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In Heidelberg

Der Kanonendonner des siebziger Krieges rollte noch über die Schlachtfelder Frankreichs, als Fritz Ebert zur Welt kam. In der engen Pfaffengasse Heidelbergs beschrie er am 4. Februar 1871 zuerst die Wände einer einfachen Schneiderwohnung, in der die ernste Sorge um die nackte Existenz oft zu Tische saß. Der Vater Eberts, ein Schneidermeister, arbeitete mit mehreren Gesellen und Lehrlingen. Die Mutter Eberts stammte aus einem Dorfe des Odenwaldes und war protestantisch getauft und erzogen worden. Der Schneider Ebert, der in einer katholischen Häuslichkeit aufgewachsen war, nahm an dem protestantischen Glaubensbekenntnis seiner Frau keinen Anstoß, und so blieb denn sein enges Heim von allem konfessionellen Hader verschont, den der harte, mit der Polizeiplempe geführte Bismarcksche »Kulturkampf« in so überreichlichem Maße in Preußen und auch in den deutschen Einzelstaaten entzündet hatte. Der idealistische Schwarm für das sogenannte »protestantische Kaisertum« hat wohl nie den tief in sehr realen Ängsten und Nöten steckenden Schneidermeister Ebert ergriffen. Schnell wuchs nämlich die Familie heran, und gar flink mußte die Nadel fliegen, da sie acht hungrige Magen mit Brot versorgen mußte.

In die enge Pfaffengasse leuchtete von jenseits des Neckars das Grün der Berge hinein, und in dem alten Hof des Hauses spann sich in den Winkeln und Treppen romantischer Zauber. Die Berge lockten, und so litt es den jungen Fritz nicht in der drangvollen Häuslichkeit in der Pfaffengasse. Der tobte seine Jugendlust in den waldumkränzten Bergen und am rauschenden Neckar aus. Die Wein- und Obstgärten Heidelbergs wußten viel von den losen Streichen des Knaben Fritz und seiner Kameraden zu erzählen. Von den Bergen stieg die übermütige Jugend zum Neckar hinab. Hier tummelte sich Ebert mit seinen Freunden besonders häufig, und man heftete ihnen den Spottnamen der ›Neckarschleimer‹ an.

In der Nachbarschaft der väterlichen Werkstatt befand sich die Mietskutscherei von Seppich. Ebert sprang helfend den Kutschern bei, erlernte im Fluge ihr Handwerk; er wartete sorgfältig die Pferde ab, spannte sie vor den Wagen und lenkte mit Umsicht das Gefährt. Noch heute erinnert sich die alte Mutter Seppich freudig ihres stets hilfsbereiten ›Friederle‹. Schon frühzeitig betätigt Ebert den Grundsatz, der ihm tief im Fleisch und Blut sitzt: »Bloß nicht ohne Arbeit!«

Fritz besuchte die Volksschule, und er wurde mit der dürftigen geistigen Volksküchenkost gespeist, die in den siebziger und achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts allgemein verabreicht wurde. Was er aber nicht in der Schule lernen konnte, das lernte er da draußen im Leben. Eine mehrhundertjährige Geschichte erhob sich vor ihm in Stein. Moosbewachsene Trümmer und efeuumrankte Türme erzählten von wüsten Kriegszügen und Einbrüchen, die grausam die höchsten Schöpfungen deutscher Baukunst zerstört hatten. Aber von welcher Romantik und Schönheit waren diese Ruinen noch umflossen! Diese redeten stimmungsvoll und mächtig packend auf den jungen Ebert ein.

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Die Pfarrgasse in Heidelberg mit Eberts Geburtshaus

So hart auch der Existenzkampf der Familie Ebert war, so schallte doch die jubelnde Lebensfreude einer sangesfrohen studentischen Jugend in die enge Schneiderwerkstatt Meister Eberts hinein. Kommersliedergesang füllte oft die alten Straßen Heidelbergs, und bis tief in die Nächte hinein lärmte studentische Ausgelassenheit. Da mochte oft noch die Mahnung des kunstverständigen Fürsten Otto Heinrich an die Studentenschaft am Platze sein: »Dess tags friedlich, dess nachts auch mit gebührlichem licht und laterne, ohne geschrey, ungestümmigkeit, unlust und betrübtnuss anderer Leute ihres weges zu gehen.« Ja, nach der ›betrübtnuss anderer Leute‹ wurde von den trunkenen dionysischen Schwärmern nicht viel gefragt, wenn sie nachts durch die schwach erleuchteten Straßen Heidelbergs tollten!

Unvergeßliche Bilder von jugendlicher Schönheit und Kraft strömten in den Heidelberger Jahren auf den jungen Ebert ein. Da bedeckte sich der Neckar mit zahllosen geschmückten Booten, und in ihnen sangen die jungen Musensöhne ihre übermütig-lustigen Weisen, da schritten historische Festzüge durch die Straßen dahin, da lag im roten qualmenden Feuer der Fackeln die ehrwürdige Ruperto-Carola, die Universität, da flammten in magisch-bengalischem Licht die herrlichen Fassaden der Heidelberger Prunkbauten auf.

Am Vormittag des Sonntags Laetare durchströmte ein langer, langer Kinderzug unter Führung des ›Sommers‹ und ›Winters‹ Alt-Heidelberg. Die Kinder schwangen lustig die ›Sommerstecken‹ und sangen das ›Sommertagslied‹ mit dem Kehrreim:

Schtrih, schtrah, schtroh,
Der Summerdag ist do,
Heit ibers Johr,
Do simmer widder do(r)!

Der junge Ebert hatte das fröhliche Herz des Pfälzers mit auf die Welt gebracht, und er nahm durstig all das Farbige und Freudige in sich auf, was eine sonnige, durch erhabene Kunstschöpfungen verklärte Natur an Schönheit und Größe darbieten kann. Das aus Blüten gewebte ›schimmernde Brautgewand‹ Alt-Heidelbergs, das der Dichter Viktor v. Scheffel so begeistert besungen hat, hob ihn über die Alltagsmisere der bescheidenen Schneiderwerkstatt des Vaters hinweg. Auch das rege Interesse an der ernsten Arbeit lebensgestaltender Wissenschaft scheint schon in ihm in der Musenstadt Heidelberg erwacht zu sein. Als er die Gewerbeschule seiner Vaterstadt besuchte, bewies er ein ganz hervorragendes Können in der Projektionslehre. Sein Lehrer Dr. Lender bemühte sich daher, den geweckten Knaben dem Baufach zuzuführen. Aber Nadel und Schere des Vaters, die sechs Kinder ernähren und kleiden mußten, konnten nicht die Mittel für ein derartiges Studium aufbringen.

Ebert wurde katholisch erzogen, und er nahm zur Ergänzung des Volksschulunterrichts zwei Jahre an der pfarrlichen Christenlehre teil. Auch hier erwies er sich als ein geweckter Schüler, dem von der Kanzel herab öffentlich Lob erteilt wurde. Eine besondere Begabung für die Gottesgelahrsamkeit scheint er allerdings nicht bekundet zu haben. Aber vielleicht ist ihm dort einmal nahegelegt worden, Geistlicher zu werden. Das Dogmatische lag allerdings nicht in seinem Wesen. Der kritische Geist war in ihm frühzeitig lebendig. Der Pfälzer – und dieser prägt sich klar in der ganzen Persönlichkeit Eberts aus – ist ein stets auf der Wacht liegender Kritiker, der alle Dinge von vorn und hinten prüft und dann sehr offenherzig und derb mit seinem scharfen Urteil herauskommt. Die Pfälzer sind im allgemeinen keine religiösen Grübler. Auch die Eltern Eberts haben keinen Einschlag von religiösem Fanatismus. Von der religiösen Frömmigkeit der Pfälzer hat schon der Kulturhistoriker W. H. Riehl in seiner Studie ›Die Pfälzer‹ vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben: »Die Pfälzer sind von Hause aus religiös, aber ein besonders kirchliches Volk kann man sie nicht nennen. In der Familie und in der persönlichen sittlichen Tüchtigkeit wurzelt ihre Religiosität viel mehr als in einem festen kirchlichen Gemeindeleben. Die Moral steht ihnen über der Dogmatik und beide über dem Kirchenregiment, wohl auch die Schule über der Kirche. Der Pfälzer ist duldsam gegen Andersgläubige, drückt aber leichter da ein Auge zu, wo er zu wenig, als wo er zu viel Glauben und Kirchentum sieht.«

Fritz Ebert hat auf der Straße gelernt, was viele in langen Jahren im Studierzimmer nicht lernen und auch nicht lernen können: das Leben richtig zu ergreifen und es zweckvoll zu gestalten. Seiner intellektuellen Begabung nach hätte er sicher einen tüchtigen wissenschaftlichen Fachmann abgegeben. In der Gewerbeschule leistete er Hervorragendes, und er wurde mit einer Prämie ausgezeichnet, mit Schillers Werken. Aber die Fähigkeit der schnellen Aneignung wissenschaftlicher Kenntnisse charakterisiert noch nicht das ureigenste Wesen Fritz Eberts. Dieser ist durch und durch Tatmensch, er will organisieren, schaffen, umgestalten. In ganz jungen Jahren wird er schon ein Organisator von ganz besonderer Tüchtigkeit.

Helle Augen und helle Ohren sind eine Mitgift der Natur, sie können nicht künstlich angezüchtet werden. Der Gelehrte häuft oft ein riesenhaftes Wissen im Kopfe an, aber dadurch werden kurzsichtige geistige Augen nicht fernsichtig. Unser mit formalem Wissen überladenes Zeitalter verkennt häufig die ausschlaggebende Bedeutung angeborener Anlagen, weittragender geistiger Augen, schnell und sicher zupackender Hände. Da wundert man sich über den schnellen Aufstieg einfacher Arbeiter zu führenden Männern in der Wirtschaft und Politik. Ja, diese Männer haben ja nicht einmal den ›Berechtigungsschein zum einjährigen Dienst‹! Sie sind ›ungebildet‹. Die Bildung eines Menschen wird in unserer Zeit immer noch nach der rein mechanischen, gedächtnismäßigen Einprägung zahlreicher, meist unzusammenhängender Tatsachen aus allen möglichen Wissensgebieten gemessen. Ob diese Tatsachen innerlich verarbeitet und in den Menschen gleichsam hineingebildet wurden, ob sie mit ihm wirklich verwuchsen und seine eigene ursprüngliche Kraft zu größerer Aktivität steigerten, darüber zerbrechen sich die Bildungsstolzen unserer Tage nicht den Kopf, wenn sie die ›Bildung‹ irgendeines Mitmenschen bewerten sollen.

Nur dann ist ein Mensch gebildet, wenn er sich bestimmte äußere Kenntnisse zu ›eigen‹ gemacht hat, so daß sie nun die tiefsten inneren Bedürfnisse seiner Natur befriedigen. Nur Menschen mit wirklichen Bildungsbedürfnissen können gebildete Menschen werden. Der Mensch muß sich von vornherein darüber entscheiden, was zu ihm und was nicht zu ihm gehört, wenn er sich tatsächlich ›bilden‹ will. Ein Ebert griff aus den mannigfaltigen Bildungselementen, die auf ihn einstürmten, gerade die heraus, die seinem ganzen tatfreudigen Wesen entsprachen. Er eignete sich die naturwissenschaftlichen, nationalökonomischen und historischen Tatsachen an, die ihn zum Wecker und Führer einer sich auf sich selbst besinnenden Klasse erziehen halfen.

Nietzsche spricht einmal in den höchsten Wendungen von der griechischen Bildung, weil die Griechen ›das Chaos zu organisieren‹ lernten, weil sie sich auf ihre echten Bedürfnisse zurückbesannen und die Scheinbedürfnisse absterben ließen. Dieses sich Zurückbesinnen auf seine eigenen echten Bedürfnisse charakterisiert nun vor allem den modernen Arbeiterführer. Seine Wissenschaft ist schaffendes Wissen, ein seine und die Energie seiner Klasse steigerndes Wissen. Seine Wissenschaft ist eine kämpfende Wissenschaft. Sie entspringt den wirklich elementaren Bedürfnissen seiner Klasse.

Der moderne Arbeiterführer lebt in einer von ungeheuren Revolutionen erschütterten Zeit. Alles ist im Werden, alles in fast katastrophaler Entwicklung. Das Eindringen in die großen Entwicklungstendenzen auf allen Gebieten wird für ihn eine Lebensnotwendigkeit. Man blättere den Verlagskatalog einer Arbeiterbuchhandlung durch, und man wird daraus überall den Schrei der Arbeitermassen nach Belehrung über die großen Umwälzungen in den Naturwissenschaften und in den historisch-gesellschaftlichen Wissenschaften vernehmen.

Der Arbeiterführer vom Schlage Fritz Eberts besann sich auf seine echten Bedürfnisse. Er schöpfte seine Kenntnisse aus der unmittelbaren Gegenwart, er erlebte an seinem eigenen Leibe und an seiner eigenen Seele ein gewaltiges Stück gesellschaftlicher Entwicklung. Das, was er sich an Kenntnissen erwarb, gehörte geistig zu ihm. Diese Kenntnisse waren keine äußere ›Dekoration des Lebens‹, kein schmückendes Beiwerk. Diese Arbeiterbildung hatte etwas Echtes, aus den brennenden Lebenswünschen und Lebensforderungen der Arbeiter Entsprungenes an sich. Sie hatte einen stärkeren Einschlag von Kultur als das konventionelle, angedrillte äußere Wissen des ›Einjährig-Freiwilligen‹.

Eine tüchtige, weitsichtige, geistige Gestaltungskraft macht einen Mann erst zu einem wirklich gebildeten Menschen. Aus dieser Kraft erst wachsen elementare geistige Bedürfnisse heraus, die ja notwendige Vorbedingungen jeder echten Bildung sind. Über diese weitschauende Gestaltungskraft verfügte aber Fritz Ebert. Nach ihr schätzt man schon längst in dem »Lande der unbegrenzten Möglichkeiten« den Menschen und nicht nach der Zahl seiner »Berechtigungsscheine«. Dort klomm der ehemalige Ackerknecht und Holzhauer Abraham Lincoln zum Präsidenten der Vereinigten Staaten empor.

Männer von starker Fähigkeit des Erlebens und von großer Schaffenskraft werden vor allem durch das Leben erzogen. In einer mit geistiger Kultur geladenen Atmosphäre wird Fritz Ebert groß. Sein angeborenes Interesse für wissenschaftliche Arbeit findet willkommene Nahrung in der Universitätsstadt Heidelberg. Zu seinen offenen Sinnen spricht die Geschichte der Pfalz in ihren glänzenden Kulturschöpfungen. Aus dieser vor ihm liegenden greifbaren Geschichte hat er mehr gelernt als Stubenhocker aus den dicksten historischen Schmökern.

Ebert ist ein impulsiver Mensch mit stark entwickeltem Ehrgefühl. Jede körperliche Züchtigung bringt sein Blut in heftige Wallungen. In seinem letzten Lehrjahr in einer größeren Sattlerei und Täschnerei Heidelbergs werden ihm Ohrfeigen angedroht. Er wirft den Hammer empört hin und schaut sich nach neuer Arbeit um. Er wird früh in das Leben hineingestellt und muß sich als Achtzehnjähriger wirtschaftlich behaupten.

Ein Mann mit hochentwickeltem persönlichen Ehrgefühl hat oft auch ein feines Verständnis für das, was sich für seine ganze Klasse geziemt. Die Mißachtung, die seine Klasse trifft, beleidigt ihn persönlich. Das gilt vor allem für einen jungen Mann wie Fritz Ebert, in dem frühzeitig der Kulturmensch durch die Universitätsstadt Heidelberg geweckt ist. Die von Lassalle so heftig gescholtene »verfluchte Bedürfnislosigkeit« des deutschen Arbeiters, der sich in den sechziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts noch leicht mit einem Stück schlechter Wurst und mit einem Glas Bier zufrieden gab, ist von ihm gewichen. Er will an den Kulturerrungenschaften seiner Zeit, die ihn überall in der schönen Musenstadt grüßen, teilnehmen. Aber von diesen drängt ihn eine harte, kampferfüllte Klassenwelt rücksichtslos ab. Sein scharfer Verstand begreift schnell, daß diese Welt überwunden werden muß, wenn er als voller Kulturmensch erstehen will. Diese Erkenntnis macht Ebert zum Sozialisten,


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