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Anhang zum I. Band

 

Erster Exkurs.
Die Sitze der germanischen Völkerschaften vor der Wanderung

Anmerkung v. Wietersheims. Eine vollständige Geographie des alten Germaniens kann hier nicht erwartet werden, würde auch eine unlösbare Aufgabe sein.

Der Begriff der Geographie, als Wissenschaft im modernen Sinne, war den Alten fremd.

Ein nicht unbedeutendes Material an Spezialkarten und anderen Notizen, namentlich Reiseberichten, stand wohl zu Gebot, aber die Zusammenstellung und Verarbeitung derselben zu einem richtigen Gesamtbilde war für sie unmöglich. Daher hat denn auch für uns die einfache Überlieferung einzelner solcher mit Fleiß gesammelter Nachrichten, die Choreographie, Länderbeschreibung, wie sie Ptolemäus E. v. Wietersheim, Über den Wert der speziellen Angaben in der Geographie des Claudius Ptolemäus, insbesondere über Germanien, in den Berichten der K. S. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig 1867, S. 112 u. f. im Gegensatze zu der Geographie nennt, möge sie noch so viel geographisch Verkehrtes enthalten, oft höheren praktischen Wert, als das sieglose Streben dieses letztern nach mathematisch richtiger Erdbeschreibung.

(Von Felix Dahn, hierzu die Karte von H. Kiepert)

Wandern wir in dem Europa etwa Kaiser Trajans (zur Zeit, da Tacitus die Germania schrieb: 98 n. Chr.) von Osten nach Westen, so finden wir als Ost-Germanen die Völker der gotischen Gruppe: die später mit ihren Sondernamen unterschiedenen Ost- und West-Goten (Greuthungen und Thervingen), Vandalen (Asdingen und Silingen), Taifalen, Viktofalen, Skiren, Turkilingen, Heruler, Rugier.

Wegen Unbestimmtheit ihrer Verteilung im einzelnen müssen wir uns begnügen, nur »Goten« überhaupt an beiden Ufern der Weichsel (Vistula) anzusetzen: östlich reichten sie wohl noch bis an und über den Pregel, hier mit den Letto-Preußen (Galinden, Sudinen (oder Suditten?) und den Vorposten der Slaven grenzend. Die Rugier dürfen wir wohl, wie auf der Insel Rügen (Holm = d. h. Insel – Rügen), so auf der gegenüberliegenden Küste der Ostsee (des »suebischen Meeres«) heimisch annehmen.

Südwestlich von den Goten auf dem rechten Ufer der Oder (Viadua), etwa zwischen der Netze und Warte, sitzen (damals noch) die Burgunder (später am Main, dann um Worms, endlich in Savoyen, um Lyon, Genf, Dijon).

An dem Oberlauf der Oder dicht an deren linkem Ufer, von der Einmündung des Bober auf dessen rechtem Ufer, gegen Südosten, wohnen die Lugier, ein Gruppenname, fast so umfassend wie der der Goten oder der Sueben. Letztere, die suebische, Gruppe reicht vom rheinischen Limes und dem Main (Moenus) im Südwesten über die Werra, den Thüringer Wald, die Unstrut, die Ostseite des Harzes bis über die Elbe an die Seen von Mecklenburg, ja wohl bis an die Ostseeküste im Nordwesten, im Osten aber von den Markomannen in Böhmen im Süden über Eger, Erzgebirge, Mulde, Elbe, Spree und Oder bis an die Rugier.

Ihr Haupt- und der Stammsage nach ältestes Volk, die Semnonen, reichen von dem linken Ufer der Elbe nordöstlich vom Harz (wo wohl Grenzwald sie von den Cheruskern schied) südlich der Havel bis über die Spree.

Beträchtlich südlicher in dem nach seinen vertriebenen keltischen Einwohnern, den Boiern, Bojo-(Baja-)hemum genannten Dreieck Böhmen zwischen der Sudeta (Erzgebirge) im Nordwesten, dem askiburgischen Gebirg (Riesengebirge) im Nordosten, dem bayerischen und dem Böhmerwald im Südwesten an beiden Ufern der Moldau von dem Eger im Westen bis zu den Quellen der Elbe (Albis) im Osten wohnen, seit dem Anfang unserer Zeitrechnung etwa, die von Marobod vom Main gen Osten übergeführten Markomannen, die späteren Bayern (Bei-waren, Baju-waren, d. h. Männer aus Baja-heim); südöstlich von ihnen an beiden Ufern der March (Marus) die Quaden (d. h. die Bösen).

Von den oft ursprünglich keltischen, später römischen Städten an der Donau (Danuvius, im Unterlauf Ister) nennen wir nur Carnuntum (Haimberg bei Preßburg), Vindobona (Faviana? Wien), Lauriacum (Lorch), Bojodurum und Batava Castra, Passau, an beiden Ufern des hier in die Donau mündenden Inn (Aenus), Regina castra, Regensburg, bei der Mündung des Reganus (Regen) in die Donau. Nordwestlich von Regen und Nab am westlichen Hang der Sudeten sind vielleicht die Narisker, Varisker, im sächsischen Voigtland und in Oberfranken anzugliedern, eine Völkerschaft der Markomannen, welche ihren Sondernamen gewahrt, vielleicht auch nur dauerndes Bündnis mit den Markomannen geschlossen hat, ohne in deren Gruppe einzutreten.

Zwischen Regensburg und Kehlheim (Celensum) erreicht der römische Donaulimes diesen Strom. Er steigt von da nach Nordwesten bis Iciniacum, von wo er sich über Aquileja (Aalen) südwestlich senkt, bis er östlich von Cannstadt (Clarenna) auf dem linken Ufer des Neckars (Nicer) schnurgerade emporsteigt gegen Norden an den Main (Moenus), dessen linkes Ufer er (bei Freudenberg? nicht: Miltenberg) erreicht.

Vom Donaulimes im Südwesten, etwa bei Iciniacum, von wo aus sie über den Strom hinüber mit der »glänzendsten Kolonie Vindeliciens«, Augusta Vindelicorum (Augsburg), Handel trieben, auf beiden Ufern des Mains, der thüringischen Saale, über den Thüringer Wald (dem sie den Namen gegeben), wie auf beiden Ufern der Elster und der Mulde bis an die Elbe hin wohnen die Hermunduren in zahlreichen Gauen.

Dies Land zwischen Donau im Südosten, den beiden Limites im Norden und gegen Osten, dem Taunus im Nordwesten und dem Main war das sogenannte Zehntland, agri decumates.

Außer den schon angeführten Orten nennen wir hier noch zwischen dem Donaulimes im Norden, dem Strom im Südosten, dem Neckar im Westen und der schwäbischen Alp (Alba) im Südwesten Clarenna (Cannstadt) und Aquileja (Aalen).

Besonders stark geschirmt war durch den Limes die Neckarlinie: offenbar durch den wilden Andrang der Alemannen besonders gefährdet. Imposant, drohend, stellt sich hier die Grenzwehr den Barbaren entgegen.

Am Neckar selbst lag Lupodunum (Ladenburg), hinter der Neckarlinie und nordwestlich vom Schwarzwald (Abnoba) Aquae Aureliae (Baden).

Von den Rheinstädten seien genannt Argentoratum (Straßburg), Noviomagus (Speier), Borbetomagus (Worms), Moguntiacum (Mainz), Aquae Mattiacae (Wiesbaden), Bingium (Bingen), bei der Mündung der Nava (Nahe); westlich ragen die Vogesen (Vosagus) zwischen Saravus (Saar) und Mosel (Mosella); an dieser selbst liegt Divodurum (Metz), an ihrem Mittellauf Augusta Trevirorum (Trier), Hauptbollwerk und prachtvolle Residenz unter den Konstantiern des vierten Jahrhunderts.

Auf Bingen folgt rheinabwärts Antunnavum (Andernach), Bonna (Bonn) und das wichtige Köln: hierher nach Köln (Colonia Agrippina, ara Ubiorum) wurden im Jahre 9 v. Chr. verpflanzt die Ubier, welche bis dahin zwischen dem Taunus, dem Rhein und Wiesbaden auf dem rechten Ufer gewohnt hatten: nunmehr erhielten sie das Land auf dem linken Ufer von Köln im Norden bis gegen Andernach. Ihnen gegenüber auf dem rechten Ufer wohnten vom Limes und dem Einfluß der Lippe (Luppla) im Norden bis zum Einfluß der Lahn im Süden die Usipier und Tenchterer.

Nördlich von Köln finden wir auf dem linken Ufer Novaesium (Neuss) und das Militärlager vetera castra (Xanten), während auf dem gegenüberliegenden Ufer ein schmaler Landstreif zwischen Rhein, Issel (Isala), Limes und Lippe für Militärzwecke von den Römern verwendet und gegen wiederholte Versuche germanischer Völkerschaften, sich hier festzusetzen, kraftvoll behauptet wurde.

Weiter rheinabwärts nennen wir noch Noviomagus (Nymwegen) an dem linken, Trajectum (Utrecht) und Lugdunum [Batavorum] (Leyden) an dem rechten Hauptzweig des vielarmigen Stromes; aus Gallien ergießen sich Mosa (Maas) und Scheide (Scaldis) in den linken Arm.

Zwischen diesem linken und dem mittleren, auf dem, einer Insel vergleichbar, von beiden Rheinarmen umschlossenen Land (Insula Batavorum) wohnen die Bataver, eine ausgewanderte Gruppe chattischer Gaue. Nördlich von ihnen zwischen Leyden und dem See Flevo, in den sich Issel und Vecht ergießen, sitzen die Kaninefaten, ein schwächeres Völklein, und östlich von diesen zwischen Utrecht und Issel die Chattuarier, deren Name an die chattische Heimat erinnert. Nordöstlich von den Kaninefaten zwischen dem Südufer des Flevosees und der Nordsee (mare germanicum), östlich bis an die Ems hin dehnen sich die (großen und kleinen) Friesen, wohl schon damals ein ganzer Stamm, mehrere Völkerschaften, jede von zahlreichen Gauen, umfassend.

An dem Ostufer des Flevosees, südlich von den Friesen, im Hamaland wohnen die Chamaven, südlich von diesen, zwischen Vecht und den in die Issel mündenden Aa und Berkel die Tubanten. Südöstlich von diesen bis an und über die Ems (Amisia), an deren Oberlauf und dem Teutoburger Wald die Brukterer: während die nach diesem Fluß benannten »Ems-Männer«, die Amsivaner, durch dessen Mittellauf in zwei Teile getrennt werden; nordöstlich von den Amsivanern an der Hase sind vielleicht die Chasuarier anzusetzen.

Südlich von den Brukterern floß die Lippe (Luppla), gedeckt durch das Kastell Aliso, in den Rhein: zwischen ihrem linken Ufer und der Ruhr wohnen die Marsen; südlich von ihnen von der Ruhr bis an und über die Sieg die Sugambrer (welche aber nach Müllenhoff nicht von der Sieg den Namen führen).

Östlich grenzen die Sugambrer mit den Chatten, welche ebenfalls zahlreiche Gaue umfaßten (s. oben: Bataver, Chattuvarier): sie wohnen vom Taunus und dem dortigen Limes im Süden gegen Norden hin zwischen der Schwalm und der Eder (Adrana), auf deren rechtem Ufer ein chattischer Hauptort, Mattium (Maden), lag, bis an und über die Weser (Visurgis). Hier grenzen sie mit ihren alten Feinden, den ingaevonischen Cheruskern, welche von den Quellen der Lippe und dem Teutoburger Wald (?) zwischen Brukterern und Marsen im Westen über die Weser, die Leine und den Harz hin ihre Macht erstreckten: zwischen den Nordostabhängen des Harzes und der Elbe schied wohl Grenzwald Cherusker und Semnonen.

Nördlich von den Cheruskern oberhalb des Steinhuder Sees, zwischen der Weser im Westen und der Aller im Osten, auf den Wiesen-Angern der Weser sind die Sitze der »Anger-Männer« (Angrivarier) zu suchen, während dieser Strom an seinem Unterlauf, etwa nördlich der Einmündung der Hunte, die Chauken, eine volkreiche Gruppe, in die großen (auf dem linken) und die kleinen (auf dem rechten Ufer) gliedert: letztere erreichen das linke Ufer der Elbe bei deren Mündung; während das rechte Ufer, das heutige Holstein, die Teutonen, die kimbrische Halbinsel (Jütland) ihre Wandergenossen, die Kimbrer, bis 113 inne hatten. Östlich und südlich von den Teutonen sind die Sitze der Saxones zu suchen, jener starken Völkerschaft oder Mittelgruppe mehrerer Gaue oder Völkerschaften, welche erst viel später der großen Gruppe des Sachsenstammes den Namen gegeben hat. – Wenden wir uns von diesen Saxones, welche von Schleswig im Nordwesten bis auf das linke Elbufer im Südosten reichen, südlich, so stoßen wir auf die Langobarden, welche, wie die Angrivalier auf beiden Ufern der Weser, so an dem Mittel- und Unterlauf der Elbe (die Karte schiebt sie unseres Erachtens zu weit an den Mittellauf südlich und beschränkt sie, abweichend, auf das linke Ufer), deren rechtes Ufer ebenfalls von ihnen erreicht wurde, sitzen.

Im Süden trennte wohl Sumpf und Urwald der beiden Elbufer die Langobarden von den Semnonen, bei denen, nun von Nordwesten her wieder anlangend – wir hatten sie verlassen, uns südlich zu den Markomannen zu wenden – wir unsere Wanderung von der Weichsel bis an die Schelde, von Augsburg bis Jütland vollendet haben.

[Anmerkung v. Wietersheims. Ungewiß sind die Sitze der Sueben innerhalb der Hauptgrenzen Westgermaniens um das Jahr 16 n. Chr., weshalb wir uns auf die mehrmals angezogene Schrift, z. V. d. Nat., S. 85, beziehen. Sind aber auch die Bewohner des Lahn- und Battengaues nach v. Ledebur, S. 55, 122 und 123, bes. Not. 453, für Sueben zu halten, so ist doch nicht unwahrscheinlich, daß diese später unter den Chatten, innerhalb deren Gebiet sie eine Halbenklave inne hatten, mit aufgegangen sind.

Über die Sitze der suebischen Stämme finden sich in den Geschichtsbüchern des ersten Jahrhunderts nur äußerst wenige und so unzusammenhängende Nachrichten, daß wir dafür einzig auf des Tacitus Germania und den für jede bestimmtere Angabe fast unbrauchbaren Ptolemäus beschränkt sind.

Mit einiger Sicherheit können wir jedoch teils hieraus, teils aus späteren historischen Quellen immer nur die Wohnsitze längs der Donau, sowie allesfalls die der an die Westgermanen grenzenden Langobarden im Lüneburgischen und der Somnonen in Brandenburg und der Niederlausitz entnehmen, wogegen die der Ostseevölker vom Lauenburgischen bis über die Oder hinaus ein unentwirrbares Chaos bilden.

Nach des Tacitus Germ. c. 41 saßen zu dessen Zeit längs der Donau und des Limes von Westen her zunächst die Hermunduren etwa bis Regensburg oder Passau, worüber nach deren regem Verkehr mit Augsburg kein Zweifel möglich ist. Nach den Hermunduren, d. i. gegen Osten zu, scheint derselbe zwar c. 42 die Narisker einzuschieben, doch dürften diese mehr nordöstlich ersterer von Mittelfranken durch das Bayreuthische nach dem Voigtlande hin zu suchen sein, wo sie ebenfalls zwischen Hermunduren und Markomannen saßen. Dies entspricht nicht nur der Angabe des Ptolemäus, der unter dem Sudetagebirge (Erzgebirge) Valistoi anführt, sondern auch der (späten: D.) Bezeichnung des Voigtlandes durch Variscia, während im westlicheren Mittel- und Oberfranken, nach Tac. (XIII, 57), die Hermunduren unzweifelhaft an die Chatten grenzten. Jedenfalls scheinen die Narisker (oder Varisker) übrigens mehr ein Zweigstamm eines größeren, als ein eigener Hauptstamm gewesen zu sein.

Auf die Hermunduren folgten nach Tac. 42 längs der Donau die Markomannen, welche zugleich Böhmen inne hatten, hierauf aber, etwa von der March an, nach Mähren und Oberschlesien hin, die Quaden, auf deren Gebiet unstreitig im Jahre 19 n. Chr. der mehrfach erwähnte suebische Klientelstaat gegründet wurde. Nördlich dieser und der freien Quaden müssen in Ober- und Mittel-Schlesien, wie im Krakauschen, die Ligier (Lugier) gesessen haben.

In Westpreußen haben wir die Burgunder, nordöstlicher an der Weichsel die Goten zu suchen, während alles übrige, namentlich auch die Frage, welchen Namen die suebischen Bewohner des Königreichs Sachsen und Thüringens südlich des Harzes, sowie Unterfrankens und Nordwestschwabens geführt haben, in so tiefem Dunkel liegt, daß jede Erörterung darüber müßig erscheint, obwohl wir bei dem späteren Vorkommen von Namen und Völkern in jenen Gegenden auf dasjenige, was diesfalls Erwähnung verdient, zurückzukommen uns vorbehalten.]


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