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Aus einer Rede in der Bremer Bürgerschaft.
14.11.1900
Ich stelle den Antrag:
Die Bürgerschaft erachtet für alle in staatlichen Betrieben beschäftigten Arbeiter die Festsetzung eines Minimallohnes von 4 M pro Tag und eine vorläufige neunstündige Arbeitszeit täglich für notwendig.
Bei Vergebung von staatlichen Arbeiten und Lieferung wird dem Unternehmer die Innehaltung genannter Arbeitsbestimmungen zur Bedingung gemacht.
Für ständige, nicht ruhegehaltsberechtigte Angestellte ist eine angemessene Hinterbliebenen-Versorgung einzurichten.
Mein Antrag bewegt sich in bescheidenen Grenzen. Er fordert nichts Ungeheuerliches, bezweckt nichts Undurchführbares, sondern versucht nur, Verhältnisse, die anderwärts bereits bestehen, zu übertragen. Gegen den Antrag selbst wird sich prinzipiell nichts einwenden lassen. Wer heute im öffentlichen Leben steht und dem Allgemeinwohl dient, kann meiner Meinung nach nicht mit verschränkten Armen dem Zustand zusehen, wie er sich in unserer Volkswirtschaft abspielt, daß der wirtschaftlich Schwache unter dem Drucke des wirtschaftlich Starken seufzt. Wer im täglichen Leben stündlich diese Erscheinung wahrnimmt, der ist gezwungen, sein Augenmerk auf soziale Verhältnisse zu richten und Hand anzulegen, daß die Verhältnisse der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung in wirtschaftlicher und kultureller Beziehung gehoben werden. Das ist der Kernpunkt jeder Sozialpolitik. Es soll zugestanden werden, daß der Antrag für sich immerhin eine gewisse sozialpolitische Bedeutung in Anspruch nehmen kann. Er bezweckt zunächst die Erhöhung der Lohnverhältnisse der in Staatsbetrieben beschäftigten Arbeiter. Es ist bekannt, daß der Staat außer dem großen Heer an Beamten auch zahlreiche Arbeiter beschäftigt; er erscheint dadurch in gewisser Beziehung als Arbeitgeber und Großindustrieller. Sie wissen aber auch ferner, daß der Verwaltungsbehörde die Ausführung der vom Reich erlassenen sozialen Gesetze überwiesen ist. Wenn nun der Staat und seine Organe Sorge tragen sollen, daß in der Privatindustrie diese gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze und Wohl der Arbeiter streng beachtet werden, dann kann man auch sehr wohl verlangen, daß der Staat selbst in seinem eigenen Heim Einrichtungen und Anordnungen trifft, die auf dem ganzen wirtschaftlichen Gebiete als Muster, als Vorbild dienen sollen. Sie werden mir zugeben, daß die Lebenshaltung in den letzten Jahren so gestiegen ist, daß man gezwungen gewesen ist, eine Revision der Beamtengehälter vorzunehmen, und selbst die höchstgestellten Beamten des Staates sind davon nicht verschont geblieben. Die Löhne der Staatsarbeiter haben aber nur eine ganz geringe Aufbesserung erfahren. Die Eingaben und Vorstellungen der in Staatsbetrieben beschäftigten Arbeiter haben bei den in Betracht kommenden Behörden nicht immer das Wohlwollen und Entgegenkommen gefunden, das man erwarten durfte. Es sind Lohnaufbesserungen von 10 bis 15 % gemacht worden, Lohnaufbesserungen, die durch die Verteuerung der Lebenshaltung längst überholt sind, und so ist es im bremischen Staatswesen heute der Fall, daß viele Arbeiter beschäftigt sind, die einen Tagelohn von 3 bis 3.50 M, kaum aber 4 M erreichen. Wenn Sie das Spezialbudget aufmerksam durchgehen, finden Sie bei einzelnen Positionen, insbesondere bei Häfen und Eisenbahnen, Ausgaben für Arbeitslöhne, aus denen zu ersehen ist, daß viele Arbeiter eben 3 M erhalten. Auch andere Verwaltungen bezahlen Löhne, die weit hinter dem Satz zurückbleiben, den ich in meinem Antrag als angemessen vorgeschlagen habe.
Nun wird es sich zunächst darum handeln, ob es überhaupt zu empfehlen ist, eine derartige Minimalgrenze von Löhnen für die Arbeiter festzusetzen. Die Frage ist meiner Meinung nach einfach zu entscheiden. Für alle Staatsbeamten ist ein Anfangsgehalt festgestellt, gleichsam ein Minimalgehalt. Was dem Beamten recht und lieb ist, kann selbstverständlich auch für den Arbeiter in Anspruch genommen werden. Prinzipiell würde also nichts dagegen einzuwenden sein, die Minimalgrenze des Lohnes festzusetzen.
Des weiteren verlangt der Antrag, daß die tägliche Arbeitszeit auf neun Stunden bemessen werde. Wir hätten ja eigentlich die achtstündige Arbeitszeit beantragen sollen, und halten selbstverständlich auch heute noch an dieser Forderung fest; aber wir haben, um zunächst in dieser Sache weiter zu kommen, uns dazu verstanden, die neunstündige Arbeitszeit vorläufig zu fordern. Wenn man die Wichtigkeit der verkürzten Arbeitszeit für die Arbeiter ermessen will, so muß man eigentlich Fachleute reden lassen. Ich beziehe mich auf den Tuberkulose-Kongreß zu Berlin. Dort sind Gelehrte aller Länder zusammengekommen, die darüber beraten haben, wie man der schrecklichen Seuche Einhalt gebieten könnte. Mehrere Gelehrte haben als Hauptmittel die Verkürzung der Arbeitszeit empfohlen. Es ist Tatsache, daß nichts mehr den Körper des Arbeiters schwächt als die übermäßig lange tägliche Arbeitszeit. Der Arbeiter verbraucht seine Kräfte viel zu früh. In seinen besten Jahren stirbt er dahin, und seine Frau steht dann verlassen da. Es ist also durchaus notwendig, mit allen Kräften auf eine Verkürzung der Arbeitszeit hinzuwirken. Es kommt noch weiter hinzu, daß von einer großen Reihe von Privatbetrieben die Staatsbetriebe in dieser Beziehung überholt sind. So ist z. B. in der Holzbranche, in der Tischlerei, die neunstündige Arbeitszeit längst durchgeführt. (Zurufe: Leider!) Ja, es ist glücklich heute noch so bestellt, daß bei der Regelung dieser Frage nicht nur die mitzureden haben, die bei der Sache interessiert sind, sondern auch diejenigen, die unter den Folgen der langen Arbeitszeit leiden.
Ich will nur noch ein Moment hinzufügen. Unsern Arbeitern fehlt es nicht allein an Brot, es ist auch notwendig, sie in geistiger Beziehung zu heben. Was nützen denn alle Wissenschaften, wenn sie nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zugute kommen und nicht hineingetragen werden ins Volk, wenn so manches Talent, so mancher tüchtige Charakter nicht geweckt wird? Das aber kann nur geschehen, wenn dem Arbeiter außer der Zeit, in der er seine Arbeit zu leisten hat, auch noch Zeit zur Verfügung steht, sich geistig weiter zu bilden. Welch großer Drang nach geistiger Bildung übrigens in der Arbeiterbevölkerung heute vorhanden ist, das kann nur derjenige ermessen, der mit dem Arbeiterstand in Berührung kommt.
Des weiteren wird in dem Antrag verlangt, daß bei Vergebung von Staatsarbeiten dem Unternehmer die Verpflichtung auferlegt wird, die festgestellten Bedingungen einzuhalten. Diese Bestimmung ist nur eine Konsequenz des ersten Teils des Antrags. Es wäre unbillig, wenn der Staat nicht überall da, wohin sein Einfluß reicht, Sorge dafür trägt, daß die getroffenen Bestimmungen auch befolgt werden. Hinzu kommt, daß bei Vergebung von Staatsarbeiten sich eine starke Konkurrenz geltend macht. Die Geschäftsleute führen sehr gern Staatsarbeiten aus, denn der Staat ist ein sicherer Zahler, es gibt ihrem Geschäft ein gewisses Ansehen, wenn Arbeiten für den Staat geliefert werden. Es entsteht so ein Konkurrenzkampf, der oft auf dem Rücken des Arbeiters ausgefochten wird.
Wir haben auch heute schon ganz bedeutende Arbeitsbetriebe – ich will nur an die Buchdruckerbetriebe erinnern – in denen derartige Festsetzungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer existieren, und beide Teile fühlen sich wohl dabei. Es ist eine Übersehung der eigenen Interessen, wenn die Arbeitgeber sich gegen eine derartige Einrichtung stemmen, die wohl geeignet ist, unser Submissionswesen zu verbessern und den Arbeiter sicher zu stellen. Daß aber dieser Standpunkt von den Unternehmern nicht immer eingenommen wird, geht z. B. daraus hervor, daß die Leute bei der städtischen Tonnenabfuhr mit Löhnen von 2.50 M bis 3.50 M abgespeist werden. Dabei sind die Leute gezwungen, oft ihre Mahlzeiten bei ihrer Arbeit einzunehmen. Sie haben vielfach nicht einmal, was sich eigentlich ganz von selbst verstehen sollte, eine Mittagspause. Derartige unwürdige Zustände würden sich vermeiden lassen, wenn man den Unternehmern gewisse Bedingungen auferlegte. Ein anderer wichtiger Betrieb ist der Betrieb der Straßenbahn. Der Dienst ist sehr anstrengend. Die Leute müssen vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Posten sein, und dabei erhalten sie ein Monatsgehalt von 85 M im Anfang, das bis 120 M steigt. Das ist keine ausreichende Besoldung. Derartige Verhältnisse würden nicht bestehen, wenn eine Bestimmung, wie die von mir genannte, eingeführt würde.
Zum Schluß komme ich auf den Passus bezüglich der Regelung der Pensionsverhältnisse der staatlichen Arbeiter. Es gibt keinen Grund, den Arbeiter in dieser Beziehung anders zu behandeln als den Beamten. Die Beamten erlangen nach zehnjähriger, die jahrgeldberechtigten Beamten nach zwanzigjähriger Dienstzeit Anspruch auf Pension. Für den staatlichen Arbeiter ist so gut wie nichts nach dieser Richtung hin geschehen. Ebenso wie der Beamte, wenn er die beste Zeit seines Lebens dem Dienst des Staates geopfert hat, oder wenn er plötzlich hinweggerafft wird, beanspruchen kann, daß er eine angemessene Altersversorgung erhält, respektive daß seine Familie gegen Not sichergestellt wird, ebenso kann der staatliche Arbeiter, der nicht minder seine Pflicht und Schuldigkeit tut, erwarten, daß ihm eine Alters- und Hinterbliebenenversorgung gesichert werde. Wenn ein Arbeiter Jahrzehnte lang im Dienste des Staates tätig gewesen ist, so soll er nicht, wenn er arbeitsunfähig geworden, gezwungen sein, die Hilfe des Armenwesens in Anspruch zu nehmen. Solche Fälle liegen aber vor. Ich will nicht allzuweit gehen, aber ich muß mich auf einen besonderen Fall beziehen. Ich kenne hier einen Arbeiter, der 20 Jahre lang in einem hiesigen staatlichen Betrieb beschäftigt gewesen ist. Er ist jetzt völlig erwerbsunfähig. 1898 hat er sich mit einem Gesuch um Unterstützung an die Verwaltung gewandt und diese hat ihm dann mitgeteilt, unter welchen Bedingungen die Unterstützungen gewährt werden, und daß dies nur in den notwendigsten Fällen geschehe. Da die wenigen Mittel nicht ausreichend waren, so ist dieser Mann auf 1899 verwiesen. In diesem Jahre hat er sein Gesuch wiederholt, und darauf hat man ihn auf 1900 verwiesen. Auch dann ist das Gesuch wiederholt, aber der Arbeiter wurde auf 1901 verwiesen. Ich gestatte mir, aus dem Schriftstück, das die Behörde ihm hat zugehen lassen, einiges zu verlesen, soweit es Interesse hat. Es heißt da: »Auf Ihre Eingabe teilt die Unterzeichnete Ihnen mit, daß Ihr im vorigen Jahr eingereichtes Unterstützungsgesuch zwar für das Jahr 1900 vornotiert war, aber leider die verfügbaren Geldmittel nicht ausreichten, alle Bewerbungen zu berücksichtigen; es konnten nur an die allerbedürftigsten Bewerber Unterstützungen bewilligt werden. Ihre jetzige Eingabe wird für das Jahr 1901 vornotiert werden.«
Das sind ganz unhaltbare Zustände.
Weiterhin wäre zu erwägen, ob es nicht notwendig wäre, dem Arbeiter im Sommer einige Wochen Ferien zu geben. (Heiterkeit.) Ja, das scheint Ihren Widerspruch hervorzurufen. Es ist das eigentümlich. Jeder Beamte hat für sich das Recht in Anspruch zu nehmen, sich während einer kurzen Ferienzeit im Sommer von seinem Dienst auszuspannen, und Sie selbst sehnen sich danach, im Sommer für eine gewisse Zeit von Ihren Berufsgeschäften frei zu sein. Daß die Ferien notwendig sind, kann nicht bestritten werden. Sie stärken die Gesundheit, und der Mensch kommt doch einmal wieder zu sich. Der Arbeiter, der tagaus, tagein von morgens früh bis abends spät arbeiten muß, kommt ja gar nicht dazu, sich dem Naturgenuß hinzugeben. Was man dem Beamten gewährt, das sollte man dem Arbeiter nicht vorenthalten.
Man macht uns so oft unberechtigterweise den Vorwurf, daß wir etwas Praktisches für die Arbeiter nicht zu leisten vermögen. Hier handelt es sich um Maßnahmen, die im wohlverstandenen Interesse der Arbeiter liegen. Lehnen Sie den Antrag ab, dann können wir nicht anders, als annehmen, daß Sie für die Schaffung geordneter Verhältnisse für unsere Arbeiter nicht das Verständnis haben, was von jedem, der im öffentlichen Leben steht, erwartet werden muß.
Nun sagt man, der Minimallohn würde für die jugendlichen Arbeiter, Krüppel usw. schädigend wirken. Es ist wunderbar, mit welcher Wärme man sich bei dieser Gelegenheit dieser Leute annimmt. Ich kann sagen, daß auch in bremischen Staatsbetrieben Leute wegen Gebrechlichkeit ziemlich unsanft beiseite geschoben sind, und das waren Leute, die im Dienst zu Unfall gekommen sind, und die dem Staate zum Teil lange gedient hatten.
Ferner sagt man, bei einem Minimallohn würden die Steuerzahler in wirtschaftlich ungünstiger Zeit verlangen, daß dieser Lohn wieder herabgesetzt werde. Ich meine, wenn wir einen Minimallohn festsetzen, der verbürgt, daß der Arbeiter die notwendigsten Lebensbedürfnisse befriedigen kann, dann muß man aus menschlichen Gründen diesen Lohn auch in einer Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs bezahlen und nicht, wie es die westfälischen Bergwerksbesitzer machen, die schon beim Herannahen der Krisis die Löhne der Arbeiter herabsetzen. Das ist eben der wesentliche Unterschied, daß wir verlangen, der Staat solle mustergültige Ordnungen festlegen.
Leider kann man nicht begreifen, daß der Arbeiter das Bedürfnis hat, sich geistig fortzubilden. Das beweist eben, daß die Leute sich gar nicht im Volke bewegen und über die Bedürfnisse des Volkes gar nicht unterrichtet sind. Wer will dem deutschen Arbeiter in einer öffentlichen Körperschaft den Vorwurf machen, daß er kein Bedürfnis habe, sich weiterzubilden? Woher sind denn die Errungenschaften der Industrie gekommen? Daher, daß der deutsche Arbeiterstand weiter fortgeschritten ist und in seiner Intelligenz dem englischen und amerikanischen die Spitze bieten konnte. Was soll es denn gegen meinen Antrag heißen, wenn man hier anführt, man habe einige Arbeiter betrunken auf der Straße gesehen. Und wenn man viele Arbeiter betrunken sieht, so sagt das nichts für die Allgemeinheit! Gibt es denn keine Ausnahmen, und gibt es nicht bei Ihnen auch Leute, die sich betrinken? Der Unterschied ist nur der, daß diese es sich leisten können, sich in der Droschke nach Hause fahren zu lassen, während der Arbeiter von seinen Kollegen nach Hause geschleppt werden muß. Sind wir es denn, die solche Zustände züchten, die den Arbeiter in so traurigen, elenden Zuständen erhalten wollen, oder sind wir es, die den Arbeiter vorwärtsdrängen, ihm selbständiges Denken, ihm Charakterstärke beibringen? Die Arbeiterbewegung hat nach dieser Richtung hin gerade erzieherisch gewirkt.