstlichen Früchten der sonnengeliebten, sonnengeküßten Tropen. Ein Ewigkeits-, ein Pyramidenbau war's, der sich mir darstellte, und die beschwingten Helfer nahmen den armen Fronern die schwerste Arbeit ab und brachten ihnen Nahrung und Erquickung. O die herrlichen Wohltäter, edle Erzeugnisse des schaffenden Menschengeistes; damals schon standen sie in Übung und Gebrauch und waren mit einer uralten Kultur vom Erdboden verschwunden.

Mir aber, mir war es gegeben worden, sie zu neuem, unermeßlich erhöhtem Leben zu erwecken. Mit jubelvoller Dankbarkeit pries ich mein Geschick und hatte im Traume den wonnigen Traum von einer in heller Blüte der Wohlfahrt stehenden Welt. Durch meine Flieger – sie wurden Legion – stieg der Verkehr zu fabelhafter Höhe, dem Handel und Wandel die Pfade bereitend. Hungersnot kannte man nur noch dem Namen nach; trat Mißwachs in einem Lande ein, stellte ein andres, wenn auch auf der jenseitigen Hemisphäre gelegen, unverweilt Lebensmittel in Fülle zur Verfügung, sehr froh, Absatz für seine reiche Ernte zu finden. Der Wohlstand wuchs und mit ihm die Gesittung. Die wilde Habgier erlosch; leicht wird ein guter Gönner, wer nicht selbst allzu bitter entbehrt. Verleumdung, tendenziöse Lobpreisungen beeinflußten das Urteil eines Volkes über das andre nicht mehr; dieses Urteil bildete sich aus eigener Anschauung, eigener Erfahrung. Aus dem Verständnis erwuchs die Gerechtigkeit, die, was gilt, auch gelten läßt; ein Band von Geist zu Geist bildete sich, die Kunst der einen erweckte die Bewunderung der andern, und ihre Wissenschaft wurde ihnen nutzbringend und ehrwürdig. Trennende Grenzen fielen, es gab keine Fremde mehr, alle Menschen hatten nur eine mit gleich heißer Liebe gehegte Heimat – die Erde.

Wohltäter, Erlöser aus materieller Not waren die Flieger einem alten Volke gewesen – was sie einem fortgeschrittenen Zeitalter werden konnten, ermißt die Phantasie eines Sterblichen nicht.

Von einem Wonnerausch erfaßt, ein glückseliger Glückbringer, flog ich pfeilgerade dem Erdball zu und nahm die Richtung nach einer Werkstätte, in der emsige Erfinder mit der Herstellung von Flugmaschinen beschäftigt waren. Eine Weile beobachtete ich ihr Treiben, und ein großes Mitleid erfaßte mich. Ich sah ihr rastloses Mühen und seine Erfolglosigkeit, die Gefahren, denen sie sich tollkühn aussetzten, die Enttäuschungen, die ihnen bevorstanden . . .

Kinder! Kinder! Ihr tappt im Finstern, wollte ich ihnen zurufen und ihnen die Lösung des großen Rätsels darlegen. Da begannen sie zu sprechen, sich zu beraten, und ich erschrak, ich zögerte – und schwieg.

Worauf sannen diese Erfinder? Was war das Ziel ihrer Bestrebungen? . . . Kriegszwecken sollten ihre Flieger dienen, Mordwerkzeuge gedachten sie herzustellen. Sie hatten nicht genug an ihren weittragenden Geschützen, die, meisterlich gehandhabt, die Reihen der Gegner niedermähen wie Gras, wie reifes Korn – aus den Wolken wollten sie kommen, als Feuerhagel herunterprasseln auf Menschenbrüder, auf unsre geliebte Heimat: Erde.

»Lebendiger Gott, laß diese die Lösung nicht finden, diese nicht!« schrie ich auf und erwachte.

König Ahmed

König Ahmed hatte zwei wißbegierige Söhne: Behmed und Cehmed.

Und der König schenkte seinem Erstgeborenen, Behmed, tausend gute Bücher und seinem Zweitgeborenen, Cehmed, ein gutes Buch.

Und die wißbegierigen Söhne lasen in einem fort.

Und Cehmed wurde weise, und Behmed wurde dumm.

Die Pygmäen

Zwei reisende Pygmäen erfuhren zufällig, daß ein großes Etwas, an dem sie vorbeigekommen waren, ein Riese gewesen sei. Nach Hause zurückgekehrt, erzählten sie von diesem Erlebnis und wurden mit Fragen bestürmt.

»Einem Riesen seid ihr begegnet – das ist ja ungeheuer merkwürdig! Wie sieht er denn aus, so ein Riese? Wie ist er denn?«

Die Kleinen nahmen etwas wegwerfende Mienen an und sagten: »Wie soll er sein? – Staubig ist er.«

Sie hatten nur den Rand seiner Stiefelsohlen gesehen.

Zwei Feindinnen

Eine etwas ältliche Verliebtheit und eine ganz junge Langeweile saßen einander gegenüber, wechselten schiefe Blicke und dachten beide im stillen: Wirst du mich oder werde ich dich fressen?

Mein Freund Tully

Oh, er war ein großer Mensch! Ein siegreiches Genie, eine gewaltige Natur. Ein Adler an Schwung, ein Löwe an Mut, ein Elefant an Weisheit, und in ihm grunzte auch ein kleines Schwein.

Sklavengedächtnis

Nach dem Tode des Lykurgus erfuhren seine Sklaven, daß sie im Dienst eines berühmten Mannes gestanden hatten.

Als sie darüber staunten, fragte man: »Seid ihr denn stumpfsinnig? Ihr habt ja mit ihm verkehrt. Und erfahren müßt ihr doch haben, daß der pythische Apoll sich unfähig erklärte, einen Ausspruch über den großen Gesetzgeber zu tun, weil er nicht wisse, ob er ihn zu den Menschen oder zu den Göttern zählen solle.«

Nein, davon wußten sie nichts, vielleicht auch war es ihnen entschwunden. Um so besser hatten sie sich gemerkt, daß ihr Herr einmal von der Menge mit Steinen beworfen wurde.

Eine Erinnerung

Ich hatte einen alten Freund. Er war ein großer Schauspieler. Wir wohnten nicht in derselben Stadt, doch besuchte ich ihn von Zeit zu Zeit. Beim Wiedersehen begrüßte er mich jedesmal mit einem Jubelschrei und stürzte mir mit ausgebreiteten Armen entgegen.

Vor dem Scheiden gab es dann schmerzvoll verzogene Mundwinkel, Kummerfalten die Wangen entlang, eine verdüsterte Stirn, trauerbeseelte Händedrücke.

Eines Tages kam es anders.

Mein Freund war bei meinem Abschiedsbesuch ungewöhnlich heiter und lebhaft, und als ich aufstand und sagte: »Nun lebe wohl, in einem halben Jahre bin ich wieder da«, erhob auch er sich rasch.

»Gut also, gut«, sprach er hastig, »in einem halben Jahre. Wort halten. Adieu, adieu. Ich kann, weißt du, das Abschiednehmen nicht mehr leiden.«

Seine Stimme klang rauh und gepreßt, er sah an mir vorbei, während er mich zur Wohnungstür geleitete. Wortlos schloß er sie hinter mir.

Ich aber wußte nun, daß ich ihm lieb geworden war im Laufe der langen Jahre.

Ein Lichtstrahl

Der Herr Jesus hatte dem Volke das Gleichnis vom Säemann erzählt und legte es seinen Jüngern aus, als er mit ihnen dahinging ins Gebiet der zehn Städte.

Was zu verstehen sei, sagte er, unter dem Samen, der, vom Säemann ausgestreut, auf den Weg fiel und zertreten wurde, und unter dem, der auf felsigen Grund fiel und verdorrte, und unter dem, der in die Dörner fiel und erstickt wurde, und unter dem, der auf gute Erde fiel und aufging und hundertfältige Frucht gab.

Die Straße, auf der der Heiland mit seinen Jüngern wandelte, war steinig, und er sah, daß sich auf einem der Felsblöcke, die da lagen, ein schmächtiges Hälmchen erhoben hatte. Das Samenkorn, dem es entwuchs, mußte wohl der Wind hergetragen haben. Im Vorüberschreiten ließ der Herr das Auge auf ihm ruhen, und das Hälmchen sog sein mildes Leuchten durstig ein, und es war ihm statt der Nahrung, die ein gutes Erdreich spendet, und statt dem Tau und dem Regen des Himmels; es gab ihm die Kraft, seine Fäserchen durch unsichtbare Spalten und Risse in den Stein zu senken, daß sie allmählich feine, starke Wurzeln wurden. Und als die Zeit kam, begann das Hälmchen zu blühen. Nicht lange, und goldene Früchte bildeten sich, und aus der reich gefüllten Ähre trugen wehende Lüfte sie fort in Nähe und Ferne, wo sie keimten, wuchsen, gediehen, kraftvoll und segensreich.

Das gelang dem armen Hälmchen, weil es verstanden hatte, einen Strahl vom göttlichen Lichte aufzufangen.

Der Rätselstein

Nicht erfunden, nur nacherzählt

Nach den heiligen Stätten von Kasan wallten Jünglinge, Männer, Greise im langen Pilgerzug. Betend und singend wanderten sie über Unland und graue Steppen und gelangten zum hochberühmten Rätselsteine. Halb schon in den Boden versunken lag der mächtige Würfel; wuchernde Flechten umschleierten ihn. Zerstört durch die kleinen Kräfte der zu Eis gefrorenen Regentropfen waren einzelne Buchstaben der Inschrift:

»Hebe mich, und du wirst das Geheimnis wissen.«

Hunderte und Tausende hatten hier geweilt, gelesen, gesonnen und waren weitergezogen, denn ihnen graute. Die Jünglinge aber, die Männer dieser Pilgerschar sprachen: »Wir ziehen nicht vorbei, wir wollen das Geheimnis wissen.«

Und sie mühten sich, gruben und harkten zwei Tage und zwei Nächte lang. Die Erde trank ihren Schweiß und das Blut ihrer zerschundenen Hände. Am Morgen des dritten Tages hoben und wendeten sie den Block und fanden in seine untere Fläche eingegraben – ein zweite Inschrift, schwer zu entziffern, seltsam. Schweigend starrten sie einander an. Einer der Greise trat hinzu. Er las:

»Was sucht ihr? – Es ist nichts.«

Da befahl er: »Verschüttet den Stein!«

Die Tafel der Reichen

Die Reichen sitzen an der Tafel und schmausen, und es ist so verschwenderisch angerichtet worden, daß die Schüsseln kaum halb geleert in die Küche zurückgebracht werden. Die Dienerschaft tut sich gütlich an diesen splendiden Resten, und was die Gäste auf den Tellern übrigließen, wird ins Spülfaß geworfen.

Eine arme Frau, für den Tag aufgenommen, sagte: »Ich bitte euch, laßt mir diese Abfälle. Ich habe ein Hündchen zu Hause, das oft Hunger leidet; laßt mir diese Abfälle für mein Hündchen.«

»Mit Vergnügen«, sagten die Leute und schoben ihr die Teller zu, und bald war ihr Korb mit den mannigfaltigsten Überbleibseln gefüllt.

Als sie nach Hause kam, saßen ihre zwei kleinen Kinder auf der Türschwelle und warteten. Die arme Frau hatte sich geschämt, für ihre Kinder Brocken zu erbitten, die bestimmt waren, im Spülicht zu verfaulen.

Nun leerte sie den Inhalt ihres Korbes in eine Schüssel und setzte sie den Kindern vor, und die hielten eine Mahlzeit wie noch nie in ihrem Leben.

Aber was schlich da heran und war nur Haut und Knochen? – Das kurzhaarige schwarze Hündchen des Nachbarn. Es setzte sich vor die Kinder hin und eröffnete das Gespräch mit einem messerscharfen Winseln, leckte sich emsig die Nase mit der langen, fleischfarbigen Zunge, lächelte mit dem halben Gesicht und richtete auf die Kinder seine gierigen Bettleraugen.

Ein abgenagter Knochen nach dem andern flog ihm zu, und es zermalmte sie mit seinen starken, gesunden Zähnen, und sie schmeckten ihm noch besser als den Kindern die zusammengelesenen Häppchen, als den Dienern die splendiden Reste und viel, viel besser als den Gästen an der Tafel die feinsten Leckerbissen.

Ein Idealist

»Wann wirst du endlich heiraten?« sprach ein alter Gänserich zu seinem Sohne. »Es ist wirklich schon die höchste Zeit.«

»Vater«, erwiderte der junge Gänserich, »ich mag keine von unsern Dorfgänsen. Du machst dir keinen Begriff davon, wie sehr ich nicht mag. Unsre Dorfgänse sind entsetzlich, lieber Vater. Beobachte sie nur, wenn sie am Morgen auf die Weide gehen und wenn sie am Abend von der Weide zurückkommen. Ihr Geschnatter würde ich ihnen noch verzeihen, was sollen sie anders tun als schnattern; aber die blödsinnig eingebildeten Gesichter, die sie dazu machen, der ordinäre Hochmut, mit dem sie die dicken, kurzen Hälse strecken und die Flachköpfe heben – pfui, pfui, das alles ist mir widerlich. Nein, lieber Vater, eine unsrer Dorfgänse heirate ich nicht.«

»Eine der unsren nicht? Hast du vielleicht eine anderweitige im Kopfe?«

»Ja, Vater, es ist so.«

»Und was für eine denn?«

»Eine Schloßgans. Ich habe sie neulich gesehen, drüben im Park auf dem großen Teich. Mitten unter ihren edlen Schwestern schwamm sie schweigend dahin. Ihre Federn waren schneeweiß und hatten einen matten Schimmer, wie manchmal weiße Wolken am Himmel haben, und ihr Hals war lang und biegsam und schmal, und sie bog ihn voll Anmut und trug ihr Haupt mit würdevoller Bescheidenheit – gelassene, majestätische Ruhe lag in jeder Bewegung dieser herrlichen Gans, die wie ein schönes Märchenbild an mir vorüberglitt. Seitdem ich sie gesehen habe, ist mir der Anblick unsrer Dorfgänse völlig unerträglich geworden, und ich bitte, verschone mich mit der Zumutung, daß ich eine von ihnen heimführen soll.«

Der Vater hatte ihn ausreden lassen, herrschte ihm aber dann grimmig zu: »So bleibe unvermählt, du Narr, denn darauf, daß die Schloßgans dich erhört, mache dir keine Rechnung. Hüte dich, ihr einen Antrag zu stellen, du würdest schmählich abgewiesen.«

Statt ihn abzuschrecken, stachelte diese Warnung den Verliebten zu einer kühnen Unternehmung auf. Er putzte sich heraus, so schön er konnte, ging hin und erklärte der vermeinten Schloßgans seine Gefühle. Sie verlor keinen Augenblick ihre hoheitsvolle Ruhe und erwiderte, als er geendet hatte: »Ich weiß nicht, mein Herr, was ich mehr bin, erstaunt oder geschmeichelt. Das aber weiß ich und kann ich Ihnen nicht verhehlen, daß mein Herz bereits an einen Jüngling meines Stammes und meiner Art vergeben ist.«

Im Innersten tödlich verwundet, wackelte der Abgewiesene heim und wurde aus Verzweiflung ein Lebegänserich. Er schloß flüchtige Verbindungen mit schon dreimal gerupften Gänsen wie mit kaum erwachsenen, er war der Schrecken aller Eltern, Vormünder und Gatten, er umwarb die ehrsame Familienmutter wie das unschuldigste ihrer Töchterlein, gewann jede und verachtete alle.

Als seine Sterbestunde kam, versammelte er seine zahlreichen Söhne um sich und sprach zu ihnen die grausamen und sentimentalen Worte: »Eure Mütter – wer sind sie? wo sind sie? Ich weiß nichts von ihnen, ich erinnere mich keiner von ihnen.

Die einzige, der meine letzten Gedanken gehören, die einzige, an die mich noch in dieser Stunde das unzerreißbare Band einer ewig lebendigen Erinnerung knüpft, das ist die eine, die mich verschmäht hat.«

Das Unkraut

»Du Armes!« sprach eine feine Blume zu einem Unkraut, das über Nacht neben ihr emporgeschossen war, »sehr leid tust du mir. Kaum lässest du dich blicken, als auch schon der Gärtner oder einer seiner Gesellen kommt und dich unter Verwünschungen wegfegt. Wenn ich bedenke, wie ich im Vergleiche zu dir behandelt, wie ich behütet, gepflegt, bewundert werde, muß ich mich wirklich schämen.« Sie neigte ihr rosiges Köpfchen und machte ein tugendhaft bescheidenes Gesicht.

Das Unkraut stieß ein derbes Lachen aus: »Dein Mitleid, du zartes Gebilde, ist übel angebracht. Siehst du denn nicht, wie lässig der Kampf gegen mich geführt wird? Mit einem Harkenstreich, einem Schlag mit der Stiefelsohle wird er meistens abgetan. Selten greift die Feindseligkeit mir an meine starke Wurzel, die sich tief und fast unausrottbar in das Erdreich senkt. Mich stets aus ihr zu erneuern ist mein Vergnügen und meine Wonne. Deine Wurzeln jedoch, Gehegte und Gepriesene, sind zart und fein wie du selbst, und nicht selten geschieht's, daß sie von dem ausgerissen werden, der einige deiner Blüten pflücken will. Sehr verschieden, darin hast du recht, ist unsre Stellung in der Welt, aber sage mir, wer die seine besser behauptet!«

Grillengezirpe

An einem schönen Sommerabend erhob ein Grillchen seine Stimme und zirpte laut und anhaltend. Ein kleiner Knabe wurde aufmerksam, horchte ganz entzückt, legte den Finger an den Mund und mahnte einige Erwachsene, die plaudernd dasaßen: »Seid still, hört zu, hört zu – es schlägt eine Nachtigall.«

Man lachte ihn aus, und er schämte sich tief und bitterlich.

Aber ein alter Mann trat zu ihm und tröstete ihn: »Laß sie lachen. Ich müßte weinen an dem Tage, an dem du eine Nachtigall singen hören und achselzuckend sagen würdest: Es hat nur eine Grille gezirpt.«

Sie

Dem großen Künstler, dem großen Gelehrten, dem großen Weisen und dem großen Heiligen bleibt sie ewig unerreichbar, aber der erste beste Dummkopf schwelgt in ihrem Besitze – sie heißt: Selbstzufriedenheit.

Erfüllung

»Werde ich das Ziel meiner Sehnsucht erreichen?« fragte ein Ehrgeiziger den pythischen Apoll und erhielt die Antwort: »Gewiß.«

»Gewiß? O göttliche Verheißung!« rief der Ehrgeizige glückstrunken aus. »Meine Wünsche werden erfüllt – alle erfüllt?«

»Alle.«

»Auch die kühnsten?«

»Auch die.«

»Sei gepriesen, du Göttlicher, auch die! Und wann?«

»Sobald dir an ihrer Erfüllung nichts mehr liegt.«

Der Lastträger

Ein schwer beladenes mageres Eselchen wurde von einem kräftigen, wohlgenährten Esel eingeholt, der mit seiner kaum spürbaren Last munter einhertrabte. Als dieser sah, wie geduldig der arme Mühselige seine Bürde schleppte, blieb er stehen und ließ auch die eigene ihm auf den Rücken gleiten: »Du trägst schon soviel«, sagte er, »so trag auch das!«

Verstiegen

Ein hohes Ziel, von mächtiger Hand gesteckt, sollte erreicht werden. Der Sieggewohnte, der auch bisher allen andern voraus gewesen war, geriet auf eine schroffe Klippe, von der es kein Empor- und kein Zurückgelangen mehr gab.

»Verstiegen!« riefen schadenfroh die auf breitgetretenen Pfaden Weiterklimmenden. Und der Kampfrichter sprach: »Ja! Um sich aber so zu versteigen, muß man ein guter Schreiter sein.«

Frau Gutmütigkeit

Frau Gutmütigkeit sitzt dick und breit in ihrem Hause beim eigenen Souper, läßt sich's schmecken und lacht vor Vergnügen am Wohlbefinden. Da klopft es, und eine helle Stimme spricht: »Frau Gutmütigkeit, laßt mich ein, es regnet.«

»Wollen sehen«, sagt Frau Gutmütigkeit. »Wer bist du denn?«

»Ich bin der Herr Verstand.«

»Der Herr Verstand? . . . So, so! – Ja, dann tut es mir leid. Du bleibst draußen, deine Gesellschaft muß ich meiden. Wie ich höre, entwickelst du dich gern auf meine Kosten.«

Alsbald vernahm man ein Klatschen – der Herr Verstand hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: »O Sie Vorurteil!« rief er, »Sie altes, eingefleischtes Vorurteil! Erfahren Sie und merken Sie sich: ich entwickle mich nie auf Kosten von irgend etwas oder von irgendwem. Allem und jedem, dem ich mich zugeselle, gebe ich zu, ich bin immer ein Spender; ich kläre, stärke, bereichere immer. Hören Sie?«

Sie hörte ihn, ließ ihn aber doch nicht ein.

Plato nennt die Verwunderung die Mutter alles Schönen und Guten

Wir verwundern uns überhaupt zuwenig, unter andrem aber viel zuwenig über die kleinen unscheinbaren Zufälle, die uns fortwährend begegnen: Geringfügigkeiten, ein Schritt, ein Wort zuwenig oder zuviel. Und doch haben sie einmal eine drohende Gefahr abgewendet, ein Unglück verhütet, haben uns ein andres Mal um ein Glück gebracht, durch dessen rasches Erfassen unser ganzes Leben eine bessere, schönere Richtung erhalten hätte.

Denke, beobachte, vertiefe dich, und du wirst staunen über das dichtverschlungene Gewebe, in dessen Mitte du stehst und dessen labyrinthischen Windungen nachzuspüren dein Scharfsinn nicht scharf genug, dein Blick nicht durchdringend genug ist.

Manchmal nur geschieht's, daß in diesem geheimnisvollen Gespinste ein Faden sichtbar wird, den du vermagst im Auge zu behalten auf seinem ganzen Wege bis ans Ziel. Vor dir liegen alle Möglichkeiten der Folgen deines Tuns; du siehst, was geworden wäre, wenn du damals statt kühn zaghaft, zaghaft statt kühn, hart statt milde, milde statt hart, mißtrauisch statt vertrauensvoll, vertrauensvoll statt mißtrauisch gewesen wärst, wenn du gesprochen statt geschwiegen, geschwiegen statt gesprochen hättest. Und dich ergreift ein tiefes Entsetzen, wohl auch eine bittere Reue oder ein feuriges Dankgefühl, indem sich dir offenbart, was hätte werden können – »wenn du damals . . .«

Eine Schweigsame

Sie war mitten unter uns und doch unnahbar. Sie stand schweigend, die edlen Arme, die aus dunkeln Floren weiß hervorschimmerten, gekreuzt. Um ihre geschlossenen Lippen schwebte ein leises, seltsames Lächeln, und in den Augen, dunkelhell wie eine Sternennacht, glomm das milde Licht einer unaussprechlich sanften Trauer.

Sie stand schweigend und beobachtete uns, unsre fieberhafte Unrast, unser rücksichtsloses Streben, die Tollheit, mit der wir alle Grenzen überflogen, alle Schranken niederrissen, die wilden Ausbrüche unsrer Lebenslust und unsrer Schamlosigkeit.

Sie sah, sie beobachtete, und es zuckte kein Nerv in ihrem schönen Gesichte.

»Wer mag sie sein?« fragten wir einander; aber sie anzureden, wagten wir trotz aller Frechheit nicht. »Wer mag sie sein, die ein höheres Wesen scheint und lächelt über unser wüstes Tun und Treiben?«

Einer, der mehr wußte als wir, erwiderte: »Ein höheres Wesen ist sie nicht und euch, ihrem Ursprung nach, näher verwandt, als ihr ahnt, sie ist – die stille Verzweiflung.«

So vielleicht . . .

Wir leiden oft schwer im Traume und erwachen mit dem Gefühl, ein großes Unglück erfahren zu haben. Aber ein Augenblick des Besinnens, und verschwunden ist der Schmerz, der noch leise in uns nachgezittert hatte. Kaum, daß im Laufe des Tages eine unklare Erinnerung an ihn, als fliegender Schatten, vor unserm inneren Auge dahinzieht.

So vielleicht wird in einem zukünftigen wachen Leben die Erinnerung an unsres Erdendaseins oft qualvollen Traum als fliegender Schatten vor uns auftauchen.

Gleichnis

In einem einst mächtigen Reiche erhob sich ein altehrwürdiger, prachtvoller Bau. Seine Fundamente griffen tief in die Erde, seine Kuppel verlor sich in den Wolken. Unabsehbar, unzählig waren seine hochragenden Hallen, die schönsten Werke der Kunst schmückten seine Altäre, vom hohen Chore erklangen herzerhebende Gesänge, seelenbefreiende Musik.

Jahrtausende gingen und kamen, gewaltige Erdbewegungen entstanden und erschütterten den tausendjährigen Bau in seinen Grundfesten. Er wankte, seine Säulen barsten, seine Quadern zerspellten, seine hochragenden Gewölbe stürzten ein. Aber die den Glauben an seine Ewigkeitsdauer von Vätern und Urvätern übernommen hatten, hielten fest an ihm. Sie wanden sich in den Hallen durch Grus und Geröll, sie beteten an den zertrümmerten Altären und empfingen dort Labsal, Trost und Gnadengaben.

Da kam ein Weltweiser, der sprach: »Ihr seid in Gefahr, verschüttet und in Finsternis begraben zu werden«, und trug den ehrwürdigen Bau bis auf den Grund ab.

Die Menschen jedoch gaben nicht zu, daß er abgetragen sei, vor ihren Augen ragte er immer noch in unerloschener Herrlichkeit; sie wallfahrteten nach wie vor zu ihm hin und empfingen nach wie vor Labsal, Trost und Gnadengaben.

Und auf der leeren Stätte steht jetzt wirklich ein Ewigkeitsbau, denn der Glaube hat ihn errichtet.

Ein anderes

Ein Gewaltiger hatte auf dem Hauptplatz einer Weltstadt in heißer Arbeit vieler Jahre einen Tempel auferbaut. Seine Wände waren aus Granit, seine Pforten waren aus Erz, seine Kuppel ragte in die Wolken. Die Menschen fuhren und ritten, tanzten und liefen und schritten an ihm vorbei und – sahen ihn nicht. Sie stießen an ihn an, die Fuhrwerke kippten um, die Reiter stürzten von den Pferden, die Tanzenden, Eilenden, Schreitenden schlugen sich an seinen Quadern die Nasen platt, schlugen sich auch die Schädel ein und sahen den Tempel noch immer nicht. Und als eines Tages ein Weltstadtferner, Weltstadtfremder kam und sagte: »Da steht ja ein herrlicher Tempel; seine Wände sind aus Granit, seine Pforten aus Erz, seine Kuppel wird von den Wolken umspielt«, erhob sich ein allgemeines Gelächter.

Er schwieg und begriff: sie sehen ihn nicht. Die Zeit, in der sie alle ihn sehen werden, muß erst kommen.

Aber wie wird ihnen dann ihre Stadt erscheinen?

Die Philosophin

Sie war alt, arm und einsam und doch ganz glücklich. Sie wandelte dahin wie Moses in der Wolke, umwoben von ihren Gedanken. Sie wich auf der Straße niemand aus, sie kümmerte sich nicht darum, ob ein Wagen einhergesaust kam, während sie eben über den Weg schritt. Der Kutscher riß seine Pferde zusammen und fluchte ihr nach. Sie sah und hörte nichts. Sie war zu Gast bei dem Weisen von Ephesos oder dem göttergleichen Akragantiner. Irgendein Lümmel, den ihre zerstreute Miene verdroß, trat ihr auf den Fuß; sie entschuldigte sich. Gassenjungen machten ihr eine lange Nase, riefen ihr Schimpfwörter zu; sie meinte, diese Kinder hätten sie angebettelt, zog ihr Beutelchen und schenkte noch etwas weg von seinem dürftigen Inhalt.

Als jemand sagte: »Man braucht nur eine halbe Stunde lang in unsrer Stadt umherzugehen, um sich zu überzeugen, wie unaufhaltsam die Verrohung fortschreitet«, da machte die Philosophin große Augen und sprach: »Ich kann das nicht finden. Gegen mich sind alle Menschen immer gleich gut und höflich.«

Der Maler

Im verheißungsvollen Japan lebte ein berühmter Schlachtenmaler. Seine Bilder wurden zu den höchsten Preisen verkauft; die ganze japanische Welt war darüber einig, daß er der größte Künstler sei, der je gelebt habe. Er freute sich dieser Anerkennung, wurde aber doch immer von dem Zweifel gequält, ob denn sein Ruf auch so felsenfest begründet sei, daß ihn nichts erschüttern konnte.

Eines Tages legte er eben die letzte Hand an ein neues großes Bild, als sich eine Schar seiner glühendsten Verehrer in sein Atelier drängte und in so frenetisches Lob ausbrach, daß er sich angewidert fühlte und die ganze Gesellschaft hinauskomplimentierte.

Ergrimmt und all den Schwätzern zum Hohne, nahm er sein Bild und stellte es verkehrt auf die Staffelei. Was Himmel gewesen, wurde Erdboden, was Erdboden gewesen, wurde Himmel. Statt der Köpfe der Reiter und Pferde ragten ihre Beine in die Höhe; er gab ihnen bacchantische Bewegungen, er ließ Fahnenstangen, Schwertspitzen, abgeschlagene Gliedmaßen von Menschen und Tieren, Hufe und Schuhe durcheinanderwirbeln, und als man um keinen Preis mehr erkennen konnte, was auf dem Bilde eigentlich zu sehen war – stellte er es aus.

Das Publikum und die Kritik standen in seliger Verblüffung davor. »Eine Offenbarung«, hieß es, »das dionysische Wirrsal einer ganz neuen Kunst!« So massenhaft strömten die Leute herbei, daß der Meister, der sich einmal verkleidet in die Nähe seines Werkes stahl, Gefahr lief, erdrückt zu werden.

Lachend ging er zu dem einzigen Kunstkenner, an dessen Urteil ihm lag und der bisher geschwiegen hatte.

»Und was sagst denn du?« fragte er ihn.

Der Kenner zuckte die Achseln und erwiderte wegwerfend: »Du darfst auch das.«

Da lachte der Künstler und ging seelenvergnügt seiner Wege. Ihm war nun ausgemacht, daß er einen Ruf besaß, den nichts erschüttern konnte.

Gegenstück

Ein junger Künstler hatte den Gipfel des Ruhmes erreicht. Dort oben machte er sich's behaglich und schlief auf einem Lorbeerpfühle ein. Als er am nächsten Morgen erwachte, fand er sich mit Entsetzen ganz unten im Tal am Fuße des Berges liegend, den er gestern erstiegen hatte. Auf dessen Gipfel aber machte sein ärgster Widersacher sich breit.

»Was ist das?« rief er aus. »Wie bin ich da so ahnungslos heruntergerutscht? Ist dieser Gipfel am Ende einer, den man täglich neu erklimmen muß?«

Vox populi

Ein äußerst bedachtsamer Gutsherr hatte nach langem Suchen und Überlegen einen Hausmeier aufgenommen. Kaum war das geschehen, als die andern Diener kamen und warnten: »Schicke ihn wieder fort, er ist ein Dieb.«

»Habt ihr Beweise?«

»Das nicht.«

»Woher also wißt ihr, daß er ein Dieb ist?«

»Alle Leute sagen es.«

»Was verlangt ihr noch mehr?« sprach der Gutsherr erfreut. »Ich behalte ihn.«

Der Mittelpunkt

Die Feder des Schreibenden spritzte, und unter kaum sichtbaren Pünktchen war eines, das sich spreizte und ausrief: »Ich bin der Mittelpunkt!«

Alle richtigen Punkte, die stolz auf den ihnen angewiesenen Plätzen saßen, brachen in zorniges Gelächter aus: »Da hätte viel eher einer von uns Anspruch darauf, ein Mittelpunkt zu sein!«

Die Kleinen widerbellten, und sofort entbrannte ein heftiger Streit.

Der Schreibende schlichtete ihn mit dem guten Rat: »Es beziehe doch jeder einzelne von euch alles, was rings um ihn vorhanden ist und geschieht, auf sich selbst, dann wird auch jeder von euch ein Mittelpunkt sein.«

Zwei Ungläubige

Zwei Ungläubige betraten eine Kirche, in der eben das Meßopfer abgehalten und zur Wandlung geläutet wurde. Der eine blieb aufrecht stehen, der andre kniete mit den Betenden nieder.

»Wie konntest du knien?« fragte ihn beim Fortgehen sein Gefährte; »du glaubst ja nicht.«

»Ich beugte mich vor dem Glauben der andern«, erhielt er zur Antwort.

Der Bildhauer

Der Meister gehört nicht zu den vom Glück Begünstigten, von Ruhm Umschmeichelten. Sein Atelier am Lungo Tevere gibt ein beredtes Zeugnis davon. Es erhält sein Licht durch ein breites Fenster über der einem Scheunentor ähnlichen Tür, und man tritt unmittelbar von der Straße in den kahlen, mäßig großen Raum. Sein ganzer Schmuck besteht aus einigen Gipsmodellen und einigen verstaubten Reliefs an den getünchten Wänden.

In klarer Schönheit aber stehen vor uns die zwei letzten Arbeiten des Künstlers.

Die eine, schon in Marmor ausgeführt, ist die Statue einer Verstorbenen. Ein paar Photographien von ihr und die Angaben ihrer Kinder waren alle Behelfe, die man ihm bieten konnte. Aber ein guter Stern waltete über dem Werke. Der Meister gab dem Steine nicht nur die feinen und noblen Züge, die edle Gestalt und Haltung der teuren Frau, er hauchte ihm auch ihren ernsten Geist, die milde und stille Hoheit ihres Wesens ein. Auf sehende Augen wirkte seine Schöpfung mit der Wärme des Lebens.

Eine zweite Arbeit ging ihrer Beendigung entgegen, ein Denkmal für die Ruhestätte des Leiters einer katholischen Schule in Kanada.

Sie war ebenso weit entfernt von »fabriksmäßigem Denkmalsbetrieb« wie von den Erzeugnissen impressionistischer Plastik. Die zwei dargestellten Personen bildeten eine Gruppe.

Der Lehrer, ein ehrwürdiger Priester im langen, faltenreichen Talar, hielt mit der linken Hand einem etwa achtjährigen Knaben ein aufgeschlagenes Buch vor und bezeichnete mit dem Zeigefinger der Rechten eine Stelle darin.

Der Schüler war eitel Aufmerksamkeit. Ein köstliches Geschöpf, dieser kleine Römer in seinem tiefen Versunkensein; bezaubernd der Ausdruck des Gesichtes mit den noch ganz kindlichen und doch schon fein ausgeprägten Zügen. Der Kopf, der zarte Nacken, den der Kragen des Matrosenkleides weich und lose umschloß, waren etwas geneigt, aber die Arme kreuzten sich energisch über der Brust, und das Knäblein stand da, kräftig und schlank und gesund wie eine junge Edeltanne.

»Sie haben sich ja als Modell zu Ihrem amerikanischen Seminaristen ein prachtvolles römisches Kind ausgesucht, lieber Meister«, sagte ich.

Er lächelte stolz und beseligt: »Es ist mein Ältester.« Und angeregt durch mein Interesse und durch meine Fragen, sprach er von diesem »Ältesten«, sprach in seiner sanften und bescheidenen Weise, mit dem wehmütigen Selbstbewußtsein derer, die, des reichsten Glückes würdig, keines erfahren haben. Er blieb äußerst zurückhaltend im Lobe seines Kindes, aber jeder Laut seiner Stimme verriet die unsägliche Liebe, der es entquoll, und je bemühter er war, keine parteiische Eingenommenheit zu verraten, um so geneigter fühlte man sich, dem Knäblein alles Beste zuzutrauen.

Daß ich dem kleinen Wundermann noch nie begegnet war, daran trug nur der Zufall Schuld. Er kam oft ins Atelier, um seine Aufgaben zu machen, hatte sein Tischchen da stehen, an dem er schrieb und arbeitete.

Eines Tages begleitete ich eine Bekannte, die die Statue unsrer Verstorbenen sehen wollte, in die Werkstätte, und gleich beim Eintreten fiel mir etwas Neues, eine mit feuchten Tüchern umwickelte Büste, auf.

»Eine Bestellung?« fragte ich hocherfreut.

»Nein, das nicht.«

»Und was denn?«

Eine Arbeit, die er zu seinem Vergnügen unternommen, sagte er, und erwiderte, als ich bat, ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, es sei noch etwas früh, aber – wenn ich es wünsche . . .

Die Verhüllung wurde entfernt, und ich hatte das Mißvergnügen, meinem Ebenbilde ins Gesicht zu sehen.

Es war nur ein Entwurf, doch konnte ich mich des Ausrufs nicht erwehren: »Ich bin's, und schon zum Entsetzen ähnlich!«

»Das dürfen Sie nicht sagen«, sprach er, »um Ihretwillen nicht und um meinetwillen nicht, denn Sie erinnern mich sehr an meine entschlafene Mutter.«

Ich hatte ihn verletzt, bereute meinen unwillkürlichen Schreckensruf und suchte mich bei dem Künstler zu entschuldigen. Es verdroß ihn nun sehr, daß er mir seine Arbeit im Anfang des Anfangs, im noch ganz rohen Zustand gezeigt.

Aber er hatte eben gehofft, daß ich ihm meine Hilfe gewähren und ihm einige Sitzungen geben würde. Und nun begannen wir einander gegenseitig anzuflehen. Er bat mich, ihm zu sitzen, und ich bat ihn, mich nicht darum zu bitten. Zuletzt blieb ich Siegerin mit meinen guten Gründen. Erstens weil Porträts von mir nie besser gelingen, als wenn ich bei ihrer Herstellung nicht anwesend bin; zweitens weil die Zeit meiner Abreise heranrückt und ich mit jeder Minute geize, die ich noch auf meinem Forum, meinem Palatin, in stiller Verehrung meiner gemalten und gemeißelten Abgötter in den Galerien und Museen zubringen kann. Übrigens würde ich noch einigemal ins Atelier kommen, um mich von dem Gelingen einiger Retuschen, die er an unsrer Statue vornehmen sollte, zu überzeugen; da habe er Gelegenheit genug, neue Eingebungen für sein Gedächtniswerk zu sammeln.

Bei meinem nächsten Besuch lernte ich endlich seinen kleinen Sohn kennen. Gefährliche Bekanntschaft für eine Kinderfreundin! Der konnte mich in Versuchung bringen, das Forum und den Palatin und meine Abgötter aus Leinwand und Farben, aus Marmor und aus Erz da liegen und stehen zu lassen, wo sie lagen und standen, und mit ihm Ball zu spielen, einen Kreisel tanzen zu lassen oder zuzusehen, wenn er, wie jetzt, mit seinem festen, braunen Händchen große, kühne Buchstaben in sein Schreibheft malte.

Du lieber Junge! Alles Gute, das sein Vater von ihm gesagt hatte, bestätigte mir mein erster Blick in diese glanzvollen, vertrauensseligen Augen. Aus ihrem Dunkel brach das hellste Lebensmorgenlicht hervor, bezaubernd, ein konzentrierter Frühling. Frühlingshaft auch war der unschuldige Frohsinn, der aus ihnen strahlte, und vielleicht das Schönste an diesem schönen Kindergesicht der Mund mit den zarten, vollen Lippen von der Farbe einer eben aufgesproßten Granatblüte.

Wir waren bald geschworene Freunde. Mit etwas gönnerhafter Miene erzählte er von seinen Brüdern. Schutzbefohlene, kein Umgang, viel zu klein für ihn. Man mußte beständig auf sie achtgeben, der Drei- und der Vierjährige wissen ja noch nicht, was sie tun. Gestern haben sie ihr Bilderbuch zerrissen, erst in große, dann in immer kleinere Stücke, und dann bitterlich geweint, weil sie kein Bilderbuch mehr fanden, als sie es am Abend suchten. Der Fünfjährige, der Rico, der will Bersagliere werden und hat schon einen Säbel, aber noch keinen Hut.

»Und was willst denn du werden?« fragte ich.

»Nun, doch Bildhauer wie der Vater«, antwortete er, ganz erstaunt, daß mir die Sache nicht ausgemacht sei. Der Vater brachte ihm manches Stückchen Ton mit nach Hause, daraus modellierte er Tiere und Menschen, am liebsten aber Madonnen mit dem Jesuskinde. Er hatte einige Proben seiner Kunst in der Tasche und zog sie hervor. Aber – o weh! . . . Dieser Aufenthalt war ihnen nicht zuträglich gewesen, sie hatten jedes charakteristische Merkmal eingebüßt, und traurig betrachtete Paolo die kleinen Mißgestalten.

»Weißt du was?« sagte ich, »heute über acht Tage komme ich wieder, da bringst du mir, sauber in ein Schächtelchen gebettet, eine neue Madonna, und ich bringe dir einen kleinen Beutel; in dem findest du, was du brauchst, um deinen Brüdern ein neues Bilderbuch und dem Rico überdies einen Bersaglierihut und dir selbst etwas zu kaufen, was dir eine rechte Freude macht. Willst du?«

Ob er wollte! In seinen schwarzen Augen gingen zwei Sonnen auf.

Ja, ja, ja! ich bekam eine Madonna, und ganz herrlich sollte sie sein, eine versilberte Krone sollte sie haben und das Christuskind eine vergoldete.

»Wirklich? Eine vergoldete?«

Ja, ja, ja! Und glänzen sollte sie.

Glänzen sogar? Das konnte ich mir kaum vorstellen und war im voraus schon geblendet von dieser Pracht.

Wie freuten wir uns beide!

Vater und Sohn begleiteten mich zu meiner einspännigen Karosse, und lange winkte Paolo mir nach, und aus der Ferne noch vernahm ich sein helles Jauchzen.

Tag und Stunde unsres Stelldicheins kamen, ich war zur Ausfahrt angekleidet und im Begriff, aus dem Zimmer zu treten, als heftig an der Hausglocke gerissen wurde.

»Niemand vorlassen! Niemand!« rief ich der Dienerin zu, die sich, ärgerlich über dieses stürmische Anläuten, ins Vorzimmer begab.

Gleich darauf erschollen von dort in höchster Aufregung ausgestoßene Laute einer fremden Stimme, und ganz bestürzt kam das Mädchen zurück und meldete, die Frau des Bildhauers schicke ihre Schwester, etwas Furchtbares habe sich ereignet.

Ich eilte der unerwarteten Besucherin entgegen. Sie zitterte am ganzen Leibe, ihr Gesicht, ihre Augen waren vom Weinen geschwollen.

»Signora, Signora – das Ärgste . . . denken Sie – denken Sie, Signora . . .«

Der Atem versagte ihr. Ich ergriff ihre Hand und mußte sie zwingen, in einem Lehnstuhl Platz zu nehmen. Sie war ein junges, energisches Geschöpf.

»Einen Augenblick nur . . . Ich muß nur den Auftrag meiner Schwester bestellen . . . Sie läßt Ihnen sagen, Signora, daß Sie nicht ins Atelier kommen sollen – Paolo ist tot, Signora, und sein Vater rast umher wie verrückt.«

Sie brachte ihren schauerlichen Bericht abgebrochen, unter heftigem Schluchzen hervor.

Paolo spielte auf der Terrasse, auf die die Wohnungstür sich öffnet. Im fünften Stock des Hauses wohnen sie. Immer spielen die Kinder auf der Terrasse – es ist nie etwas geschehen . . . Heute – Unglückstag . . . Vor ihren Augen . . . Eine Musikbande kommt vorbei. Paolo singt, tanzt, prallt im Tanz ans Geländer . . . Es gibt nach – er stürzt in die Tiefe.

»Signora, o Signora!« Schrill und schneidend rangen sich die Worte aus ihrer Kehle. »Denken Sie – meine Schwester . . . Das Kind tot, der Mann dem Wahnsinn nahe, flucht und tobt und gibt uns allen schuld . . . Sie würden ihn nicht wiedererkennen, den guten, sanften Menschen!«

Ich konnte das Entsetzliche erst gar nicht fassen, schauderte beim Gedanken an die unglückseligen Eltern, hätte zu ihnen eilen mögen, sah ein, daß es nicht anging, einen Anteil zu verlangen an ihrem unantastbaren Schmerz, bat zuletzt um Erlaubnis, Tag um Tag Nachricht von ihnen einholen zu lassen. –

Die letzte Zeit meines Aufenthalts in der Ewigen Stadt war mir vergällt. Ich sah meinen kleinen, rasch gewonnenen und plötzlich verlorenen Freund in jedem schönen römischen Kinde, und der Gedanke an den unglücklichen Vater Paolos verließ mich keinen Augenblick.

Wieder verging eine Woche; alles, was ich von dem schwer Heimgesuchten erfuhr, lautete immer gleich trostlos. Endlich brachte seine Schwägerin mir die Botschaft, er sei zum ersten Male wieder ins Atelier gegangen, und seine Frau lasse mich inständig bitten, ihn dort aufzusuchen.

Am Nachmittag fuhr ich hin, fand die Tür unversperrt und trat ein.

Der Künstler stand vor dem Ebenbilde seines Sohnes und betrachtete es unverwandt, so weltentrückt und versunken, daß er mein Kommen nicht bemerkte. Ich rief ihn an, er sah auf, stöhnte leise, breitete mir seine Arme entgegen und schloß mich an sein Herz. Ich konnte nicht sprechen, ich hielt nur seine Hand fest mit meinen beiden Händen.

»Verzeihung«, sagte er. »Als Sie so plötzlich dastanden, war mir, als sei meine Mutter zu mir gekommen, um mich zu trösten. Aber das könnte auch sie nicht . . . Mit mir ist's vorbei, es ist aus, alles, alles aus! . . .«

Er rang die verschränkten Hände: »Gott – mein Gott . . . Rennt ein Mann daher, sagt: ›Sie sollen kommen – Ihrem kleinen Buben ist ein Unfall zugestoßen, man hat ihn zu uns ins Spital gebracht . . .‹ Ich erschrecke. ›Ein Unfall – einem meiner Kleinen?‹ – ›Ja.‹ – ›Was denn? Was denn?‹ – ›Ich weiß nicht‹, sagt er. – Nun, ich, voll Angst, folge ihm. Und im Spital sehen sie mich so merkwürdig an und führen mich – und schlagen die Decke zurück – und wie sie die Decke zurückschlagen, sehe ich – mein Ältester ist es . . . Er – er – Und wie ich ihn sehe, stoße ich einen Schrei aus« – drohend hob er die Rechte empor: »Den haben sie dort oben gehört!«

Er rang nach Luft, schritt ein paarmal auf und ab und sprach: »Die Mütter haben ihre Kinder gleich lieb, sie können das – sie haben jedes mit denselben Schmerzen geboren . . . Mir war mein Ältester über alle lieb . . .«

Der sonst so Stille und Wortkarge sprach und sprach, übersprudelte sich in seiner Rede, so daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen.

Auf die Zeit kam er zurück, in der er um seine Frau geworben: »Als sie erfuhr, daß ich ein Bildhauer sei, wie war sie stolz! Ein Künstler hatte sie erwählt! Arme Frau – was sie bei mir erfuhr und mutig mit mir teilte, das waren Enttäuschungen, das war gar oft die Sorge um das trockene Brot. Ich bin keiner, der sich durchsetzt, ich habe keine eisernen Fäuste und keine spitzigen Ellbogen – ich werde zur Seite geschoben von solchen, die weniger können als ich . . . Aber als er da war, als er heranwuchs, mein Sohn, hat mir nichts mehr weh getan. Ich säe, er wird ernten, ich bin klein geblieben, er wird groß werden . . . Wie in ein Bereich voll Blumen, Früchten, voll Sonnenschein blickte ich in seine Zukunft . . . Er liebte alle, auch die Nichtguten – er konnte nicht anders, und alle die Guten und Nichtguten liebten ihn . . . Auf Händen hätten sie ihn durchs Leben getragen . . . Nie anders als groß, berühmt, geehrt sah ich ihn – und – – Herrgott! Herrgott! im Spital – als sie die Decke weggezogen – – was lag da vor mir! . . . Am Morgen noch ein Kind, um das die Menschen mich beneideten und an dem die Engel im Himmel ihre Freude hatten, und – was lag da!«

Seine Stimme erstarb in einem Wimmern, er brach am Tischchen Paolos in die Knie, und auf die Platte gestützt, vergrub er sein Gesicht in seine Hände.

Nach einer Weile trat ich zu ihm und berührte seine zuckende Schulter.

»Stehen Sie auf, lieber Meister, ich bitte Sie, stehen Sie auf.« Keine Antwort, doch erhob er sich und war nun ruhig – ruhig, wie völlig Abgespannte sind. »Und noch eine Bitte: nehmen Sie das Tuch weg von der Büste dort.«

Er näherte sich seinem begonnenen Werk und tat, wie ich ihn gebeten hatte, mechanisch wie etwas rein Äußerliches, das ihn gar nichts anging.

Ich setzte mich der Büste gegenüber: »Wo sind die Modellierstäbe? An die Arbeit, lieber Freund!«

Plötzlich kam wieder Leben in sein Gesicht. »Arbeit? Wissen Sie, was ich mir jetzt noch aus der Arbeit mache?« fragte er herb und verächtlich, riß die Steckel von dem Schemel, auf dem sie lagen, und ging mit starken Schritten und erhobener Hand auf das arme Tongebilde zu.

Ich aber dachte: Nun beginnt ein Zerstörungswerk.

Doch kam es anders.

Die erhobene Hand holte nicht zum Schlage aus, sie senkte sich. Regungslos blieb der Bildhauer vor seinem Modell stehen, mit verhaltenem Atem, wie festgebannt, wie einer Stimme lauschend, die ihm daraus entgegenklang . . .

Ein Gebet des nach Dasein verlangenden Geschöpfes zu seinem Schöpfer: Vollende mich. Und was noch keiner sah, es schwebte ihm vor Augen – das Gewordene im Werdenden, das zu lebendigem Dasein erweckte Gedankenbild.

Ein langer, banger Augenblick – ein Starren, Sinnen, ein leises Flüstern: »Madre!« und zärtlich und schmeichelnd glitt der Modellierstab über die Stirn des alten, unschönen Gesichtes, glättete, vertiefte, deutete an. Dann wieder ruhte sein Blick lange, forschend, vergleichend auf mir, wandte sich zur Arbeit zurück, und in den eben noch so finstern Augen leuchtete der Widerschein der innerlich lodernden Flamme eines gottbegnadeten Könnens.

Was ich empfand, da es mir gegönnt war, diesen Übergang von lähmender Verzweiflung zur Ausübung einer Künstlerschaft, die alle Lebenskräfte anspannt, mitzuerleben, das war reines Glück, die höchste Dankbarkeit.

Die Sitzungen wiederholten sich, das Werk gedieh, und in dieser Zeit errang mein lieber Freund seinen ersten Sieg.

Ein Staatspreis war ausgeschrieben worden für ein Hautrelief, eine Apotheose des verstorbenen Königs. Als das Kuvert geöffnet wurde, das den Namen dessen enthielt, der alle Mitbewerber überflügelt hatte, sahen die Richter erstaunt, daß es ein ihnen völlig Unbekannter war.

»Der Ihre!« triumphierte ich, als er mir die gute Nachricht mitteilte. »Der Ihre, und wird nicht lange mehr unbekannt bleiben.«

Er lächelte in seiner alten, stolz resignierten Weise: »Chi lo sà? Es gibt so viele Bildhauer!«

Egeria

Ein Reiseerlebnis

Auf meiner Schweizer Reise habe ich ein merkwürdiges Ehepaar getroffen. Sobald der Mann den Mund auftat, sprach die Frau: »Du willst sagen, daß . . .« Und jetzt kam immer etwas Gescheites zutage. Vor einem schönen Landschaftsbilde, vor einem Kunstwerke hatte er geistvolle Gedanken, die seine Frau in Worte kleidete. Er nickte nur tiefsinnig und sagte: »Ganz recht.«

Eines Tages war sie unwohl, und er kam allein zur Table d'hote. Er hatte seine gewohnte, nobel herablassende Art, die gewisse Gebebewegung, mit der seine linke Hand – eine schöne Hand – sich geschmeidig im Knöchel drehte. Doch bewahrte er dabei ein fast schüchternes Schweigen. Wenn jemand etwas erzählte, nahm er eine wohlwollende, sehr teilnehmende Miene an, zog die Augenbrauen in die Höhe und ließ mehrere Male nacheinander ein angeregtes »So so!« vernehmen. Das war alles, schmeichelte aber dem Erzähler ungemein.

Mich hatte der Zufall dieselbe Reiseroute wählen lassen, die das Ehepaar nahm, und in den Eisenbahnwaggons, bei Bergbesteigungen, in den Hotels trafen wir täglich zusammen. Aber auch ein vierter schloß sich unserm absichtslos geknüpften Bunde an, und dieser, wie mir schien, durchaus nicht absichtslos. Die schöne deutsche Frau hatte es dem Gallier angetan. Er bewunderte ihre Art, sich zu kleiden, ihre lieblich stolze Haltung und ganz besonders – ihren Gang: kein Trippeln, kein Schweben – ein Schreiten, ein harmonisches Vorwärtskommen in gelassener Leichtigkeit, geradeaus, nicht bei jedem Schritt ein bißchen Kraft nach links und ein bißchen Kraft nach rechts von sich schleudernd, wie es bei vielen Frauen üblich ist. Nicht genug staunen konnte er darüber, daß sie, so groß, so majestätisch, doch voll Anmut war . . . herrlich, ganz einfach – herrlich! »Und«, sagte er und sah mich pfiffig an, »welch ein Anempfindungsvermögen, welch ein Verständnis für den Geist ihres Mannes! Erstaunlich, nicht wahr?« – »Gewiß!« und wir lachten beide.

Er war klug, er tat sein Mögliches, um sich zuerst die gute Meinung des Ehemannes zu erwerben, gewann sie auch. Der Geheime Herr Kommerzienrat lächelte ihm gnädig zu, wenn er ihn von weitem schon ehrerbietig grüßte; auch über die lustigen Geschichten, die der Franzose zu erzählen wußte, lächelte er. Lachen konnte er so wenig wie eine Katze. Wenn aber wir beide über eine der kommerzienrätlichen Anekdoten, denen seine Gattin meistens die Pointe aufgesetzt hatte, in schallende Heiterkeit ausbrachen, ging in seinem Gesicht die Sonne auf. Da blickte ihn seine Frau mit zärtlichem Triumphe an, und ihre ernsten, sanften Augen leuchteten in stillem Glück.

Ich war der Vertraute des jungen Bewerbers um ihre Gunst geworden. Er klagte und grollte: »Sie liebt ihn! liebt den Hohlkopf! Begreifen Sie das?«

»Es schien auch mir ein Rätsel; doch glaube ich es gelöst zu haben. Sie liebt ihn mit dreifacher Liebe. Als geborene Herrscherin, die sie ist, den treuen Vasallen; als Kinderlose mit aller in ihr aufgespeicherten Mütterlichkeit . . . und wie läßt er sich die gefallen! Andern gegenüber – gönnerhaft, götzenhaft; vor ihr – auf beiden Knien. Das hat so etwas . . . das ist nicht unedel . . . in solcher Weise verwöhnt werden und den Verwöhnenden anbeten – kommt selten vor. Die dritte Liebe, nun – die stärkste, die zärtlichste: die Liebe des Künstlers zu seinem Werk. Er ist das ihre. Sie gibt in ihm ihre Gedanken heraus und – gestehen Sie – in einem Prachtexemplar.«

»Prachtexemplar«, gab er zu. »Der Herr Kommerzienrat mit den rosigen Wangen und den blonden Haaren ist das Bild eines Hermann der Cherusker, wie euer krankhaft ausgearteter Chauvinismus ihn malt.«

Ich konnte ihm diesen Ausfall, der überdies gar nicht zur Sache gehörte, nicht ungestraft hingehen lassen und sagte: »Und sie ist das Urbild einer Thusnelda unsrer Träume, die, wenigstens äußerlich, besser zu ihm paßt als zu dem geistreichsten, nettesten Varus«, und dabei klopfte ich dem feinen jungen Mann auf die Schulter.

Nach jedem Zornesausbruch übte er seine Verführungskünste mit mehr Geschmeidigkeit und Liebenswürdigkeit aus und machte Fortschritte in der Gunst der schönen Frau. Sie begegnete ihm mit großer Freundlichkeit, zeichnete ihn vor allen – es waren ihrer viele, die ihr huldigten – aus.

Da geschah's, daß er in einer Wallung der Ungeduld sein wochenlang mit soviel Verschlagenheit und Selbstüberwindung aufgerichtetes Verführungswerk zerstörte. Der Unselige wiederholte ein besonders patzig vorgebrachtes: »Ganz recht!« des Gatten mit boshaftem Hohn und fügte hinzu: »Einer Ihrer originellen Gedanken, Herr Kommerzienrat!«

Verblüfft und hilflos wendete der Gatte seine Augen rettungsuchend der Gemahlin zu, und Thusnelda vereiste im selben Moment. Der Liebende erlangte nicht mehr einen gnädigen Blick. Es war vorbei. Jedes leichte Neigen des Hauptes, mit dem sie seine flehenden Begrüßungen erwiderte, sprach: Halten Sie sich fern!

In Interlaken erfuhren wir, daß »Kommerzienrats« am Nachmittag ihre Heimreise antreten würden. Ich fand mich zum Abschied auf dem Bahnhof ein. Sie hatten schon ihren Waggon bestiegen, kamen ans Fenster, und wir tauschten eben höfliche Redensarten, als neben mir ein prachtvolles Rosenbukett auftauchte. Ein armer Sünder wollte seine letzte Huldigung darbringen.

Aber »sie« sah ihn nicht. Sie hatte sich plötzlich auf die andre Seite des Wagens begeben, wo ein Zug, der auf dem Nebengleise stand, ihre gespannte Aufmerksamkeit zu erregen schien.

»Nein, zu liebenswürdig – nein wirklich –« sagte der Kommerzienrat. Der Strauß wurde ihm nolens volens hinaufgereicht, und mit Wohlgefallen nahm er ihn in Empfang.

Die Lokomotive pustete, die Räder drehten sich – »adieu!« Aus einem Fenster des dahinbrausenden Trains streckte sich eine schöne Hand und winkte uns noch eine Weile zu. Aber leider war's – eine Männerhand.

Nach Jahren traf ich den ehemaligen Reisebekannten wieder, und wieder in der Schweiz. Er nannte sich mir, ich hätte ihn nicht erkannt. Der blühende, von Gesundheit strotzende Herr Kommerzienrat hatte sich zu sehr verändert. Gealtert, gebeugt trat er mir entgegen. In der gebrochenen Gestalt lag etwas Fremdes, etwas Starres, das mir seltsam erschien – fast unheimlich.

Er war allein. Ich fragte nach seiner Frau.

»Voran«, erwiderte er, bemerkte meine Verwunderung über diese Antwort und erklärte: »Vorangegangen, mir voran, wie von jeher in allem. Gestorben wird es auch genannt.«

Einige Worte aufrichtigen Mitgefühls drängten sich mir auf die Lippen. Er lehnte ab mit einer leisen, ruhigen Gebärde: »Zu einem höheren Leben geboren, sollte es genannt werden.«

»Sie hat an eine zweite Geburt nicht geglaubt«, wandte ich zagend und im Ton einer Frage ein.

»Sie nicht. Ihr war der Tod das Ende, und die kleinen Begriffe Lohn, Strafe belächelte sie. Sie lebte wie eine Heilige aus innerster Seelennotwendigkeit – es war so ihre Natur. Nun ist sie fort und, ob sie an ein ewiges Geschiedensein dachte oder nicht – ist da. Nach dem Worte der Schrift: ›Die Liebe höret nimmer auf‹, ist sie da, umgibt mich, ich erlebe stündlich das Wunder. Als sie sterbend vor mir lag, offenbarte es sich mir zum erstenmal. Ihre Augen waren gebrochen, ihr schönes Gesicht war verzerrt von dem entsetzlichen sardonischen Lachen. Da beugte ich mich und drückte einen langen Kuß auf ihren Mund. Und als ich sie wieder ansah, lag auf diesem lieben Mund ein sanftes, seliges Lächeln. Dasselbe Lächeln, das ihn einst so bezaubernd umkoste, als ich – ein schüchterner Bräutigam – sie zum erstenmal geküßt hatte . . . Und als sie im Sarge lag und ich sie betrachtete – andachtsvoll, um mir ihre teuren Züge unauslöschlich einzuprägen –, da belebten sie sich . . . Ich sah es – ich werde es immer sehen . . . Ein warmer Lebenshauch flog über das starre, marmorblasse Angesicht.«

Wir schritten eine Weile schweigend des Weges weiter; es war derselbe, auf dem vor Jahren meine erste Begegnung mit ihm und seiner Frau stattgefunden hatte.

Plötzlich, wie erwachend aus dämmerigen Träumen, begann er wieder: »Getrennt – zeitlich getrennt, aber nur scheinbar. In Wahrheit noch enger vereint, weil eine durch Körperlichkeit gebildete Schranke nicht mehr besteht. Sie ist in mir und ist außer mir – ein voranschwebender Geist. Ich folge, von ihr geführt; zu der lichten Sphäre, an der sie, noch im Irdischen befangen, zweifelte, hebt sie mich empor – und ich strebe ihr nach – – bin noch am Fuße des Berges, aber jeder Tag bringt mich einen Schritt aufwärts – ihr näher!«

Er blieb stehen, breitete die Arme aus und blickte in stiller Verzückung vor sich hin. Und mir fiel etwas Merkwürdiges auf. Ich hatte immer eine gewisse Ähnlichkeit gefunden zwischen den echt germanischen Gesichtern der beiden Eheleute. Nun war das seine schmaler geworden, es erschien feiner, und die Ähnlichkeit mit der Verstorbenen hatte sich verstärkt. Aber mehr noch als eine äußerliche trat eine geistige Ähnlichkeit hervor – eine so überraschende, so überwältigende Ähnlichkeit mit der Vorangegangenen, daß mir war, als spräche ihre Seele aus seinen Augen.

 


 << zurück weiter >>