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Aus der Bremer Bürger-Zeitung.
13.11.1902
Zu einer gewaltigen Demonstration gegen den bremischen Liberalismus gestaltete sich diese Volksversammlung. Genosse Ebert erhielt das Wort zu seinem Referat über das Thema: »Die bevorstehenden Bürgerschaftswahlen und die Sozialdemokratie.« Er führte etwa folgendes aus:
Die Sozialdemokratie strebt die politische und ökonomische Befreiung nicht nur der Arbeiterklasse, sondern des ganzen Menschengeschlechts an. Der moderne Staat ist ein Klassenstaat, in dem die herrschenden Klassen lediglich ihre Interessen wahrzunehmen suchen und wobei sie im Staat ihren besten Helfer erblicken können. Er beschützt ihren Besitz und unterstützt ihre Ausbeutungsgelüste, er ist ihr Repräsentant oder, wie Friedrich Engels sagt, »der ideelle Gesamtkapitalist«. Es ist bekannt, wie oft und gern Bismarck sich rühmte, Millionäre gezüchtet zu haben; es ist bekannt, daß Minister von Bötticher zu den Unternehmern das Wort sprach: »Meine Herren, wir arbeiten ja nur für Sie.« Und es ist nicht minder bekannt, daß letzthin ein Minister sich direkt in den Dienst des Großkapitals stellte, indem er ein Geschenk von 12 000 Mark von den Industriellen entgegengenommen zum Zwecke der Vertretung kapitalistischer Interessen. Damit ist zur Evidenz bewiesen, daß wir im Klassenstaat leben. Und in den Einzelstaaten ist es nicht besser als im Reich, ebenfalls nicht in den Gemeinden. Überall hat der Besitz das Vorrecht.
Daher gilt es für uns, die politische Macht zu erringen, damit wir der Klassenherrschaft ein Ende bereiten können. Die Interessen der Bevölkerung und die Ehre der Partei fordern es, daß wir bei den Bürgerschaftswahlen nicht nur unsere bisherigen Mandate behaupten, sondern auch noch neues Terrain hinzuerobern.
Wir dürfen dabei die Gegner nicht unterschätzen, wir haben aber auch keine Ursache zum Kleinmut. Wir haben unsere Versprechen, die wir bei den letzten Wahlen unsern Wählern gegeben haben, gehalten. Es ist kein Punkt im Programm, den wir nicht zu realisieren versucht hätten. Die Durchführbarkeit der einzelnen Programmpunkte haben wir klipp und klar bewiesen, und wenn nicht mehr erreicht wurde, als es der Fall ist, so hat dafür der bremische Liberalismus die Schuld zu tragen.
Wir haben unser Programm für die zukünftige Tätigkeit scharf skizziert und nichts an unseren Grundsätzen geändert. Die Gegner waren in dieser Hinsicht bis jetzt sehr schweigsam.
Nach dem Reinfall von 1899 wollten sie sich auch ein Programm schaffen; sie sprachen sogar von einer großen liberalen Organisation. Wir haben nun erwartet, daß man mit diesem Programm vor die Öffentlichkeit treten würde. Nichts von dem ist eingetreten. Zwar hat ein Mann, der ein guter Radfahrer sein mag, der aber von der Politik so gut wie nichts versteht, einen programmatischen Erguß losgelassen. Er hat sich jedoch nur lächerlich damit gemacht. Und die Redaktion der »Nachrichten« schrieb am 10. Nov. d. J.:
»Wenn in der vierten Klasse nur allein der ausgesprochene Liberalismus in Frage käme, dann würde man schnell zu einem gemeinsamen einheitlichen Programm kommen. Unter den gegebenen Verhältnissen aber hat sich das als unmöglich erwiesen. Deshalb muß auch jeder bürgerliche Kandidat sein Programm vertreten und die Wähler entscheiden lassen. Auf diese Weise ist ja auch unter den obwaltenden Verhältnissen die beste Gewähr gegeben, daß alle Interessen in der Bürgerschaft zu Worte kommen können und niemand mundtot gemacht werden kann.«
Am 6. März 1899 aber schrieb dasselbe Blatt:
»Wir fragen jeden denkenden Menschen, was wir wohl an der eigenartigen bürgerlichen Wahlbewegung der vierten Klasse, bei der fast in jedem Bezirk andere Interessen – oft solche persönlicher Natur – mitspielen, hätten ändern können?«
Trotz alledem bestreiten die »Nachrichten« und bestreiten die Liberalen, daß es sich für die Vertreter des Bürgertums nur um persönliche Interessen handelt. Die Tatsache, daß auf liberaler Seite kein Programm für die Bürgerschaftswahlen geschaffen werden konnte, beweist den Bankrott des bremischen Liberalismus.
Nun hat man bestritten, daß wir eine »Politik der Allgemeininteressen« vertreten. Wir seien einseitig, und bei den Reichstagswahlen werde man es uns zeigen. Die Sache liegt aber so, daß wir Sozialdemokraten in aller Öffentlichkeit unsere Absichten und Grundsätze vertreten und unsere Kandidaten aufstellen, während die Liberalen hinter verschlossenen Türen von Gevatter Krämer und Vetter Handschuhmacher ihre Kandidaten ausknobeln lassen. Was heißt das: »Allgemeininteressen«? Das ist ein dehnbarer Begriff. Die Sozialdemokratie vertritt die Interessen der gesamten werktätigen Bevölkerung; sie tritt ein für die Arbeiter, aber auch für die kleinen Beamten und die Kleinbürger. Sie tritt ein für die große Mehrheit des Volkes.
Wir streben die Beseitigung jeglicher Klassenherrschaft an und verlangen, von diesem Grundsatz ausgehend, die volle politische Gleichberechtigung aller ohne Unterschied. Damit stehen wir im schroffen Widerspruch zum Liberalismus. Dieser hat seine Ideale von früher längst über Bord geworfen. Das wird aufs beste durch die Gestaltung des bremischen Staatswesens bewiesen.
Die bremische Verfassung ist ein Produkt der Reaktion. Was 1848 vom Volke errungen wurde, ist ihm später wieder genommen. 1852 wurde ihm dann eine Verfassung aufgezwungen, und zwar durch einen Staatsstreich, die noch heute mit einigen unwesentlichen Änderungen besteht. Das Wahlrecht zur Bürgerschaft trägt einen plutokratischen Charakter, es ist ein Klassenwahlrecht. Vorbedingung, Gebrauch davon machen zu können, ist die Leistung des Bürgereides und die Zahlung der Bürgereidgebühr. Dadurch sind geradezu haarsträubende politische Verhältnisse geschaffen. 1895 hatte der bremische Staat 44 408 Einwohner im Alter von über 25 Jahren, und 1898 gab es hier 55 136 Einwohner, die Einkommensteuer zahlten. Wahlberechtigte Wähler gab es jedoch 1899 nur 20 437, also nur die Hälfte der über 25 Jahre alten Einwohner.
Diese Einrichtung von der Leistung des Bürgereides und der Eidgebühr stammt aus der mittelalterlichen Zopfzeit, als in den lockeren Staatswesen die einzelnen Gewalthaber sich den Eid der Treue leisten ließen und so ihre Leute fesselten. »Treu und hold« zu sein, muß auch der bremische Staatsbürger schwören. Diese Einrichtung hat keinen praktischen Zweck mehr. Es muß ohnedies jeder Staatsbürger die Gesetze achten, dafür sorgt schon das Strafgesetz.
Deshalb haben wir auch die Abschaffung der Bürgereidgebühr beantragt. Die Bürgerschaft ersuchte den Senat um einen diesbezüglichen Bericht. Die Mitteilung des Senats dauerte lange, und als sie erfolgte, versprach sie nichts Gutes. Bei der Wahl der Deputationen zeigte sich wieder so recht die Volksfeindlichkeit der Liberalen. Einen Sozialdemokraten wollte man offenbar nicht in die Deputation haben und der kürzlich erfolgte Bericht der Deputation hat den Grund bewiesen. Man hat eine Einschränkung der allgemeinen Wahlen vorgenommen, um sich die Kritik der Sozialdemokratie möglichst vom Halse zu halten. Die Söhne bremischer Bürger sollen künftig nicht mehr gezwungen werden, die Bürgereidgebühr zu entrichten. Das würde eine Abnahme der Wähler bedeuten, die den Liberalen schon recht sein könnte, denn dann könnten sie ja in Gemütlichkeit ihre Vertreter am Biertisch ausknobeln. Da sollten sich die Liberalen eine Vorlage, die dem Landtage von Sachsen-Meiningen, wo ebenfalls eine Eidesgebühr erhoben wird, gemacht wurde, zum Muster genommen haben. In dieser wird die Aufhebung der Gebühr gefordert, weil sie unzeitgemäß sei. Nun, wir werden in der Angelegenheit noch ein Wörtchen mitsprechen. Die Geschäfte unserer Gegner besorgen wir!
Der Charakter des Klassenwahlrechts tritt so recht hervor, wenn wir uns folgende Zahlen vergegenwärtigen: 1899 wählten von den Privilegierten 2002 Wahlberechtigte 82 Vertreter, die übrigen 18 435 Wahlberechtigten wählen also nur 68 Vertreter in die Bürgerschaft. Doch die Sache stellt sich noch krasser in folgendem: 1899 erschienen zur Wahl erste, zweite, dritte und siebente Klasse 842 Wähler, sie wählten 41 Vertreter. Von den übrigen Klassen erschienen 12 126 Wähler, und diese wählten 34 Vertreter. Bei den Privilegierten kamen auf einen Vertreter 20 Stimmen, bei den übrigen Klassen auf einen Vertreter 356 Stimmen.
Das ist eine unerhörte Bevormundung. Die Minorität macht in Bremen Gesetze, die die Majorität befolgen muß. Unser Antrag auf Abänderung des Wahlrechts wurde mit Ausnahme von drei oder vier Vertretern einfach niedergestimmt. Der Liberalismus ist also trotz aller schönen Worte erzreaktionär, er ist ein Gegner des gleichen Wahlrechts. Und sollten sie diese Behauptung im Wahlkampf bestreiten, so halten wir ihnen die Worte ihrer Vertreter entgegen. So sagt Dr. Dreyer bei der Wahlrechtsdebatte 1898:
»Wir müssen einen festen konservativen Grundstock haben, mit dem die Regierung arbeiten kann, und der wird im wesentlichen von der Kaufmannschaft gebildet. Eine Verschiebung der Vertreter zugunsten der vierten Klasse wäre darum bedenklich.«
Und derselbe Herr sagt bei der Verbrauchsabgabe-Debatte:
»Die politische Macht muß in Händen der Besitzenden bleiben; nur der Besitz erzeugt die konservative Gesinnung, die zur ordnungsgemäßen Leitung des Staatswesens erforderlich ist.«
Ich kann nicht umhin, diesem Liberalen eine andere liberale Stimme entgegenzuhalten:
»Man kann sagen – und hat es oftmals gesagt –, daß Vermögen keine sichere Bürgschaft gewährt für Rechtlichkeit, Geschicklichkeit und Vaterlandsliebe, daß es Pöbel unter allen Ständen gebe und der Vornehme noch gefährlicher sei als der Geringere. Erzeugt man nicht Pöbel, indem man alle Besitzlosen oder wenig Begüterten zum Pöbel stempelt? Wird nicht die bürgerliche Ordnung dadurch gefestigt, daß jeder innerhalb dieser eine Stelle findet? Man kann endlich sich auf einen höheren Standpunkt stellen und den Staat nicht mehr als Zweck betrachten, sondern als bloßes Mittel. Er ist eine Erziehungsanstalt der Menschen. Und wozu soll ein jeder Mensch erzogen werden, wenn nicht zur Selbständigkeit? Selbständigkeit, eine Persönlichkeit, die ihr Gesetz in sich hat, ist die Blüte dieses Lebens und der Keim des zukünftigen. Wie kann aber jemand zur Selbständigkeit gelangen, der nicht selbst einen Willen haben darf, sondern stets dem Willen anderer folgen muß? ... Wohlan, so laßt uns die Erfahrung fragen, was lehrt sie uns? Sie lehrt uns, daß Versammlungen, die aus Geistlichen, Adeligen und Hochbesteuerten bestanden, stets und allerorten Gesetze gemacht haben, die ihren eigenen Vorteil zunächst beförderten, und es ist beinahe lächerlich, etwas anderes zu erwarten. Sie lehrt uns, daß in jedem Staate, wo die Minderheit Gesetze gibt, die Mehrheit unzufrieden ist. Und das Vertrauen, das der Staat in seine Bürger durch Verleihung des allgemeinen Stimmrechts setzt, bewährt sich auf glänzende Weise. Der Mensch fängt unter der freien Verfassung selbst zu denken und zu reden an. Er wird wie umgewandelt. Ein neuer Geist, ein Pfingsten kommt über ihn, er spricht beherzt seine Meinung aus und zeigt oft mehr Verstand und politische Reife als manches Mitglied der preußischen Herrenkurie, als mancher deutsche Professor des Staatsrechts. So wahr ist es, daß nur die Freiheit zur Freiheit erzieht.« So schrieb 1848 die »Kölnische Zeitung«.
Aber noch ein anderes Verhalten, das man den Sozialdemokraten gegenüber beobachtet hat, soll hier erwähnt werden. Man hat streng darauf geachtet, daß kein Sozialdemokrat in eine der Verwaltungskörperschaften gewählt wurde. Damit hat der bremische Liberalismus bewiesen, daß er die Sozialdemokratie in dieser Körperschaft fürchtet.
So brutal der Liberalismus nun nach unten, den arbeitenden Klassen gegenüber, sich gezeigt hat, so devot war er nach oben, wie die letzte Senatswahl bewiesen hat. Die Bürgerlichen zeigten, trotzdem sie vorher große Worte hatten, nicht den Mut zum Standhalten. Einer nach dem andern wurde fahnenflüchtig. Später beim »Isen« waren es aber gerade die Herren von der vierten Klasse, die zuerst die Plätze besetzten. Wir haben dann die Änderung der Verfassung beantragt. Der Antrag wurde unter Berufung auf die Geschäftsordnung nicht zugelassen. Er wurde alsdann formuliert dem Vertreterverein übersandt, um die zur Beratung erforderlichen 30 Stimmen zu erhalten. In diesem Verein hat aber kein Vertreter den Mut gefunden, ihn zu unterzeichnen. Dann versuchten die Liberalen eine Verfassungsänderung, natürlich nach ihrer Art. Es wurde die Niedersetzung einer Deputation von der Bürgerschaft beschlossen, und vom Senat wurde sie abgelehnt. Nachdem die Sache noch einigemal in der Bürgerschaft in der schwächlichen Weise von den Liberalen behandelt wurde, gaben diese schließlich dem Senat, der seine Pappenheimer kennt, nach. Die Liberalen haben die Behandlung durch den Senat wie ein Hund die Prügel seines Herrn hingenommen. Ebenso rücksichtslos behandelt der Senat die Liberalen auf dem Gebiete der Verwaltung, wie die Wahl eines Pastors für die Krankenanstalt bewies. Die Deputation hatte einstimmig für die Wahl dem Senat einen Vorschlag unterbreitet, der Senat ignorierte ihn aber einfach und setzte nach seinem Gutdünken einen anderen, vielleicht angenehmeren Herrn in das Amt.
Um nichts besser ist die Stellung des Liberalismus zu wirtschaftlichen Fragen. Es heißt zwar stets, in Bremen sei die Bevölkerung durch wirtschaftliche Grenzen nicht schroff geschieden. Bremen wird gleichsam als ein Eldorado hingestellt. Einige Zahlen werden uns eines anderen belehren. Nach der Steuerstatistik von 1898 hatten in Bremen 48,7 Tausend Einwohner ein Durchschnittseinkommen von 1084 M, 4,7 Tausend Einwohner ein solches von 5726 M und 1,3 Tausend Einwohner sogar ein Durchschnittseinkommen von 41 974 M; und wenn wir die Gesellschaften, die die Rechte von sog. juristischen Personen haben, bezüglich ihrer Einkommen betrachten, dann finden wir folgendes: Es hatten 114 ein Durchschnittseinkommen von 1237 M, 103 ein solches von 6418 und 80 ein Durchschnittseinkommen von 251 283 M.
Das ist ein Bild der Klassengegensätze, wie es schärfer kaum ausgedrückt werden kann. Nun sollte man meinen, der Liberalismus hätte demgegenüber die Verpflichtung empfunden, auf dem Gebiete der Sozialpolitik Linderung zu schaffen. Weit gefehlt! In dieser Hinsicht sieht es in Bremen trostlos aus, wie ein Blick ins Budget beweist. Die sozialdemokratischen Vertreter haben auf diesem Gebiet eine lebhafte Tätigkeit entfaltet. Wir verlangen für die Minderbegüterten Schutz und Fürsorge in wirtschaftlicher, sozialer, familiärer, geistiger und sittlicher Hinsicht. Wenn wir nur geringe Erfolge zu verzeichnen haben, so lag das an dem permanenten Widerstand des Liberalismus. In wirtschaftlichen Fragen huldigt der bremische Liberalismus angeblich aus prinzipiellen Gründen dem altmanchesterlichen Postulat von der wirtschaftlichen Freiheit.
Diese Grundsätzlichkeit ist aber sehr billig. Wie sie wirkte in der Praxis, zeigte sich bei der Kohlennotdebatte 1900. Wir hatten, dem Beispiel anderer deutscher Gemeindeverwaltungen folgend, einen Antrag eingebracht, der den An- und Verkauf von Kohlen und Koks bezweckte. Es sollte dadurch den Minderbemittelten geholfen werden. Aber da kamen wir schön an. Dr. v. Pustau, ein Vertreter der ersten Klasse, meinte damals:
»Es müßte öffentlich nur klar ausgesprochen werden, daß man prinzipiell dagegen ist, daß der Staat sich in wirtschaftliche Dinge mischt ... In diesen Fragen lasse ich nicht mit mir reden. Ich sage, es ist nicht Aufgabe des Staates, sich in wirtschaftliche Dinge zu mischen. Wir stehen nicht im sozialdemokratischen Staate, sondern wir befinden uns im Individualstaate ... Wir sind im Prinzip dagegen. Denn wenn wir mit dieser Sache anfangen, ist kein Ende abzusehen. Der Eine sagt, heute sind die Kohlen zu teuer, ein anderer kommt morgen und sagt, mir ist das Petroleum zu teuer, das Mehl, das Brot, das Fleisch, kurz und gut, wir hören auf im sozialistischen Staate.«
Und ein anderer Liberaler kam in die Bürgerschaft gestürmt und führte – trotzdem er dem Gang der Verhandlung nicht beigewohnt hatte – folgendes aus:
»Herr Dr. v. Pustau hat recht, daß wir uns mit dieser Sache dem Zukunftsstaat der Sozialdemokratie nähern; denn die staatliche Regelung der Produktion und Konsumtion ist ein Teil ihres Programms. Dann muß ich Herrn Kunoth in bezug auf seine Ausführungen über die Kohlennot entgegentreten. Eine Kohlennot existiert nicht. (Widerspruch.) Nein, sie existiert absolut nicht ...«
Die Sozialdemokratie hat diesen Standpunkt natürlich längst wirtschaftlich und praktisch überwunden. Es verbirgt sich hinter diesem Grundsatz der Liberalen auch nichts anderes als Heuchelei. Wer das Prinzip der Selbsthilfe und der Gleichberechtigung anerkennt, der muß auch ein allgemeines Wahlrecht wollen, der muß ferner das Koalitionsrecht anerkennen. Wie es in dieser Hinsicht aber in Wirklichkeit mit dem Liberalismus bestellt ist, hat dessen Stellungnahme in der Bürgerschaft gelegentlich der Debatte über die Streikpostenaffaire, über das Zuchthausgesetz usw. bewiesen. Der Liberalismus handelt hier wie ein Mensch, der, an Händen und Füßen geknebelt, im Wasser liegend um Hilfe schreit, und dem man zuruft: »Schwimm doch!«
Auch die Stellung des Liberalismus zu unserem Antrag auf Errichtung einer Arbeiterkammer hat gezeigt, wie es ihm um die Gleichberechtigung der Arbeiter zu tun ist.
Als wir für ordentliche Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Staatsarbeiter eintraten, zeigte sich das Manchestertum des Liberalismus nicht minder. Besonders war es hier Herr Hormann, der sich sonst als der Unentwegte geriert, der Ansichten kundgab, wie sie der erste beste Innungsmeister äußert oder ein Spießbürger in den »Bremer Nachrichten« vertreten könnte. Der Antrag wurde abgelehnt. Als wir dann zum zweitenmal mit dem Antrag kamen, schickte man den Herrn Professor Kasten ins Feld, der ihn natürlich ebenfalls bekämpfte.
Der Staat dürfe der Privatindustrie nicht vorangehen, meinte er, sonst könne diese Schaden leiden. Unser Antrag wurde, soweit er die Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Staatsarbeiter und die Einführung der Lohnklassen bei Vergebung von Staatsarbeiten bezweckte, abgelehnt. Wegen der Ruhelohnberechtigung und Hinterbliebenenversorgung hatte aber Professor Kasten einen sinngemäß mit dem sozialdemokratischen Antrag übereinstimmenden Antrag eingebracht, um billigerweise Lorbeeren für den Liberalismus einzuheimsen.
Dieser wurde dann, nachdem der sozialdemokratische Antrag unter den eigentümlichsten Umständen abgelehnt worden war, angenommen.
Nun ist die Deputation gewählt worden, die über den Antrag beraten soll, und auch ich bin hineingewählt. Es ist nur noch zu wünschen, daß es nicht einige Jahre währt, wie bei der Deputation zur Regelung des Arbeitsnachweises, bevor die Deputation eine Sitzung abhält. Wir werden natürlich nach Möglichkeit dafür sorgen. Ferner: Als wir auf die Arbeitslosigkeit hinwiesen und einen Antrag auf Vornahme von Notstandsarbeiten stellten, wurde bestritten, daß eine Arbeitslosigkeit bestände. Der Antrag wurde schließlich abgelehnt. So sieht die liberale Sozialpolitik aus.
Auch zur Wohnungsfrage haben wir in der Bürgerschaft wiederholt Stellung genommen, zuletzt bei der Budgetberatung, und bestimmte Anträge in Aussicht gestellt. Bald danach kam auffälligerweise von liberaler Seite ein Antrag auf Einrichtung einer Wohnungsinspektion. Wir haben den Antrag begrüßt und ließen die Sache an uns herankommen. Der Antrag war so schwächlich und seine Begründung so unsachgemäß, daß wir ihn zu vervollständigen trachteten.
Unser Antrag wurde abgelehnt, der liberale Antrag angenommen. Wir sind aber der Meinung, daß der Staat, wenn er Millionen für die Interessen der herrschenden Klassen übrig hat, auch einige Millionen opfern kann für gute Wohnungen für die Arbeiterschaft.
Da wir zur heutigen Versammlung auch die Gegner eingeladen haben und die Zeit zur Diskussion nicht beschränken möchten, will ich schließen, zumal sich im Rahmen eines Vortrages ein vollständiges Bild der Tätigkeit unserer Fraktion nicht geben läßt. Die Wähler haben zu entscheiden, ob wir unsere Schuldigkeit getan haben. Sorgen Sie, daß den Siegen der Sozialdemokratie in letzter Zeit ein neuer Sieg hinzugefügt werde. Vorwärts, Genossen! Vorwärts, durch Kampf zum Sieg!