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Probleme der Volksschule

Aus einer Rede in der Bremer Bürgerschaft.
27.3.1901

Ein Arbeiter verfügt über eine größere Zahl von Kindern, er steht nicht in einem ständigen Erwerbsverhältnis, er ist auf einen schwankenden Verdienst angewiesen und darum von vornherein gezwungen, seine Kinder in eine Freischule zu schicken. Nebenan wohnt vielleicht ein Arbeiter, der in günstigeren Verhältnissen lebt, der nur ein Kind hat, und der deshalb imstande ist, sein Kind in die entgeltliche Volksschule zu schicken. Hier zeigt sich schon unter Kindern, wie hart eine solche Einrichtung wirken muß. Geben Sie sich doch nicht der Täuschung hin, als ob die Kinder im sechsten und siebenten Jahr den Unterschied zwischen Volks- und Freischulen nicht zu ziehen wüßten; es geht das Hänseln los. Es ist als feststehend anzunehmen, daß die Kinder, die zur Freischule gehen, sich gegen die Kinder der Volksschulen zurückgesetzt fühlen. (Zurufe: Oho!) Sie erheben dagegen Widerspruch; ich begreife es wohl, daß Sie sich nicht in solche Verhältnisse hineindenken können, weil Sie kein Verständnis von solchen Sachen haben. Jeder Arbeiter hat das Bestreben, für seine Kinder das Beste zu tun, und wenn auch der Besuch der Freischule nicht als Armenunterstützung anzusehen ist, so ist er doch eine Beihilfe, ein Almosen, das man bei der Behörde erbitten muß. Und wenn auch Armut nicht schändet, so demütigt doch ein Almosen in der Charakterfestigkeit, Ehrenhaftigkeit und Anschauungsweise. Das ist es, was die große Masse der Arbeiter, wenn sie es nur machen kann, abhält, ihre Kinder in die Freischule zu schicken, aber nicht die Ansicht, die die Schuldeputation hat. Die Schuldeputation verkündigt freudig, daß die kleinen Leute geradezu wünschten, Schulgeld für den Besuch der Volksschule zu zahlen. Ich halte die Arbeiter nicht für so naiv. Der schönen Augen der Deputation wegen geben sie ihr Geld nicht her; sie geben es eher her, um sich vor Demütigung und Herabsetzung zu schützen. Im übrigen ist es ganz eigentümlich, daß die Schuldeputation annimmt, daß gerade die Arbeiter ein so ausgeprägtes Ehrgefühl haben, nichts vom Staat geschenkt haben zu wollen, während es feststeht, daß gerade die Kinder der besser situierten Eltern vom Staat für ihre Schulbildung größere Unterstützung bekommen als die Freischüler. 1899 ist festgestellt, daß der bremische Staat jährlich für einen Freischüler 72.35 M, für einen Volksschüler 62.53 M, aber für einen Schüler der städtischen Realschule 215.98 M zuzuschießen hat. Die achtjährige Ausbildung eines Volksschülers kostet also dem Staate rund 578 M. Nun rechnen Sie bei den Schülern der höheren Schulen eine neunjährige Schulzeit, so kommt heraus, daß der Staat für einen solchen Schüler 2200 M bezahlen muß. Das ist annähernd viermal soviel, als er für einen Volksschüler zu zahlen hat. Ziehen Sie weiter in Betracht, daß nach der Schulzeit der Volksschüler in die Lehre kommt, der Familie nichts einbringt und weiterhin große Opfer erfordert, fast so lange, bis er zum Militär gerufen wird, während anderseits die Kinder besser situierter Eltern die Schule weiter besuchen und dort bis hinauf zur Universität bedeutende Unterstützung vom Staat erhalten, dann bekommen Sie ein Bild von der bedeutenden Bevorzugung der Kinder der besitzenden Klasse gegenüber den Kindern des Volkes. Wenn da die Arbeiter verlangen, daß der Volksschulunterricht unentgeltlich werde, so verlangen sie nichts geschenkt, sondern nur ihr gutes Recht. Wenn der Staat die Schulpflicht festlegt, so muß er auch dafür sorgen, daß der Unterricht unentgeltlich sei. Der Grundgedanke, warum die Schulpflicht in Deutschland besteht, darf nicht außer acht gelassen werden. Die Schulpflicht ist nicht der einzelnen Person wegen da, sondern sie besteht aus dem allgemeinen Interesse heraus. Die Volksschule ist die Grundlage des Staatswesens, das Fundament der Pyramide, auf dem das Staatswesen aufgebaut ist. Wo bliebe unsere Produktion, wo blieben unsere Handelsbeziehungen, unsere Verkehrseinrichtungen, wo bliebe überhaupt unser Kulturzustand, wenn wir nicht die allgemeine Schulpflicht hätten? Dadurch aber, daß sie nicht von allen Gliedern eingehalten werden kann, wird dokumentiert, daß wir gezwungen sind, den unentgeltlichen Volksschulunterricht einzurichten. Durch Einrichtung der Freischulen hat man denn auch hier, wenn auch nur teilweise, dem Rechnung tragen müssen. Denn die große Masse der Bevölkerung ist nicht imstande, das Schulgeld zu bezahlen. Nun sollten wir nicht auf halbem Wege stehenbleiben und sagen, wenn einer etwas mehr verdient, so kann er auch das Schulgeld bezahlen. Der Arbeiter kann, wenn er nicht mit ständigen Erwerbsverhältnissen zu rechnen hat, das hohe Schulgeld nicht zahlen, ohne seine und seiner Familie Lebenshaltung zu schädigen. Schon aus diesem Grunde müßte das Schulgeld für die Volksschule in Wegfall kommen.

Außer auf die Unentgeltlichkeit des Unterrichts lege ich auch auf die Unentgeltlichkeit der Lernmittel das größte Gewicht. Wenn anerkannt wird, daß für manchen Familienvater das Schulgeld schon schwer zu erschwingen sei, so muß auch zugestanden werden, daß die Beschaffung von Lernmitteln ebenfalls für ihn außerordentlich schwer ist. Rechnen Sie nur, daß ein Familienvater vier Kinder hat, die die Schule besuchen. Daß ihm dann die Beschaffung der erforderlichen Lernmittel sehr schwer fallen wird, ist erklärlich. Nun besucht der Schüler die entgeltliche Volksschule und kommt in die Schule ohne die erforderlichen Lernmittel; daß das den Unterricht stören muß, liegt auf der Hand. Vielleicht benutzt auch ein Kind mit einem andern gemeinsam die Bücher, und darunter muß die Disziplin leiden. Die Lehrer haben alles das erfahren, was man auch in der pädagogischen Literatur bestätigt findet. Ich halte es für durchaus gerechtfertigt, daß die Lernmittel vom Staat geliefert werden. Heute liegt die Sache so, daß der einzelne die Lernmittel viel teuerer kauft, als wenn sie vom Staate angeschafft würden. Wenn der Staat die Lernmittel in großen Posten beschaffen würde, so könnten mit den Verlegern besondere Verträge abgeschlossen werden, die es ermöglichen, die Bücher für ein Drittel des Preises zu beschaffen, der heute von den einzelnen dafür bezahlt werden muß. Die Unentgeltlichkeit der Lernmittel würde übrigens nicht so große Kosten verursachen, als meistens angenommen wird; es würde das für das einzelne Kind höchstens 3 bis 4 M ausmachen.

Für einen überaus wichtigen Punkt halte ich auch die Herabsetzung der Schülerzahl in den einzelnen Klassen. Die Schuldeputation hat ausgeführt, daß die durchschnittliche Besetzung unserer Volksschulklassen 50 Schüler betrage. Damit vergleiche man die Besetzung der Klassen der höheren Schulen! Im Gymnasium betrug die Schülerzahl durchschnittlich 22,10. Die niedrigste Zahl war 14, die höchste 32. In der Handelsschule waren durchschnittlich 26 Schüler in den Klassen, die niedrigste Zahl war 10, die höchste 35. Zu welchen Unannehmlichkeiten muß die Überfüllung der Schulklassen führen! Sie macht es dem Lehrer unmöglich, seiner Pflicht zu genügen. Der Lehrer kann seinen Unterricht nicht schablonenmäßig erteilen, sondern er ist verpflichtet, jedes Kind nach seiner Eigenart zu erziehen. Wenn er aber 50 Schüler und mehr in seiner Klasse hat, so ist es ihm unmöglich gemacht, sich den einzelnen Kindern zu widmen. Es ist dann selbstverständlich, daß die Kinder abstumpfen, weil ihnen die Anregung des Lehrers fehlt, und so geht die Wohltat des Unterrichts für sie zum größten Teil verloren. Wenn man von wirklicher Bildung der Kinder durch die Volksschule reden will, so muß zunächst dafür gesorgt werden, daß die Zahl der Schüler in den Klassen auf eine annehmbare Zahl herabgesetzt werde. Aus allen diesen Gründen erlaube ich mir folgenden Antrag zu stellen:

1. An allen öffentlichen Volksschulen ist die Unentgeltlichkeit des Unterrichts durchzuführen.

2. Desgleichen die Unentgeltlichkeit der erforderlichen Lernmittel.

3. Die Zahl der Schüler in den einzelnen Klassen der Volksschulen ist bis auf 30 Schüler herabzusetzen.

Wenn es Ihnen wirklich ernst ist mit der Reform der Volksschulen, wenn Sie wirklich unsere Schulen so umgestalten wollen, daß sie den Anforderungen der Neuzeit genügen können, so bitte ich meinen Antrag anzunehmen.


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